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Was es mit der SANTA LUCIA SUL PRATO auf sich hat


„Was hast du gerade gesagt?“ Leichtes Unverständnis wäre die Untertreibung des Jahrtausends. „Lüg' mich nicht an, Ian, du weißt das ich das hasse.“ Er lächelte boshaft. „Wer sagt denn, dass ich lüge, hm? Du hältst mich doch für genauso naiv wie alle anderen. Ich hatte es satt und der Typ hat mich echt aufgeregt. Tja, zack, und er war tot. Ich konnte nichts machen. Ich kannte ihn ja gar nicht. Deswegen habe ich auch keine Schuldgefühle. Ein Mensch mehr oder weniger. Bei der Überbevölkerung haben doch alle was davon.“
Ich schluckte und starrte ihn fassungslos an:“ Sag mal, hörst du dir eigentlich manchmal selbst beim Reden zu? Für wen hältst du dich denn? Das hätte ich von dir am wenigsten gedacht. Ich rufe jetzt die Polizei.“ Er kam, diesmal weniger boshaft lächelnd, einen Schritt auf mich zu. „Hör mal zu, Kumpel, noch ein Schritt mehr und du bekommst einen Locher an den Kopf. Und ich war im Handball extrem, gut, sieh dich vor.“ Ich griff nach meinem Handy, welches auf meinem Schreibtisch lag. Er grinste blöde. Er vergewisserte sich, das ich keinen Locher in der Hand hielt und ließ sich ENTSPANNT AUF MEIN BETT FALLEN. Der Idiot hatte mich wirklich angelogen. Verdammt, ich hatte ihm geglaubt. Nur nicht zugeben, Sydney, einfach weiterspielen. Mist, verdammt, neue Taktik. Angriff ist ja bekanntlich die beste Verteidigung. „Na, wie war ich?“, fragte ich fröhlich und mit blitzenden Augen, während ich mein Handy wieder hin legte. „Reicht das für die Rolle der Mathilde?“ Ich wusste, dass sich Ian neuerdings brennend für das Schultheater interessierte und ging deshalb darauf ein. „W-w-w-ie du willst auch mitmachen. Oh, Mann!!! Jetzt habe ich mit Jacoby gewettet, das ich gut genug bin, um vorzusprechen und habe ihm gesagt, dass ich es bei dir ausprobieren würde, dann denke ich, du glaubst mir und dann verar-“ Er hielt inne, weil er meinen wütenden Blick sah. „Du hast mit deinem bescheuerten Bruder gewettet, dass ich dir das abkaufe?“ Ich vergaß für einen Moment meine Tarnung. „Du hast mir einen solchen Schrecken eingejagt! Wenn du das nochmal machst, dann...dann bringe ich dich wirklich um!“
Ich beruhigte mich allmählich und sah meinen besten Freund schon wieder blöd grinsen. „Das heißt, du hast es mir geglaubt? Wahnsinn...“, sagte er verblüfft und sinnierte kurz über seine Genialität und das Ausmaß seiner Künste. „Raus“, presste ich zwischen meinen Zähnen hervor. Er faltete die Hände, als ob er beten wollte, sah mich mit seinem Dackelblick an, den er von Blake abgeguckt hatte und fragte: „Diesmal darf ich doch die Tür benutzen.“ Ich knurrte wütend und warf die Tür hinter ihm zu.
DAS hätte ich nicht tun sollen. Im Nachhinein weiß ich wirklich nicht, ob ich das gewollt hätte. Denn dann erfuhr ich die Wahrheit, nach 16 verdammten Jahren erfuhr ich die ganze Wahrheit. Über mich, meine Mutter, meinen Bruder, meinen Vater, meine Vergangenheit, kurz: über mein ganzes verdammtes Leben. Und danach war es wertlos.


Die Schande begann im wesentlichen damit, dass mein geliebtes Cliquenfoto von der Wand fiel, was Unmengen von Glasscherben nach sich zog. „Verdammt!“, fluchte ich und holte sofort einen Besen und eine Schaufel aus der Besenkammer, um die Scherben aufzusammeln. In diesem Moment ging Blake an meinem Zimmer vorbei und meinte in seiner nervtötenden Manier: „Schwesterherz, Scherben bringen Glück.“ Ich wollte schon sagen:“Danke Blake, für diesen kompetenten Beitrag.“ aber da war er schon wieder weg. Als alle Scherben zusammen gekehrt waren, hob ich den Bilderrahmen – oder das, was davon übrig war – auf, und stellte mich vor die Wand, um es vorerst wieder aufzuhängen. Da entdeckte ich den Safe. Ja, tatsächlich, ich konnte es kaum glauben. In die Wand war ein Safe eingelassen. Wieso war mir das nie aufgefallen? Aber soweit ich mich entsinnen konnte, hing dort schon immer ein Bild, ein Spiegel oder Ähnliches. Nein, entschied sich meine weniger tugendhafte Seite und ich probierte als Code meinen Geburtstag: 05081994 – er stimmte. Bevor ich den Safe öffnete, machte ich mir Gedanken über den Inhalt. Wenn meine Mutter etwas zu verbergen hätte, oder mein Vater Edison in der Vergangenheit, dann wären sie wohl kaum so dumm gewesen und hätten mein Geburtsdatum als Code gewählt. Vielleicht von den Vormietern unseres Hauses. In Gedanken spann ich mir eine Geschichte zusammen. Dann öffnete ich die Tür des Safes einen Spalt und holte die sich darin befindliche Kiste heraus. Sie war aus hellem Holz geschnitzt und wunderschön, in den Deckel war ein G und ein S eingraviert, in verschlungenen Buchstaben. Ich grinste, denn meine Mutter hieß mit Vornamen Ginger. War S. ein mysteriöser Liebhaber aus der Vergangenheit. Meine sonst so prüde Mutter. Der Gedanke daran ließ mich kichern. Ich öffnete die Schatulle und zog einen alten Brief heraus. Neugierig wie ich war, las ich ihn – ein Fehler, wie mir später bewusst wurde.

Ginger, cara mia,

ich habe mich sehr über das Foto meiner kleinen Tochter gefreut. Ich möchte, dass wir sie mit zweitem Vornamen Allegra nennen, so wie meine geliebte Mutter. So gerne wäre ich jetzt bei euch, aber dein Vater braucht mich hier, es tut mir sehr Leid.

Ich will meine Kleine möglichst bald kennenlernen, auch dich, meine Geliebte, vermisse ich hier furchtbar. Das schöne Wetter in Firenze kann eure Abwesenheit nicht wett machen.

Ti amo
Sergio

Ich ließ das Papier fallen. Sollte das bedeuten, dass mein Vater Italiener war, Sergio hieß und der Freund meiner Mutter gewesen war? Was war dann mit Edison. Entsetzt sah ich die anderen Sachen aus der Kiste durch. Ein Foto, von meiner Mutter, mir als Baby und einem mir unbekannten Mann.
Auf der Rückseite des Bildes stand in einer schönen, mir ebenfalls unbekannten Handschrift : Sergio, Ginger e Allegra, 1994

Das war ja mein Geburtsjahr!!! Ich verstand die Welt nicht mehr. Als letztes sah ich mir ein weiteres Foto an, den Rest wollte ich überhaupt nicht ansehen, wer wusste schon, was noch dabei herauskommen könnte. Es war ein Foto von einer Kirche, vor der ein Brautpaar stand. Meine Mutter und schon wieder dieser Mann, Sergio. Mein Vater. Auf der Rückseite stand SANTA LUCIA SUL PRATO, 1996

Da war ich gerade 2 Jahre alt gewesen. Also waren meine Eltern verheiratet gewesen! Ich war extrem verwirrt, wütend und traurig. Der Mann, der meiner Mutter solche Briefe geschrieben hatte, war ganz bestimmt mein Vater. Nicht Edison, der Mann, der meine Mutter wegen einer Camilla Milano verlassen hatte, einer reichen Schlampe. Ich habe meinen „Vater“ seit 5 Jahren nicht mehr gesehen, denn ich habe beide, ihn und seine Tusse, die ihn übrigens für einen noch reicheren Italiener verlassen hat, dafür gehasst, was sie meiner Mutter angetan haben. Mein „Vater“ lebte nun auf einem Schrottplatz. Jedem das, was er verdient.

Ich war nun doch gewillt heraus zu bekommen, was Santa Lucia Sul Prato war. Ich googelte den Begriff schnell auf meinem Laptop.

Santa Lucia Sul Prato, die: Die Santa Lucia Sul Prato ist eine katholische Kirche in der Alstadt von Florenz.

Hm, also war das die Kirche, in der meine Eltern geheiratet hatten. Wieso hatte mir meine Mutter nie etwas davon erzählt?
Ich hörte, wie meine Mutter unten die Tür aufschloss. „Blake? Sydney? Ich bin wieder da!“ Ich beschloss, sie ganz vorsichtig auf das Thema anzusprechen. Ganz vernünftig.

Doch als ich auf halber Treppe stehen blieb, sah, wie sie lächelte, konnte ich meine Gefühle nicht kontrollieren. „Kannst du mir erklären, was das hier ist?“, fragte ich angriffslustig und hielt den Brief und die Fotos hoch. Für einen Moment war meine Mutter ehrlich geschockt und sagte nur langsam: „Oh, Schatz. Es tut mir so....Leid.“
Ach, ja? Das war alles was ihr dazu einfiel. „Ich weiß alles.“, fuhr ich erbost fort. „Edison ist gar nicht mein Vater, sondern ein Sergio aus Florenz. Und woher ich meinen bescheuerten Zweitnamen habe, weiß ich auch.“
„Das ist wahr. Komm, meine Kleine, komm her ins Wohnzimmer und ich erkläre dir alles.“ Meine Kleine. So hatte mich auch mein Vater genannt, in seinem Brief. So wollte ich mich nicht von ihr behandeln lassen.
„Nein“, meinte ich. „Du brauchst mir gar nichts zu erklären. Ich gehe jetzt zu Ian. Ich weiß alles. Zwei Fragen noch.“ Sie nickte. „Alles, was du wissen willst, meine Kleine.“ Jetzt war ich richtig beleidigt. „1. Nenn mich nicht so!“ Ich holte tief Luft. „2. Ist Blake wenigstens mein Halbruder.“ Meine Mutter seufzte und nickte schließlich. Das war ja schon mal etwas. „3. Ich will seinen Namen. Wo wohnt er? Kann ich ihn treffen?“ Schlagartig wurde mir bewusst, dass das mehr als 2 Fragen gewesen waren. Als sie nicht antwortete, drehte ich mich auf dem Treppenabsatz um, damit ich meine Jacke, meine Schlüssel und mein Handy holen konnte. „Er hieß Sergio Antonio Milano.“ Hieß? Was meinte sie damit? Ich holte meine Jacke und wollte mich gerade verabschieden. „Du kannst ihn nicht treffen.“, wiederholte sie. Warum nicht, Mutter?, fragte ich mich. Weil du es nicht willst? „Nicht, dass ich nicht wollte, aber...er ist tot, Sydney.“


-Fortsetzung folgt-

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.01.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine neugierige Schwester......

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