Schweigen ist Gold – Die letzten Gedanken der Anna W.
Mittwoch, 24. Dezember 1990
„Du passt heute auf deine Schwester auf.“ Eine Aussage, eine Feststellung, keine Frage. Ein Befehl, keine Bitte. Tagein, tagaus. So geht es einem doch immer. Irgendwer beherrscht einen doch immer. Sei es der Ehemann, der Schwiegervater oder die eigene Mutter, das ist doch ganz egal. Wichtig ist, wie man damit umgeht. Ob man sich wehrt, schreit oder einfach nur schweigt, so wie ich. Einfach nur nicken, dann geht sie schon wieder weg.
Angelina sitzt auf meinem Schoß. Ihr braunes Fell schimmert rot in der Abendsonne – einfach nur hinsehen, nichts sagen, bitte nichts sagen. Aber mein Wunsch bleibt mir doch verwehrt. Es klopft nicht an meiner Tür, sie wird einfach aufgemacht. „Anna, ich komme heute später nachhause. Du machst heute das Abendessen, ich gehe jetzt zu Katharina.“ Ich könnte denken: „Ja, Mama, viel Spaß. Natürlich helfe ich gerne, ist doch selbstverständlich.“ Aber ich denke nichts, denn am Ende ist es doch egal. Es ist ihr egal, was ich denke und für mich ist es selbstverständlich, dass ich helfe. Gefragt werde ich ja doch nicht. Und sagen kann ich auch nichts.
Eine SMS kommt an und mein Handy klingelt. Ich setzte meine Katze ab und sie schaut mich verächtlich an, sofern Katzen das können. Früher hätte ich vielleicht darüber gelacht und meine Mutter auch. Aber heute nicht mehr.
Es ist ja nicht so, als sei es ihre Schuld. Aber meine ist es auch nicht, Schuld daran hat nur mein Vater, sagte meine Mutter einmal. Könnte meine Mutter ihn das spüren lassen, würde sie es vielleicht sogar tun. Aber das geht jetzt nicht mehr, schließlich ist er an einem anderen Ort. Das er Schuld daran ist, was mit mir passierte, damals vor 10 Jahren, dass sage ich nicht. Wie denn auch, ich kann es ja gar nicht sagen.
Ich würde niemals auch nur eine Sekunde daran denken, wer Schuld ist, denn das würde bedeuten, dass ich jemanden hassen müsste. Wer auch immer dafür verantwortlich ist, dafür, dass meine Mutter nicht mehr richtig mit mir redet, dass wir solche Probleme haben, den würde ich hassen.
Das wir ein echtes Problem haben, sagte vor ein paar Jahren Katharina, die beste Freundin meiner Mutter. „Ihr müsst zum Psychologen gehen, denk doch mal an Anna!“ Aber meine Mutter hat nicht gehört. Sie hat noch nicht einmal stumm genickt, sondern hat einfach geschwiegen. So tut sie es mir gleich, jedes Mal, wenn Katharina versucht, auf das Thema zu sprechen zu kommen.
Warum ich eigentlich noch hier bin, weiß ich nicht. Ich bin 18 Jahre alt geworden und könnte irgendwo hingehen, wo es mir besser ginge. Aber wer weiß das schon?
So viele Fragen müsste ich mir stellen, so viele Türen würden sich vor mir verschließen. Wer will schon jemanden haben, der nicht spricht?
So bringe ich meine kleine Schwester zu meiner Großmutter, der alten verbitterten Hexe, die mich nicht einmal anschaut. Ein Brief an meine Schwester und an meine Mutter, das sollte genügen, als Überbleibsel.
Ich werde sie vielleicht nie wieder sehen, denn Selbstmördern bleibt der Zugang zum Himmel verwehrt.
Nun sitze ich hier am Bahnhof und warte auf den nächsten Zug. Angelina auf meinem Schoß streichele ich die Katze gedankenverloren, sie schnurrt. Ich denke noch einmal über alles nach und würde so gerne meine Wut und meine Trauer raus schreien, bis mich endlich jemand hört. Aber nutzen würde es doch nichts, denn mich würde niemand hören. Schließlich bin ich stumm, ein stummes Mädchen in einer lauten Welt. Daran ist nur dieser verdammte Autounfall Schuld. Ich setze die Katze auf den kalten Boden ab, und sie sieht mich verächtlich an, sofern Katzen das können.
Mit einem letzten Blick auf sie und die anderen unbedeutenden Wesen am Bahngleis höre ich, wie der Zug einfährt. Mein letzter Halt, denke ich und gehe einen letzten Schritt auf die Bahngleise zu.
„Tja, dumm gelaufen“, ist der letzte Gedanke, das allerletzte, an was ich mich aus dieser Welt erinnern kann. „Aber so ist das Leben, des einen Freud des anderen Leid. Am Ende ist doch nur wichtig, was man daraus gemacht hat.“
Autoren werden doch nach ihrem Tod viel berühmter als zu Lebzeiten?
Ich hoffe, dass dieses Tagebuch irgendwann von jemandem gefunden wird. Es ist keine schöne Geschichte, aber es sie ist wahr.
Tag der Veröffentlichung: 12.12.2010
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