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Kapitel 1 – Ich beginne, mir Sorgen zu machen

„Elena?“, rief meine Mutter von unten. „Essen ist fertig, kommst du bitte?“ Ich seufzte, legte mein Buch zur Seite und ging die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Der Esstisch war schon gedeckt, liebevoll, mit Kerzenständern und Serviettenringen. Ich wunderte mich ein wenig und fragte: „Gibt’s was zu feiern?“ Meine Mutter schüttelte ihre Lockenmähne, die ich übrigens von ihr geerbt hatte, als einzige in der Familie. „Nein, wir bekommen Besuch.“ Sie lächelte geheimnisvoll und holte ein Gratin aus dem Ofen.Eigentlich liebte ich
Kartoffelgratin, aber heute verging mir der Apetit, als ich über unseren Besuch nachdachte. Oh Gott, dachte ich, Klaus oder Martin? Ich schätzte ab, was das größere Übel sein könnte und entschied mich für Martin. Der Versicherungsangestellte hatte null Humor und hasste Kinder, doch er war eine Zeit lang (genau 4 Monate zuviel) der Lebensabschnittsgefährte meiner Mutter gewesen, die immerhin drei Exemplare besaß. Johanna, meine sechsjährige hochbegabte Schwester, Christian, meinen Adoptivbruder aus Frankreich, zwei Jahre älter als ich. Und dann ist da noch meine Wenigkeit, Elena, 16 Jahre und nicht grade die pflegeleichteste Ausgabe einer ältesten Tochter.
Jedenfalls hatte es meine Mutter nach meinem Vater kein zweites Mal geschafft, mit einem Mann ihres Alters länger als ein Dritteljahr zusammen zu bleiben. Ihres Alters erwähne ich deshalb, weil sie vor Hannas Geburt mal etwas mit einem 25- jährigen hatte. Ganze 8 Monate, ist das zu fassen? Das war kurz bevor ich angefangen hatte, mir über solche Dinge Gedanken zu machen und schadete deswegen meiner Kindheit und guten Erziehung nicht im Geringsten.
Mein Vater hat uns verlassen, als ich gerade 8 Jahre alt war. Ich bin dennoch kein typisches Scheidungskind, da weder mein Vater, noch meine Mutter oder ich vordergründig darunter zu leiden scheinen. Meine Mutter hat uns und ihre Beziehungen und mein Vater hat Victoria. Die ist auch dem Klischee entsprechend keine Schreckschraube, vielmehr eine nette Frau mit einem guten Modegeschmack. Erst als ich begriffen hatte, dass meine Mutter sie im Gegensatz zu mir nicht leiden kann, habe ich die Besuche bei ihr und meinem Vater um 50% verringert und diverse Shoppingausflüge gestrichen. Meiner Mutter zuliebe sehen wir uns also nur noch zu dem üblichen Terz in Familien, zum Beispiel an Weihnachten, Ostern oder Geburtstagen.

Jedenfalls kümmerte sich meine Mutter weiter um das Essen. Sie teilte das Gratin in kleine, sorgfältig geschnittene Portionen und häufte diese auf fünf Teller. Wow, dachte ich mir. Sogar das gute Geschirr von Oma Ingeborg hatte sie aus dem alten Schrank gezogen. Echtes Meißner Porzellan verwendete sie nur, wenn ihre Eltern oder ihre snobistische Schwester Corinna zu Besuch kamen. Bei ihren Eltern, um ihnen eine Freude zu bereiten und bei meiner arroganten Tante, um Neid zu erregen oder zu sticheln. Denn im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester hatte sich meine Mutter mit ihrem Pharmaziestudium und ihrer eigenen Apotheke eine Existenz aufgebaut. Dies konnte man Corinna nicht nachsagen, die einen Millionär geheiratet hatte und so im Luxus lebte, ohne einen Finger gerührt zu haben. Meine Mutter dagegen hatte sich unseren Lebensstandard selbst erarbeitet und so konnten wir uns auch das Einfamilienhaus am Wannsee leisten. Wir hatten dennoch keine Haushälterin, wenn wir Kinder aus der Schule kamen, war meine Mutter schon zuhause, wir hatten immer Markenklamotten an und bekamen gesundes Essen. Trotz ihrer Arbeit kümmerte sie sich gut um uns, dennoch war keiner von uns verzogen, denn wir hatten auch Werte beigebracht bekommen und gelernt, dass man für seinen Erfolg arbeiten muss. Deshalb steckte meine Mutter viel Geld in unsere Bildung, während Christian schon einen Platz an der Universität in Lübeck hatte und nächstes Jahr umziehen würde, wollte ich in Berlin bleiben. Doch ich war auch erst in der 12. Klasse und hatte noch ein wenig Zeit.

Als das Essen fertig angerichtet war, klingelte es auch schon an der Tür. Wenigstens ist der Typ pünktlich, wer auch immer er ist, dachte ich, noch immer nichts ahnend, wer der geheimnisvolle „Fremde“ sein könnte. „Elena, öffne doch bitte mal die Tür!“, rief meine Mutter aus dem Bad, während sie ihren Kajalstrich nachzog. Schon leicht entnervt schlurfte ich zur Tür und öffnete sie. Und was mich dann erwartete, hätte ich nicht gedacht.

„Hallo, Schätzchen“, sagte mein Vater. „Kann ich reinkommen? Ich glaube, es fängt gleich an zu regnen.“ Ich nickte mechanisch und ließ ihn herein. Er nahm sich ein paar Gästepantoffeln und wider Willen musste ich über diesen Anblick lächeln. Bei uns hatte jedes Familienmitglied und jeder Gast grundsätzlich Hausschuhe zu tragen, denn meine Mutter hasste Flecken auf den Böden. Doch bevor ich den absurden Gedanken „Wie in alten Zeiten.“ zu Ende denken konnte, riss mich mein Vater aus meinem Tagtraum: „Kommst du?“
Ich setzte mich zu den anderen an den Esstisch und fing einen argwöhnischen Blick meines Adoptivbruders Christian ein. Ich blinzelte ganz langsam, was in unserer Zeichensprache so etwas wie „Ja“ oder „Ich weiß“ bedeutet. Wir verständigten uns schon lange auf diese Weise, besonders dann, wenn einer von Mutters Beziehungen mit uns am Tisch saß. Betretenes Schweigen und eine bedrückende Stille traten ein. Bis mein Vater plötzlich sagte: „Und, Kinder, wie läuft es so in der Schule.“ „Ganz gut…“, war die kauende Antwort von Hanna. Sie hasste die Schule, weil sie eben schlauer war als alle anderen Kinder und ihr deshalb jeden Tag todlangweilig war. „Na ja, ziemlich gut eigentlich. Wir fangen bald wieder mit den Klausuren an.“, meinte ich zu dem Thema. Es war Anfang September und drei Wochen Schule waren vergangen. So langsam versuchten uns die Lehrer wieder ans Arbeiten zu gewöhnen. „Und bei dir, mein Sohn?“, hakte mein Vater bei Christian nach, als er von diesem nur ein Schulterzucken geerntet hatte. „Ach, wir haben gerade den ersten Leerlauf. Ich treffe mich mit’ n paar Kumpels zum Lernen.“
Wieder sagte minutenlang niemand etwas. Dann ergriff meine Mutter das Wort. Und obwohl ich Stille nicht ab konnte, wünschte ich mir später, sie hätte nichts gesagt.

„Ich will es kurz machen, Kinder. Ich bin wieder schwanger von eurem Vater. Ihr bekommt noch eine Schwester, wie es aussieht, in 4 Monaten...“ Fassungslos starrte ich sie beide einen Moment lang an. Ich sah zu Mutter, meinem Vater, in das verwirrte Gesicht Hannas und in das entgeisterte meines Bruders. „Wie bitte? Und was ist dann mit Victoria, deiner Schnalle? Servierst du die jetzt ab oder wie?“, regte er sich auf. „Christian“, ermahnte meine Mutter ihn. „So redest du nicht mit deinem Vater. Es war allein unsere Entscheidung, zu der du maximal etwas beizutragen hast und sonst nichts!“, empörte sie sich. „Ach, ihr seid ja noch nicht mal meine Eltern! Was wollt ihr eigentlich von mir?“, entgegnete mein Bruder ihr wütend und verließ das Haus. Ich ging ihm, nach und beobachtete, wie sich auf Hannas Schaukel setzte und eine Zigarette aus der Hosentasche hervorkramte. „Christian! Wie kannst du nur! Mama hat dir tausendmal gepredigt, dass du das lassen sollst! Und woher nimmst du überhaupt die Kohle? Und außerdem bist du total unfair, es ist doch nicht dein Kind!“ Er schnaubte, zündete die Kippe an und verließ den Garten ohne ein weiteres Wort durch das Gartentor. Ich verdrehte die Augen. Wenn er schon auf jemanden hörte, dann auf mich, obwohl ich weder seine Schwester noch älter als er war. Doch manchmal konnte ich auch nichts ausrichten. Ich gab auf. Mit einem lauten Seufzen ging ich zurück ins Haus. Dort sah ich, wie meine Mutter die Spülmaschine einräumte und mein Vater den Esstisch sauber wischte. Wie in alten Zeiten, dachte ich jetzt doch. „Elena, du hättest wenigstens etwas sagen können“, begann mein Vater das Gespräch. „Stefan“, mahnte meine Mutter ihren Ex-Ehemann. „darüber haben wir doch gesprochen. Mein Vater nickte. „Worüber habt ihr gesprochen?“, wollte ich direkt wissen, aber ich ließ ihnen keine Zeit zu antworten. „Mama, wenn du wieder schwanger bist, werde ich dir natürlich so gut ich kann helfen. Und Papa, wenn du plötzlich wieder einziehen möchtest, kann ich das verstehen. Aber versteht ihr denn nicht, dass sich außer euch darüber gerade keiner freuen kann?“, fuhr ich fort. „Meint ihr nicht, dass das alles etwas zu schnell geht? Vielleicht macht ihr euch darüber mal Gedanken.“ So verließ ich den Raum und ging in mein Zimmer.

Oben angekommen, machte ich meine Hausaufgaben fertig. Dann sah ich auf die Uhr und schrieb um Punkt 20 Uhr eine Not-SMS an Marc. „Hey bester Freund, kannst du vorbeikommen? Hab grad Stress mit meinen Eltern. Ich sag nur >> Babyalarm<<!!!! Benutz die Treppe am Garten und klopf dreimal an die Tür, ich mach dir dann auf. Lena.“

Eine Minute später schrieb er zurück: „Hey, beste Freundin. Klar komm ich vorbei. Bin in fünf Minuten da. Marc“ so kannte ich ihn. Er war immer da, wenn ich ihn gerade brauchte und umgekehrt half ich ihm auch mit seinen Problemen. Schon seit der Grundschule waren Marc und ich die allerbesten Freunde. Wir hatten denselben Freundeskreis, identische Hobbys und fast dieselben Schulnoten. Wir verbrachten durchschnittlich 3 Stunden am Tag miteinander und teilten viele, wenn auch nicht alle Geheimnisse und Probleme miteinander. Während ich nicht viel von Freundschaften mit Mädchen hielt, schätzte Marc sie umso mehr. Alle Mädels aus der 11. und 12. Klasse waren hinter ihm her. Doch bis jetzt kam niemand an ihn näher heran als ich. Was auch gut so ist. Er war zwar hübsch, nett und zuvorkommend, verliebt war ich aber auf keinen Fall in Marc. Doch ich wollte ihn auch nicht mit einer x-beliebigen Tussi aus meiner Schule teilen. Ich teilte Freunde allgemein nicht gerne.
Meine Freunde waren mir heilig, auch wenn oder gerade weil ich nicht sehr viele hatte. Da gab es wie schon gesagt Marc, meinen besten Freund seit Kindertagen. Dann noch Jenny, meine – wenn man das so sagen konnte – beste Freundin. Wir hatten zusammen Englisch, Physik und gingen gemeinsam in den Chor, das einte uns, aber privat wollte ich nicht so viel mit ihr zu tun haben, denn sie war mir etwas suspekt. Sie interessierte sich vor allem für Motorräder und wollte mit 18 unbedingt eins haben. Das ihre Eltern das aber ganz anders sahen, war Jenny schon immer egal gewesen. Einmal quer durch Amerika mit dem Motorrad – das war ihr größter Traum. Na ja, sie war eben ein echter Rebell. Wenigstens hatte sie nichts von der Leder– Gang unserer Schule, die grundsätzlich auf ihren Blecheseln zur Schule kamen und nur Lederjacken trugen. Abgesehen von ihrem verrückten Spleen und ihrer Art, Menschen grundsätzlich nach ihrer spirituellen Aura (ja genau, Esoterik trifft Motorradfahren, klasse Mischung, was?) zu beurteilen, war Jenny dass, was man heute unter normal versteht.

Und dann war meine Liste der großen Freundschaften schon beendet. Natürlich gab es da die Kolleginnen aus der Fußballmannschaft, (ja, ich spielte Fußball), Sängerinnen aus dem Chor und Sitznachbarinnen aus den Kursen. Aber die waren mir so ziemlich egal, denn sie waren zum Großteil arrogant, zickig, dumm und damit nicht zu gebrauchen. Ich sagte es ja bereits, Mädchenfreundschaften konnten nur schief gehen. Da klopfte es auch schon dreimal an der Tür. Das tollste an unserem Haus war nämlich die extra Treppe am Garten, die direkt auf einen Balkon mit der Tür zu meinem Zimmer führte. So konnte ich abends raus, wenn mich niemand sehen durfte, morgens raus, wenn ich niemanden sehen wollte oder man konnte mich besuchen, ohne gesehen zu werden. Ich öffnete die Tür und umarmte meinen besten Freund. „So, Lena. Dann erzähl mal. Du bist schwanger?“

Ich warf mich auf mein Bett. „Du Idiot“, ich stöhnte und verdrehte die Augen. „Da hab ich mal ein Problem, ein echtes, und du machst auch noch blöde Witze…“ „Hey, war doch nur Spaß.“, lenkte er ein. „Wer ist denn jetzt schwanger, Jennyfer oder deine Mutter?“ „Meine Mutter natürlich. Weißt du, Jenny ist zwar manchmal komisch, aber schwängern lässt sie sich nicht einfach so. Nee, meine Mutter ist wieder schwanger von meinem Vater. Was sagt man dazu?“ Er lachte auf. „Von deinem Vater? Aber das ist ja großartig.“ Ich blickte ihn streng über meinen Brillenrand an. „Na ja, besser als von irgendeinem ihrer Partner. Freust du dich nicht?“, versuchte er einzulenken. „Netter Versuch, aber es geht doch gar nicht um das Kind, sondern um die Tatsache, dass sie wieder mit meinem Vater zusammen ist, und das schon seit mehr als 5 Monaten. Wieso hat sie mir nie was gesagt, ich bin doch alt genug!“ Marc schüttelte den Kopf. „Das hat doch damit nichts zu tun. Obwohl, vielleicht geht es auch GENAU darum. Wenn du es Johanna, oder besser gesagt, einem Kind in Hannas Alter, denn sie ist ja nicht mit einer Sechsjährigen zu vergleichen, sagen würdest, würde das Kind sich freuen. Der Vater zieht wieder ein und man bekommt ein Geschwisterchen dazu. Du aber bist alt genug, um die Hintergründe zu verstehen. Du fragst nach und willst alles wissen. Kurz gesagt, du machst ein Problem daraus.“ „So oder so, jetzt habe ich es doch auch erfahren, wie alle anderen“, unterbrach ich seinen Redefluss. „Ich war noch nicht fertig, Lena.“, fuhr er fort. „Wenn alle es wissen, ist kein Raum für Vorwürfe, aber wenn sie allein mit dir ist, muss sie sich dir stellen...“ Als ich schon etwas entgegnen wollte, meinte er: „Natürlich kannst du sie jetzt auch noch zur Rede stellen, aber jetzt ist sie nicht mehr alleine. Dein Vater wird sie immer unterstützen.“ Ich dachte kurz über das Gesagte nach, verdrehte die Augen und sagte: „Vielen Dank, Sokrates, für diesen philosophischen Monolog über das Gehirn und die Denkweise meiner Mutter. Aber das hilft mir nicht weiter. Noch eine Schwester? Dann bin ich so ein ältestes Kind, wenn Chris weg ist. Die älteste von drei Töchtern, die Vernünftige, das Vorbild für ihre Schwestern.“ „Das bist du jetzt auch schon. Hanna ist dein größter Fan!“ „Du liegst bei beidem falsch. Erstens, ich bin gerade das mittlere Kind, die Rebellin. Schau dir meine Schulnoten an.“, meinte ich dazu. „Und zweitens: Ich weiß manchmal echt nicht, wer hier wessen Idol ist: ich Hannas oder Hanna meins?“ Ich dachte voller Ehrfurcht an meine hochintelligente Schwester. „Stimmt nicht. Hanna hat doch mal gesagt, in 10 Jahren will sie genauso aussehen und reden wie du. Und deine Schulnoten sind besser als durchschnittlich.“, konterte Marc. O.k, jetzt hat er mich, dachte ich. Da piepste Marcs Handy. „Oh“, stöhnte er mit einem Blick auf das Display. „Estella. Ich soll zum Essen kommen. Weißt du, du schätzt gar nicht, was du hast. Du hast bald drei nette Geschwister…“ „Ob die Kleine nett wird, dass kann ich dir noch nicht sagen.“, unterbrach ich ihn. „Stimmt, wenn sie so ist wie du, dann wird’s schwer mit ihr“ Marc grinste und ich warf ihm ein Kissen an den Kopf. „Aber mal ehrlich, so schlimm wie bei mir kann es bei dir nicht sein. Mein Vater ist nur zum Abendessen und zum Schlafen zuhause, Estella ist die geborene Furie. Was willst du mehr? So, ich muss gehen.“ Er gab mir einen Kuss auf die Wange und verschwand durch die Balkontür. Bei genauerem Betrachten meiner Lage gab ich Marc Recht. Estella war echt furchtbar. Sie zwang ihn, im Winter dicke Socken zu tragen, wenn er zuhause war. Mit Häschenaufdruck. Er musste einmal wöchentlich Haferschleim essen: „Schätzchen, du musst mehr Haferbrei essen. Du bist ganz blass.“ Als ob das was bewirken würde. Und überhaupt: Sie war eine echte Übermutter. Zum Glück war sie nur Marcs Stiefmutter. Seine leibliche Mutter war bei einem Autounfall vor drei Jahren ums Leben gekommen. Zum Glück lebte meine Mutter, auch wenn sie jetzt wieder schwanger war. Zum Glück hatte ich meine Eltern noch. Marc war manchmal echt komisch drauf, immer zum Todestag und zum Unfalldatum von Helena. Ich hatte sie gerne gemocht, und war ebenfalls todtraurig, als sie plötzlich verstorben war. Es musste schrecklich sein, wenn man seine Mutter verlor.
Ohne weiter über unser Gespräch nachzudenken, schlief ich um 10 Uhr ein.
Am nächsten Morgen wachte ich auf, und hörte nichts. Absolut gar nichts, weder den Fön meiner Mutter, die um diese Uhrzeit im Bad stand. Weder laute Musik aus Chris` Zimmer oder Hörbücher aus Hannas. Wir hatten alle so unsere Rituale und Vorgehensweisen, wenn wir aufstanden. Ich zum Beispiel, ich ging jeden Morgen mit einer Tasse Tee oder Kakao auf den Balkon und roch die frische Luft, die es nur außerhalb Berlins gab. Ich genoss stets die ersten Sonnenstrahlen am Morgen, oder das Zwitschern der Vögel. Ich war ganz still und lauschte den Klängen, während mir aus dem Nebenzimmer laute Klänge von Metallica entgegen klangen, der Lieblingsband meines Bruders. Doch heute, an einem schönen Herbsttag im Oktober, hörte ich nichts. Nicht einmal ein Grashalm bewegte sich, und ich wunderte mich ein wenig. Ich schloss die Balkontür und ging hinunter in die Küche. Dort saß meine Mutter am Esstisch und las Zeitung. „Guten Morgen, mein Schatz.“, begrüßte sie mich, ohne von ihrem Artikel aufzusehen. „Morgen. „Wo sind denn alle?“, fragte ich, während ich mir eine Schale mit Müsli machte. „Ach, Christian schläft wahrscheinlich noch. Und dein Vater hat Hannah zum Arzt gebracht. Sie hat sich heute Nacht übergeben.“ „Oh je, die Ärmste. Na ja, ich frage nur, weil ich nichts gehört habe. Wie geht’s dir denn heute?“, wollte ich wissen. „Ach, seit wann interessiert dich das denn?“, meinte sie gereizt. Ich wunderte und ärgerte mich ein wenig über ihre plötzliche Stimmungsschwankung, tat es aber als schwangerschaftliche Gereiztheit ab. Doch trotzdem ließ ich das nicht auf mir sitzen lassen. „Ach seit wann sind wir denn so schlecht gelaunt?“ Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich weiß, dass ich mich falsch verhalten habe, als du verkündet hast, dass du wieder schwanger bist. Aber es tut mir wirklich Leid, und jetzt frage ich noch mal: wie geht’s dir, hast du gut geschlafen?“ Ich musste tief Luft holen nach so viel Text. „Schon gut, es tut mir auch Leid. Weißt du, ich kann dich ja verstehen. Dass dein Vater wieder auftaucht, nach all der Zeit und ich direkt schwanger bin, hätte mich an deiner Stelle auch geschockt. Die Kleine erinnert mich an dich. Du hast auch schon ganz früh getreten, besonders nachts um drei. Und mir war auch schon schlecht, als ich wusste, dass ich mit dir schwanger bin. Meine Mutter hat gesagt, es sei die Aufregung, aber vielleicht habe ich mich auch einfach nur bei Johanna angesteckt, hoffentlich kein Magen-Darm-Virus.“ Sie faltete die Zeitung zusammen, und ich versuchte, alles, was sie gesagt hatte, zu ordnen und zu verstehen. Ich schüttelte den Kopf und verabschiedete mich kurz ins Bad.
Dort blickte ich in den Spiegel und ein müde aussehendes Etwas blickte zurück. Ich wusch mir das Gesicht und putzte meine Zähne und schon sah die Welt ganz anders aus. Etwas kaltes Wasser wirkt doch echt Wunder, dachte ich und kämmte geistesabwesend meine roten Locken. Um die beneideten mich so einige, besonders Jenny, die selber schöne, weiche, goldbraune Haare hatte. Wie gerne hätte ich ihre „Schnittlauchhaare“, wie sie sie immer nannte. Sie hatte den Ausdruck aus irgendeinem Roman übernommen. Und tatsächlich hätte ich lieber schnurgerade Haare als Locken. Ich machte mir einen hohen Zopf, nahm meine Schultasche und ging zurück zu meiner Mutter. Die stand schon am Herd, auf dem eine Brühe vor sich hin köchelte. Ich schnupperte und fragte: „Hühnerbrühe?“. Meine Mutter nickte. „Für Johanna. Sie kommt gleich wieder. Magen-Darm-Virus, wie ich gesagt habe. Oder eher befürchtet.“ Wir lachten beide und ich wollte mich schon verabschieden, als meine Mutter mich zurückrief: „Elena? Ich wollte dich mal was fragen. Dein Vater hat ja bald Geburtstag, nächste Woche, und ich habe 2 Flugtickets nach Mallorca für uns beide gebucht. Eine Woche, wir würden gerne nächsten Donnerstag fliegen. Kannst du vielleicht auf deine Schwester aufpassen, solange wir weg sind? Wir haben auch eine Putzfrau eingestellt, die sich um das Haus kümmern soll. Wäre das o. k?“ ich überlegte kurz gespielt und sagte dann: „Nein, wie kannst du mich nur um so was bitten?“ Sie lachte und ich stimmte zu. „Na dann, kann ich Frau Martens ja Bescheid sagen, dass sie kommen soll.“ Hoffentlich schaffte ich das alles, zum Beispiel wegen der Schule. Ich sorgte mich ein wenig um meine Mutter, wegen der Schwangerschaft, aber ich wollte doch kein Spielverderber sein. Ich nickte und winkte kurz, bevor ich die Haustür hinter mir zu zog. Und begann mit meiner Zustimmung einen der größten Fehler meines ganzen Lebens.

Fortsetzung folgt…




Verschiedene Personen werden sich vielleicht wieder erkennen, durch Namen oder Eigenschaften. Dies ist aber nicht beabsichtigt, da meine Figuren erfunden sind.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.08.2010

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