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Dieses Buch ist bereits veröffentlicht worden. Die Leseprobe ist von der Autorin eingestellt worden.Näheres auf der HP www.sunnyrloan.de oder www.asaro-verlag.de

Kapitel 1 – Altes Leben adieu



Natürlich war ich traurig gewesen, als ich vom Unfalltod meiner Adoptiveltern hörte. Immerhin hatten mich Marcia und Gregory Jonsens über sechzehn Jahre lang aufgezogen, also fast mein ganzes bisheriges Leben.
In erster Linie aber hatten sie mir nur ein Dach über dem Kopf, Essen und Kleidung gegeben. Dass man unter dem Wort Familie aber noch etwas weitaus Liebevolleres verstehen kann, musste ich die Jahre über immer wieder durch andere befreundete Familien, sowie den Umgang meiner Adoptiveltern mit ihrer leiblichen Tochter Tessa, welche all ihre Liebe und Aufmerksamkeit bekam, kennenlernen.
Und jedes Mal sehnte ich mich mehr nach meinen leiblichen Eltern und fragte mich, wie mein Leben wohl mit ihnen ausgesehen hätte. Aber alles kam anders und ich lebte jetzt seit sechzehn Jahren hier in Arizona, einem durchaus schönen Land, für mein persönliches Verlangen aber viel zu warm. Ich hatte nie hierher gepasst, weder nach Arizona noch zu den Jonsens. Sie aber auf so schlimme Weise zu verlieren, tat mir dennoch sehr weh. Jetzt stand ich vor diesen zwei üppig geschmückten Gräbern, umringt von unzähligen, in schwarz gekleideten Menschen. Es waren Leute aus der Familie, Freunde, Arbeitskollegen und Nachbarn gekommen und alle schauten Tessa und mich mit diesen hilflosen traurigen Gesichtsausdrücken an.
Eine Art und eine Stimmung, mit der ich nicht gut umgehen konnte. Vielleicht, weil es das erste Mal war, dass ich auf einer Beerdigung mir nahestehender Personen war oder es lag auch einfach an der Tatsache, dass meine leiblichen Eltern, laut Aussage meiner Adoptiveltern und einem alten Zeitungsbericht, den ich vor einiger Zeit dazu gefunden hatte, ebenfalls bei einem Autounfall gestorben waren. Genau wie Marcia und Greg. Ob meine Eltern eine ähnliche Beerdigung gehabt hatten? Ich hatte durchaus noch ein paar leichte, wenn auch zum größten Teil schwammige Erinnerungen an meine Eltern und auch an den Unfall. Und das, obwohl ich damals gerade erst fünf Jahre alt gewesen war. Damals saß ich hinten im Auto, als der Unfall passierte, und überlebte als Einzige, was mich keineswegs stolz oder glücklich macht. Das, was mich allerdings jeden Tag an diesen Unfall erinnern wird, ist eine kleine Narbe an meiner rechten Handinnenseite. Meistens nehme ich sie nicht wahr, aber manchmal fängt die Narbe an zu schmerzen, was in letzter Zeit auch öfters der Fall ist und dann treten wieder die alten Schmerzen in meiner Seele auf. Die Schmerzen eines kleinen Mädchens, das seine Eltern auf tragische Weise verloren hatte und über dessen Verlust ich auch jetzt mit meinen einundzwanzig Jahren nicht hinwegkomme. Der Beerdigung meiner Eltern hatte ich damals nicht beiwohnen dürfen, da man dies einem kleinen Mädchen, das einen so schlimmen Verlust erlitten hatte, nicht auch noch antun wollte. Zumindest war das Gregorys Begründung gewesen, aber aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, er erzählte mir nicht die ganze Wahrheit.
Unabhängig dessen, wie soll man den Tod seiner eigenen Eltern jemals verarbeiten können? Ich konnte es jedenfalls nicht sonderlich gut. Gregory und Marcia waren von Anfang an ehrlich zu mir gewesen, besonders Onkel Gregory hat, vor allem aber auf mein ständiges Flehen und Bitten hin, die Erinnerungen an meine Eltern immer aufrechterhalten und das hat mir letztendlich geholfen, überhaupt damit leben zu können, denn es fehlt einem einfach ein großes Stück, ohne das man sich nicht als Ganzes fühlt.

Auf die Frage, woran ich mich erinnern könnte, antwortete ich seit fast siebzehn Jahren immer das Gleiche: an das Gesicht meiner Mutter, als sie sich noch einmal zu mir umdrehte. Aber dies stimmte nur zum Teil, denn manchmal sah ich in meinen Träumen auch andere Gesichter und mich überkam mittlerweile immer mehr dieses Gefühl, dass es sich nicht um einen Unfall gehandelt hatte. Dieses Gefühl wurde seit einiger Zeit immer stärker, ohne dass ich Einfluss darauf nehmen konnte. Seit meinem zwanzigsten Lebensjahr träumte ich von dem Unfall immer häufiger und immer öfters wachte ich schweißgebadet davon auf. Seit fast zwei Jahren ging das nun so, aber trotz meiner Nachforschungen und dem ständigen Nachfragen bei Gregory, denn Marcia gab mir eines Tages unwiderruflich zu verstehen, ich solle sie endlich mit meinen toten Eltern in Ruhe lassen, blieb alles ergebnislos. Seit diesem Tag gingen Marcia und ich uns so gut wie möglich aus dem Weg, Gregory hielt natürlich immer zu seiner Frau und so wurde mein Leben bei den Jonsens noch unerträglicher. Erst vor wenigen Monaten hatte ich endlich den Mut aufbringen können und Gregory, der auch mein richtiger Onkel war, gefragt, warum sie mich eigentlich adoptiert hatten.
Es war mehr der Gesichtsausdruck, der mich etwas geschockt hatte, als die belanglosen Wörter, mit denen er jonglierte. Jedes Kind hätte vermutlich sofort gemerkt, dass er dieser Frage mit einer Lüge ausgewichen war. Während der Beerdigung hatte ich dieses eine bestimmte Gefühl, beobachtet zu werden, aber nicht von den anwesenden Trauergästen. Es war dieses eine merkwürdige aber bestimmte Gefühl, beobachtet zu werden, aber ich konnte niemanden ausfindig machen, zu dem dieses Gefühl gepasst hätte. Meine Narbe schmerzte und ich verfluchte diesen Moment, wo die beiden ums Leben gekommen waren. Tessa und ich sollten nicht jetzt schon an diesen Gräbern stehen müssen. Den Unfall meiner Eltern hatte ich schon nicht verstanden, aber jetzt war es auch nicht anders. Sie hätten was getrunken und wären von der Fahrbahn abgekommen, woraufhin sie in den Fluss stürzten und sich nicht mehr aus ihrem Wagen befreien konnten. So der Stand der ermittelnden Polizei.
Ich konnte es nicht verstehen, wollte es vermutlich auch einfach nicht. Auch wenn ich mich auf der einen Seite über meine neue Freiheit freute, so verließen mich nach meinen leiblichen Eltern nun auch die beiden Personen, die mich all die Jahre aufgezogen hatten. Endlich war die Beerdigung zu Ende und ich konnte mich sofort auf den Weg nach Hause machen. Zumindest würde es noch für die nächsten zwei Stunden mein Zuhause sein, denn dann würde ich von hier weggehen und alles hinter mir lassen. Marcia und Gregory hatten das Haus ihrer leiblichen Tochter Tessa vermacht, die es gar nicht erwarten konnte, mich nach all den Jahren endlich loszuwerden. Aber mir war es egal, denn ich war voller Freude, endlich wieder in meine alte Heimatstadt zurückkehren zu können. Besonders deshalb, weil ich mir auf diese Weise erhoffte, mit den Nachforschungen über meine Eltern endlich die gewünschten Antworten zu finden. Onkel Stewart, der andere Bruder meiner Mutter, hatte mir kurz nach dem Ableben meiner Adoptiveltern angeboten, dass ich wieder bei ihm leben könnte und dies hatte ich sofort dankend angenommen. Gregory, der ältere Bruder meiner Mutter, hatte mir einiges über meine Eltern erzählen können, aber dabei ging es mehr um die üblichen Dinge, die man über Verstorbene erzählt. Vielleicht wusste er auch einfach nicht mehr, denn immerhin lebte er damals schon Tausende Kilometer von meinen Eltern und von Vanicy entfernt - im Gegensatz zu Stewart, mit dem ich über all die Jahre immer in Kontakt geblieben bin und auch besser zurecht kam als mit Gregory.

Ich würde also meine Hoffnung auf Stewart setzen müssen, der zusammen mit meinen Eltern all die Jahre in Vanicy gelebt hatte. Warum ich damals nicht gleich bei ihm bleiben durfte, weiß ich bis heute nicht. Dazu hatte sich nie einer von ihnen geäußert. Mittlerweile hatte ich alles, was mir gehörte, und das war nicht viel, eingepackt. Das Taxi stand, ebenso wie Tessa, wartend vor dem Haus, während die Sonne mit dem hellblauen Himmel um die Wette strahlte. Tessas lange blonde Mähne wirkte dadurch noch heller als sonst. Sie hatte ihre schwarzen Kleider von der Beerdigung gegen eine blaue Jeans und einen eng anliegenden orangefarbigen Pullover ausgetauscht, und wenn man sie so ansah, glaubte man nicht, dass sie heute ihre Eltern zu Grabe getragen hatte.
Sie mochte mich nicht, das war schon lange kein Geheimnis mehr. Warum sie mich nicht mochte? Mal waren es meine blauen Augen, dann wieder meine schulterlangen goldbraunen Haare, über die sie etwas zu meckern hatte.
Und an einem anderen Tag war es wieder etwas ganz anderes. Als ich daran zurückdachte, musste ich unwillkürlich lächeln. Jetzt, mit Anfang zwanzig, war es eigentlich ziemlich deutlich. Mit meinem Einzug damals hatte sie zwar eine Schwester, aber in erster Linie eine Konkurrentin bekommen. Sie war damals sieben und völlig verzogen gewesen. Ihre Mutter war vor allem diejenige, die Tessa nie etwas abschlagen mochte und das hat sich Tessa stets geschickt zu Nutzen gemacht. Oft hatte Marcia deswegen Streit mit Gregory gehabt, aber er war der Typ Mann, der sich seiner Frau lieber unterordnete und den Streit schnell schlichtete, als seine eigene Meinung konsequent zu vertreten.
Nun stand diese junge Frau dort draußen neben ihrem Wagen, mit einem siegessicheren Lächeln im Gesicht und dennoch wirkte sie auf mich traurig. Nach der Nachricht über den Tod ihrer Eltern wollte ich ihr beistehen, aber sie lehnte es ab. So wie sie immer meine Hilfe abgelehnt hatte, wenn ich ihr zum Beispiel für die Schule helfen wollte, weil ihre Noten, im Gegensatz zu meinen, immer schlechter wurden.

Dennoch war ich mir sicher, dass meine Anwesenheit in den letzten zwei Wochen für sie Trost genug war. Ich nickte ihr noch kurz zu, welches sie leicht erwiderte, ehe ich ins Taxi stieg und meinem alten Leben endlich den Rücken zukehren konnte. Tessa Jonsens schaute mir noch kurz nach, ehe sie ins Haus ging. Mein neues Leben hatte genau jetzt begonnen und ich konnte es nicht erwarten. Ich war mir sicher, dass es nur besser werden konnte und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit konnte ich wieder lächeln!

Kapitel 2 – Neuanfang

Im Flugzeug genoss ich die Aussicht, auch wenn man natürlich die meiste Zeit nur den endlosen weiten Himmel sah.
Ich liebte das Fliegen, nur leider war ich bisher kaum dazu gekommen. Die wenigen Male, wo ich fliegen durfte, waren ebenfalls die zu Stewart gewesen und das letzte Mal lag schon Jahre zurück. Umso mehr genoss ich nun jede Minute dieses langen Fluges.

Ein letzter Blick noch auf Amerika, dann kam bereits das tiefe Blau des Atlantiks und kurz darauf hüllten uns die Wolken sanft ein. Der Flug war sehr lange und ich musste insgesamt zweimal umsteigen, was mich etwas störte, da alle Passagiere jedes Mal erneut überprüft wurden und es somit grundsätzlich zu Verzögerungen kam.
Aber als ich endlich im letzten Flieger nach England saß und es bereits erneut dunkel draußen wurde, machte ein wunderschöner Sonnenuntergang hoch oben über den Wolken alles wieder gut. Das sanfte Goldgelb, das langsam in ein zartes Rotorange überging, sah einfach wunderschön aus und mit diesem Bild in meinem Kopf konnte ich schließlich auch noch etwas schlafen. Am frühen Mittag landete die Maschine dann endlich in England auf dem Flughafen von Birmingham. Ich genoss es, ebenso wie all die anderen Passagiere, meine Glieder zu strecken und ging, während ich auf mein Gepäck wartete, immer auf und ab.

Das lange Sitzen hatte sich auch bei mir bemerkbar gemacht, aber all die Strapazen waren mir egal, denn mein neues, hoffentlich besseres Leben hatte jetzt angefangen. Ein Taxi sammelte mich, nachdem ich mit meinen zwei Koffern nach draußen ins Kühle ging, dann auch schon ein, um mich in einer fast dreistündigen Fahrt weiter nach Vanicy zu bringen. Onkel Stewart hatte sich um das Taxi gekümmert, da er es nicht rechtzeitig geschafft hätte, mich abzuholen. Nach dem langen Flug mochte ich zwar nicht mehr sitzen und die Taxifahrt forderte meine ganze Willensstärke, nicht einfach aus dem Auto zu springen und den ganzen Weg zu Fuß zurückzulegen, dennoch überwiegte die Freude, endlich das Gefühl zu bekommen, zu Hause zu sein. Das letzte Mal war ich vor fast zehn Jahren, ungefähr zwölfjährig, hier gewesen, aber ich konnte mich noch an alles von damals erinnern.

Ich war gespannt, ob Vanicy, ein kleines Städtchen westlich in England gelegen, noch immer so aussehen würde wie damals. Diese kleine Stadt hatte knapp zweitausend Einwohner und wurde von einem großen tiefen Wald umhüllt, der kleinen Kindern oft und gerne Angst einjagen konnte, während die Jugendlichen sich dort gerne versteckten, um heimlich die erste Zigarette zu probieren oder um ein bisschen rumzuknutschen. Auf der anderen Seite grenzte der Wald am sogenannten Klippenmeer. Das Beste aber war die Universität, bei der ich mein Studium, das ich in Arizona vor einem Jahr begonnen hatte, tatsächlich weiterführen konnte. Nicht viele Unis bieten mein Hauptfach, nämlich Philologie, an, und ich hätte dies nur ungern getauscht, da es mir nach anfänglichen Schwierigkeiten mittlerweile sehr viel Spaß bereitete. Ich hatte wirklich Glück, dass es eine derartige Universität in Vanicy gab. Als ich Onkel Stewart vor über einem Jahr von meinem Studium erzählte, hatte er absolut keine Ahnung, was genau Mediävistik oder eben auch Philologie zu bedeuten hatte. Also versuchte ich ihm zu erklären, dass es in meinem Studium der Philologie um die englische Sprache in all ihren historisch belegten Epochen, sowie der englischen Literatur ginge.
Seine Reaktion war ziemlich belustigend, denn er konnte weder einem langen Studium, geschweige denn einem so merkwürdigen Fach, wie er es nannte, etwas abgewinnen. Er ist mit seinem Job als Sheriff in Vanicy mehr als zufrieden. Ein bisschen Büroarbeit, ansonsten viel Zeit draußen verbringen und den üblen Burschen, die mal wieder etwas geklaut oder jemanden überfallen hatten, Manieren beizubringen, tadeln oder auch mal etwas härter bestrafen, das ist Stewart Jonsens. Jedenfalls war es neben meinen guten Noten besonders ihm zu verdanken, dass ich auf die Vanicy University, als Quereinsteiger mitten im laufenden Semester gehen darf. Wir kamen in Vanicy an und wie schon zehn Jahre zuvor saugte ich alle Eindrücke in mir auf.
Jetzt stand er, ein Mann Mitte fünfzig mit ergrautem Haar, vor seinem hübschen kleinen Holzhäuschen mit überwuchertem Vorgarten und wartete auf mich.
Die Begrüßung fiel, wie zu erwarten, sehr freundlich aus, und nachdem er das Taxi bezahlt hatte, gingen wir in sein Haus. Onkel Stew hatte zudem den Versuch gestartet, sein Gästezimmer entsprechend für mich herzurichten. Er gab sich wirklich viel Mühe, um es mir gemütlich zu machen, auch wenn er es bisher nicht gewohnt war, mit jemandem zusammen in einem Haus zu leben. Ich fand es merkwürdig, dass er noch immer allein lebte, wollte mir diese Frage aber lieber für später aufheben.
In meinem neuen Zimmer standen gleich rechts neben der Tür ein schöner Eckkleiderschrank und ein Bett, während auf der linken Seite des Zimmers ein schönes Sideboard mit Fernseher und einer Musikanlage den Raum schmückte. Auch an einen kleinen Tisch, der als Schreibtisch dienen sollte, hatte er gedacht.
Das Fenster war groß, ließ viel Licht in den Raum und die Fensterbank war so breit, dass man es sich auf ihr bequem machen konnte. Zumindest sah es so aus und ich wollte es bei Gelegenheit mal ausprobieren. Die Tapeten hatten ein schlichtes Weiß. Alles in allem war es ein wirklich schönes, gemütliches Zimmer und hier hatte ich zumindest auch mehr Platz als in Arizona. »Also, ich hoffe der Platz reicht dir, und falls du mehr Farbe an die Wand haben möchtest oder sonst was verändern willst, dann sag einfach Bescheid.
Wenn du alles eingeräumt hast, dann komm doch runter. Ich mache uns etwas zu essen.« »Es ist perfekt, sehr schön, danke, ehrlich. Okay, ich packe nur schnell aus, dann komme ich.« Nachdem ich meine wenigen Sachen eingeräumt hatte, ging ich zu Stew in die Küche hinunter. »Deine Kochkünste haben sich aber nicht sonderlich verbessert«, lachte ich und biss mit verzerrter Miene in einen Pfannkuchen. Zumindest sollte es einen darstellen, was ihm optisch auch einigermaßen gelungen war. Nur genießbar war er überhaupt nicht. »Was denn, so schlimm?«, konterte Stewart mit einem Lächeln im Gesicht.
»Also gut, du hast ja recht. Einen Versuch war es immerhin Wert, für meine Lieblingsnichte zu kochen. Dann lass uns ins Diner fahren«, sagte er, sprang von seinem Stuhl und ging mit großen Schritten Richtung Tür. Ich mochte diese lockere unverkrampfte Art an ihm.
Wir hatten dieselbe Art Humor, was es uns schon immer leicht gemacht hatte, aufeinander zuzugehen. Ich fühlte mich, als wenn ich nur kurz weg gewesen wäre, doch stattdessen waren über zehn Jahre vergangen, als ich ihn das letzte Mal besuchen durfte und danach hatte er es nur ein einziges Mal zu uns nach Arizona geschafft. Und auch das war schon vier Jahre her. Bis auf ein paar graue Haare mehr schien er sich äußerlich nicht verändert zu haben. In Danas Diner angekommen, stellte ich vergnügt fest, dass sich auch hier nichts verändert hatte. Robuste dunkle Holztische, auf denen Salz- und Pfefferstreuer standen und rot bezogene Stühle und Bänke, bei denen die meisten schon durchgesessen waren.
Es passte optisch nicht richtig zusammen, aber man gewöhnte sich schnell an diesen ungewöhnlichen Stil und dann konnte man das Diner durchaus als einen gemütlichen Ort betrachten. Eine junge Frau namens Dana hatte dieses Restaurant Ende des neunzehnten Jahrhunderts eröffnet und bis auf die Bilder an den Wänden, die durch moderne Landschaftsaufnahmen und zwei Hirschgeweihen ausgetauscht wurden, sah alles noch genauso aus wie früher.
Sowohl die Einwohner von Vanicy als auch Reisende, die sich manchmal hierher verirrten, kamen gerne in dieses etwas ungewöhnliche Restaurant. Natürlich erkannte mich auch Cinthia, die Bedienung des Diners, wieder. Sie war eine kleine rundliche Frau Anfang fünfzig, immer mit einem netten Lächeln im Gesicht und sie vergaß erstaunlicherweise nie ein Gesicht.

»Ja, wenn das nicht die kleine Enya ist. Schön, dich nach so langer Zeit mal wieder zu sehen. Hast dich ja lange nicht blicken lassen und hübsch bist du geworden«, sagte sie mit einem netten Augenzwinkern zu mir. »Hallo, Cinthia. Es ist auch schön, dich wieder zu sehen. Wie geht’s deiner Katze?«, gab ich lächelnd zurück. Cinthia hat eine alte Katze, die ihr aber treu ergeben ist und mit Sicherheit auch mehr als sieben Katzenleben hat.
»Och, dem alten Kater geht’s blendend. Wird immer älter und hält tapfer durch.« Stewart und ich gingen, wenn ich ihn für rund eine Woche besuchte, gerne ins Diner und wir bestellten auch immer das Gleiche. Burger, Pommes und Salat und dazu für jeden eine große Fanta. Mit der Zeit wurde daraus so etwas wie eine Tradition von uns beiden.
»Stew, du isst doch eh immer das Gleiche«, gab Cinthia lachend zurück, als er gerade seine Bestellung aufgeben wollte. »Und wenn ich mich richtig erinnere, gibt’s das Ganze heute gleich zweimal. Schön, dass du wieder hier bist. Stewart konnte die letzte Woche über nichts anderes mehr reden«.
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie mit einem strahlenden Lächeln zurück und gab unsere sowie drei weitere Bestellungen an die Küche weiter. »Du isst tatsächlich jedes Mal das Gleiche?«, sagte ich mehr als Feststellung denn als Frage und Stewart bejahte dies daraufhin mit einem leicht verlegenen Lächeln. »Und wie oft kommst du hierher?« »Na ja, ich schätze so zweimal die Woche«, sein Lächeln verriet ihn, »okay, also wohl eher vier Mal die Woche.«

Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie sehr Stewart mich vermisst haben musste, und dies an einem einfachen Essen festzustellen, mag für Außenstehende alles andere als logisch klingen, aber für mich war es das. Kurz bevor ich nach dem Tod meiner Eltern zu den Jonsens musste, ging ich mit ihm hierher und wir bestellten uns zum ersten Mal 'unser Essen'.
Trotz der schlimmen Lage, in der ich mich damals befand, konnte mich Stewart immer aufheitern und er wusste fast immer, was er wann und wie am besten zu mir sagen konnte. Und jedes Mal, wenn ich ihn zusammen mit Gregory besuchen durfte, denn dieser hatte mich nie allein hierher reisen lassen, genossen wir einige Tage nur zu zweit.
Und dazu gehörte natürlich immer ein Abstecher in Danas Diner, wo wir uns Burger, Pommes, Salat und Fanta bestellt hatten. Es wurde einfach unser Ritual.

Da ich von meinem Platz aus fast das ganze Diner gut einsehen konnte, genoss ich es, die ganzen Menschen in Ruhe näher anzuschauen. Es saßen einige der ortsansässigen Farmer an den Tischen, ein paar Familien mit kleineren Kindern, die um ihre Stühle rannten, zwei junge Pärchen, eines davon schaute sich verliebt an, während das andere sich gerade etwas zu streiten schien, sowie drei ältere Herren, die an der Theke auf den Barhockern saßen und ihr Bier tranken. Die Stimmen im Raum vermischten sich mit der leisen Hintergrundmusik und ein angenehmer Essensgeruch lag in der Luft.

Meine Narbe an der Hand fing wieder zu schmerzen an und lenkte mich von einer weiblichen, schlanken Bedienung, der ich gerade zuschauen wollte, wie sie vier Teller auf einmal zu den Tischen balancierte, ab. Kurz darauf kam auch schon unser Essen, und während wir uns wie zwei ausgehungerte Wölfe darauf stürzten, betraten drei weitere Personen das Diner, die, im Gegensatz zu den anderen Leuten vorher, plötzlich mein ganzes Interesse weckten. Es waren zwei junge Männer und eine junge Frau.

Den ersten Mann schätzte ich etwas älter ein als mich. Er hatte kurzes schwarzes Haar und eine etwas schlaksige Figur. Die Frau an seiner Seite schien etwas älter zu sein. Sie hatte eine schöne weibliche Figur, wie ich fand, und kurze strubbelige braune Haare. Ihre ganze Art und ihr Auftreten wirkten auf eine nette Weise frech und freundlich zugleich. Und dann tauchte er hinter den beiden auf. Er ging etwas hinter ihnen und setzte sich am Tisch den beiden gegenüber, sodass wir direkten Blickkontakt hätten halten können, doch er schaute nur seine Begleiter an und unterhielt sich mit ihnen.
Er war groß, breitschultrig und hatte dunkelblonde struppige Haare. Er trug eine dunkelblaue Jeans und ein kurzärmliges Shirt, was mich, in Anbetracht des herbstlich kühlen Wetters hier, doch etwas erstaunte. Seine Arme waren durchtrainiert und seine Brust hob sich leicht bei jedem Atemzug. Schnell versuchte ich meinen Blick von ihm zu lösen, doch ich blieb an seinem Gesicht hängen, das mich magisch anzog. Plötzlich merkte ich, wie er meinen Blick mit unberührter steifer Miene erwiderte und wie ein scheues Reh schaute ich schnell weg.
Ich merkte, wie mir eine leichte Röte ins Gesicht stieg und mein Herz immer schneller schlug. Ich versuchte meine ganze Aufmerksamkeit dem Salatblatt auf meinem Teller zu widmen und langsam beruhigte sich mein Körper zum Glück wieder. Stewart hatte von alledem glücklicherweise nichts mit bekommen und selbst ich war über mich selbst überrascht. Denn bisher hatte mich noch nie ein anderer Junge derart und vor allem so schnell in Verlegenheit gebracht.
»Sag mal, Stew, wer sind eigentlich diese Leute dort drüben? An die kann ich mich gar nicht mehr erinnern.«
Mit einem leichten Nicken deutete ich zu dem Tisch der Drei hinüber.
»Die drei dort drüben meinst du? Ach, das sind die Cartwrights.« Er nahm einen kurzen Schluck Fanta.
»Arthur Cartwright ist der Arzt hier im kleinen Krankenhaus. Ein sehr netter Mann. Er kam vor einigen Jahren mit seiner Frau Francis und seinen drei Kindern, übrigens alle adoptiert, obwohl sie sich doch irgendwie ähneln, hierher.
Cyril, Annabelle und Jadon. Cyril erinnert mich immer an eine verhungerte Bohne, die man füttern möchte. Der Arme scheint einfach nicht zuzulegen. Aber nette Leute sind das, denn sie machen keinen Ärger und sind immer freundlich.
Zumindest mir gegenüber, kann ja auch nur für mich sprechen«, beendete er seinen Satz und stopfte sich weitere Pommes in seinen Mund. Also hieß der andere Mann Jadon Cartwright, stellte ich fest. Nachdem wir fertig gegessen und ich Cinthia geschworen hatte, in den nächsten Tagen auf jeden Fall wieder zu kommen, standen wir auf und verließen das Diner.
Während wir zur Tür gingen, schien Jadons Blick auf mir zu kleben, aber sein Blick war kühl und seine Miene verzog sich auch dann nicht, als ich ihm ein kleines vorsichtiges Lächeln zukommen ließ. An der Tür drehte ich mich dann noch einmal vorsichtig und möglichst unauffällig um und schaute zu ihm, aber er hatte sich bereits wieder von mir abgewandt und redete mit seinen Geschwistern.

Zwei Tage später begann endlich die neue Woche und ich konnte ab sofort wieder zur Universität gehen. Den gestrigen Tag hatte ich fast ausschließlich in meinem Zimmer verbracht, da es draußen geregnet hatte. Der prasselnde Regen wirkte so beruhigend auf mich, dass ich es mir auf meiner breiten Fensterbank, mit Hilfe eines dicken Kissens und einer Decke, dort gemütlich gemacht hatte.
Der Platz war wirklich perfekt. In Arizona hatte es kaum geregnet. Stattdessen war es dort für meine Verhältnisse meistens viel zu heiß. Somit war der gestrige verregnete Tag eine willkommene Abwechslung für mich gewesen. Ich freute mich auf die neue Universität und war gespannt, wie gut ich hier klarkommen würde.
Auch hoffte ich auf neue Bekanntschaften, aus denen sich vielleicht sogar eine Freundschaft entwickeln könnte und natürlich wollte ich endlich mehr über die weiteren Umstände des Unfalles meiner Eltern herausbekommen. Stewart hatte mir gestern als Begrüßungsgeschenk einen alten, dunkelroten Pick-up geschenkt, mit dem ich nun immer zur Uni fahren konnte. Ich war wirklich wahnsinnig stolz, denn es war mein erstes eigenes Auto und daher behandelte ich es seit der ersten Sekunde an wie etwas ganz Besonderes.

Als ich bei der Universität ankam, war bereits überall auf dem Campus reges Treiben und auf dem Parkplatz trudelten immer mehr Studenten und Dozenten ein. Einige trafen sich an ihren Autos und unterhielten sich noch, während bereits andere in das Gebäude gingen. Nachdem ich einen Parkplatz gefunden hatte und ausgestiegen war, betrachtete ich voller Vorfreude das alte Gebäude, in dem die noch junge Universität sich erst vor einigen Jahren hatte einnisten durfte. Ich hatte bereits auf der Homepage vieles lesen und mir Bilder ansehen können und auch Stewart hatte mir etliche Bilder vorab per E-Mail nach Arizona rübergeschickt. Aber in natura fand ich sie einfach umwerfender und schöner. Sie war kleiner als meine vorherige Universität, aber genau das gefiel mir so an ihr.

Die nächst größere Universität wäre einige Autostunden entfernt gewesen, nähe London. Als ich mir dieses Gebäude hier nun ansah, konnte ich mein Glück kaum fassen. Das Gebäude stammte noch aus dem achtzehnten Jahrhundert, aber trotz Renovierungsmaßnahmen achtete man immer darauf, dass es seinen ursprünglichen Zustand beibehielt. An der linken Seite wucherte Efeu und schlängelte sich auf elegante Weise an der Hausmauer hoch.

Eine alte dicke Eiche stand ebenfalls auf dem Platz vor dem großen Eingang und ihre alten Zweige und Äste ragten in den Himmel. Was muss dieser Baum schon alles miterlebt haben? Ja, ich hatte definitiv Glück, genau wieder zu meinem ursprünglichen Heimatort zurückkehren zu dürfen, an diese Uni gehen zu können, die nicht sehr groß war, was aber auch daran lag, dass sie in den Hauptfächern eher weniger beliebte Fächer, wie meine Philologie, anboten. Ja, ich fühlte mich tatsächlich wieder etwas mehr wie zu Hause und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Als ich meinen Blick von der Eiche und dem Gebäude losreißen konnte, sah ich gerade zwei Jungen, die sich beim Gehen gegenseitig einen Football zu warfen, einige Meter an mir vorbeilaufen. Allerdings übersahen sie dabei ein anderes Mädchen und rempelten es an, woraufhin ihre Bücher und Zettel, die sie unter ihrem Arm trug, zu Boden fielen, was die beiden aber nicht weiter zu stören schien, denn sie liefen einfach weiter.

Fluchend hockte sich die junge Frau hin, um alles wieder einzusammeln und ohne etwas zu sagen, ging ich zu ihr hinüber und half ihr dabei.
»Danke, lieb von dir.« »Keine Ursache, zu zweit geht’s eben schneller«, antwortete ich.
»Bist du neu hier? An deinen Akzent hätte ich mich sicherlich erinnert«, sagte sie, während wir wieder aufstanden.
»Ja, seit dem Wochenende. Ich lebe jetzt bei meinem Onkel«. Ich schaute sie an und etwas an ihr kam mir so vertraut vor, doch ich konnte es nicht schnell genug einordnen. »Ach du heilige Scheiße, Enya, bist du es?«
Plötzlich fiel auch mir es wie Schuppen von den Augen.
»Alice? Mein Gott, Alice, ich hab dich gar nicht erkannt.«
Wir umarmten uns und konnten es wohl beide noch nicht recht glauben. Alice war meine beste Freundin gewesen, als ich noch ganz klein war. Nach meinem Umzug nach Arizona konnten wir uns nur noch zweimal kurz sehen. Wenn ich mal wieder zu Besuch gewesen war, und diese Besuche waren für meine Bedürfnisse eh immer viel zu kurz, hatten wir uns auch sehen können, aber jeder von uns hatte sich weiterentwickelt und so blieb es zuletzt lediglich bei oberflächlichen Worten oder kurzen und sehr wenigen Mails.

Nach einer kurzen Erklärung meinerseits, warum ich nun endgültig wieder hier leben konnte, stellten wir zudem fest, dass wir ziemlich viele Kurse gemeinsam hatten, woraufhin sich Alice bei mir einhakte und mit mir zusammen in die Uni ging. Sie wollte schnellstmöglich, dass ich mich wohlfühlte und ich dankte es ihr mit einem breiten Lächeln. Sie versuchte mich tatsächlich binnen weniger Minuten auf den aktuellsten Stand hier zu bringen, und selbst als wir bereits im Kursraum Platz genommen hatten, gab Alice zu fast jedem Studenten, der durch die Tür kam oder der sich bereits im Raum aufhielt, ihren Kommentar ab. Sie war gerade dabei, mir von Riley zu erzählen, der kurz zuvor durch die Tür gekommen war, als mein Interesse jedoch plötzlich einem anderen galt. Jadon Cartwright, der merkwürdige Mann ohne Lächeln aus dem Diner betrat gerade den Raum.
Er bemerkte mich, zumindest schaute er mich kurz an, während er wortlos an mir vorbeiging und sich an einen Tisch schräg hinter uns setzte.
»Und wer ist das?«, fragte ich in einem beiläufigen Flüsterton und deutete mit meinen Augen Richtung Jadon. Vielleicht konnte Alice mir noch mehr über ihn erzählen?
»Oh, ja, das ist einer der Cartwrights. Und dieses hübsche Exemplar hinter uns ist Jadon Cartwright.« Alice zwinkerte mir zu.
»Er sieht verdammt gut aus, nicht wahr? Aber bei ihm verschwendest du nur deine Zeit«. »Ich sage ja nicht, dass ich Interesse an ihm habe. Und wieso würde ich meine Zeit mit ihm verschwenden?« Ich gab mir größte Mühe, dabei so neutral und desinteressiert wie möglich zu klingen, doch Alice Grinsen sagte mir, dass sie mir diesbezüglich wohl keinen Glauben schenken würde.
»Sagen wir es mal so. Er und die anderen Cartwrights sind am liebsten unter sich und bisher konnte keine bei ihm landen. Er scheint einfach kein Interesse an einer Frau hier zu haben, also entweder schwul, wenn du mich fragst, oder ihm gefällt hier tatsächlich keine. Allerdings gibt es hier einige Frauen, die gerne mit ihm ... du weißt schon«, sie lächelte.

Dann hatte sich das Thema zum Glück erst mal erledigt, da der Dozent mit seinem Unterricht begann. Während des ganzen Kurses spürte ich seine Augen auf meinem Rücken und ich musste mich dadurch immer wieder leicht zu ihm umdrehen.
Noch nie zuvor war ich einem Mann begegnet, der mich auf eine so unerklärliche Weise faszinierte und nervös machte. Und ich wusste nicht, ob mir dies gefallen oder eher missfallen sollte. Die nächsten zwei Kurse hatte ich ebenfalls mit ihm zusammen und alle liefen gleich ab. Ein kurzer Blick von mir oder ihm, seine Miene blieb jedes Mal genauso regungslos, wie kürzlich im Diner und das war’s auch schon.
Nach der Pause hatte ich einen Kurs ohne ihn, was mir sehr gelegen kam. Ich konnte ihn nicht einschätzen, er machte mich mit seinen merkwürdigen Blicken nervös und das missfiel mir sehr, da ich vorher noch nie von jemandem derart aus der Ruhe gebracht worden war. Und warum konnte er nicht wenigstens ein bisschen zurücklächeln?
»Du scheinst den Cartwrightjungen ja sehr faszinierend zu finden. Aber da bist du nicht die Erste und wirst auch nicht die Letzte sein«, gab Alice mir mit einem freundschaftlichen Zwinkern zu verstehen und dabei beließ ich es auch fürs Erste.
Den letzten Unterricht für heute hatte ich ohne Alice und dank ihrer guten Führungen und Erklärungen den gesamten Tag über hatte ich auch keine Schwierigkeiten, den richtigen Raum auf Anhieb allein zu finden. Es waren bereits alle da, sogar der Lehrer, bei dem ich mich, wie schon bei allen anderen zuvor, kurz vorstellte, um mir dann einen Platz zu suchen.

Da alle anderen Tische besetzt waren, nahm ich am hinteren Tisch neben Jadon Platz, der noch frei war. Er starrte mich weiterhin von der Seite an, natürlich ohne jede Miene zu verziehen. Als ich mich zur Seite drehte und mich ihm kurz vorstellte, was mich im Übrigen einiges an Überwindung kostete, nickte er nur kurz und starrte wieder geradeaus. Mit dieser Reaktion konnte ich nun überhaupt nichts mehr anfangen und allmählich ging mir seine ganze Art dermaßen gegen den Strich, dass ich ihn die restliche Stunde keines Blickes mehr würdigte, wohl wissend, dass seine Augen hingegen die ganze Zeit auf mir ruhten.
Kaum war der Unterricht zu Ende, sprang er auch schon auf und eilte aus dem Raum. Wirklich verwundert hätte ich darüber nach allem nicht mehr sein sollen, dennoch war ich es. Ich spürte einen kleinen Stich in der Magengrube, doch dieses Gefühl verdrängte ich auch gleich wieder erfolgreich. Ich hatte keine Lust auf merkwürdige Gefühle bezüglich eines Mann, der mich ganz offensichtlich nicht leiden konnte, obwohl er mich nicht kannte.
Doch obwohl ich mir klarmachte, dass ich definitiv kein Interesse an ihm hatte und auch nicht haben würde, wollte ich ihm zu verstehen geben, dass seine Art mir gegenüber einfach unangebracht war. Was fanden andere Frauen an ihm? Ich fand ihn eher eingebildet, total unhöflich und arrogant. Aussehen ist eben nicht alles, raunte ich mir selber kurz zu. Ich wollte ihn zur Rede stellen, in der Hoffnung, dadurch auch mein Gefühlschaos irgendwie wieder in den Griff zu bekommen oder zu verstehen, doch er blieb verschwunden.

Er tauchte die nächsten Tage weder in der Uni, noch im Diner auf. Nicht, dass ich nach ihm gesucht hätte, aber ich schaute aufmerksamer als sonst durch die Gegend. Es nervte mich, da ich fast unentwegt an ihn denken musste, ohne dass ich es beabsichtigte. Um mich auf etwas anderes zu konzentrieren, bekam Alice jetzt meine ganze restliche Aufmerksamkeit und dank ihr wurde ich nicht nur sehr gut abgelenkt, ich lernte auch ihre anderen Freunde kennen. Patrick Graude, Claire Carteret und Ruben Bestler waren genau wie Alice und ich Anfang zwanzig und wir verstanden uns auf Anhieb alle sehr gut.

So trafen wir uns jetzt regelmäßig in den Pausen zwischen unseren Kursen draußen auf dem Unigelände und gingen nach Unterrichtsschluss auch mal zusammen im Diner etwas essen. Es machte mir wirklich Spaß und ich lebte mich dadurch immer besser ein. Gegen Ende der Woche hatte ich bereits das Gefühl, als wäre ich nie wirklich weg gewesen, was ich besonders meiner alten und neuen Freundin Alice Brightler zu Verdanken hatte. Auch Onkel Stewart schien sehr erleichtert darüber zu sein, dass ich mich hier endlich wohlzufühlen schien. An Jadon Cartwright musste ich somit zum Glück vorerst nicht weiter denken.


Kapitel 3 – Nacht der Wahrheit

Am Donnerstag hatten wir uns noch alle für den Abend in der Bibliothek verabredet. Dass der Besuch einer Bibliothek abwechslungsreich und lustig sein konnte, verdankte ich Patrick und Ruben. »Sind die beiden eigentlich immer so?«
»Eigentlich ja. Wenn ich mal so darüber nachdenke«, Claire lachte, »habe ich die noch nie anders erlebt.« »So sind wir eben ...«
Patrick grunzte, als Ruben ihn kurzerhand in den Schwitzkasten nahm. »Besser als immer so stocksteif wie Misses Lansky zu sein«, sagte Ruben unter grölendem Lachen.
»Pst, die Herrschaften! Ich muss doch wirklich bitten. Benehmen sie sich gefälligst«, keifte Misses Lansky, die Bibliothekarin, auch schon in leisem, aber strengen Tonfall.
Dies hatte natürlich zur Folge, dass wir uns alle das Lachen nur noch schwerer verkneifen konnten und als Misses Lansky wieder zu ihrem Platz zurückging, ahmten die beiden Jungs sie auch gleich nach.

Die Hausarbeiten, die wir bald abgeben mussten und weshalb wir ursprünglich in die Bibliothek gekommen waren, musste also warten. Obwohl ich ansonsten immer sehr diszipliniert in solchen Fällen war, machte ich hier gerne eine Ausnahme.

Ich fühlte mich richtig wohl, das Lachen kam ehrlich und aufrichtig aus mir heraus und ich fühlte mich so gut, wie schon lange nicht mehr. Draußen wurde es dunkel, als ich mich von den anderen verabschiedete und gut gelaunt zu meinem Auto ging. Es war ein schöner lauwarmer Herbstabend, vermutlich einer der Letzten, bis die Winterkälte endgültig zu uns kommen würde. Der Duft von Regen lag in der Luft. Wie ich diesen Geruch liebte, zumal dieser in Arizona immer Mangelware gewesen war. Jetzt wollte ich aber schnell nach Hause, es mir in meinem Zimmer gemütlich machen und den restlichen Abend mit einer heißen Tasse Tee genießen.

Außerdem wartete noch etwas Arbeit für mein Referat morgen auf mich, wo ich auch noch hinterherhinkte. Bei diesem Gedankengang musste ich lachen. Ich hatte mich die letzten Tage so gut mit meinen neuen Freunden abgelenkt, dass ich für die Uni fast rein gar nichts fertig bekommen hatte. Aber das war mir so was von egal.
Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Freunde, die mir gegenüber ehrlich und aufrichtig waren und die ich schon nach so kurzer Zeit fest in mein Herz geschlossen hatte. Allen voran natürlich Alice. In Arizona hatte ich zwar auch ein paar Freunde und auch eine etwas bessere Freundin, Cecilia, gehabt. Doch nachdem Cilia, wie ich sie immer nannte, vor über vier Jahren überraschend und urplötzlich wegziehen musste, hatte ich niemanden mehr, mit dem ich richtig quatschen oder mich ausheulen konnte und der mich einfach verstand und für mich da war, so wie ich für ihn.

»Oh verdammt! Bitte nicht jetzt.« Ich verfluchte mein Auto und meine gute Laune war erst einmal wieder verschwunden. Mein Auto wollte einfach nicht anspringen, was aufgrund der Jahre, die dieser Pick-up bereits hinter sich hatte, durchaus nicht ungewöhnlich war. Stew hatte mich darüber informiert, dass der Wagen schnellstmöglich noch einmal überholt werden müsste, aber ich hatte gedacht, es hätte noch etwas mehr Zeit gehabt.

Es waren bestimmt zehn Kilometer bis nach Hause und die Straßen wurden nur zum Teil beleuchtet, was also nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für einen einsamen abendlichen Spaziergang waren. Ich war bestimmt kein Angsthase, aber ich konnte mir durchaus Besseres vorstellen, als abends allein an diesem dunklen Wald vorbeigehen zu müssen. Ich schaute noch mal schnell an der Bibliothek vorbei, aber sie war geschlossen, die anderen waren natürlich auch schon längst weg und über ein Handy, um Stew anrufen zu können, verfügte ich auch noch nicht. Kurz fluchend packte ich meinen MP3-Player aus, warf mir meinen Rucksack über die Schulter und machte mich auf den Weg.

Jammern half mir jetzt sowieso nicht weiter und je länger ich hier stehen würde, desto später und dunkler würde es werden. Außerdem tat mir etwas frische Luft durchaus gut, nachdem ich den ganzen Tag nur in irgendwelchen Räumen zugebracht hatte.

Dank der Musik, die in meinen Ohren dröhnte, ich stand zurzeit auf Rockballaden, was ich durchaus auf mein Gefühlschaos zurückführte, war ich schnell in meine Gedanken und die Musik versunken und nahm nur noch wenig um mich herum wahr.

Ich hatte bereits die ersten vier Kilometer zurückgelegt, bemerkte jedoch aufgrund meiner lauten Musik, in die ich mittlerweile völlig versunken war, das heranfahrende Auto leider erst viel zu spät. Ich hatte noch nicht einmal mitbekommen, dass ich mitten auf der Fahrbahn, statt am Straßenrand, weitergelaufen war.

Erst als hinter mir die Lichter immer heller wurden und ich mich daraufhin umdrehte, sah ich in zwei helle Scheinwerfer, die direkt auf mich zu kamen. Statt noch schnell zur Seite zu springen, stand ich einfach nur regungslos auf der Straße und schaute auf die immer größer werdenden Scheinwerfer und die Umrisse des Wagens, die immer deutlicher wurden.

Das Auto hupte, was ich jetzt selbst durch meine laute Musik wahrnahm und der Fahrer versuchte jetzt, wo er mich eindeutig sehen konnte, noch auszuweichen. Er trat voll auf die Bremse und versuchte sein Auto an mir vorbeizusteuern, was aufgrund des Waldes, der sich an beiden Seiten direkt an die Straße schmiegte, kein leichtes Unterfangen war.
Das Auto war nur noch wenige Meter von mir entfernt, als ich plötzlich von der Straße gerissen wurde und mich unverletzt am Straßenrand wiederfand.....

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Tag der Veröffentlichung: 06.06.2011

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