Zwischen Wölfen und Königen
ist immer noch im wachsen - nicht nur in die Länge. Die ganze Welt reift kontinuierlich. Neue Ideen finden ihren Weg hinein, die manchmal kleine, machmal auch große Änderungen nach sich ziehen. Damit ihr auf dem Laufenden bleibt, werde ich hier stets erwähnen, wenn ich etwas in der bereits geschriebenen Geschichte änderte.
Aktuell betrifft dies den Titel des aktuellen Buches. Endlich bin ich mir sicher, wie die nächste Folgebände heißen werden, und so wurde aus Die Prophezeihung
erst Das Tor von Dorchadas
und nun Dorchadas' Tor
. Dabei wird es auch erst einmal bleiben.
Die Magier von Art-Arien inspirierten mich außerdem, hilfreiche Tipps gleich ins Buch einzubauen. Wann immer ihr ein Wort unterstrichen
seht, klickt einfach drauf, um mehr zu erfahren.
Ich freue mich immer über Kritik, Fragen und Anregungen.
Lieben Gruß
Sonja Bohmann-Murach
im Jahre 1143
Vis Banken, Vlakkeland
Haus von Sorcha O‘Connor
18. Tag des Windumemánodt
Früher Abend des Luönleys
„Roberto
, konzentriere dich auf das Ritual, nicht auf meine Tochter.“
Ertappt huschten die Pupillen des jungen Mannes auf sein Gegenüber. Sorcha
hielt die Lider gesenkt und rührte sich nicht. Der Paese
wusste nicht zu sagen, ob sie die Lippen bewegt und die Worte ausgesprochen oder ob er sie lediglich gedacht hatte. Er warf einen verstohlenen Blick nach Links. Auch die Augen seines Bruders waren geschlossen. Wenn Mario
etwas bemerkt hatte, ließ er sich nichts anmerken. Roberto beschloss, es ebenso zu halten. Er atmete langsam durch, senkte die Lider und versuchte sich von allen Eindrücken zu befreien.
„Fühle dich selbst“, vernahm er Sorchas Stimme und immer noch war er nicht sicher, ob sie in Wirklichkeit sprach oder in seinen Gedanken. „Spüre deine Existenz, lausche deinem Herzschlag, horche auf deinen Atem.“
Die Tonlage der älteren Frau blieb eindringlich und monoton, dabei aber nicht einschläfernd. Roberto horchte in sich, lauschte auf seinen Körper, sein Innerstes und schließlich verschwanden alle störenden Empfindungen des Alltags. Zurück blieb Wärme, das Gefühl von Geborgenheit und Sorchas Stimme.
„Spürt den Kreis, euch und uns.“
Der Anweisung folgend konzentrierte sich der Schwarzhaarige auf jene, deren Hände er umfasste. Zu seiner Linken stand, sein Bruder, ein kleineres Ebenbild seiner selbst, sah man von dem Bart ab, den Mario jeden Morgen sorgsam stutzte. In der rechten Hand spürte er Eyleens
kühle Finger. Sie war Marios Frau und Sorchas Tochter. Roberto fühlte, das Gleichgewicht der beiden Menschen. Von ihrer Nervosität zu Beginn der Zeremonie war nichts geblieben. Dann berührte er eine Welle von Energie und Macht. Sorcha, die ihm gegenüberstand, war von ihnen die Erfahrenste. Sie leitete das Ritual und führte die Familie in eine andere Welt.
„Tretet in den Kreis.“
Sie gehorchten gleichzeitig, traten jeder einen Schritt vor und berührten sich an den Schultern. Der athletische Mann spürte den Teppich aus Bast kaum einen Lidschlag lang unter seinen bloßen Füßen, dann durchdrang er die Wand. Mario und Eyleen keuchten erschrocken auf und Roberto drückte beruhigend ihre Hände. Beide taten diesen kleinen Schritt, diese Reise in eine andere Welt, zum ersten Mal.
Die Wand war zähflüssig und klebrig wie Honig, aber eiskalt. Der Paese hatte das Gefühl um jeden Zentimeter kämpfen zu müssen, zog dabei Bruder und Schwägerin mit sich. Als die Kälte endlich nachließ, stand ihm Schweiß auf der nackten Haut. Er öffnete die Augen und sah sich um. Erst als Sorcha lächelnd die Hände von Mario und Eyleen losließ, tat er es ihr gleich.
Kréská
18. Tag des Windumemánodt im Jahre 1143
Früher Abend des Luönleys
Roberto erinnerte sich noch genau, wie er sich gefühlt hatte, als er das erste Mal ins Kréská
gereist war. Er betrat eine andere Welt, die der wirklichen wie ein Spiegel glich, bevölkert von farblosen, leblosen Schatten. Massive Gegenstände, wie die Wände von Sorchas Hütte, wirkten zum Teil durchscheinend. Roberto erkannte durch die äußere Hülle ein festes Gerüst - und dabei dachte er nicht an die Struktur des Baumes, aus dem die Bretter einst gesägt worden waren. Es sah aus wie Fäden, geschaffen aus einer eigentümlichen Energie. Sie beschreiben zu wollen, überstiege das Verständnis der meisten Erdenbürger. Lebende Wesen, gleich ob Pflanzen, Tiere oder Menschen, sah er lediglich als blasse, halbdurchsichtige Schatten der realen Gestalten. Zwischen den vier Weltenwanderern bedeckte grauer Nebel den Boden, wallte stetig auf.
„Es ist unheimlich“, hauchte Eyleen und legte fröstelnd die Arme um ihren nackten Körper.
„Es ist die Welt der Geister, der Seelen und der Ahnen“, erklärte Sorcha, „eine Welt, die nur wenige begreifen. Selbst die weisesten und erfahrensten Reisenden durch den Ská
stehen immer wieder vor einem neuen Rätsel.“ Die Älteste blickte lächelnd erst zu ihrer Tochter, dann zu ihrem Schwiegersohn und sah schließlich Roberto auffordernd an. „Doch heute sollen die Geister uns helfen, ein Rätsel zu lösen. Setzt euch, Kinder.“
Roberto nickte der Airén
knapp zu und löste sich von der Gruppe. Er war nicht nur hier, um seinem Bruder und dessen Frau Beistand zu leisten. Vor allem war er für die Sicherheit zuständig. Während Sorcha, Mario und Eyleen im Nebel Platz nahmen, verließ Roberto das durchscheinende Gerüst der Hütte. Unter seinen bloßen Füßen fühlte sich die Straße, die in der Realität aus festgetretenem Lehm bestand, unwirklich weich an. Durchsichtige Schatten bewegten sich auf dem Weg. Einige von ihnen schwebten gar hinter dem wässrigen Abbild eines Huftieres. Der groß gewachsene Paese wusste, dass die Leute in der realen Welt auf einem Karren oder in einer Kutsche saßen. Das Gefährt selbst war zu jung, um ein Ebenbild im Ská zu hinterlassen.
Der junge Mann umrundete die Hütte und beobachtete sorgfältig die Umgebung. Am Kai, wo das große Lagerhaus stehen musste, entdeckte Roberto ein paar Taiwsý Fýodohraicht
, Geister, die Strukturfäden erstellten und anordneten. Das Lagerhaus, das in der realen Welt noch nicht einmal zwei Jahre stand, war im Kréská kaum zu sehen. Die Taiwsý Fýodohraicht gaben dem Schatten Struktur und Halt, ließen ihn sichtbar und das Gebäude in der stofflichen Welt stark werden, damit es noch viele Jahre überdauerte. Die Geister arbeiteten langsam, dabei so gründlich und mit einem Geschick, dass Roberto stehen blieb und ihnen eine Weile zusah. Lächelnd beschloss er, Mario später davon zu erzählen. Doch dann riss er sich von dem Anblick los und zwang sich, seinen Rundgang zu beenden. Als er nichts Auffälliges entdeckte, trat er zurück in die Hütte, die hier im Kréská noch viel zerbrechlicher aussah, als in Wirklichkeit.
Sorcha, Mario und Eyleen saßen auf dem Boden, als Roberto eintrat. Zwischen ihnen schwebten grüne Lichtkugeln, welche den Nebel ein wenig vertrieben. In der Mitte stand eine Schale ebenso real, wie sie in der Wirklichkeit war. Ein heißer Stein am Grund erwärmte das Wasser darin.
Wortlos ließ sich Roberto nieder. Er tunkte zwei Finger in eine weitere Tonschale, die Sorcha ihm hinhielt, und nahm braune Farbe auf. Zeigefinger und Mittelfinger setzte er mit etwas Abstand mittig auf seine behaarte Brust und zog zwei Linie bis auf den Bauch. Die Farbe fühlte sich auf seiner Haut wie warmer Schlamm an. Roberto zeichnete vier Querlinien durch die Parallelen und malte zum Schluss einen kleinen Bogen dazwischen auf seinen Bauch. Dies war das Zeichen seiner Sippe, den Wak Fýdohr
, den Söhnen des Webers. Dasselbe Zeichen glänzte bereits auf Marios Körper. Roberto tunkte seine Finger noch einmal in die Farbe und malte sich einen Halbkreis auf die Stirn. Dies war das Symbol des Mondes, in dem er geboren war.
Mit einem wohlwollenden Lächeln nahm Sorcha die Schale wieder an sich. Auf ihrer Stirn glänzte ein voller, kreisrunder Punkt, denn die alte Frau war unter dem Vollmond geboren.
Auf die Oberkörper der beiden Frauen hatte Sorcha das Zeichen ihrer eigenen Sippe gemalt. Es zeigte eine stilisierte Schriftrolle mit einem beinahe vollem Mond darin und stand für die Wak Fynskál
, die Söhne der Legende.
Sorcha stellte die Schale mit der Farbe neben sich und klaubte einige gehackte Kräuter und Pilze aus einem Tuch. Sie begann zu singen, während sie die Pflanzen in das heiße Wasser rieseln ließ. Ihrer kraftvollen Stimme merkte man das Alter nicht an. Schon nach den ersten Tönen fielen Roberto, Mario und Eyleen in das Gebet an die Geister und Ahnen ein.
Zu allererst baten sie Sailach
, die Göttin des Mondes, um Schutz und Beistand während des Rituals, denn sie hatte großen Einfluss im Ská, der Geisterwelt. Den zweite Vers des rhythmischen Gesangs widmeten sie Máhai Talahv
, der Mutter Erde, für die sie mit jedem Atemzug kämpften. Den dritten Abschnitt sang die Alte allein und rief die Seelen ihrer Ahnen, den Wak Fynskál, zur Unterstützung. Ohne im Klang inne zu halten, wiederholte Roberto diese Strophe beinahe wortgetreu und rief die Seelen der Wak Fýdohr.
Die Älteste fiel in einen Sprechgesang, während die Übrigen im Kreis summend die Melodie dazu angaben. Sorcha hob die Tonschale mit beiden Händen und reichte sie ihrer Tochter. Eyleen nahm sie ebenso entgegen, trank einen Schluck und gab das Gefäß Roberto. Dieser beließ die warme Flüssigkeit einen Moment im Mund, genoss das würzige Aroma, ehe der Sud seine Kehle hinab rann und er das Gebräu Mario anbot. Zuletzt trank Sorcha und die Melodie der anderen verklang.
Stille hüllte sie ein.
Erst als die Schale wieder in der Mitte des Kreises stand, stimmten die Vier den Gesang von Neuem an. Sorcha holte den warmen Stein aus dem Sud und zerrieb mit ihm die aufgeweichten Kräuter und Pilze. Das würzige Aroma, das Roberto noch schmeckte, kitzelte ihn nun auch in der Nase.
Sorcha verrührte den Brei mit der Hand, nahm eine großzügige Portion und malte damit das Symbol des Lebens auf den rundlichen Bauch ihrer Tochter. Eyleen war im sechsten Monat schwanger und dieses Ritual hielten sie für ihr Kind ab.
Die Älteste rieb ihre Hände aneinander und hielt sie dann über die Schale, als wollte sie ihre Glieder wärmen. Eine Kugel aus Glut entstand zwischen ihren Handflächen. Das Summen der drei Jüngeren verwandelte sich in offene Töne, ohne dass sie Worte aussprachen. Der Glutball schwebte zwischen Sorchas Händen. Als sie diese zurückzog, fiel das Licht in die Kräuterbrühe. Wasser zischte auf. Rauch umfing die Kugel, verschlang sie und suchte seinen Weg nach oben in den Nebel. Die Melodie verstummte auf ihrem Höhepunkt. Vier paar Augen fixierten die Schale, in welcher der Kräutersud kochte. Die Glutkugel schmolz langsam dahin und ließ neuen Rauch aufsteigen.
„Wir bitten heute für ungeborenes Leben.“ Sorcha lächelte Eyleen aufmunternd zu, ehe ihre grünen Augen nacheinander die Gesichter der beiden Männer erfassten. „Wir bitten die Geister um Rat und um Weisung.“ Roberto vermochte sie durch den Rauch, der weiterhin der Schale entsprang, kaum zu sehen, doch ihre Stimme drang klar an seine Ohren. „Eyleen“, die Älteste griff nach der Hand ihrer Tochter, „du trägst das Kind in dir. Dir gehört die erste Frage.“
Eyleen atmete tief durch, sah alle der Reihe nach an und sagte dann mit leiser Stimme: „Sailach, Herrin des Mondes, bitte sage mir, wird mein Kind gesund sein?“
Roberto warf einen kurzen Blick auf seine Schwägerin und betrachtete sodann die rauchende Schale. Es war die typische Frage einer werdenden Mutter. Sicher hatten die Geister, hatte Sailach, sie unzählige Male gehört. Noch während der Schwarzhaarige darüber nachdachte, veränderte sich der formlose Qualm. Er nahm Gestalt an, wuchs in einer schmalen Säule empor und verdichtete sich in Augenhöhe der Sitzenden, bis er eine flackernde Kerze bildete.
„Das ist nicht möglich“, hauchte Mario. Er war das erste Mal bei einem solchen Ritual anwesend und im Allgemeinen sehr skeptisch eingestellt. Hätten nicht Sorcha und Roberto darauf bestanden, er hätte sich gegen den Ritus ausgesprochen. Eyleens Augen, die so grün waren, wie die ihrer Mutter, leuchteten vor Glück und Erleichterung. Da blies ein Wind durch den Kreis. Die Flamme aus Rauch flackerte auf und erlosch. Zurück blieb die Säule und eine feine Rauchfahne, die sich ihren Weg nach oben in den Nebel suchte.
Marios Augen wurden groß. Instinktiv griff sich Eyleen an den runden Bauch und selbst auf Sorchas Gesicht zeichnete sich Sorge ab.
„Was bedeutet das?“, fragte die Schwangere atemlos. „Mutter, was bedeutet das?“
Alle Blicke ruhten auf der Ältesten, die weiterhin angestrengt die qualmende Schale fixierte. Robertos Augen weiteten sich, als ein neuer, dunklerer Rauchstoß die Säule emporschoss, den schmalen Docht umschloss und als neue Flamme ruhig auf der Kerze saß. Ganz langsam drängte weiterer Rauch nach oben und umschlang das Bild der brennenden Kerze.
„Mutter?“
Die Furchen auf der Stirn der Ältesten glätteten sich. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Sailach gab dir Antwort, meine Tochter. Dein Kind wird gesund auf die Welt kommen. Doch es wird von Gefahren umgeben. Eines Tages wird der Tod an seiner Seite stehen und nach ihm greifen. Doch dein Kind wird stark sein und den Tod besiegen.“
Die Erleichterung der werdenden Eltern war spürbar. Roberto tastete nach ihren Händen und drückte sie, zum Zeichen, dass er immer an ihrer Seite wäre.
„Mario, dein Kind wird geboren, du wirst sein Vater. Die nächste Frage gehört dir.“ Auffordernd nickte Sorcha ihrem Schwiegersohn zu. Roberto vermochte ein Schmunzeln nicht zu unterdrücken, denn er ahnte, welche Frage seinem Bruder auf dem Herzen lag.
„Sailach, bitte sage uns, werde ich einen Sohn haben?“
Das war seit Wochen ein heißer Diskussionspunkt, denn Mario sprach immerzu von seinem Sohn. Wenn Eyleen es hörte, hielt sie ihm fortlaufend vor, er könne nicht wissen, dass er einen Jungen bekäme und über eine Tochter freute er sich sicherlich ebenso.
Der Qualm in der Schale wallte abermals auf und schoss in die Höhe. Er verdichtete sich, doch ehe die Sitzenden ein Symbol erkennen konnten, flog eine Gestalt im Rauch hinab.
Roberto ruckte mit dem Kopf hoch. Aus den Augenwinkeln sah er eine Klinge aufblitzen. Da traf ihn etwas hart am Schädel und es wurde dunkel um ihn.
Eine Frau schrie in schmerzhafter Qual. Sie keuchte atemlos und schrie erneut auf.
„Eyleen?“ Roberto versuchte die Augen zu öffnen, doch es gelang ihm nicht. Seine Lider waren schwer wie Blei und immer wieder griff Düsternis nach dem Geist des Mannes.
„Eyleen.“ Der Name der Schwägerin kam nur mühsam genuschelt über seine Lippen. Die Schreie schwollen an. Sie übertönten beinahe diese andere Frauenstimme, die beruhigend und eindringlich sprach. Er versuchte zu verstehen, was die Frau sagte, doch es wollte ihm nicht gelingen. Irgendetwas an den Stimmen war nicht richtig. Mit aller Macht versuchte Roberto an diesem Gedanken fest zu halten. Für einen kurzen Moment überwältigte ihn das Gefühl von Gefahr. Panisches Kreischen mischten sich in die Stimmen der Frauen. Jemand rief seinen Namen. Roberto roch Blut und Angst. Doch ehe eine Welle von Adrenalin durch seinen Körper schwemmte und ihn begreifen ließ, erkannte er ein anderes Geräusch.
Es war der helle, erste Schrei eines Neugeborenen. Der Paese hob träge eine Hand und fasste sich an den schmerzenden Schädel. Dieser Laut war so falsch. Er passte nicht in das Hier und Jetzt. Und zugleich war der Schrei des Erben alles, was zählte. Mit jeder Faser seines Körpers spürte Roberto die Kraft des Kindes. Sie erfüllte ihn mit Hoffnung und Wärme.
Wind kam auf und mit ihm ein Flüstern, das kaum zu verstehen war und dennoch die schrille Stimme des Säuglings übertönte:
„Ein Kind wird geboren von mehr als zwei Stämmen. Gesucht von mehr als zwei Seiten, lebt es in mehr als einer Welt. Gelehrt von mehr als einem Wesen, wird es geplagt von mehr als zwei Stimmen. Gejagt von mehr als zwei Feinden wird es einmal Frieden bringen.“
„Roberto!“ Der Ruf, so schrill, dass er in den Ohren schmerzte und den flüsternden Wind mühelos vertrieb, ließ den Mann endlich die nötige Kraft finden. Er zwang seine Augen auf und erkannte blitzendes Silber. Sein kampferprobter Körper reagierte instinktiv. Er rollte sich zur Seite und stieß zugleich den rechten Fuß kraftvoll in den Bauch des Angreifers. Erst als Roberto den Widerstand spürte, war er auch geistig wieder da. Er drehte sich auf dem Boden, entging der nieder sausenden Klinge dabei um haaresbreite. Noch einmal trat er nach seinem Gegner, traf dessen Knie und brachte ihn zu Fall. Der Paese rammte ihm die Faust in die Nieren, umfasste mit seiner freien die Waffenhand des anderen und schlug sie so oft wuchtig auf den Boden, dass dieser den Säbel losließ. Roberto verpasste der hässlichen Fratze des Kerls einen Schlag, der ihn ins Reich der Träume schickte, und rappelte sich auf. Seine blauen Augen flogen herum und erfassten die Situation in Sekundenschnelle.
Sorcha hatte sich verwandelt und nahm es gleich mit zwei Angreifern auf. Marios Brust war Blut verschmiert. Er hatte sich schützend vor seine Frau gestellt und versuchte mit bloßen Händen seinen bewaffneten Gegner abzuwehren. Der Anblick erweckte die Bestie in Roberto. Er sprang auf und war mit zwei schnellen Sätzen bei dem Schwertschwinger. Noch während der Bewegung wechselte er die Gestalt. Knochen verschoben sich knirschend und Muskeln wuchsen. Roberto traf sein Ziel mit solcher Wucht, dass der Kerl schwankend zu Boden fiel. Er verwandelte sich weiter. Haare wuchsen auf seinen Armen und schwollen zu einer Felldecke an. Er rammte dem Liegenden seine Hand in den Bauch und traf mit Klauen, die aus seinen Fingern brachen. Sein Opfer heulte vor Schmerz auf, doch Roberto kümmerte sich nicht weiter darum. Erst musste er Mario und Eyleen in Sicherheit bringen.
Er rappelte sich auf und stapfte auf die beiden Menschen zu, die nackt und zitternd auf dem Boden lagen. In ihren Augen stand Panik, als Roberto, nun vollständig bedeckt mit Fell, mit Klauen statt Händen und mit einer Wolfsfratze statt seines Gesichts, über ihnen aufragte.
Seine Wolfsohren zuckten. Das Geräusch, als der Angreifer die feuchte Luft in seine Lungen saugte, um seine Muskeln anzuspannen, sich für einen Aufprall zu wappnen, verriet dessen Unerfahrenheit. Eine Klinge sirrte durch den Nebel. Roberto neigte sich über Eyleen, wich dadurch der Waffe aus und stieß zugleich ein Bein nach hinten. Sein Kontrahent brach den Angriff keuchend ab. Der Paese sah sich nicht länger nach ihm um, umfasste stattdessen die beiden Menschen mit seinen behaarten Armen. Bei dem nächsten Schritt konzentrierte er sich auf die reale Welt. Mario und Eyleen keuchten auf, als die Kälte zwischen den Welten sie wie Eis umschloss. Dann fielen sie auf den Lehmboden in Sorchas Hütte.
Roberto achtete darauf, dass sie einigermaßen sanft landeten, doch weiter konnte er keine Rücksicht nehmen. Er ließ sie los, deutete auf die Tür und betete, dass die beiden ihn verstanden und gehorchten.
Die reale Welt war nur eine trügerische Sicherheit für das Paar. Von den Leuten draußen ließen sich die Angreifer vermutlich mehr abhalten, als von der Kälte zwischen den Sphären.
Ohne eine weiteren Blick auf den Bruder und die Schwägerin stemmte sich Roberto hoch. Mit drei Schritten durchquerte er nicht nur den Raum, sondern auch von Neuem die Barriere zum Ská. Kaum das er im Nebel stand, sah er sich suchend nach Sorcha um.
Die Älteste kämpfte immer noch mit zwei Angreifern zu gleich. Es handelte sich um Bestien, halb Wölfe und halb Menschen. Sie boten eine erschreckende Ähnlichkeit zu der wölfischen Gestalt des Paesen. Zwei weitere riesige Kreaturen lagen besiegt am Boden.
Roberto eilte der Ahnin zu Hilfe. Ihr Fell glänzte dunkel und war zu Büscheln verklebt. An ihrer Hüfte hing es gar in Fetzen herab. Kein Laut des Schmerzes erklang von ihr, doch sie atmete rasselnd und keuchend, während sie sich erneut auf ihren Gegner stürzte. Dies erfüllte Roberto mit mehr Furcht, als jeder Schmerzensschrei es vermocht hätte.
Er drängte seine Sorge fort, schob sie zur Seite und verwandelte sie in blanke Wut. Mit dem Schrei eines Berserkers sprang er einen der Feinde an. Dieser taumelte, fiel gegen die verletzte Älteste und zog sie mit. Zu dritt rollten sie durch den Nebel; ein Knäuel aus Muskeln, Zähnen und Klauen. Roberto brüllte auf, als die Klinge des Angreifers seinen Arm traf. Es war nur ein kleiner Schnitt, doch das Silber fraß sich in seine Haut und erlahmte die Muskeln. Er biss zu ohne darauf zu achten wohin und traf die Schulter. Der Feind keuchte auf, als Roberto mit seinen wölfischen Fängen am Fleisch riss. Es musste ein unerfahrener Kämpfer sein, denn der Schmerz raubte ihm so viel seiner Kraft, dass Roberto ihn auf den Rücken warf. Rasch war er über ihm, langte mit der Pranke nach der Kehle des Unterlegenen und ließ ihm keine Gelegenheit zur Kapitulation. Es gab keinen Schrei mehr, nur ein gurgelndes Röcheln. Der Körper zuckte unter Roberto und lag dann still. Angewidert warf der Krieger die Sehnen in seiner Klaue fort und drehte sich nach Sorcha um.
Trotz der Verletzungen hielt die Alte ihren Gegner immer noch in Schach. Doch nun, nachdem der Angreifer registrierte, dass er der Letzte war, stieß er ein helles Heulen aus. Sorcha setzte ihm nach. Ihre Kiefer schnappten ins Leere, als der Körper der Bestie verschwamm und in die Tiefen der Geisterwelt floh. Alarmiert sah sich Roberto nach den bewusstlosen Widersachern um.
‚Wir hätten sie töten sollen‘, dachte der Krieger beschämt, als diese ebenso verschwanden, wie der erste. Er verdrängte die Gedanken an das, was hätte getan werden müssen und konzentrierte sich auf die Ahnin. Seine Stimme klang ebenso rau wie besorgt, als er sich erkundigte: „Bist du in Ordnung?“
Sorcha verwandelte sich bereits zurück. Das cremefarbene Fell, in dem vom Alter silbrig weiße Streifen schimmerten, schwand und machte ihrem wallenden, blondem Haar Platz. Die tiefen Risse im Pelz wuchsen mit der Haut zusammen, bis nicht mehr als blutverschmierte Striemen übrigen blieben.
„Nur ein paar Kratzer“, kommentierte sie. Herrisch deutete sie mit dem Kopf auf den toten Angreifer. „Kümmere dich um den. Ich werde nach den Kindern sehen.“ Sie verschwand mit dem nächsten Schritt aus dem Kréská, ohne dass sie Robertos Nicken sah.
Der Krieger verwandelte sich zurück in seine menschliche Gestalt, während er sich neben den Toten hockte. Seine blauen Augen wanderten aufmerksam über die haarige Bestie.
Er war ein Recke der Mondgöttin Sailach, halb Mensch und halb Wolf. Am Anbeginn der Zeit hatte die Göttin den Menschen zum Wolf gelegt und ihren Silberschein in die Zusammenkunft gegeben. Auf diese Weise waren die Fiulchú
entstanden, machtvolle Kämpfer zwischen den Welten. Ihre Aufgabe war der Schutz Máhai Talahvs, der Mutter Erde und Schwester der Mondgöttin, vor finsteren Mächten.
Roberto betastete den Leichnam und untersuchte ihn gründlich. Er hoffte einen Hinweis, auf die Abstammung des Kriegers, zu finden. Es gab viele Sippen unter Sailachs Streitern. Vor Dekaden waren sie Eins gewesen, hatten nebeneinander gekämpft, gelebt und geliebt. Doch in der Zeit, als der Llyngyr
, das Böse, in die Herzen der Menschen gekrochen war, hatte es auch die menschliche Seite der Menschwölfe getroffen. Sie wurden herrschsüchtig, eigensinnig und eitel. Jeder sah einen Konkurrenten in seinem Gegenüber und bald galt das erste Gesetz nicht mehr, das besagte, kein Fiulchú dürfe einen anderen töten. Statt Máhai Talahv zu schützen, bekämpften die Krieger des Mondes sich gegenseitig - bis Sailach ein Machtwort sprach. Darauf vereinigten sie sich zu Sippen und änderten das Gebot. Kein Fiulchú einer Sippe durfte einen Gleichgesinnten töten.
Roberto war überzeugt, dass die Bestie weder zu den Wak Fýdohr noch zu den Wak Fynskál gehörte. Er fand allerdings keinen Hinweis auf eine andere Sippe. Lediglich die rituelle Narbe, die jeden erwachsenen Menschwolf kennzeichnete, entdeckte er. Da er keine weiteren alten Kampfspuren fand, war sein Angreifer ein sehr junger, oder wenigstens unerfahrener, Artgenosse gewesen.
Er überlegte, ob er mit dem Geist des Gerichteten reden sollte. Manchmal sprachen die Toten in einem letzten Anflug von Reue zu ihren Richtern. Der Paese zweifelte jedoch an seinen magischen Fähigkeiten. Seine Talente lagen ganz eindeutig auf anderen Gebieten. Er kannte lediglich den Ritus, der die Seele aus dem Körper befreite, damit sie zu ihren Ahnen zurückkehren konnte. Die Technik, den Geist zu binden, ihn am gehen zu hindern und Fragen zu stellen, war Roberto fremd. Er schloss die Augen, atmete tief durch und sammelte die Energie Sailachs in sich. Als er die Lider hob, murmelte er beschwörende Worte aus der alten Sprache der Fiulchú. Dabei legte er seine Hand erst auf das Herz des toten Kriegers, führte sie dann zu dessen Stirn, betastete jedes Seelenfenster und hielt über seinem Mund inne. Als er die Hand wegzog, leuchtete der Körper. Atemlos beobachtete Roberto, wie sich die Seele vom Fleisch löste, wie sie sich aufsetzte und den Paesen ansah. Die Augen schimmerten unwirklich in weiß und grau mit einer strahlenden, goldenen Iris. Roberto keuchte erschrocken auf, als der Geist in sein Innerstes sah. Er fühlte sich nackt, durchleuchtet und glaubte, seine Gedanken und Gefühle lägen offen vor der Gestalt aus dem Äther. Die Stimme der Erscheinung klang wie trockenes Laub im Herbst. Obwohl sie nicht lauter als ein Flüstern war, ging sie durch Mark und Bein.
„Der rechte Weg ist dir noch verschlossen, mein Richter, doch eines Tages wirst du mich verstehen.“
Hätte ein lebender Fiulchú auf diese Weise ein Gespräch angefangen, hätte Roberto ihn zurechtgewiesen. Die Höflichkeit erforderte eine Vorstellung, ehe man ein weiteres Wort an sein Gegenüber richtete. Allerdings nahm der Paese nicht an, dass dies bei der Seele eines Getöteten viel Sinn machte. Er ließ sich nicht auf dieses Niveau herab, sah sein Opfer mit erhobenem Kopf an und sagte: „Ich bin Roberto di Natichio, Moltoy
und Wak Fýdohr.“
Der Geist lächelte, während er in die Höhe schwebte. Roberto stand ebenso auf, nur um nicht unter seinem einstigen Gegner zu knien.
„Ich weiß wer du bist. Du bist der Wächter des Auserwählten. Dein Name steht auf der Liste der Toten. Du wirst den rechten Weg noch sehen.“ Mit einem Lachen, das noch kälter war als das Eis des Nordens, stieg die Seele hinauf.
„Warte!“, rief Roberto ihr nach. „Was soll das bedeuten? Wer bist du?“
„Bring meinen Körper in das Reich der Wak Folín
“, gab der Geist als Letztes von sich.
Vis Banken, Vlakkeland
Haus von Sorcha O‘Connor
18. Tag des Windumemánodt im Jahre 1143
Später Abend des Luönleys
„Du hast sie aus dem Kreis geschickt, du Narr?“
Roberto, der noch die Kälte zwischen den Welten auf seiner Haut spürte, hatte mit einer anderen Begrüßung gerechnet. Sein Blick huschte von einem Anwesenden zum nächsten. Marios Oberkörper war in einen weißen Leinenverband gehüllt. Der Fiulchú witterte die Kräuter darin. Mit einer lockeren Seemannshose bekleidet, saß er in einem groben Holzstuhl, der mit Fellen und Decken gepolstert war. Neben ihm verbreitete der offene Kamin behagliche Wärme. Eyleen reichte ihrem Mann einen Becher mit dampfendem Tee. Ein ärmelloses Unterkleid umspielte ihren Körper, an dem Roberto keine Verletzungen entdeckte. Schließlich sah er die Alte an, die ein ähnliches Gewand wie ihre Tochter trug.
„Sie leben oder nicht?“, kommentierte er und trat zu dem Stuhl, auf den er vor dem Ritual seine Kleidung abgelegt hatte. Er legte den silbernen Säbel des besiegten Feindes auf den Tisch und zog die Hose an.
Sorcha schnaubte. „Ihnen hätte aber etwas zustoßen können. Solange der Kreis besteht, sind sie sicher. Niemand hätte ihnen irgendwas anhaben können.“
„Dann muss an deinem Kreis im Kréská irgendetwas falsch gewesen sein, Sorcha-krýnya
.“ Roberto versuchte, seinen Worten mit der ehrenvollen Anrede der Ältesten ein wenig von der Schärfe zunehmen. Er widersprach der Ahnin nicht gerne, sah sich allerdings im Recht. Immerhin war Mario verletzt und hätten die Angreifer es in die reale Welt geschafft, hätten sie ihn und Eyleen getötet. Ehe die Greisin den Disput fortsetze, mischte sich ihre Tochter ein.
„Hört auf zu streiten, bitte! Wir leben noch und Marios Verletzungen sind, Sailach sei Dank, nicht so schlimm.“
Nun schnaubte Roberto, der stets um seinen Bruder besorgt war. Mario war nur ein Gyulta
, ein Verwandter, kein Fiulchú wie Roberto und Sorcha. Seine Wunden heilten so schlecht wie bei jedem anderen Menschen. Doch auf den fragenden Blick winkte der Bärtige ab und meinte: „Nur ein paar Kratzer. Es sah ernster aus als es ist. Sag mir lieber, was mit deinem Arm ist.“
Mit gerunzelter Stirn betrachtete Roberto seinen rechten Arm. Auf den ersten Blick war dieser kleine Schnitt nur halb so gefährlich, wie Marios aufgerissene Brust. Der Bruder war jedoch gewöhnt, dass die Wunden eines Fiulchús innerhalb weniger Minuten heilten.
„Er hat mich damit getroffen“, beantwortete Roberto die Frage und deutete auf die Waffe des Feindes. Die Spur des Silbersäbels brannte unangenehm und blutete unentwegt, wenn auch nicht sehr stark.
Sorcha trat mit einem Tuch und ihrer Kräuterschale hinzu. Mit strenger Miene wies sie auf einen weiteren mit Fellen gepolsterten Stuhl. „Setz dich und lass mich das ansehen. Und erzähle uns endlich, was du herausgefunden hast. Eyleen, brüh ihm auch einen Tee auf.“
Die Jüngeren gehorchten. Roberto überlegte kurz, ehe er mit bedauernder Stimme erklärte: „Viel habe ich nicht erfahren. Der eine, den ich erwischt habe, war ein Wak Folín, die anderen vermutlich ebenso. Die Folín kämpfen nur selten gemeinsam mit fremden Sippen.“
„Warum haben sie uns überhaupt angegriffen“, fragte Eyleen, während sie ihrem Schwager einen dampfenden Becher reichte.
„Die Wak Folín und die Wak Fýdohr waren noch niemals Freunde“, entgegnete dieser. „Sie paaren sich nicht mit Menschen. Die Art, wie wir den Fortschritt und die Städte verehren, bezeichnen sie als Verrat an Máhai Talahv. Wenn sie könnten, wie sie wollten - autsch!“ Roberto zuckte zusammen und sah Sorcha vorwurfsvoll an, die seine Wunde nicht eben behutsam behandelte. Die Alte verzog keine Miene und meinte gleichmütig: „Du bist ein Krieger Sailachs, stell dich nicht so an.“
„Ich glaube nicht, dass sie hinter dir oder mir her waren“, warf Mario ein. Ungeachtet des besorgten Blicks seiner Frau erhob er sich vorsichtig. Wenn der Bärtige nachdachte, saß er niemals still. Man müsste ihm schon ein Bein abhacken, damit er nicht hin und her lief wie ein Wolf in einem Käfig. „Sie griffen Eyleen an und wirkten ziemlich überrascht, dass sie geradewegs auf dich fielen.“
Roberto senkte den Kopf und betrachtete den warmen Tee in seiner Hand. Es nagte an ihm, dass er gleich zu Beginn des Kampfes das Bewusstsein verloren hatte. Er dachte an die Worte des Wak Folín und bekam nur mit halben Ohr Eyleens Einwürfe mit. ‚Wächter des Auserwählten‘ hatte der Geist des Kriegers ihn genannt. Das raue Flüstern klang in seinen Ohren wieder: ‚Dein Name steht auf der Liste der Toten.‘ Ein Frösteln durchfuhr den Paesen. Er fürchtete sich nicht zu sterben, doch diese Worte verkürzten seine Lebenszeit von vielen Jahren auf - was? Ein paar Monate, Wochen oder Tage? Er war das Ziel gewesen, nicht Eyleen. Obwohl -. Die blauen Augen des Kriegers blieben an dem gewölbten Bauch der Schwägerin hängen. In seinen Gedanken hörte er den Schrei des Neugeborenen und das Wispern einer Frau.
„Roberto?“ Sorchas warme Hand an seiner Wange und ihre sanfte Stimme holte ihn zurück in die Gegenwart. Aus ihren Augen sprachen die Güte und Besorgnis einer Mutter und eine Frage, die ihre Lippen nicht verließ. Der Paese schüttelte den Kopf. Er konnte weder von dem Geist noch von der Frauenstimme erzählen, nicht so lange die beiden Gyulta dabei standen. ‚Wächter des Auserwählten.‘
Roberto atmete tief durch, stellte den Becher auf den Tisch und erhob sich. Sorcha betrachtete ihn zwar prüfend, ließ ihn aber gewähren, als Roberto nach seinem Hemd und den Stiefeln griff.
„Wo willst du hin?“, fragte stattdessen die Tochter der Ältesten.
„Zum Schiff. Wir werden morgen früh wie geplant auslaufen.“ Roberto wich dem Blick seiner Schwägerin aus, während er sich anzog.
Eyleen öffnete protestierend den Mund, doch Mario schloss sie beruhigend, zugleich bestimmend in die Arme. „Er hat Recht. Wenn wir länger warten, friert der Kanal zu und du überredest mich, eine weitere Saison zu bleiben. Wir müssen zurück, mein Schatz.“
„Aber das Ritual“, wand Eyleen zögernd ein. Hilfe suchend blieb ihr Blick an der Mutter hängen. Die schüttelte jedoch den Kopf. „Sailach hat entschieden, dass dein Kind keinen Ritus braucht, um ins Leben zu finden.“
Roberto hüllte sich in seinen warmen Mantel und trat zur Tür. Mit einem Blick zurück und einem beruhigenden Lächeln auf den Lippen riet er: „Ruht euch heute Nacht aus. Mit dem Morgengrauen hole ich euch ab.“ Dann verschwand er in der windigen Herbstnacht.
Vis Banken, Vlakkeland
Hafen
19. Tag des Windumemánodt im Jahre 1143
Am Morgen des Talahvleys
Das Rauschen schwoll an und entfernte sich wieder. Es war ein Geräusch, das von Ewigkeit erzählte. Kraftvoll, zerschmetternd, tot bringend und doch so sanft in den Ohren des groß gewachsenen Mannes. Roberto lächelte. Dies war das Klang seines Lebens, seiner Heimat, ganz egal wo er sich befand. Obwohl er die Augen geschlossen hielt, meinte er die Wellen zu sehen. Ein leises Brausen, das stetig anschwoll, während das Wasser sich hob und dann teilte. Genau vor ihm platschte die Woge gegen die Kaimauer und hüllte sein Gesicht in einen Schauer. Der Paese rührte sich nicht. Er lauschte, wie das Meer ein Stück weiter nördlich gegen ursprünglichen Fels krachte. Weiße Gischt sprengte über einen Meter hoch. Jeder, der dort stünde, wäre durchnässt bis auf die Haut. Die Augen weiterhin geschlossen hob der Schwarzhaarige den Kopf. Ein Beobachter, der hinter dem Fiulchú stand, musste glauben, Roberto beobachtete die Möwen, deren Kreischen er hörte. Das war Heimat. Die Geräuschkulisse der Welt vor ihm unterschied sich nicht von der Küste Lepaens. Solange er nicht die Augen öffnete, konnte Roberto sich vorgaukeln, er wäre zu Hause. Er atmete tief durch. Mit den Gerüchen, die in seine Nase drangen, verschwanden die Trugbilder, die Roberto sich in seiner Fantasie gebaut hatte. Es fehlten die Düfte Lepaens. Sogar das Meer roch hier anders. Das begeisterte Lächeln, entsprungen aus der Einbildungskraft des Mannes, schrumpfte zu einem Ausdruck der Wehmut. Er öffnete die blauen Augen, betrachtete die See und die kleinen Inseln am Horizont.
‚Sogar die Stimmen klingen fremd‘, dachte der Krieger. Er lebte seit über zwei Sonnenläufen an dieser Küste. Als er das erste Mal hier herkam, bestand die Siedlung lediglich aus ein paar Fischerhütten und einem großen Gemeindehaus. Die Händler aus Paese hatten Wohlstand in das Dorf gebracht. Dank Marios treibender Kraft waren eine kleine Werft, die Reederei und einige Lagerhäuser gebaut worden. In einer atemberaubenden Geschwindigkeit war das winzige Fischerdorf zu der Stadt herangewachsen, die den Seefahrern als Vis Banken bekannt war.
Roberto war stolz auf seinen großen Bruder. Letztendlich war er aus dem Schatten der Fiulchú getreten, hatte seine eigenen Ziele verfolgt und half damit auch noch seiner Sippe. Doch trotz allem Wohlwollen vermisste der Krieger die Heimat, seine Familie und sein Rudel. Er froh, dass sie endlich zurückreisen wollten, obwohl die Umstände nie schlechter waren.
Der Angriff vom Vorabend ließ die Abreise wie eine Flucht wirken. Wenn Roberto eines hasste, dann vor einem Feind davon zu laufen. Außerdem hatten sie das Ritual nicht beenden können, das ihnen so wichtige Fragen beantworten sollte. Dem Wak Fýdohr ging es nicht um so alltägliche Dinge, wie die Gesundheit und das Geschlecht des Ungeborenen. Er hätte noch nicht einmal gefragt, ob dieses Kind das Erbe des Fiulchú in sich trüge. All das wussten sie spätestens bei der Geburt und die paar Monate sollten sie Geduld zeigen können. Roberto, und ganz bestimmt auch Sorcha, ging es um die Weissagungen und Träume.
Wenn das Baby in Eyleens Bauch jenes Kind war, auf das sie alle warteten -. Roberto wagte nicht, diesem Gedanken zu folgen. Ihm fielen die Worte des Geistes ein.
„Der Wächter des Auserwählten“, murmelte der Krieger so leise, dass die Brandung ihm die Worte von den Lippen riss. Er war Marios Hüter und Begleiter. Als er sich vor vielen Sonnenläufen in einen Wolf verwandelte und der große Bruder ein Mensch blieb, hatte Roberto geschworen, ihn mit seinem Leben zu schützen. Doch Mario war nicht der, auf den alle warteten. Sollte es sein Kind sein? Sollte er auch dessen Beschützer werden? Und war dieses Neugeborene die Hoffnung der Fiulchú oder wurde es zum Verderben der Nation?
„Hey! Roberto! Die Flut wird nicht schneller kommen, nur weil du aufs Meer starrst.“ Die heimatlichen Worte brachen durch die Halsschmerzen verursachende Mundart der Einheimischen, wie ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke. Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte sich Roberto zu seinem Bruder und dessen Familie um.
Gut gelaunt lief Mario vor den drei Frauen her. Sein Bart war frisch gestutzt. Das feine Leder und das bunte Tuch seiner Kleidung wirkten als Zeugen seines Reichtums. Der praktische Schnitt ohne überflüssigen Schnickschnack brachte zum Ausdruck, dass der Händler keine Arbeit scheute. Die blaue Schärpe mit dem Silberrand und der gleichfarbige Dreispitz auf dem schwarzen Haar kennzeichneten seinen Stand als Kapitän eines Schiffes. Robertos Lächeln wurde etwas breiter, als die Sonne sich in den eingewebten Fäden spiegelte. Nur bei einem solchen Lichteinfall blitzen die Zeichen der Wak Fýdohr und der Wak Fynskál auf. Durch die Hochzeit mit Eyleen schuf Mario ein Bündnis zwischen den beiden Sippen, wie man es seit Dekaden nicht sah. Wenn das Kind wirklich den Segen Sailachs in sich trug, stand ihnen eine großartige Zeit bevor.
Ein Kind wird geboren von mehr als zwei Stämmen, wisperte eine Stimme im Kopf des Kriegers. Er straffte die Schultern und vertrieb die Erinnerung mit energischen Schritten, die Familie zu begrüßen.
Die Brüder umarmten sich ohne viel Rücksicht auf die schmerzhaften Überbleibsel der vergangenen Nacht. Sie waren Paesen, stolz genug ihren Schmerz nicht zu zeigen und die zukünftigen Narben als harmlose Kratzer abzutun. Ganz besonders, wo beide in Gedanken schon auf See mit Kurs auf die Heimat segelten.
Marios Augen blitzten vergnügt, als er dem jüngeren, doch größerem Bruder auf die unverletzte Schulter klopfte. „Ich könnte schwören, du wolltest uns im Morgengrauen abholen. Verrätst du mir, was dich abhielt? Oder sollte die Formulierung eher lauten: Wer dich abhielt?“
Mit einem Augenzwinkern schüttelte der Fiulchú den Kopf. „Später vielleicht.“ Sollte Mario ruhig glauben, er hätte ein letztes Mal bei einer Hafendirne gelegen. So kam er wenigstens nicht auf wesentlich ernstere Gedanken.
Lächelnd wand sich Roberto den drei Frauen zu und begrüßte als erstes seine Schwägerin. Eyleen trug ein schlichtes, grünes Kleid, das zu ihren Augen passte. Es war so geschickt geschnitten, dass ihr rundlicher Bauch kaum auffiel. Um die Schultern hatte sie ein wärmendes, braunes Wolltuch gelegt und ihre Füße steckten in festen Lederschuhen. Roberto legte die Hände an ihre Schultern und küsste sie auf jede Wange, wie es in seiner Heimat Brauch war.
„Du wirst die schönste Frau an Bord sein“, versprach er, worauf Eyleen ihm lachend vor die Brust knuffte.
„Ich werde die einzige Frau an Bord sein, du Schuft!“
Roberto ließ das sicherheitshalber unkommentiert und begrüßte die Ahnin der Wak Fynskál, indem er ihr einen Kuss auf die Hand hauchte. Ein Blick in ihre grünen Augen verriet Besorgnis und Neugier, doch sie bedrängte Roberto nicht. Hinter diesen oberflächlichen Gefühlen sah der Krieger die Erfahrung vieler Jahre, die Weisheit eines wachen Geistes und die Liebe einer Mutter für ihr Kind. Der Paese nickte ihr lächelnd zu, ließ Sorchas Hand los und drehte sich zu der dritten Frau.
„Sage mir, warum lerntest du deinen Gatten kennen, ehe meine Liebe zu dir fand, du Schönste von Eyleens Schwestern?“, schmeichelte Roberto, während er sie ebenso mit zwei Küsschen auf die Wangen begrüßte. Er vermutete, dass sie nach ihrem Vater kam, den er nie kennengelernt hatte, denn Bebhinn ähnelte den beiden blonden Frauen der Familie äußerlich überhaupt nicht. In den letzten Monaten hatte der Paese oft überlegt, was für ein Mann eine solch zierliche Tochter zeugte und wie er wohl neben der robusten Sorcha ausgesehen haben mochte.
Bebhinn trug ihr Haar zwar ebenfalls lang, doch es war so rot wie das Meer, wenn die Sonne darin unterging. Sie schürzte die vollen Lippen und ihre sonst so sanften, braunen Augen funkelten belustigt auf, als sie konterte: „Ich bin Eyleens einzige Schwester, du Banause von einem Lüstling.“ Vom Wesen her stand sie ihrer Schwester in nichts nach.
„Nun, wenn du mich so von dir stößt“, meinte Roberto Augen zwinkernd und hakte sich bei Sorcha unter: „gestatte, dass ich deine Mutter für eine kleine Weile entführe, während du dir das Schiff meines Bruders zeigen lässt.“ Dreistimmiges Gelächter kommentierte die Worte.
„Na, dann wollen wir das Paar mal alleine lassen.“ Mario reichte je einen Arm seiner Frau und seiner Schwägerin. Feixend schlenderten sie den Steg entlang und auf den Dreimaster zu.
Roberto sah ihnen sowohl lächelnd, wie Kopf schüttelnd nach. Als sein Blick jedoch auf Sorcha fiel, die ihn ernst und mit erhobener Augenbraue ansah, nahm er seinen Arm rasch zurück. Die dazu gehörige Hand nutzte er, um sich verlegen durch das braune Haar zu streichen.
„Ähm, gehen wir ein Stück?“, fragte er und deutete vom Schiff weg den Kai entlang. Sorcha betrachtete ihn prüfend und nickte schließlich.
Nachdem sie eine Weile gegangen waren, brach die Ahnin das Schweigen: „Wenn du in der letzten Stunde, die du in diesem Land verbringst, noch ein Techtelmechtel mit mir beginnen möchtest, musst du wirklich verzweifelt sein. Die vergangene Nacht verbrachtest du wohl nicht in der Hafenpinte.“ Die grünen Augen der Alten schimmerten sanft, als sie zu dem stattlichen Mann an ihrer Seite hoch schaute. „Wenn du aber darüber sprechen möchtest, was dich von solchen Gelüsten abhielt, dann gebrauche doch bitte deinen Mund.“
Roberto seufzte tief. „Ich werde dich wirklich vermissen, Sorcha-krýnya. Du wirst uns allen fehlen, ganz besonders deine weisen Worte.“ Lächelnd sah er die Wak Fynskál an. „Du würdest dich wunderbar mit Großvater verstehen.“
Sorcha nickte. „Da hast du vermutlich Recht. Ich verspreche dir, wenn es der Wille der Geister ist, dann werdet ihr mich wiedersehen, sobald mein Enkel geboren ist.“ Ohne Eile umrundeten die beiden Fiulchú das Lagerhaus. Auf der Rückseite blieben sie stehen und blickten über die Klippen hinweg zu den Inseln, die in der blaugrauen Flut lagen.
„Der Wille der Geister ist Manchmal sonderbar“, sprach Roberto so leise, dass die Brandung seine Stimme beinahe übertönte. Sorcha sah ihn dennoch abwartend und aufmerksam an. Mit entschlossener Mine drehte der Paese den Wellen den Rücken zu und sah die Ahnin an.
„Sailach sprach zu mir, als der Kampf begann und ich hörte den Schrei eines Kindes. Es war wie in den Träumen, von denen alle berichten, aber ich war wach und-“
„Du warst bewusstlos“, unterbrach Sorcha ihn. „Zumindest hattest du einen ziemlich heftigen Schlag auf den Kopf bekommen. Auch wenn die Zeit noch so kurz war, reichte sie für die Mondgöttin. Zweifle nicht an ihr, Roberto.“ In einer mütterlichen Geste legte sie ihre Hand auf den Arm des Paesen. Er spürte ihre Wärme selbst durch den Stoff seines Hemdes.
„Das tue ich nicht. Wenn mein Großvater mich eines lehrte, dann Vertrauen in unsere Göttin. Es ist nur-.“ Der Krieger runzelte die Stirn, während er überlegte, wie er all das, was ihm im Kopf herum ging, in Worte fassen sollte. „Wir alle dienen Sailach und doch legen wir die Träume unterschiedlich aus. Vielleicht ist der Frieden, von dem sie spricht, nicht der richtige für die Fiulchú.“
Sorcha erwiderte darauf nichts. Sie hob lediglich eine Augenbraue und sah den Jüngeren aus ihren grünen Seelenfenstern an, bis dieser seufzend den Blick abwandte und gestand: „Es klingt absurd, ich weiß.“
Eine Weile lauschten sie dem Kreischen der Möwen, dem Rauschen der Brandung und den Wortfetzen gebellter Befehle, die vom Kai herüber drangen. Sorcha wartete geduldig, bis Roberto weitersprach.
„Der Geist dieses Folín meinte, ich sähe den richtigen Weg nicht. Er deutete an, dass dies mein Tod wäre.“
„Und natürlich hat der Geist desjenigen, dem du wenige Minuten zuvor das Leben nahmst, keinerlei selbstsüchtige Gedanken der Rache, die ihm diese Worte in den Mund legen.“
Der Wak Fýdohr wich dem prüfenden Blick der Ahnin aus. Seiner Meinung nach hätten Rachegelüste anders geklungen, doch er wusste nicht, wie er ihr das erklären sollte.
„Mein Junge, ich bin erstaunt, dass du mehr über einen Wak Folín nachsinnst, denn über Sailach. Sie sind Fanatiker, Roberto. Unsereins haben sie schon immer verachtet. Sie glauben, der Wolf allein könne Máhai Talahvs Wächter am Leben erhalten und jeder weiß, dass sie darin irren. Wir sind Fiulchú. Nur wenn Menschen und Wölfe weiterhin zusammenfinden, eine Einheit sind, vermögen wir Mutter Erde zu schützen.“
Der Paese nickte auf den eindringlichen Monolog der Ahnin. „Das weiß ich doch alles, Sorcha-krýnya, aber bist du wirklich überzeugt, dass dies der Frieden ist, von dem Sailachs Träume erzählen? Bist du sicher, dass es um jene geht, die als Wolf geboren und jene, die als Mensch geboren sind?“
„Ja.“ Die Alte nickte bekräftigend. „Es wird eine Generation von Wak Folín geben, die die Wahrheit erkennt. Das Kind, auf das wir alle warten, wird ihnen den Weg weisen.“
Was sollte Roberto gegen so viel Überzeugung sagen? Sorchas Worte klangen wenigstens logisch, während er nicht mehr als diesen schalen Beigeschmack spürte, dass etwas nicht richtig war. Nach einem Moment des Zögerns gab der Paese seine letzten Bedenken preis: „Er nannte mich den Wächter des Auserwählten.“
In der Mine der Ahnin las der Krieger neues Interesse. „Das ist tatsächlich ein spannendes Rätsel. Lag dieser Folín damit genauso falsch, wie mit allem anderen oder könnten dies wahrhaftig Worte der Weisheit gewesen sein? Wenn es das ist, was dir Sorgen bereitet, so schiebe sie von dir, mein Junge. Den Lügen eines Fanatikers solltest du keine Beachtung schenken.“
„Und wenn es die Wahrheit ist?“, warf Roberto ein. „Auch die Folín hören Sailachs Stimme. Sie legen sie anders aus, aber vielleicht haben sie in einigen Punkten Recht.“
Sorcha drückte den Arm des Jüngeren etwas fester. „In diesem Fall darfst du sicher sein, dass dein Weg bis zum Tod noch weit ist. Das Kind, auf das wir warten ist noch nicht geboren. Wenn du sein Wächter wirst, schätze dich glücklich. Doch bevor du Sailach zum Dank preist, lausche ihren Träumen. Wenn du es wirklich bist, wird sie es dir selber sagen.“
Roberto schüttelte den Kopf. „Das klingt, als glaubtest du nicht, dass dein Enkel der Auserwählte wird. Warum sollten sie uns sonst angegriffen haben?“
„Hast du mir nicht zugehört?“ Ein sanfter Tadel lag in der Stimme der Ahnin. „Die Folín glauben an die Reinheit des Blutes. Sie töten selbst ihre trächtigen Weibchen, wenn sie bei einem Menschen lagen. Gerade in dieser Zeit, in der sie die Träume so falsch auslegen, ist keine werdende Mutter sicher, die das Blut der Fiulchú in sich trägt. Ich hätte Eyleen lieber in meiner Nähe, wo ich sie verteidigen kann. Aber nachdem, was gestern geschah, vertraue ich sie deinem Schutz an, Roberto. Ich weiß nicht, ob du der Wächter des Auserwählten wirst, doch sei der Patron meiner Tochter und meines Enkels.“
Roberto nahm die runzeligen Hände in seine und hauchte einen Kuss darauf. „Sie sind ein Teil meiner Familie. Du hast mein Wort, dass ich mein Leben für sie geben werde.“ Mit einem wehmütigen Lächel fügte er hinzu: „Obwohl ich mir immer noch wünsche, du würdest uns begleiten.“
Sorcha entzog ihm die Hände und tätschelte ihm die Wange. „Ich werde mit Bebhinn gehen.“
„Warum?“, fragte der Paese beinahe empört. „Sie hat einen Menschen geheiratet, der nichts von der Nation der Fiulchú weiß.“
„Eben darum. Sie ist meine Tochter und damit trägt sie das Erbe Sailachs in sich. Wer von diesen Unwissenden soll sie schützen, wenn in ihrem Leib ein Kind heranwächst?“ Mit einem Kopfschütteln hinderte sie Roberto an einem Einwurf. „Der Rat der Wak Fynskál vermochte mich nicht umzustimmen und du glaubst, dir sollte es gelingen?“
Der Krieger ließ mit einem stummen Seufzer zu, dass sie seinen Arm umfasste und den Weg um das Lagerhaus zurückschritt.
„Mir fällt der Abschied bestimmt nicht leicht, aber wenn wir ihn noch länger aufschieben und ihr die Flut verpasst, dann wirfst du mir als erstes vor, ich wollte euch noch einen Winter hier halten.“
im Jahre 1143
Königreich Paese
Pinienwald hinter Lepaen
26. Tag des Hailagmánodt
Früher Abend des Gryönleys
Die Gestalt des Kogas
ragte hoch über den Flammen auf. Das Wort bedeutete Krieg. In ihm lagen Gewalt, Macht, Schmerz, Blut und Leid. All dies vermochte ein Kogas einzig durch seine Anwesenheit auszudrücken. Es handelte sich um die größte und stärkste Form eines jeden Gestaltwandlers. Er war eine skurrile Mischung zwischen Mensch und Tier. Sein Anblick allein war so Furcht einflößend, dass die meisten Unwissenden ihn nicht wahrnahmen. Wer jemals einen Kogas sah, behauptete im Anschluss oft, er wäre einem Bären begegnet. Allerdings war ein Fiulchú
in dieser Gestalt größer als sämtliche Bären, die in den Wäldern von Paese hausten.
Sein Fell war braun, durchzogen von silbernen Streifen des Alters. Die wolfsartige Schnauze war weiß und kurze, graue Haare wuchsen an den Augen vorbei bis zur Stirn. Leonardo di Natichio
war der älteste Fiulchú im ganzen Königreich. Die meiste Zeit des Jahres blieb er in den heiligen Höhlen unter der Handelsstadt, wo er Bittsteller und Ratsuchende empfing. Nur zu zeremoniellen Anlässen wagte er sich noch unter freien Himmel. Seine Anwesenheit, seine spürbare Weisheit ließen jedes böse Wort vergessen und selbst die Kinder schweigen. In dieser ungewohnten Stille knisterte das Feuer überlaut.
Die roten Flammen beschienen die geschmückten Pinien, die einzeln oder in lockeren Gruppen diesen Ausläufer des Waldes beherrschten. Der Festtag der Immergrünen Bäume
war erst zwei Tage her. An diesem Tag waren die Kinder und Halbwüchsigen aus der Stadt gezogen und hatten die grünen Symbole des Lebens und des Frühlings geehrt. Kunstvolle Sterne aus Stroh, Girlanden aus farbenfrohen Tüchern, fein gearbeitete Holzfiguren und zerbrechliche Kugeln aus Glas, in denen sich das Licht fing, zierten die Zweige.
Unter ihnen saßen die Fiulchú der Umgebung mit ihren Gyulta
, den wissenden Menschen und Wölfen; jene, in deren Adern das Erbe Sailachs
schlief. Sie hatten sich in einem Halbkreis um das große Feuer versammelt und wärmten sich in kleinen Gruppen an Gluthaufen. Es war ein friedliches Bild, wie Alte und Junge, Zweibeiner und Vierbeiner beieinandersaßen und sich gegenseitig vor der kalten Nacht schützten. Leonardo wirkte fehl am Platz, störte mit seiner kriegerischen Gestalt das Bild des Einklangs. Roberto
wusste, dass der Älteste genau das gewollt hatte.
Der junge Krieger führte sein Rudel und seine Familie um das Feuer herum, wo sie von allen gesehen wurden, auf seinen Großvater zu. Obwohl er wirklich nicht der Kleinste war, ganz besonders für einen Paesen
, reichte er dem Kogas noch nicht einmal bis zur Schulter. Er ergriff die riesige Pranke, die Leonardo ihm anbot, führte sie zu seiner Stirn und murmelte: „Zum Schutze Máhai Talahvs
, zum Gedenken Sailachs, will ich die Taten der Ahnen nie vergessen.“
Er blickte in die blauen, klugen Augen seines Großvaters und lief weiter um das Feuer herum und auf den letzten freien Gluthaufen zu. Hinter ihm folgten Amerigo Martello
, Ballerino-Luno
und Giraldo Viticoltore
als sein Rudel. Nach jenen kamen Mario
und Eyleen
, deren Bauch inzwischen prall und rund war, sowie die Verwandten der anderen Drei.
Erst als auch der Letzte saß, begann Leonardo zu sprechen.
Der Älteste nutzte die Sprache der Fiulchú, die jeder wissende Mensch und jeder wissende Wolf instinktiv beherrschte.
„Es freut meine alten Augen, so viele von euch hier sitzen zu sehen“, begann er. Seine Stimme war rau und leise, gelangte aber an jedes aufmerksame Ohr.
„Dieser Sonnenlauf brachte uns Reichtum und Wachstum. Jene lieben Seelen, die von uns gingen, rief das Máhai Talahv erst nach einer langen Wanderung des Lebens in ihren Schoß. Unsere Streitereien legten wir mit guter Zunge bei. Unsere Feinde besiegten wir ohne Verluste. Das zweite Jahr in Folge schlossen wir ein neues, wichtiges Bündnis. Erinnerten wir uns beim letzten Mal noch daran, wie die Wak Fýdohr
die Syn Duma
nach Lepaen
einluden, so feiern wie heuer die Verbindung mit den Wak Fynskál
. Und wieder einmal erwiesen sich die Gyulta als unersetzliche Hand der Fiulchú. Meine Kinder, meine Nichten und Neffen, meine Enkel und Urenkel, meine Freunde.“
Die Augen des Ältesten wanderten gezielt zwischen Kindern, Erwachsenen und Wölfen hin und her, suchten aus den Versammelten jene heraus, in denen Sailachs Macht nicht erwacht war.
„Ohne euch wären wir Nichts.“
Die Verwandten, tierische und menschliche, legten ihre Köpfe in den Nacken und heulten Leonardo einen Dank für die lobenden Worte zu.
Der Kogas wartete, bis Ruhe einkehrte. „Doch jetzt langweile ich euch nicht länger mit den Geschichten eines alten Mannes. Heißt unsere Gäste, die Wak Fynskál willkommen und mit ihnen den Geschichtenerzähler Ronit O‘Healey
.“
Unter neuem Freudengeheul erhob sich der Angesprochene, schritt an den Gluthaufen vorbei, um das flackernde Feuer herum und auf Leonardo zu.
Roberto hob eine Augenbraue, während er Ronit betrachtete.
„Das ist kein Mann, sondern ein Junge“, raunte Giraldo neben ihm. Der Rudelführer gab ihm nickend Recht. Das Gesicht des Geschichtenerzählers war von blondem, zottigem Haar umrahmt. Durch die Flammen schimmerte seine Haut rot, doch Roberto erkannte auf dem ersten Blick, dass dieses Bürschchen selbst für einen Bart zu jung war.
„Passt auf, er fiepst wie eine Maus“, flüsterte Giraldo. Die Verwandten und das Rudel, die um den Gluthaufen saßen, lachten leise auf, als Ronit zum Ältesten sprach. Seine Stimme war tatsächlich so hell wie die eines Knaben.
Giraldo feixte weiter: „Ob er schon die Erste Weihe hinter sich hat?“
In das Gelächter erklärte Eyleen unbekümmert: „Er ist ein Nachfahre des großen Healeandir Mac Thinarawyn. Ihr werdet euch bei ihm entschuldigen müssen, wenn er euer Leben gerettet hat.“
„Oh, das ist eine gute Idee. Gleich Morgen werde ich dem Bengel eine Gelegenheit geben, wenn-.“ Mit einem Zischen brachte der Rudelführer Giraldo zum Schweigen.
Ronit, der dem nun sitzenden Kogas gerade mal in die Augen schauen konnte, begann die Erzählung. Hell und klar drang seine Stimme zwischen die Pinien und weckte einen Hauch Frühling in den Herzen der Versammelten.
„Dies ist die Nacht der Fallenden Sterne
. Ihre Geschichte reicht weit in unsere Vergangenheit zurück.“
Giraldo nickte bedächtig. „Ja, sogar noch weiter, als du Grünschnabel es dir vorstellen kannst.“
Neben ihm leckte sich Ballerino-Luno grinsend die Lefzen. Er war der einzige Wolfgeborene des Rudels. Ronit, der nichts von den leisen Worte bemerkte, fuhr fort: „Sie erzählt von der Zeit, als Máhai Talahv, die Mutter Erde, schwach war. Die Brut des Llyngyr
, jene die Böses bringen, vermehrte sich schneller, als die Fiulchú sie zu bekämpfen vermochte. Habgier, Selbstsucht und die Besessenheit nach Macht fraßen sich in die Herzen der Menschen. Es dauerte nicht lange, bis die Seuche des Hasses unsere Ahnen befiel.
Sie bekämpften sich. Bruder stand gegen Bruder, Mutter gegen Tochter und Wolf gegen Mensch. Dies war die Zeit, in der sich die Nation der Fiulchú spaltete.“
„Und die Zeit der Lügen begann“, sinnierte Giraldo. Roberto warf dem Rudelkameraden einen scharfen Blick zu, der diesen zum Schweigen brachte. Es lag in Giraldos Art, niemals den Mund zu halten, immer einen Spruch auf den Lippen zu haben. Doch auch ein Plappermaul wie er sollte die alten Geschichten achten.
Aus den Augenwinkeln bemerkte der Rudelführer, wie Eyleen fröstelnd ihren Wollumhang um sich zog. Er beobachtete sie aufmerksam, während er der hellen Stimme des Erzählers weiter lauschte.
„Die Ersten, die sich zusammentaten um ihre eigenen Wege zu gehen, waren die Wak Folín
. Sie nennen sich ‚Söhne des reinen Blutes‘, denn sie glauben den Llyngyr ausmerzen zu können, indem sie sich von den Menschen fernhalten.“
Roberto schaltete geistig ab, als Ronit von den Helden der Folín erzählte. Sorcha
hatte mit ihren Worten im Hafen von Vis Banken
Recht gehabt. Diese Fiulchú waren Radikale mit falschen Ideologien. Die Gedanken des Kriegers blieben bei der Ahnin hängen.
Wenige Tage, nachdem er mit Mario und Eyleen in Lepaen angekommen war, brachte ein Bote einen Brief. Sorcha und Bebhinn
hatten Azogaraz
, die kleine Grafschaft im Königreich Tires
, ohne nennenswerte Vorkommnisse erreicht. In weiteren Botschaften hatte die Älteste von Traumreisen geschrieben und vor einer gefahrvollen Zeit gewarnt. Einige Wochen später war der junge Geschichtenerzähler mit seinem Rudel eingetroffen. Zuerst hatte Roberto geglaubt, Sorcha hielte ihn nicht für fähig genug, ihre Tochter zu schützen. Die Ältesten hatten ihm jedoch erklärt, dass das Rudel der Wak Fynskál zur Festigung des Bündnisses in der Stadt weilte. Bald danach war ein gemischtes Rudel, bestehend aus Wak Fýdohr und Syn Duma nach Vis Banken aufgebrochen.
„Es folgten jene, die sich Poikaan Ukkosta
nennen“, drang Ronits knabenhafte Stimme erneut an Robertos Ohr. „Die ‚Söhne des Donners‘ bekämpfen den Llyngyr wo sie ihn sehen und wollen ihn mit aller Kraft besiegen. Einer der Stärksten war Jorma Schneewehe. In der Schlacht von Suomi führte er ein winziges Heer gegen den Feind, der sich in der Stadt verschanzt hatte. Und doch-“
Ein leises Stöhnen ließ Robertos Aufmerksamkeit schwinden. Eyleen saß inzwischen dicht an ihren Gatten gekuschelt, eingehüllt in eine zusätzliche Decke. Mario flüsterte ihr etwas ins Ohr, das der Fiulchú nicht verstand und die junge Frau schüttelte energisch den Kopf. Die Brüder wechselten besorgte Blicke, während Ballerino-Luno raunte: „Sturr wie ihre Mutter.“
Ohne etwas von der Szene zu bemerken, fuhr Ronit mit der Legende fort.
„Die Fiai Ejszaka
waren anderer Meinung. Als ‚Söhne der Nacht‘ unterwanderten sie das Böse. Sie wollten von ihm lernen und die Brut mit ihren eigenen Waffen schlagen. Einigen gelang es sogar. Der bekannteste Trickser von allen hieß Alajos Sohn des Odon. Der Legende nach soll er in den Bergen von Tikakreb geboren sein, die die Reiche Tartós
und Baragan
im Norden trennen. Dort, wo der ewige Schnee liegt, sollen die Geister der Nacht ihm die Geheimnisse der Heimlichkeit verraten haben. Dort, wo-“
„Man könnte meinen, er verehrt den alten Betrüger“, murrte Giraldo. Roberto hob lediglich die Schultern. Ihn interessierten die Abenteuer längst verstorbener Fiai Ejszaka nicht im geringsten. Eyleen benahm sich immer merkwürdiger. Sie starrte in die flirrende Luft oberhalb der Glut und bewegte unablässig ihre Lippen. Roberto war überzeugt, dass sie der Legende schon lange nicht mehr lauschte.
Luno erhob sich, trabte um den glühenden Haufen herum und schmiegte sich dicht an die werdende Mutter. Ein dankbares Lächeln huschte über ihre Züge. Sie grub ihre Finger in das warme Fell des wölfischen Freundes.
„Seit dem Beginn der Zeit galten die Silbernen Wölfe als die Weisesten der Nation. Alle Fiulchú gingen zu ihnen und baten um Rat. Die Fiai Ejszaka besuchten sie ebenfalls, doch statt um Rat zu bitten, überzeugten sie die Schüler der weisen Wölfe von ihrem Vorhaben. Die jungen Fiulchú waren nicht stark genug gegen die Verlockungen des Llyngyr. Als Loups d‘Argent
erhoben sie sich über alle anderen, die Fiulchú zu führen.
Schreckliche Kämpfe entbrannten, besonders gegen die Poikaan Ukkosta. Es folgten die dunkelsten Jahre in der Geschichte der Fiulchú. Als der Held der-“
Ein panischer Schrei schnitt dem Wak Fynskál das Wort ab. Eyleens Gesicht glich einer Fratze mit vor Angst weit aufgerissenen Augen. Sie bäumte sich gegen Mario und Ballerino-Luno auf, die sie gemeinsam auf den Boden drückten und versuchten, ihre wild zuckenden Arme und Beine zu halten. Mit einem Satz sprang Roberto über den Gluthaufen an die Seite seiner Schwägerin. Er schob seinen Bruder aus dem Weg, legte die Hände an Eyleens Wangen und suchte ihren Blick. Die grünen Augen starrten an ihm vorbei in den Nachthimmel, zugleich ins Nirgendwo.
„Eyleen“, sprach Roberto sie mit eindringlicher Stimme an: „Kleines, was siehst du?“
Statt eine Antwort zu geben, fing sie an zu wimmern, riss die Augen gar noch weiter auf. Hilfe suchend hob der Rudelführer den Kopf. Er streifte das vor Schreck bleiche Gesicht seines Bruders und blieb an den runzeligen Zügen Leonardos hängen. Der Älteste hatte sich in einen Menschen verwandelt. In seinem faltigen Gesicht entdeckte Roberto keine Spur von Besorgnis. Neben dem Ältesten erschien Ronit und auch die anderen traten näher, schlossen einen Kreis um Robertos Rudel.
Solange der Kreis besteht, sind sie sicher, hörte er Sorchas Stimme.
Leonardo legte seine knorrigen Finger auf Eyleens Stirn. Einen Wimpernschlag später lag sie ruhig und sog Luft in ihre Lungen, wie ein Ertrinkender, der durch das Wasser stieß. Angsterfüllt und rastlos huschten ihre Augen umher. Sie öffnete die Lippen, bewegte sie, ohne das Worte hervor kamen.
„Beruhige dich, Kind“, redete der Älteste auf sie ein. „Du bist in Sicherheit. Nichts wird dir geschehen.“
„Mutter“, hauchte Eyleen mit einer Stimme, die nicht wie ihre eigene klang. „Dunkelheit. Schmerz. Unglaubliche Qualen.“ Sie schluchzte auf, ihr Körper bebte und Tränen flossen ihr über die Schläfen ins Haar. „Sie ist tot! Mutter!“
Endlich lag sie still, nur geschüttelt von Tränen. Roberto wich zurück und sah zu, wie Mario seine Liebste in die Arme schloss, ihr über das lange Haar streichelte und einen hilflosen Kuss auf die Schläfe hauchte. Flüsternd versprach er: „Es ist vorbei, alles wird gut.“
Eyleen schüttelte immer wieder den Kopf. Zusammenhanglose Wortfetzen verließen ihre Lippen. „Keine Ruhe. Mutter. Komm zu uns. Sie wandert.“
Als sich eine Frau aus dem Rudel der Wak Fynskál, eine entfernte Cousine Eyleens, neben die Trauernde setzte und ihre Hand hielt, stand Roberto auf und trat zu Leonardo. Vorsichtig sprach er ihn an, denn der Alte betrachtete seine angeheiratete Enkelin am Boden.
„Großvater? Sorcha-krýnya befand sich auf einer Traumreise.“
Mit gerunzelter Stirn ergriff der Älteste Robertos Arm und schob ihn von der Familie fort. Nach einer auffordernden Geste schlug der Jüngere vor: „Wir können im Ská
nach ihr suchen.“
„Weißt du denn, welchem Traum sie folgte, Junge“, harkte der Alte mit heiserer Stimme nach. „Die Welt der Geister ist riesig. Du hast bisher nur einen Bruchteil gesehen. Sorcha O‘Connor ist viel, viel weiter gereist, als du es dir vorstellen kannst.“
„Sollen wir untätig hier sitzen und nichts tun?“
„Nein“, lächelnd tätschelte Leonardo die Wange seines Enkels. „Gleich mit der nächsten Flut senden wir einen Boten nach Azogaraz. Dein Vorschlag, im Ská zu suchen, ist gut, nur-“
„Mein Kind!“, heulte Eyleen auf. Klagend klammerte sie sich an die Arme ihres Gatten. Roberto beobachtete, wie ihre Cousine unter den Decken tastete. Ihr Blick war ernst, als sie nach weiteren Frauen rief. Was sie ihnen sagte, verstand der Wak Fýdohr nicht, denn in schmerzhaften Wehen schrie Eyleen: „Zu früh! Es ist zu früh! Es wird sterben.“
„Niemand wird sterben“, übertönte eine alte Gyulta das Klagen und schob Mario zur Seite. Hin und her gerissen starrte Roberto zu seinem großen Bruder hinüber, der hilflos, ausgeschlossen von den Frauen, am Rande des Feuerscheins stand.
Er war ein Fiulchú, er hatte eine Pflicht gegenüber seinesgleichen. Er wollte Sorcha finden, die Ahnin, die so viel Weisheit in sich barg, zurück zu ihrem Volk bringen.
„Du gehörst an die Seite deiner Familie“, sprach Leonardo ihn an, als er hätte er die Gedanken des Enkels gelesen. Bekräftigend legte er eine Hand auf Robertos Schulter. Mit der anderen deutete er auf Sigismondo, einem älteren Wolfswandler seiner Sippe.
„Er wird mit seinem Rudel nach Sorcha O‘Connor suchen. Achte du auf deinen Bruder.“
Staatenbund Lointain
Wald von Nollissour
26. Tag des Heilagmánodt im Jahre 1143
Späte Nacht des Gryönleys
„Sie kämpften gegeneinander, die Loups d‘Agent
gegen die übrigen Sippen, ganz besonders gegen die Poikaan Ukkosta
. Wir hielten uns aus diesem Streit raus. Und wisst ihr auch warum?“
Der Salais
reckte einen nackten Arm in die Luft. Er beobachtete, wie die honigfarbenen Augen des alten Wolfes über die Welpen glitten. Es war ein reiches Jahr gewesen. Sieben Junge waren im Frühjahr geboren und alle hatten den Sommer überlebt. Die Chancen standen gut, dass sie den nächsten Frühling ebenfalls erlebten. Seelensänger hatte prophezeit, dass mit diesem Wurf wenigstens zwei Fiulchú
heranwuchsen. Noch waren diese sieben zu jung, um sich zu verwandeln. Erst in einem Jahr kamen sie in das richtige Alter. Dennoch war es wichtig, dass alle die alten Legenden und die Lebensweisen der Wak Folín
kannten. Die Welpen verstanden die Hintergründe noch nicht. Drei von ihnen balgten spielerisch herum, bis Heuler-der-Legende sie knurrend zurechtwies. Der Salais
spürte die Augen des Ältesten einen Moment auf sich ruhen. Hoffnungsvoll erwiderte er den Blick. Doch Heuler-der-Legende erzählte weiter, ohne ihn anzusprechen.
„Weil sie sich mit den Menschen zusammentaten, weil sie vom Llyngyr
besessen waren, der Zwietracht in ihnen säte.“
Enttäuscht ließ der Salais
den Arm sinken. Er hätte die Antwort gewusst, wurde aber wie immer übersehen. Es war das Schicksal eines jeden Salais
als Ausgestoßener am Rande der Sippe zu leben. Er war ein Fiulchú
, Sailach
hatte ihren Segen in sein Blut gelegt. Doch auch seine Eltern waren Wolfswandler gewesen - beide. Sie waren eine verbotene Verbindung eingegangen und er war weder als Wolf noch als Mensch geboren. Seit er das Licht der Welt erblickt hatte, war er ein Kogas
. In diese majestätische Gestalt, die dem Kampf und den heiligsten Ritualen gewidmet war, war er gefangen.
Er würde sich verwandeln können, eines Tages. Wenn er zu einem Halbwüchsigen heranwuchs und sein Körper sich veränderte, würde die Kraft in ihm erwachen. Der Salais
betete jeden Tag zu Sailach
, das er sich bei diesem ersten Mal in einen Wolf verwandelte und nicht in einen Menschen. Er fühlte sich nicht stark genug, solch eine zusätzliche Schande zu tragen. Ganz bestimmt ließen die Ältesten keine Gnade mehr weilen und töten ihn, wenn er als schwächlicher Zweibeiner durch das Lager tappte. Haarlos war er sowieso schon.
Als wäre er mit der Schmach seiner Eltern nicht ausreichend gestraft. Als reichte es nicht, das er als Kogas
niemals das normale Leben eines Wolfswelpen führen konnte. Nein! Sailach
strafte jeden Salais
außerdem mit einem unübersehbaren Makel.
Die Ältesten behaupteten, ein Fiulchú
sei solch ein perfektes, reines Wesen, dass eine Verbindung mit einem anderen seiner Art keine weitere Perfektion hervorzubringen vermochte. Manche kamen mit verkrüppelten Gliedmaßen zur Welt. Andere waren von beginn an blind oder taub. Es gab sogar welche, denen ein Geweih, wie bei einem Hirsch, oder Hörner, wie bei einem Widder wuchsen. Sie waren gekennzeichnet als Beutetiere. Dieser Salais
war ohne ein Fell geboren. Nicht ein einziges Haar bedeckte den riesigen, grotesken Körper. Er hatte das Fell eines selbst erlegten Bären um sich geschlungen. Obwohl er noch ein Kind war, reichte seine Kraft um junge Bäume auszureißen. Vor einigen Wochen war ein übermütiger Bär in der Lager gestolpert. Kein einziger Fiulchú
war da gewesen. Nur die Welpen, die Jünglinge aus dem Vorjahr und zwei weibliche Gyulta
, in denen die Macht Sailach
s nicht erwacht war, hatten die heimatlichen Höhlen bewacht. Gegen Bruder Petz hätten sie keine Chance gehabt, wäre der Salais
nicht in der Nähe gewesen. Er hatte das große Tier besiegt und auf ein wenig Anerkennung gehofft. Sein größter Wunsch war, einen passenden Namen zu erhalten. Bärentöter. Doch als das Rudel von der Jagd heimkehrte, hatten sie noch nicht einmal einen Dank für ihn übrig. Lediglich das Fell gestanden sie ihm zu. Seinen unübersehbaren Makel durfte der Salais
damit nicht verbergen, sich jedoch wenigstens vor der Kälte des Winters schützen.
Der junge Fiulchú
kratzte mit einer Klaue Symbole seines Volkes in den Schnee. Er kannte die Geschichte, die Heuler-der-Legende erzählte, hörte sie bereits zum dritten Mal. Es entstand das Zeichen der Weiblichkeit. Geteilt von einem zackigen Blitz symbolisierte es die ‚Töchter des Sturms‘. Damals, in der Zeit, von der Heuler-der-Legende berichtete, hatten sie sich von den ‚Söhnen des Donners‘ abgespalten. Seit dem bekämpften sie das Böse als Daetur Áfram
.
Daneben malte er zwei gekreuzte Lorbeerzweige. Diese standen für die Ehre, denn dies war das Einzige, das die Sippe der Syn Duma
besaß. Es folgte ein Ankh, das aus einem vollen Mond wuchs. Es war das Zeichen der Lyainí Byaiha
.
„Die ‚Kinder des Lebens‘ beteten zur Mondgöttin und baten um Beistand für ihre Schwester“, erklärte Heuler-der-Legende. „In dieser Nacht weinte Sailach
und die Sterne fielen vom Himmel.“
Der Salais
zeichnete drei der Himmelslichter in den Schnee, das Symbol der Seuns van Sterre
, die die Tränen Sailach
s damals als erste sahen. Er hob den Blick zum Himmel, zu den unzähligen Lichtern und der leuchtenden Scheibe. Sie war nicht mehr voll, aber noch ein paar Tage vom Halbmond entfernt. Es war die Zeit des Auráný
.
„Unter diesem Mond wird Kreativität geboren“, hatte Heuler-der-Legende ihm vor einer Weile erzählt. Der alte Wolf war sein Mentor, ein strenger Lehrer, der diese Aufgabe nur widerstrebend übernommen hatte.
Jede Sippe brauchte Geschichtenwahrer - es sei denn sie wollten alle zu den Wak Fynskál
laufen und von denen lernen. Diese waren die Hüter des Wissens der gesamten Nation. Leider paarten sie sich mit Menschen. Ein ausreichender Grund, dass ein Wak Folín
sich lieber den Schwanz abbiss, als dort um Rat zu fragen. In diesem Lager und in weitem Umkreis war Heuler-der-Legende der einzige Geschichtenwahrer, der einzige Auráný
- abgesehen von dem Salais
. Wenn es in den nächsten beiden Jahren keinen Welpen gab, der unter dem fast vollen Mond geboren wurde, wäre er eines Tages der neue Geschichtenwahrer. Dann würden die Übrigen endlich Respekt zeigen, statt ihn wegen seiner Existenz zu verachten.
Versunken in seinen Zukunftsträumen hatte der Missgestaltete das Ende der Geschichte nicht mitbekommen. Er blickte erst auf, als große Pfoten die Zeichnungen verwischten. Augenblicklich duckte sich der Kogas
in den Schnee. Obwohl er so viel größer als die erwachsenen Wölfe war, hatte er nur den Status eines Welpen und durfte sich nicht über die Älteren erheben. Der Salais
versuchte die Kälte zu ignorieren, die in seine Haut stach, wo das Bärenfell nicht hinreichte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Wölfinnen ihre Jungen zurück in die warme Höhle trieben. Zu gerne wäre er ihnen gefolgt, doch verdrängte er diesen Wunsch rasch, als er die Stimme seines Mentors vernahm.
„Du hast nicht zugehört“, warf ihm Heuler-der-Legende vor.
Der Salais
runzelte seine glatte Stirn und widersprach: „Doch, das habe ich. Du hast-“ Der Welpe verstummte, als die Pranke des ausgewachsenen Wolfs über sein Gesicht schrammte, wo sie rote Striemen hinterließ.
„Belüg mich nicht, Salais
.“ Aus dem Maul des Alten klang das Wort wie eine Beleidigung. „Dein Kopf hing in den Wolken. Du hast geträumt, über deine Zukunft nachgedacht.“
Der Haarlose zitterte unter seinem Fell. Kein Laut des Schmerzes war seinen Lippen entwichen, so alltäglich war die grobe Behandlung. „Du hast von den ‚Söhnen des Webers‘ gesprochen. Sie verehren die Menschen und behaupten, sie handeln nach Sailach
s Willen, dabei sind sie vom Llyngyr
befallen.“
Dagegen konnte Heuler-der-Legende kaum widersprechen. Der Welpe bewies, dass er die Geschichte kannte, obwohl es dem Mentor anders lieber gewesen wäre.
„Morgen wirst du mir die Sage vortragen“, verlangte der Geschichtenwahrer. „Du solltest besser keinen Fehler machen.“
Der Salais rappelte sich auf, als er hörte, wie sich der Alte entfernte. Er zog das Bärenfell fester um sich. Lächelnd flüsterte er zu sich selbst: „Morgen wirst du mich loben müssen.“ Vielleicht bekam er dann endlich seinen Namen. Beseelt von dieser Hoffnung, steuerte er den hohlen Baum an, in dem er die Nacht verbrachte.
Kaldur
Landsitz des Herzogs von Abridge
4. Tag des Winnemánodt im Jahre 1159
Am Abend des Luönleys
Eigentlich hatte Joselito gar keinen Grund, nervös zu sein. Vor wenigen Wochen erst hatte er das heimatliche Tonadas verlassen. Auf einem Handelsfrachter hatte er das Westliche Meer, den halben Lointain-Kanal und die Bucht von Kaldur befahren. Zugegeben, abgesehen von den Erzählungen der Seeleute war die Reise regelrecht langweilig verlaufen. Es hatte weder Piraten, noch große Stürme oder Ungeheuer gegeben. Entweder waren all die Geschichten, welche die Fischer dem Heranwachsenden erzählt hatten, nichts als Seemannsgarn, oder Joselito hatte einfach mal wieder unsägliches Glück gehabt. Selbst die Reise von der Bucht Kaldurs bis ins Hochland war zwar anstrengend, aber nicht wirklich aufregend gewesen. Das Einzige, das den Jungen noch von seinem Ziel, dem Grund für die lange Reise, trennte, lag in dem Zimmer hinter der Tür, das der Diener vor gefühlten Stunden betreten hatte.
Joselito atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Er hatte sich das Gespräch, das er gleich führen würde, schon unzählige Male vorgestellt. Eigentlich sollte es schnell gehen. Immerhin war er nur ein Junge mit einer banalen Bitte und der Herzog hatte ganz sicher Wichtigeres zu tun, als sich lange mit ihm zu beschäftigen. Andererseits war sein Vater bedeutend genug, dass der Herzog ihn nicht einfach ignorieren durfte.
Joselito rieb sich die Hände, lief den Gang auf und ab und versuchte wenigstens eine Ursache für seine Unruhe zu finden. Das Geräusch der Tür ließ er ihn hastig herumfahren. Als der Diener ihm mit einem Nicken beschied, dass er das Arbeitszimmer betreten dürfte, pochte das Herz des Jungen vor Aufregung. Rasch legte er sich noch einmal alle Worte zurecht, wie er es in den vergangenen Wochen der Reise so oft getan hatte. Er lächelte dem Bediensteten zu, ehe er durch die Tür trat, die hinter ihm geschlossen wurde. Kaum das er im Zimmer stand, war sein Kopf leer.
Caladh MacDubhgall, der Herzog von Abridge, drehte dem Jungen den Rücken zu. Er stand an einem Tisch und dem Geräusch nach füllte er einen Kelch. Sicher hätte der Diener dies erledigen können - immerhin hatte er sich ausreichend Zeit gelassen. Diese Art des Empfangs, der eigentlich keiner war, ließ Joselito klein und nichtig vorkommen. Unruhig trat er von einem Bein auf das andere. Er wurde sich seiner Arme bewusst, die wie überflüssige Anhängsel von seinem Körper herabbaumelten. In seiner Hilflosigkeit verschränkte er sie vor der Brust, löste sie jedoch gleich wieder und legte die Hände auf den Rücken. Das kam ihm zumindest neutral höflich vor.
MacDubhgall ließ sich Zeit. In aller Ruhe trank er von seinem Kelch, kostete das Aroma des Inhalts und nickte zu sich selbst. Erst nachdem er das Gefäß von neuem füllte, sprach er.
„Joselito de Tonadas.“
Er drehte sich mit dem Trinkgefäß in der Hand um. Seine Augen waren von einem ungewöhnlich hellem Blau und strahlten eine Weisheit aus, die eher zu einem Großvater, als zu einem Mann von Ende zwanzig passte. Ungefähr in diesem Rahmen lag zumindest das äußere Erscheinungsbild des Blonden. Joselito wusste, dass dieser Schein trog.
„So nennt man dich doch, nicht wahr?“, fuhr der Herzog nach einer wohl bemessenen Pause fort.
Der Bursche schluckte und nickte. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten, seine Beine schwer und seine Zunge träge wurde. Dieser Mann strahlte eine nicht greifbare Gefahr aus.
„Ja, Mylord“, brachte er heraus und fügte sicherheitshalber hinzu: „Sohn des Salamon Adriano Beltentos y Ronchad Duque de Me-“
„Herzog von Meneado und Graf von Anbunled“, unterbrach MacDubhgall mit einer Stimme, die Joselito zusammenzucken ließ. „Ich hätte angenommen, dass der Graf seinen Mündeln beibringt, wie sie einen Korol
zu begrüßen haben.“
Das saß. Joselito wurde es zugleich kalt und heiß. Er spürte regelrecht, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Rasch senkte er den Blick und sank auf die Knie. Er holte tief Luft, versuchte trotz der inneren Unruhe seine Stimme ruhig zu halten. „Verzeiht Princ
. Es lag nicht in meiner Absicht, Euch zu beleidigen. Ich war lediglich zu aufgeregt, weil...“ Joselito räusperte sich und begann noch einmal von vorne. „Ich bringe Grüße von meinem Vater, dem Duque de Meneado y Conde de Anbunled und bitte euch, mich als Gast in eurem Reich aufzunehmen.“
Er verharrte schweigend, leckte sich unsicher mit der Zungenspitze über die Lippen, während der Herzog sich von dem Tisch löste und gemächlich durch den Raum schritt.
„Und, Joselito de Tonadas, wie lange soll diese Gastfreundschaft nach deinen Wünschen währen?“
„Ein Jahr, wenn es dem Princ
recht ist. Mein Vater sendet mich, die Freundschaft zwischen euren Reichen zu festigen. Ein Jahr soll ich eurem Sohn Leathan zu diensten sein.“
Die Ohrfeige saß, kaum das der Junge bemerkte, dass MacDubhgall näher gekommen war. Sie war fest genug, dass Joselitos Kopf herumgerissen wurde und seine Wange brannte. Noch viel schmerzhafter waren aber die Worte des Herzogs. „Noch niemals bin ich von einem Sterblichen derart dreist belogen worden, ohne dass dieser dafür mit seinem Leben bezahlt hätte“, zischte er.
Joselito wagte nicht, noch etwas zu sagen oder sich auch nur zu regen. Sein ganzer Körper bebte. Sein Herz klopfte so laut, dass es im ganzen Haus zu hören sein musste und sein Blut rauschte in seinen Ohren. Dem Jungen brach der Schweiß aus, als er sich erinnerte, dass auch MacDubhgall es würde hören können. Er kniete vor einem Piyavka
, einem Blutsauger, der ihm mit einer einzigen Bewegung den Kopf abreißen könnte. Für MacDubhgall war er doch nur Futter! Vielleicht würde er ob dieser Lüge Differenzen mit Salamon riskieren. Und vielleicht gäbe es gar keine Auseinandersetzung. Vielleicht war Salamon selbst so wütend, dass er nichts gegen eine Hinrichtung hatte. Denn das der Herzog längst eine Nachricht von seinem Verbündeten aus Naciente bekommen haben musste, wurde Joselito in diesem Moment klar.
MacDubhgall hatte in einem thronähnlichen Sessel Platz genommen, blickte mit regelrecht emotionsloser Miene zu dem jungen Menschen hinunter.
„Ich werde später entscheiden, welche Art der Sühne ich für diese Lüge vordere. Bis dahin ist dir vielleicht eingefallen, was dir dein Leben wert ist“, erklärte er schließlich. „Noch in dieser Nacht werde ich aber eine Depesche an deine Verwandten in Anbunled schreiben. Sie werden dich sicher so bald wie möglich abholen. Bis zu ihrem Eintreffen wirst du dieses Anwesen nicht verlassen oder dich auch nur frei bewegen. Einem Lügner wie dir kann ich nicht gestatten, dass er sich frei unter den meinen bewegt. Du wirst keinen Schritt ohne den Diener machen. Wenn er keine Zeit für dich hat, wird er dich in einem Zimmer einschließen.“
Königreich Paese
Reederei di Natichio
24. Tag des Wintarmánodt im Jahre 1144
Früher Abend des Luönleys
Der Himmel hing tief. Es sah aus, als säßen die weißgrauen Wolken auf den Weinbergen, die im Nordosten vor der Stadt aufragten. Die Luft roch nach Schnee. Früher hatte Roberto diesen Geruch nicht gekannt. Die Winter in Lepaen waren mild und verregnet. Er erinnerte sich nicht, dass die Temperatur jemals unter den Gefrierpunkt gesunken wäre. Erst in Vlakkeland hatte er erfahren, was ein richtiger Winter war. Dort lag bestimmt schon seit Wochen Schnee. Der Lointain-Kanal, eine schmale Meerenge, die die Kontinente trennte, war zum Großteil zugefroren. Das es jetzt in den Höhenlagen des Königreichs Paese beinahe ebenso kalt war, empfand der Wak Fýdohr
befremdlich. Der Wind sollte um diese Jahreszeit aus Südwesten wehen, die Feuchtigkeit des Mittleren Meeres in Wolken gebunden vor sich hertragen. Stattdessen schob er diese weißgrauen Himmelsgebirge aus dem Norden herüber.
„Etwas Dunkles kommt auf uns zu“, murmelte Amerigo, der ebenso wie sein Rudelführer die Höhen beobachtete.
Roberto hob eine Augenbraue und betrachtete seinen Freund kritisch. In dem stämmigen Paesen brannte das Feuer des Krieges. Er war impulsiv, direkt und aufbrausend. Solche eine ahnungsschwere Ankündigung hörte man sonst eher von Ballerino-Luno oder von ihm selbst.
„Ja, ein Gewitter“, erwiderte Roberto, wie es normalerweise Amerigo getan hätte. Schmunzelnd zwinkerte er dem Freund zu, doch dieser sah noch nicht einmal hin. Ohne den Blick von den dunkler werdenden Wolken abzuwenden, schüttelte der Kleinere den Kopf.
„Blut liegt in der Luft. Schwerter klirren. Krieg wird kommen.“
Giraldo, der auf einer Kiste an der Wand der Lagerhalle saß, blickte von seinen Kameraden hinüber zu den Wolken und wieder zurück. Er hob die Schultern und schliff die Klinge seines Säbels weiter. „Was du riechst, ist nicht Blut, sondern der Rotwein, den du getrunken hast.“
„Es ist Schnee“, widersprach Roberto, „kein Sturm. So roch es in Vis Banken, ehe Vater Frost das Land zudeckte.“
Amerigo rümpfte die Nase. Er hatte das Fischerdorf, aus dem Eyleen stammte, nur in den Sommermonaten besucht. Schnee hatte er noch nie in seinem Leben gesehen. Aber er wusste, wie ein aufziehender Sturm roch und auch der Gestank eines Schlachtfelds war ihm gut bekannt.
„Mir macht Sorgen, dass Sailach
s Auge sich versteckt“, brummte Ballerino-Luno. Er saß zu Giraldos Füßen, die Schnauze auf die Kiste gelegt. „Wie soll der Junge ihren Segen empfangen, wenn sie sich nicht zeigt?“
Roberto lachte leise. „Zweifelst du an Leonardos Macht?“ Statt eine Antwort zu geben, schnaubte der Wolf.
Eine Weile herrschte schweigen. Roberto beobachtete die viel zu nahen Wolkenberge und lauschte den Stimmen aus dem Haus. Wegen dem Ritual war Bebhinn mit ihrem Gatten, Enrique Dionis Graciano y Cavall, aus Azogaraz angereist. Die Schwestern schwelgten in Erinnerungen und trösteten sich gegenseitig. Offiziell galt Sorcha O‘Connor immer noch als vermisst. Zugegeben, wenn jemand im Ská
verloren ging, war das gleichbedeutend mit dem Tod. Es blieb lediglich die Hoffnung, dass sie den Geist der Ahnin fanden und diesen sicher in das Totenreich der Wak Fynskál
führen konnten.
Mario und Enrique unterhielten sich gedämpft über die Seerouten des Mittleren Meeres und die Vorzüge des Weinanbaus in Tires. Manchmal beneidete Roberto den Bruder um solch unverfängliche, weltliche Themen. In seiner Welt ging es fortlaufend um Krieg. Sei es der Kampf zwischen den Sippen oder die immerwährende Schlacht zum Schutze Máhai Talahv
s. Der Wak Fýdohr
träumte von Frieden. „Gejagt von mehr als zwei Feinden wird es einmal Frieden bringen“, flüsterte Sailach
in seinem Kopf. Seit diesem Kampf hörte er ihre Worte immer wieder, als wollte die Göttin sichergehen, dass er sie niemals vergaß.
„Sie kommen“, durchbrach Ballerino-Luno mit leisem Wuffen die Flüsterstimme.
Ronit O‘Healey und die übrigen Mitglieder der Wak Fynskál
traten aus dem Ská
auf den Verladeplatz vor der Reederei. Es sah aus, als kämen sie direkt aus dem Nichts oder als wären sie bisher unsichtbar gewesen. Ein Blick in ihre erschöpften Gesichter verriet Roberto, dass sie keine neuen Nachrichten hatten.
Die Söhne der Legende bildeten ein perfektes Rudel, wie es nach altem Glauben hieß. Jeder der fünf Fiulchú
stand für eine Phase des Monds und besaß gewisse Stärken, die den anderen fehlten.
Morgentau, die einzige Wölfin des Rudels, symbolisierte den Instinkt und die Sinnesschärfe der Tiere. Sie war eine Moltoy
, genau wie Roberto. Unter dem Halbmond war ihnen der Gerechtigkeitssinn angeboren.
Agnes de Kuise war unter dem Sichelmond geboren. Wie alle Drícht
besaß sie ein besonderes Talent für die Welt des Ská
und die Geister. Als Frau stand sie zusätzlich für Fortpflanzung und Findigkeit.
Wie die beiden anderen hatte Laila van de Nacht das Licht der Welt in Vlakkeland erblickt, einem Land, das vom Fischfang im Meer und den zahlreichen Flüssen lebte. Als Rúna
war sie unter dem Neumond geboren. Ihre Innere Kraft lag nicht nur in einem losen Mundwerk, das derbe Scherze von sich gab. Rúna
waren Meister in der Kunst des Verbergens.
Calynn Ancomhrac und Ronit O‘Healey kamen aus Airé und verteidigten das fruchtbare Land mit seiner langen, mystischen Vergangenheit und der Verbindung zu den Geistern. Wie alle Menschen repräsentierten sie Fortschritt und Wachstum. Calynn, die Gaiskích
, spürte in sich das Feuer des Kampfes. Wie alle Vollmondgeborenen sah sie sich in Kriegszeiten als Rudelführerin und was die Airén betraf, herrschte Krieg seit Sorcha O‘Connor verschwunden war.
Ronit war nicht nur der Jüngste der Gruppe, sondern auch der einzige Mann. Damit brachte er die Stärke und den Jagdtrieb, die dem männlichen Geschlecht im Allgemeinen zugeschrieben wurden, in die Gemeinschaft. Außerdem war unter dem Dreiviertelmond geboren und somit Auráný
. Er verwandelte die Abenteuer und Gefahren der Gruppe in klangvolle Lieder und Legenden über Mut und Weisheit.
Obwohl ihr in eurem Rudel so sehr auf das Gleichgewicht achtet, habt ihr keinen Erfolg, dachte Roberto. Ihm fehlte eine Frau und ein Drícht
, der sie durch die Welten des Ská
führte, in seiner Gemeinschaft.
„Es gibt nicht die kleinste Spur.“ Aus Calynns Worten klang Frustration. Eine derartige Ohnmacht zermürbte die Kriegerin. Morgentau trat an ihre Seite und rieb ihren Kopf tröstend am Bein der Gefährtin. „Wir geben nicht auf.“
„Und was willst du dann machen?“, rief Giraldo von seiner Kiste herüber. „Vielleicht das gesamte Ská
durchsuchen? Alle elf Totenreiche, jede der großen Welten und die nebligen Schatten?“
„Giraldo!“, rief Roberto den Freund zurecht und sah ihn mahnend an, während er ruhig weiter sprach: „Sorcha war eine großartige Ahnin. Bereits jetzt ehren wir sie in unseren Liedern. Wir suchen sie und ich will keine Scherze hören.“ Roberto kannte den oft schwarzen Humor seines Kameraden. Im Rudel wusste jeder, dass man Giraldo nicht immer ernst nehmen durfte. Der Halbmond war jedoch nicht sicher, ob die Wak Fynskál
das ebenso sahen. Das letzte, was sie gegenwärtig brauchten, war eine Auseinandersetzung, die das Bündnis zwischen den Sippen gefährdete. Giraldo senkte den Kopf und widmete sich wieder der Klinge seines Säbels. Ein unangenehmes Schweigen breitete sich auf dem Platz aus. Der Wind drehte, trieb den salzigen Duft des Meeres in die Gruppe und hoch oben die Wolken zurück nach Norden.
„Aber wir haben doch eine Spur“, durchbrach Ronit zögernd die Stille. Unter den Blicken der Älteren nahmen die Wangen des Jungen eine verlegene Röte an.
„Wie meinst du das?“, harkte Morgentau nach.
Nach einem aufmunternden Blick der Wölfin atmete der Airé tief durch und vergewisserte sich: „Roberto, als ihr in Vis Banken überfallen wurdet, da hast du einen Wak Folín
getötet nicht wahr?“ Auf das Nicken des Paesen fuhr Ronit fort: „Und danach erzählte Sorcha dir, dass sie auf eine Geisterreise gehen wollte, richtig?“
Roberto nickte noch einmal. Er ahnte, worauf der Junge hinauswollte, ließ ihn aber ausreden.
„Wenn sie dem Geist dieses Folíns
folgte, dann ist ihre Seele vielleicht immer noch in deren Totenreich.“
„Und da willst du suchen?“, fragte Amerigo skeptisch.
Ehe der Jüngste antworten konnte rief Calynn mit hoch gerecktem Kinn: „Wieso nicht? Hast du Angst?“
Roberto wiegte den Kopf, während Morgentau seine Gedanken aussprach: „Ich glaube nicht, dass es hier um Mut geht. Die Totenreiche sind unvorstellbar groß und die Folín
sind weder unsere noch eure Freunde. Die Seelen, die dort wandeln, kämpften oft ihr ganzes Leben gegen unsere Sippen. Ich bezweifle sehr, dass sie uns wohlgesonnen wären.“
„Wir sind Neun“, warf Amerigo ein.
„Acht und ein halber“, korrigierte Laila und zwinkerte Ronit zu.
Die Wangen des Jüngsten wurden noch dunkler. Die Hände zu Fäusten geballt rief er: „Ich hatte doch gar nicht vor, mich mit allen Ahnen der Wak Folín
anzulegen!“
Roberto hob eine Augenbraue und betrachtete den Jungen abwartend.
„Ich dachte wir rufen den Geist dieses einen, den Roberto tötete.“
Die Erwachsenen warfen sich vielsagende Blicke zu. Agnes legte eine Hand auf die Schulter ihres Kameraden und erklärte mit sanfter Stimme: „Es ist nicht so einfach, den Geist eines verstorbenen Fiulchú
zu rufen, Kleiner.“
„Wieso nicht?“, verlangte Ronit zu wissen. „Meine Ahnen erscheinen mir doch auch, wenn ich sie darum bitte.“
„Deine Ahnen wollen dir helfen, junger Wak Fynskál
.“
Ronit sah seine Rudelkameradin verwirrt an, doch nicht Agnes hatte ihm geantwortet. Aus dem Nichts des Ská
erschien Leonardo im Kreis der Anwesenden. Neben ihm trat eine sandbraune Wölfin in die reale Welt. Aus goldenen Augen sah sie Ronit an und erklärte: „Die Seele, die du suchst, ist nicht dein Freund. Ihr liegt nichts an deinem Ziel. Vielleicht will sie dir sogar schaden.“ Ihre Stimme schien viel zu sanft für einen Wolf zu sein. Ronit starrte sie mit offenem Mund an.
„Das ist Die-im-Nebel-sieht, eine angesehene Drícht
der Seuns van Sterre
“, stellte Leonardo seine Begleiterin vor. „Sie ist eine alte Freundin und sie wird uns helfen.“ Lächelnd deutete der Alte auf die Wak Fynskál
. „Dies sind die Feuerraben, Verwandte und Schülerinnen von Sorcha O‘Connor.“ Dann wies er auf die Paesen. „Und dies sind die Lichtschlangen, verbunden mit Sorcha durch das neugeborene Kind.“
Bei den kritischen, ernsten, regelrecht abweisenden Blicken der Fiulchú
, gefror das Lächeln des Ältesten. „Was ist denn mit euch los? Ist wieder jemand gestorben oder was?“ Er hob einen Zeigefinger, zählte rasch die Anwesenden und meinte dann mit gespielter Irritation: „Ihr seid doch alle da.“
„Über so etwas sollte man keine Witze machen, Großvater.“
„Aber warum denn nicht?“ Der alte Mann schaute mit einem derart verwunderten Gesichtsausdruck in die Runde, dass Roberto für einen kurzen Augenblick glaubte, er hätte ein kleines Kind vor sich. Doch dann blitzte der Schalk in den blauen Augen auf und der Älteste erklärte mit erhobenem Zeigefinger: „Manchmal treibt der Tod die größten Scherze mit uns. Diese Lektion erteile ich euch allerdings ein anderes Mal.“ Er drehte sich demonstrativ zur Tür des Hauses, wobei er Roberto und Agnes mit gebietender Geste auseinander trieb. Hinter seinem Rücken drehte Giraldo den Zeigefinger an der Schläfe und formte stumm die Worte: „Er wird senil.“
Leonardo bemerkte davon offenbar nichts. „Heute soll es um das Leben gehen, nicht um den Tod. Treibt die Sorgen aus euren Köpfen. Wo ist mein Urenkel?“
Die Fiulchú
und ihre Verwandten hatten sich in dem kleinen Garten der Reederei versammelt. Hohe Hecken sperrten am Tage den geschäftigen Lärm aus. Jetzt, in der Nacht, drang das leise plätschern der Wellen herüber.
Ein Ring aus Fackeln erhellte beinahe die gesamte Grünfläche. Mitten drin stand Leonardo di Natichio. Außerhalb der Fackeln bildeten die anderen einen weiteren Kreis. Trotz der Kälte trugen die Männer nur Hosen und die Frauen lediglich Röcke aus dünnem Leinen oder Baumwolle. Unter ihren nackten Füßen kitzelte das Gras. Ihre Oberkörper waren geschmückt mit farbigen Symbolen, die ihre Abstammungen, die Mondphasen und die Elemente der Máhai Talahv
darstellten. Auch auf dem Fell der drei Wölfe glänzten die Zeichen im Fackelschein.
Leonardo hob die Arme zu einer allumfassenden Geste. Obwohl seine Haut faltig und schlaff von den Armen hing, strahlte er die Energie der Jugend aus.
„Es gibt keinen schöneren Ort auf der weiten Welt, als mitten in Máhai Talahvs
Schoß. Hier hören und riechen wir das nahe Wasser. Wir spüren den Wind, der uns umschmeichelt, das wärmende Feuer und die Erde unter unseren Füßen. Vollkommenheit geschützt und bewacht unter dem Auge Sailach
s.“ Lächelnd wies er hinauf zum Mond. Rund um den hellen Schimmer drängten die Wolken zurück nach Nordosten. Der Wind vom Meer vertrieb den Geruch des Schnees.
„Es ist die perfekte Nacht, ein Kind willkommen zu heißen.“ Der Ritualmeister winkte die jungen Eltern zu sich heran. Der Kreis der Umstehenden schloss sich sofort wieder, als Mario und Eyleen zwischen den Fackeln hindurchtraten. Lächelnd, mit vor Aufregung zitternden Fingern legte die Airén ihren Sohn in die Arme des Alten. Mehrere Lagen weicher Stoffe schützten es vor den niedrigen Temperaturen.
Verzückt betrachtete Leonardo das kleine Wesen in seinen Armen, den offenen, zahnlosen Mund, die klaren, blauen Augen, die seinen Blick neugierig erwiderten. „Du bist ein ganz besonderes Kind.“ Mit einem Finger zeichnete er die Stirn und den Nasenrücken des Neugeborenen nach. „Du bist nicht nur Paese, sondern auch Airé. In dir schlummert das Blut der Wak Fýdohr
und der Wak Fynskál
. Von zwei Sippen geboren sollst du doppelt behütet sein.“
Er hob den Kopf, betrachtete die Schemen der Umstehenden durch den Fackelschein. „Wer sind die Paten des Knaben?“
„Ich“, rief Bebhinn und trat in den Kreis. „Bebhinn O‘Connor y Graciano, Schwester der Mutter.“
„Und ich, Roberto di Natichio, Bruder des Vaters.“ Roberto folgte seiner Schwägerin, reihte sich mit ihr neben den Eltern auf.
Leonardo sah beide mit ebenso ernstem, wie feierlichem Blick an, als er weiter sprach: „Und schwört ihr, die ihr euch Paten nennt, im Namen der göttlichen Schwestern? Schwört ihr, diesen Knaben zu schützen, ihn zu wärmen, zu nähren, zu trösten und ihm eure bedingungslose Liebe zu geben? Schwört ihr, den Platz seiner Eltern einzunehmen, sollten sie ihre Aufgaben nicht erfüllen können?“
„Ich schwöre im Namen Máhai Talahvs
und Sailachs
“, antworteten Roberto und Bebhinn gleichzeitig.
Der Älteste nickte zufrieden, hob den Blick dann wieder zu den Umstehenden und fragte: „Wer sind die Mentoren des Knaben?“
„Ich, Ronit O‘Healey, vertrete die Interessen der Wak Fynskál
“, erklärte der Jüngste in der Runde, während er vortrat.
Auf der anderen Seite des Kreises schoss Ballerino-Luno in die Höhe, wuchs innerhalb weniger Sekunden zum Menschen und darüber hinaus. Sein Fell schmolz erst gänzlich zu gebräunter Haut, wuchs dann wie ein feiner Flaum, der Brust und Rücken des Mannes bedeckte. Das braune Haar reichte weit über seine Schultern hinab. Die dichten Augenbrauen und das vorstehende Kinn verliehen ihm ein animalisches Aussehen. Pralle Muskelstränge zogen der Blicke der anwesenden Frauen auf sich. Mario räusperte sich leise und Roberto sah aus den Augenwinkeln, wie Eyleen ihm verschmitzt zuzwinkerte.
„Ballerino-Luno vertritt die Interessen der Wak Fýdohr
“, erklärte der Wolfgeborene mit überraschend melodischer Stimme und trat neben seinen Rudelführer. Er überragte den groß gewachsenen Roberto um mehr als einen Kopf.
Der Ritualmeister betrachtete die beiden Fiulchú
kritisch, ehe er fortfuhr: „Ihr seid Auráný
, geboren unter dem fast vollen Mond, wie er über uns steht. Schwört ihr im Namen der göttlichen Schwestern? Schwört ihr, den Knaben zu lehren, unsere Legenden an ihn weiter zu geben, seine Talente zu wecken und zu fördern? Schwört ihr, ihm den Weg zu weisen, wie er allen Auráný
bestimmt ist?“
„Ich schwöre im Namen Máhai Talahvs
und Sailachs
“, antworteten die Wolfsmenschen im Chor.
Leonardo nickte und streichelte den Arm, den der Knabe mühsam unter den wärmenden Stofflagen hervorgezogen hatte.
„Fast euch an den Händen. Bildet einen Kreis“. Er wartete, bis die Sechs seinen Anweisungen folgten. „In euren Händen ruht die Verantwortung für ein Leben. So viele Hände, verschiedene Völker, unterschiedliche Wege mit anderen Gedanken. Welcher wird der wahre sein?“ Den Jungen im Arm wiegend drehte sich der Alte langsam um sich selbst, fixierte die Eltern, Paten und Mentoren aufmerksam.
„Es gibt ihn nicht. Jeder von euch kann nur sein Bestes geben. Es kann nicht immer das Richtige in euer aller Augen sein. Wie kann ein Wolf verstehen, dass ein Kind reiten lernen muss? Wie kann eine Mutter akzeptieren, dass ihr Sohn ein Schwert führen soll? Kann ein Airé erkennen, wie wichtig sie Seefahrt für den Nachkommen eines Reeders ist? Versteht ein Gyulta
das Erbe der Fiulchú
?“ Leonardo schüttelte den Kopf. „Ihr könnt nicht alles bedenken. Es ist gut, dass ihr verschieden seid, denn nur so, könnt ihr eurem Schützling eure wertvollsten Erfahrungen mitgeben, ihm dadurch eine Fülle an Wissen vermitteln. Daran denkt immer, wenn ihr euch nicht einig seid. Nicht der Weg steht im Mittelpunkt, sondern das Kind, das ihr zu schützen und zu lehren geschworen habt.“
Leonardo ließ seine Worte einen Moment wirken, ehe er lächelnd weiter sprach: „Genug der Mahnungen. Lasst mich euch etwas über unser Kind erzählen.“ Er senkte den Blick in die blauen Augen des Babys auf seinem Arm und atmete tief durch. Die Umstehenden hinter den Fackeln begannen mit einem monotonen Singsang, der sich über die plätschernden Wellen und den rauschenden Wind erhob. Versunken in den Fenstern zur Seele klang Leonardos Stimme zugleich ruhiger und kräftiger.
„Du bist unter dem Dreiviertelmond geboren. In dir schlummert ein Künstler. Findest du die Musik oder die Malerei? Vielleicht wirst du ein Meister der Darstellung?“
„Ein Kind wird geboren...“
„Ganz gewiss folgst du deinem eigenen Kopf.“
„...von mehr als zwei Stämmen.“
„Wer sollte dich auch in Schranken weisen, wo du den Starrsinn deines Vaters und die Eigensinnigkeit deiner Mutter in dir trägst? Du wirst ein Abenteurer, du suchst den Nervenkitzel.“
„Gesucht von mehr als zwei Seiten...“
„Und die Gefahr wird dich finden.“
„... lebt es in mehr als einer Welt.“
Roberto blinzelte und schüttelte den Kopf.
„Dich zieht es hinaus in die Welt, fern von der Heimat wirst du dir einen Namen machen.“
Aus dem Singsang hinter den Fackeln flüsterte Sailach
zu ihm, durchbrach immer wieder die Worte des Ritualmeisters.
„Gelehrt von mehr als einem Wesen...“
„Kummer wird dir folgen und dich wachsen lassen.“
„... wird es geplagt von mehr als zwei Stimmen.“
„Stark wirst du werden, unter Sailach
s Auge dein Schwert schwingen.“
„Gejagt von mehr als zwei Feinden...“
„Eine weise Hand wird dich schützen, Liebe wird sich an dich schmiegen.“
„... wird es einmal Frieden bringen.“
„Unser Erbe trägst du in deinem Samen.“
„Geboren von mehr als zwei Stämmen.“ Robertos Augen blieben an Mario und Eyleen hängen.
„Geboren von mehr als zwei Stämmen“, übertönte die Göttin Leonardos weitere Worte. Er ist es nicht, dachte Roberto und wusste im selben Moment, dass er Recht hatte.
„Geboren von mehr als zwei Stämmen. Das Erbe in seinem Samen.“
Vielstimmiges Heulen durchbrach das Flüstern. Roberto riss die Augen auf. Vor ihm stand Leonardo, hielt den Knaben in die Höhe, in das Licht des fast vollen Mondes. Außerhalb des Fackelkreises standen die Fiulchú
riesig in der Gestalt des Kogas
. Enrique, der einzige Mensch, wirkte winzig gegen die Monster. Sailachs Streiter hatten die Köpfe zurückgeworfen. Heulend erbaten sie den Segen der Göttin für das Kind in ihrer Mitte.
Staatenbund Lointain
Wald von Nollissour
5. Tag des Ostarmánodt im Jahre 1144
Am Abend des Bahwistaichleys
Der Salais
lag ausgestreckt im jungen Klee und blickte lächelnd in den Himmel. Die Äste, der Bäume reichten nicht bis über den kleinen Hügel, ließen die Sicht auf das Meer aus Sternen, das allmählich am dunkler werdenden Firmament auffunkelte, frei. Der Wind wehte kühl den Hang hinauf, bereitete dem haarlosen Fiulchú
eine Gänsehaut, doch der Salais
störte sich daran nicht. Dies war die schönste Nacht in seinem erbärmlichen Leben. Sailach
hatte entschieden, ihm ein weiteres Jahr unter ihrem Auge geschenkt. Übermütig drehte sich die groteske Gestalt im Gras, lachte leise in sich hinein und genoss Máhai Talahvs
Streicheleinheiten auf seiner Haut. Mit einem zufriedenen Seufzer blieb er auf dem Rücken liegen. Die Mondgöttin blieb verschwunden. Ihr helles Auge erstrahlte nicht zwischen den unzähligen Sternen. „Rúna
“, flüsterte der Salais
.
„Und in der dunkelsten Nacht im Mondlauf,
wenn die Welt aus Schatten besteht,
heule ich dir mein Lied hinauf,
meinen Dank, dass mein Leben weitergeht.
Die Welpen, in Dunkelheit geboren,
in ihnen wächst List und Tücke heran.
Du hast sie nicht erkoren,
mein Leben geht voran.
Sie werden das Rudel stärken,
werden einst meine Brüder sein.
Doch die alten Legenden lehren,
werde ich ganz allein.“
„Dann wirst du aber mehr zustande bringen müssen, als ein paar halbherzige Reime.“
Der Salais
drehte sich auf die Seite und schaute grinsend zu seinem Mentor hinüber. „Wie viele sind es?“, verlangte er zu wissen, ehe Heuler-der-Legende ihn wegen seiner Unaufmerksamkeit zurechtwies. Der junge Fiulchú
war viel zu glücklich, um gerade jetzt auf jedes Geräusch zu achten, wie er es eigentlich hätte tun sollen.
Unruhig beobachtete er, wie der Wolf sich setzte und in den Himmel blickte, offenbar nicht daran dachte, die Frage zu beantworten. Die Ohren des Felllosen zuckten vor angespannter Neugier, doch er wusste, dass dies nur eine weitere der unzähligen Prüfungen war. Er musste Geduld beweisen, durfte die anderen Fiulchú
nicht bedrängen. So unterdrückte der Salais
ein Seufzen und betrachtete ebenso wie sein Lehrer die Sterne.
„Drei“, antwortete Heuler-der-Legende, als der Jüngere die Frage schon beinahe vergessen hatte. „zwei Männchen und ein Weibchen.“
Der Salais
drehte sich auf die Seite und musterte den Alten prüfend.
„Und Wildwasser geht es gut?“
„Ja, sie kümmert sich bereits um ihre Jungen.“
„Warum bist du dann so betrübt?“
Heuler-der-Legende drehte den Kopf, betrachtete seinen Schützling und erklärte: „Wenn Máhai Talahv
der Sippe nur drei Welpen schenkt, stehen wir vor einem mageren Jahr.“
Innerlich atmete der Haarlose auf. Einem unbestimmten Drang folgend, reckte er sich vor und leckte seinem Mentor über die Schnauze. Es war eine Geste, die sowohl Trost, wie Dankbarkeit ausdrücken mochte. Der Auráný
lachte leise auf, ein Geräusch, das der Salais
so selten hörte, dass es ihn wärmte, wie es ein eigenes Fell getan hätte.
„Hast du geglaubt, ich bin bekümmert, weil sie unter dem Neumond geboren sind?“
Als der Welpe zögernd nickte, stupste Heuler-der-Legende ihn mit der Nase an.
„Dann hör mir gut zu, Salais
. Ich verschwende niemals. Es wäre eine Verschwendung, dich zu unterrichten, wenn du am Ende nicht deinen Platz innerhalb der Sippe einnimmst.“
Das war ein Lob. Der junge Fiulchú
war sicher, das erste, richtige Lob von seinem Mentor gehört zu haben. Zugleich wusste er nun, Heuler-der-Legende würde nicht zulassen, dass die Ältesten ihn umbrachten, nur weil ein anderer Auráný
geboren wurde. Er wollte sich an dem älteren Wolf reiben, seine Dankbarkeit zeigen, doch dieser stand auf. Ernst, beinahe abweisend lagen die goldgelben Augen des Lehrers auf ihm.
„Allerdings wird es ganz sicher eine Verschwendung, wenn du niemanden von deinem Wert überzeugen kannst. Anstatt von deiner Zukunft zu träumen, erzähle mir lieber von der Vergangenheit. Was weißt du von Donnerhall?“
Ská dar Troid
1. Tag des Winnemánodt im Jahre 1144
Am Abend des Luönleys
Ein schrilles Kreischen hallte durch das Zwielicht. Aus den Büschen drang ein markerschütterndes Wimmern. Es folgte ein ekelerregendes Geräusch, als ob jemand seinen Stiefel aus dem Matsch zog. Dann war Stille. Der Gestank von Blut, Urin und Gedärmen lag in der Luft. Der Geruch des Todes.
Die-im-Nebel-sieht zuckte mit den Ohren. Sie weigerte sich, einen weiteren Blick in Richtung des Strauchwerkes zu werfen. Stoisch starrte sie auf den steinigen Pfad. Viele Stunden war sie gerannt, war in einen lockeren Trab gefallen, langsam gelaufen und dann wieder gerannt. Schnee wirbelte über den Weg vor ihr. Spiegelglatt schimmerte eine gefrorene Blutlache im unschuldigen Weiß. Die Wölfin glaubte eine bleiche Hand zu erkennen und lief weiter. Jeder Muskel ihres Körpers war angespannt. Sie duckte sich unter einem umgestürzten Baumstamm, kroch auf der anderen Seite hervor und rollte über den Schotter, als sie aus den Augenwinkeln eine Klinge aufblitzen sah. Mit einem gewaltigen Schrei sprang ein Riese von einem Mann von dem Stamm. Steine knirschten unter dicken Fellstiefeln. Das Haar des Giganten leuchtete orangerot. Ein Bart wehte ihm um die Schulter, darin eingeflochten kleine Knochen. Eine Fellweste bedeckte eine beharrte, Blut verschmierte Brust nur notdürftig. Der Bolzen einer Armbrust steckte in seiner Schulter. Der Hüne schwang eine doppelseitige Axt über seinen Kopf, brüllte laut auf und sprang über die Wölfin hinweg, ohne sie zu bemerken. Nach wenigen Schritten erreichte er eine kleinere Gestalt, schwang die Axt erneut und ein Kopf flog durch die Luft. Die-im-Nebel-sieht starrte in das entsetzte Gesicht eines Halbwüchsigen. Sehnen und Knochen stakten aus dem Hals. Das Leben war aus den blauen Augen gewichen.
Aus den Augenwinkeln bemerkte die Wölfin den Schimmer einer Klinge. Sie zog den Kopf zurück und wich gerade noch den Fellstiefeln des Hünen aus, als er über den Stamm sprang. Den abgetrennten Schädel entdeckte sie nicht mehr, doch ehe dieser ein zweites Mal auf sie zuflog, rappelte sich die Drícht
auf und rannte den Weg entlang.
Sie blieb nicht stehen, rannte immer schneller, als könnte sie den Grausamkeiten dieser Welt entfliehen. Doch dazu hätte Die-im-Nebel-sieht die Welt verlassen müssen.
Im Ská dar Troid
gab es nichts als Krieg, Tod und Leid. Es war das Geisterreich des Kampfes. Jede Schlacht, jegliches noch so kleine Scharmützel, das mit Gewalt ausgetragen wurde, hinterließ eine Spur in der Geisterwelt. Es waren die Kriege aller Gestaltwandler, Menschen und sonstigen Kreaturen, die auf der Erde und in den Zwischenreichen Máhai Talahvs
existierten. Das Reich der Kämpfe sollte von den Wesen der realen Welt niemals betreten werden. Die Streiter und Opfer waren nichts als Schatten der Vergangenheit. Niemand konnte den Verlauf einer Schlacht ändern, indem er sich im Ská dar Troid
einmischte. Allerdings konnte solch ein Tor durchaus sein Leben verlieren. Obgleich alle Gestalten weniger als Erinnerungen waren, büßten die Klingen und Krallen nichts von ihrer Schärfe ein.
Die Fiulchú
hatten die Barrieren überwunden, die das Reich des Kampfes vom übrigen Ská
trennte. Sie kamen hier her, um von vergangenen Schlachten zu lernen, um die Wahrheit längst vergessener Kriege zu erfahren oder um den Ausgang eines Gefechts zu sehen, das in weiter Ferne stattgefunden hatte. Doch nur die Erfahrensten wagten sich in die Geschichte vor. Kein Weg in dieser Welt war sicher. Ein jeder lief mit einer Waffe herum oder wurde von einer erschlagen. Die Schatten unterschieden nicht zwischen ihren wirklichen Opfern und unbeteiligten Zuschauern.
Seit Wochen reiste Die-im-Nebel-sieht immer wieder in das Ská dar Troid
. Mit jedem Tag spürte sie die Verzweiflung der Opfer, den Hass der Täter, den allgegenwärtigen Tod mehr. Sie war nervös. Furcht schwelte in ihr, flüsterte lockend, sie möge ihre Suche aufgeben und zurück in das Reich der Lebenden gehen. Sollten doch andere sich weiter martern. Sie starb hier. Nicht an einer Klinge oder einem Pfeil, der sie irrtümlich erreichte. Sie starb, weil hier nur der Tod existierte. Es gab kein Leben, nur Dunkelheit.
Die-im-Nebel-sieht blieb stehen. In blinder Angst war sie gelaufen, ohne auf den Weg zu achten. Das Blut rauschte in ihren Ohren, übertönte Schwerterklingen und Angstschreie. Die Wölfin brauchte einen Moment, ehe sie registrierte, dass sie tatsächlich nichts hörte. Ruhe - welch ein Segen. Doch wo war sie?
Witternd hob die Drícht
die Nase. Erde. Sie befand sich unter der Erde, in einer Höhle!
Wölfe wurden in Höhlen geboren. Sie bedeuteten Sicherheit und Geborgenheit - solange sonst niemand in ihnen lebte. Galt das auch für diese Welt?
Die-im-Nebel-sieht witterte, setzte dabei behutsam eine Pfote vor die andere. Ihre Ohren blieben gespitzt, jeder ihrer Muskeln gespannt. Jede Sekunde konnte sie aus der Dunkelheit angesprungen werden. Es herrschte Krieg.
Ein leises Janken durchschnitt die Stille. Etwas Bekanntes lag in der Luft. Vorsichtig wagte sich die Wölfin weiter in die Finsternis. Eine Kurve lag vor ihr. Sie spürte den Weg mehr, als das sie ihn sah, folgte dem Windhauch, der diesen Duft in ihre Nase trug. Andere Wölfe. Vertraute. Die-im-Nebel-sieht sah fahles Licht am Ende des Ganges. Gestalten kauerten auf dem Höhlenboden. Instinktiv duckte sie sich, als sie wütendes Knurren hörte, doch die Laute waren gedämpft, drangen von draußen unter die Erde.
Vor dem Höhleneingang huschten Schatten umher, während im Innern neu geborenen Welpen krochen. Jetzt sah die Drícht
es ganz klar. Die Geräusche und Gerüche formten ein Bild in ihrem Kopf. Eine Wölfin, die neues Leben aus sich herauspresste. Eine weitere lag daneben, leckte die winzigen Fellwesen trocken. Eine Dritte beobachtete aufmerksam den Eingang, die Schlacht, die dort tobte.
Die-im-Nebel-sieht wich ein paar Schritte zurück und legte sich auf die kühle Erde. Zu gerne wäre sie näher gegangen, hätte die Welpen beschnüffelt und begrüßt. Doch die beiden Wächterrinnen hätten sie vermutlich angegriffen, um die Mutter und ihre Jungen zu schützen. Um sie zu schützen. Die-im-Nebel-sieht erkannte die Szene, von der ihr so oft erzählt worden war.
Dies war ihre Geburt. Eines dieser winzigen Wesen, die nach den Milchzitzen suchten, war sie. Draußen kämpfte ihr Vater mit dem Rest des Rudels in einer siegreichen Schlacht. Die Feinde wurden vernichtend geschlagen, ohne dass einer den Bau der Gebärenden erreichte. Hier war sie in Sicherheit.
„Du bist zu Hause.“
Die-im-Nebel-sieht zuckte regelrecht zusammen. Sie hatte niemanden gewittert oder gehört. Die drei Wölfinnen versorgten in einer sich ewig wiederholenden Schleife die Jungtiere, während ihr Vater draußen den letzten Gegner erschlug. Dennoch war sie nicht mehr alleine am Ende der Höhle. Hinter ihr kauerte die Krähe überlebensgroß und leuchtend im Gang. Sie war das Totem aller Seuns van Sterre
, verkörperte Vergangenheit und Zukunft, die geheime Magie der Schöpfung und spirituelle Kraft.
Die Augen der Wölfin funkelten geradezu vor Freude. Sie sprang auf und überbrückte die Entfernung zu dem Vogel mit wenigen Sätzen. Vor Erleichterung rieb sie ihren Kopf an dem riesigen Schnabel und wiederholte die Worte: „Ich bin zu Hause.“
„Ja, und du hast lange gebraucht. Ich fürchtete schon, du fändest den Weg niemals.“
Die-im-Nebel-sieht duckte sich unter den zurechtweisenden Worten des Seelentiers, spürte die goldbraunen, leuchtenden Augen unnachgiebig auf sich gerichtet. Dann spürte sie, wie ihr warm wurde. Die Krähe breitete ihre Flügel aus, umfing die Drícht
schützend, wie es eine Mutter täte. Die-im-Nebel-sieht fühlte sich sicher und geborgen. Die Augen fielen ihr zu und die Worte der Krähe nahm sie mit all ihren Sinnen wahr: „Ruh dich aus. Ich wache über dich.“
Ská dar Troid
2. Tag des Winnemánodt im Jahre 1144
Irgendwann am Talahvley
Die-im-Nebel-sieht riss gähnend das Maul auf. Sie erhob sich, reckte sich erst über die Hinterläufe, dann über die Vorderläufe. Als das Janken der Welpen leise an ihre Ohren drang, sprudelten die Erinnerungen gleich einem Quell in hier hoch. Sie fühlte sich satt, ausgeruht und sicher, obwohl sie genau wusste, dass sie die letzten Tage im grausamsten Kriegsgebiet der bekannten Welten verbracht hatte und was für ein Nervenbündel sie zuletzt gewesen war. Als sie die Augen öffnete, saß die Krähe vor ihr, sah sie mit ebenso geduldigem, wie wachsamen Blick an.
„Wie lange habe ich geschlafen?“, fragte Die-im-Nebel-sieht und kratze sich mit dem Hinterlauf das rechte Ohr.
„Lange genug“, krächzte das Totem. „Bist du jetzt bereit, zu finden, was du suchst?“
Die Seuns van Sterre
hielt in der Bewegung inne, ließ das Bein sinken und starrte das Geistwesen an. „Woher weiß du, was ich suche?“
Die Krähe antwortete nicht. Sie sah die Wölfin lediglich aus ihren goldbraunen, unergründlichen Augen an.
‚Natürlich‘, dachte Die-im-Nebel-sieht. „Und du wusstest die ganze Zeit, wo Sorcha ist?“
„Nein.“ Weder ein Kopfschütteln noch eine andere Regung begleitete diese Antwort. „Ich weiß nicht, wo sie ist. Du suchst auch nicht nach ihr.“
Die Drícht
legte den Kopf schief. Sie hasste es, wenn die Geister in Rätseln sprachen, doch ebenso war sie gewillt, die Lösung zu finden. „Ich suche nach einem Hinweis auf das, was ihr zustieß.“
Wenn eine Krähe lächeln könnte, hätte sie es vielleicht getan. „Bist du bereit ihn zu finden?“, wiederholte sie stattdessen ihre Frage.
‚Wenn du den Hinweis kennst, warum hast du mir nicht schon lange geholfen?‘ Die Frage lag Die-im-Nebel-sieht auf der Zunge, doch sie sprach die Worte nicht aus. Sie hatte nicht das Recht, ein Totem zu hinterfragen. „Ich bin bereit“, bestätigte sie.
Das Seelentier schrumpfte, bis es immer noch größer als eine ordinäre Krähe war, seine Flügel aber ausbreiten konnte. Zwischen jeder Flügelspitze und der Höhlenwand blieb kaum eine Handbreit Platz, als sich der Vogel in die Luft hob. „Folge mir“, krächzte das Totem, drehte mittels eines eleganten Überschlags und entfernte sich durch den dunklen Gang von der Szene aus der Vergangenheit.
Die-im-Nebel-sieht jagte ihr nach. Sie verließ die Höhle, heftete ihre Augen auf ihren Führer, der in einem sanften goldgelben Licht vor ihr her flog. Sie achtete nicht auf die Kriege und Schlachten, die um sie tobten.
Königreich Paese
Heiligtum von Lepaen
2. Tag des Winnemánodt im Jahre 1144
Am Abend des Talahvleys
„Es ist falsch“, brummte Amerigo leise an Robertos Seite. Seine Stimme hob sich kaum vom Raunen der anderen Fiulchú
ab. Die blauen Augen des Rudelführers wanderten langsam durch die Grotte, die viele Meter unter der Stadt lag. Obwohl es beinahe Mitternacht war, huschten noch Nachzügler durch den Zugang, der eingebettet in den vom Meer zerklüfteten Felsen lag. In den rauen Wänden wuchsen Flechten, die ein blaugrünes Licht abgaben und Fackeln überflüssig machten. Die anwesenden Menschen und Wölfe bekamen in dem farbigen Schimmer einen geisterhaften Touch. Alles wirkte unwirklich, magisch.
„Es hätte doch wohl gereicht, wenn sie uns und den Feuerraben berichtet hätte“, beschwerte sich Amerigo weiter. Das Echo seiner Stimme verschmolz mit allen übrigen Geräuschen zu einem Murmeln, das im Hintergrund an- und abschwoll wie die Wellen des Meeres. Roberto wiegte leicht den Kopf und gab leise zu bedenken: „Sie ist in Leonardos Auftrag hier, nicht in unserem.“
Amerigo schnaubte. „Gut, dann hätte sie ihm eben auch berichten sollen, aber gleich ein Thing
einzuberufen?“
„Du fürchtest doch bloß, jemand anderes könnte den Ruhm für deine Taten ernten“, mischte sich Giraldo ein.
Der Gaiskích
ruckte mit dem Kopf herum: „Das ist nicht wahr. Wenn ihre Suche erfolgreicher war als unsere, soll sie ihren Lohn haben. Aber das hier-“ Er deutete mit ausgestrecktem Arm über die jene, die sich rund um den Salzsee sammelten, „das ist eine Farce.“
„Du weißt nicht, was sie gefunden hat“, gab Roberto leise zu bedenken.
„Es ist vollkommen egal was! Sie gehört weder zur Sippe noch zur Gemeinschaft. Sie hat kein Recht ein Thing
einzuberufen! Sie sollte noch nicht einmal hier sein, verdammt!“
Ballerino-Luno schob sich zwischen seine Rudelkameraden, rieb den Kopf wie zur Beruhigung an Amerigos Seite. „Wenn sie den Segen der Ältesten hat, und davon gehe ich aus, hat sie auch das Recht, ein Thing
einzuberufen“, behauptete er. Mit einem unterschwelligen Grollen bewies Amerigo, dass er anderer Meinung war.
Giraldo stieß die Kameraden an und deutete zum Eingang. „Schaut, selbst der alte Blutzahn ist mit seinem Rudel gekommen.“
„Es wundert mich nicht.“ Roberto beobachtete, wie sich eine Gasse bildete und die sechs kampferprobten Wölfe zum schimmernden See trabten. Das Rudel jagte gewöhnlich in den Wäldern weit außerhalb von Lepaen. „Ich kann mich nicht erinnern, das jemals ein Fremder die große Versammlung einberief. Da wollen sie natürlich alle dabei sein.“
„Nicht hier bei uns“, bestätigte Luno, fuhr jedoch erklärend fort: „aber die Legenden erzählen von anderen Gemeinschaften. Jedenfalls war es immer der Beginn von etwas Großem, wenn ein Gast ein Thing
einberief.“
Ein Heulen klang durch die Grotte, ließ alle Gespräche ersterben. Die Blicke der Fiulchú
richteten sich auf die Insel, die etwa mittig im unterirdischen Salzsee lag. Dort stand Die-im-Nebel-sieht, flankiert von Leonardo di Natichio, Adriano il Castello und Cassian, den drei Ältesten der Gemeinschaft. Alle vier zeigten sich in der furchterregenden Gestalt des Kogas
. Ihr Heulen hallte von den Felsen wieder, erfüllte rasch die ganze Höhle. Nacheinander fielen die anderen Fiulchú
ein. Sie verwandelten sich und warfen die Köpfe in die Höhe. Amerigo gehörte zu den Letzten, die ihre Gestalt veränderten, doch schließlich konnte auch er sich dem Sog nicht länger verwehren. Innerhalb weniger Minuten standen riesige, behaarte Leiber dicht an dicht. Der Gesang der Menschwölfe durchdrang die Felsen und reichte bis in die Geisterwelt. Jeder Einzelne von ihnen kannte das Lied und doch sang ein jeder sein eigenes. Sie riefen ihre Schutzgeister als Helfer und Zeugen zu sich.
Zu allererst huschte die Ratte aus einem Schacht, der dicht hinter den drei Ahnen in die Tiefe führte. Der kleine Nager symbolisierte all das, wofür sich die Wak Fýdohr
rühmten: Intelligenz, Anpassungsfähigkeit und Aufbruch. Außerdem war die Ratte im Krieg schnell, leise und effektiv.
In anmutigem Formationsflug erschienen der Falke und die Krähe am Eingang der Grotte. Sie drehten sich umeinander, trennten sich und flogen jeder so dicht an den rauen Wänden vorbei, dass man meinen könnte, sie berührten sich mit ihren Schwingen. Der Falke segelte über den Köpfen der Fiulchú
und erspähte die Wak Fynskál
, deren Totem er war. Er hinterließ eine Spur in der Luft, die in Gold und Grün schimmerte. In ihr erschienen die Gesichter von Caylinn, Ronit, Morgentau, Agnes und Laila, ehe sie in einem Funkenschauer auf die Kogas
hinabrieselten.
Derweil flog die Krähe zur Insel hinüber, wo Die-im-Nebel-sieht als einzige Vertreterin ihrer Sippe ihr Lied heulte. Sie drehte eine Runde über dem Wasser, stieß dabei ihr typisches Krächzen aus, das im Heulen der Menschwölfe unterging. Doch jedes Mal, wenn sich der Schnabel öffnete, schoss eine Lichtkugel heraus und schwebte zur Decke der Grotte. Bald hing ein Kreis von kleinen Sternen in der Luft, in deren Zentrum die einzige anwesende Seuns van Sterre
stand. Die Lichtkugeln vereinigten sich über Die-im-Nebel-sieht, verschmolzen zu einem einzigen Ball, der die Höhle in blendendes Licht tauchte. Als der helle Schein schwand, hing die Kugel glühend und pulsierend über dem Geist der Krähe in der Luft.
Bei diesem Spektakel hatte niemand bemerkt, wie die Maus hereingeschlichen war. Das Totem der Syn Duma
schwebte wie eine kleine Schwester neben der Ratte. Ebenso wie die anderen drei Totems zeigte sich die Maus geisterhaft, wie die Seelen der Verstorbenen, und doch war sie nicht mit diesen zu vergleichen.
Die Kogas
sangen weiter, riefen nach den fünf Mondgeistern, von denen jeder für eine elementare Phase stand. Aus den vielen Stimmen erwuchs zuerst der listige Rabe. Er konnte ein weiser Lehrer sein. Den Rúna
, die unter seinem Schutz geboren wurden, lehrte er die Geheimnisse der Tarnung und der Schatten. Doch der Rabe war auch räuberisch und aggressiv, was auf seine Schützlinge zurückfiel. Er stand für Mystik und Tod und ebenso für Erneuerung. Denn nach den finsteren Nächten wuchs Sailachs
Auge von Neuem und mit ihm die Eule. Sie symbolisierte Erleuchtung, sprach aber in Rätseln. Den Drícht
, die unter der Mondsichel aus den Leibern ihrer Mütter fanden, fiel der Umgang mit den fremdartigen Geistern daher am Leichtesten. Den Vögeln folgte der Hirsch. Das Totem der Moltoy
galt als Bote und Wegweiser. Er versinnbildlichte Veränderung und Ausgeglichenheit ebenso, wie der Halbmond die Balance zwischen Licht und Schatten verdeutlichte. Ein Brüllen erklang über das Heulen, doch ehe seine Quelle in die Grotte fand, wuchs der Biber aus den Klängen. Er repräsentierte das fast volle Auge Sailachs
. Den Auráný
, die unter seinem Licht geboren wurden, schenkte er Kreativität und Ausdruckskraft. Dann erschien der geisterhafte Bär zwischen seine Geschwister. Er symbolisierte zusammen mit dem Vollmond Schutz und Stärke. In ihm lagen die Weisheit der Göttin und die Instinkte des Tiers. Er war der Beobachter und der Führer, wie so viele Gaiskích
, die unter dem vollen Auge geboren wurden, in Kriegszeiten die Meute führten.
Im Anschluss versuchte jede Gruppe mit ihrem Geheul die nächste zu übertreffen. Sie riefen jene Schutzgeister, deren Gunst sie mit Gründung des jeweiligen Rudels erwarben. Bald schwebte eine geisterhafte Schlange über den Köpfen von Roberto, Amerigo, Giraldo und Ballerino-Luno. Das Totem stand für Weisheit, Wandel und Wiedergeburt. Ihm zu ehren nannte sich das Rudel “Lichtschlangen”. Dicht neben der Schlange schwebte ein durchscheinender Rabe, der Schutzgeist von Caylinn, Ronit, Morgentau, Agnes und Laila. Nach ihm nannten sich die Wak Fynskál
“Feuerraben”.
Selbst nachdem über jedem Rudel das passende Totem schwebte, ebbte das Heulen der Menschwölfe noch nicht ab. Ein jeder sang nun sein eigenes Lied, brachte Nuancen ein die die Seelengeister riefen. Zu Roberto gesellte sich der Frosch. Wie ein lieber Gefährte hockte er auf den Rücken des hochgewachsenen Mannes. Roberto spürte das Gewicht des Tieres nicht, dafür aber sein Wesen. Der Frosch symbolisierte die Anpassungsfähigkeit und Intuition, aber auch die Verschlossenheit des Kriegers.
Nach und nach erstarb das Geheul. Über den Köpfen der Fiulchú
schwebten ihre Seelengefährten, ließen die Höhle in einem neuen, ganz eigenen Licht erstrahlen. Alle Blicke waren auf die Insel in der Mitte des Salzsees gerichtet. Dort verwandelten sich die drei Ahnen zurück in ihre menschliche Gestalt und setzten sich auf den Boden. Auch die übrigen Krieger änderten ihre Form, doch nicht alle wählten die ihrer Geburt. Roberto schrumpfte zum Dyunya
, der die Wildheit der Menschen zum Ausdruck brachte. Sein Fell und seine Klauen bildeten sich bis auf wenige Reste zurück. Er blieb größer als in seiner menschlichen Gestalt, konnte so über die meisten anderen Fiulchú
hinwegsehen. Einige von ihnen, so wie Amerigo, hatten die Gestalt des Fyöhkail
gewählt, der einem riesigen Urwolf glich, einer Bestie auf vier Beinen, die mühelos jeden Bären hätte niederrennen können.
Lediglich Die-im-Nebel-sieht blieb als Kogas
stehen, ließ ihre goldgelben Augen über die Menge gleiten. In ihrem dunkelgrauen Brustfell kauerte der Geist einer Fledermaus.
“Ich weiß, dass einige von euch erzürnt sind, weil ich hier stehe und zu euch spreche”, begann sie mit ihrer Rede. “Doch was ich zu berichten habe, ist zu wichtig, als das der Inhalt durch viele Münder verwässert wird. Während Sailchas
Auge sich erneuert, werde ich zu vielen Gesellschaften reisen und dort im Thing
die Geschichte erzählen, die ihr nun hören werdet. Die Auráný
werden Lieder und Legenden daraus weben, den Kern der Nachricht erhalten, während sie ihre eigenen Geschichten dichten. Das ist gut so, doch so viele Fiulchú
wie irgend möglich müssen die Bilder sehen, die ich sah.”
Roberto sah den Wolf, der an seiner Seite saß, mit erhobener Augenbraue an, doch Ballerino-Luno lehnte lediglich vertrauensvoll an einem schimmernden Tiger und beobachtete die selbsternannte Geschichtenerzählerin auf der Insel.
“Die meisten von euch wissen, dass ich ins Ská dar Trohyd
aufbrach, um ein Zeichen von Sorcha O‘Connor zu finden. Lange Zeit eilte ich von einem Kriegsplatz zum nächsten. Ich suchte nach jenen Schatten, die eben erst entstanden, und fand dabei auch jenes Ereignis, von dem Roberto di Natichio euch allen berichtete.”
Ein leises Raunen schwoll zwischen den Fiulchú
an, als sie sich nach dem Genannten umdrehten. Dieser erhob sich, damit ihn auch alle sahen. Er bezweifelte, dass bereits alle Anwesenden von dem Kampf in Vis Banken gehört hatten, und vermutete, dass er diese Geschichte in den nächsten Tagen noch ein paar Mal würde erzählen dürfen. Als Die-im-Nebel-sieht weiter sprach, setzte er sich wieder.
“Schließlich führte mich die Krähe auf die richtige Spur.”
Bei diesen Worten sank das Totem der Seuns van Sterre
herab und mit ihr die Kugel, die wie eine kleine Sonne pulsierte.
“Wir fanden einen Krater im Ská dar Trohyd
.”
Der Feuerball dehnte sich aus, verlor aber zugleich an Leuchtkraft. In der ganzen Grotte wurde es dunkler, als die Totems zwischen die Menschwölfe sanken, ihr Licht in sich einschlossen. Die Krähe flog mit ihrer Kugel über den See, wo sie von allen gesehen werden konnte. Erneut schwoll das Gemurmel zwischen den Fiulchú
an und die Jüngeren von ihnen keuchten gar überrascht auf. In der Kugel, die nun die Ausmaße einer ganzen Kutsche annahm, entstanden Bilder.
Roberto beobachtete wie die anderen das Geschehen. Offenbar sahen sie die Erinnerungen eines Totems und jedem Anwesenden musste klar sein, welche Ehre das war. Wollte Die-im-Nebel-sieht auf diese Weise tatsächlich allen Gesellschaften der weiteren Umgebung berichten, würden die Seuns van Sterre
viel Ehre erhalten. Doch dieser Gedanke schwand mit dem Nebel in der schimmernden Kugel.
Eine Klippe wurde sichtbar, über der sie alle schwebten, wie die Krähe über ihr geflogen sein musste. Am Rande der Klippe sahen sie eine Wölfin, die eben zum Kogas
anwuchs. Dank des Rückblicks in die Vergangenheit glaubte Roberto beinahe, er flöge näher an die Gestalt heran, umrundete sie in der Luft, bis er einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen konnte. Es war eine Fratze aus Schreck, Schmerz, Furcht und unsagbarer Wut. In den Erinnerungen des Totems fehlte das Heulen, das Roberto sich aber zu gut vorstellen konnte, als der Kogas
das Maul aufriss.
‚Was sieht sie?‘, dachte er drängend und als hätte die Krähe seine Gedanken gelesen, wechselte die Perspektive. Das Sippentier war um seinen Schützling herumgeflogen und wohl auf der Schulter oder dem Kopf von Die-im-Nebel-sieht gelandet. Sie alle sahen nun genau das, was die Drícht
im Ská
gesehen hatte. Roberto stockte der Atem.
Vor ihm und unter ihm breitete sich ein riesiger Krater aus. Die Ränder waren zerklüftet, führten erst senkrecht, dann in in einer steilen Schräge immer tiefer hinab. Zwischen den Felsen, krochen Kreaturen. Roberto weigerte sich, bei diesem Anblick an Lebewesen zu denken. Dies konnten unmöglich Geschöpfe der drei Schwestern sein. Aus der Ferne betrachtet sahen sie aus wie Insekten. Chitinpanzer glänzten, schimmerten in giftgrünem Licht. Einige waren lang und dick wie überreife Maden. Andere waren breit und flach mit zu vielen Gliedmaßen. Die Perspektive änderte sich erneut, als die Krähe sich im Ská
von ihrem Schützling gelöst hatte. Sie kreiste über dem Talkessel und selbst jetzt, als sie genau darüber flog, konnte Roberto den Boden nicht erkennen. Dafür sah er die Kreaturen nun deutlicher. Einige von ihnen besaßen harte Flügel, glitten weit unter ihnen über den Abgrund hinweg von einer Wand zur anderen. Trotz diese Gefahr musste das Totem tiefer geflogen sein. Nur am Rande seines Bewusstsein nahm der Moltoy
das Keuchen, das dunkle Knurren war, das einige Fiulchú
ausstießen. Die Kreaturen waren riesig, regelrechte Monster. Jetzt konnten sie eine aus der Nähe sehen, die wie eine überdimensionale Gottesanbeterin aussah. Die Scheren dieser Fangbeine waren gewiss so scharf wie die Klauen eines ausgewachsenen Kogas
und so groß, dass sie ihm mühelos den Kopf abknipsen konnten. Auf dem Hinterleib des Wesens wuchs ein Stachel, der nicht minder gefährlich aussah. Eine weitere Kreatur wurde sichtbar. Sie stand auf vier lächerlich dünnen Beinen, schimmerte schwarz und hatte grellgelbe Streifen, die sich den Chitinpanzer entlangzogen. Der Körper war gegliedert in einen flachen Hinterleib, einer schmalen Brust und einem dreieckigen Kopf. Es hatte nicht zwei Augen auf einer Kopfseite wie die meisten Raubtiere und auch nicht je eines auf den Seiten wie die meisten Beutetiere. Es besaß ein bewegliches Sehorgan auf jeder Spitze des Dreiecks, was ihm zweifellos eine Rundumsicht erlaubte. Aus einem Maul mit kleinen spitzen Zähnen, von denen jeder noch so groß war wie der Geist der Krähe, schoss das Wesen Schlammkugeln auf die Felswände ab. Es sah zumindest aus wie Schlamm, doch als das Zeug den Felsen berührte, schmolz dieser dampfend zusammen. Das Totem flog über eine Art Raupe hinweg und die steilen Hänge entlang, an denen noch mehr schreckliche Exemplare entlangkrochen. Ein Licht leuchtete zur Linken auf, erregte Robertos Aufmerksamkeit ebenso, wie es die der Krähe geweckt hatte. Sie flogen eine Kurve und dann tiefer in den Krater. Roberto sah Strukturgeister, die an den unteren Wänden webten. Diese Geschöpfe hatten allerdings kaum noch etwas mit den Fyonn Taihvse
gemeinsam, die er in Vis Banken gesehen hatte, und die überall im Kréská
den Bauten aus der Realität Halt und Festigkeit gaben. In diesem Krater waren sie missgestaltete Spinnen, deren Gliedmaße unregelmäßig aus dem Körper starken. Einige waren spitz wie Nadeln, andere sahen eher aus wie Schwerter oder wie die Scheren eines Krebses. Dies waren keine Beine mehr, sondern Waffen. Die Fäden, die diese dunklen Wesen sponnen, schimmerten nicht etwa im sanften Schimmer des Lebens. Sie waren dunkel, fest und es sah so aus, als klebte reines Pech an ihnen. Gefangen in einem solchen Netz kämpfte das Licht um seine Freiheit. Roberto sog zischend die Luft zwischen seine Zähne ein. Um sich herum hörte er die anderen fauchen, brüllen und knurren. Es war Sorcha O‘Connor. Es war ihr stofflicher Leib, eine schwache Menschenfrau und zugleich ihre leuchtende Seele und ihr Elchtotem. Sie überlagerten sich, als wären sie getrennt, wollten einander aber nicht allein lassen. Alle drei sahen zeitgleich auf, die Frau, die Seele und der Elch, und Roberto glaubte einen Moment lang, sie sähen ihn an. In Wahrheit hatten sie wohl die Krähe entdeckt und dieser Anblick schien ihnen neuen Mut zu geben. Das Licht der Seele pulsierte und wurde heller. Der Elch ging in ihr auf und die Menschenfrau verwandelte sich in einen wütenden Kogas
, der an seinen klebrigen Fesseln zerrte. Doch schon staksten die schrecklichen Weberinnen auf sie zu. Auch die Krähe war bemerkt worden. Aus reiner Intuition sackte der Geist hinab, flog eine enge Kurve und entging nur so gerade eben den überdimensionalen Fresswerkzeugen eines roten Käfers. Die Kreaturen wurden kleiner und die rauen Wände zogen schnell an ihnen vorbei. Ein letztes Mal sahen sie die kämpfende Sorcha, nun hoffnungslos winzig, dann rannte Die-im-Nebel-sieht unter ihnen um ihr Leben. Nebel verschlang die Erinnerungen rasch. Roberto blinzelte ein paar Mal. Mit einer behaarten Hand fuhr er sich in einer Geste der Fassungslosigkeit über das Gesicht. Als er sich umsah, entdeckte er überall Zeichen von Wut, Angst und blankem Horror. Seine blauen Augen blieben an Ronit hängen, der vielleicht der Jüngste unter allen Anwesenden war. Sein Gesicht war weiß vor Grauen und er hielt den Geist des Phönix, der nach all dem Gesehenen ebenfalls ziemlich farblos wirkte, wie ein Kuscheltier an sich gepresst. Caylinn hatte schützend ihre starken Arme um ihn gelegt, fand selbst Trost in dem Puma, der seinen Kopf an ihrem Bein rieb. Roberto hob eine Hand zu dem Froschgeist auf seiner Schulter. Dankbar über dessen Wärme, wünschte er, sich ebenfalls an jemanden lehnen zu können, der ihn beschützte.
Kaldur
Landsitz des Herzogs von Abridge
5. Tag des Winnemánodt im Jahre 1159
Am Abend des Talahvley
Joselito hielt die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen. Langsam und mit vollem Bewusstsein atmete er ein, konzentrierte sich auf die kleinen Nuancen in der Luft, jede feine Andersartigkeit. Die Luft riecht herber als zuhause, schoss es ihm durch den Kopf. Er weigerte sich, die Augen zu öffnen, versuchte alle Unterschiede zu benennen, indem er roch und schmeckte. Es fehlte der süße Duft der Blüten und Früchte. In Meneado blühte es beinahe das ganze Jahr über und für einen ebenso langen Zeitraum hing saftiges Obst an den Bäumen. Stünde er jetzt im heimatlichen Garten, lägen die Weinberge vor ihm. Die Arbeiter kämen in langen Reihen wie Ameisen zurück ins Dorf. Dabei schwatzten und lachten sie und die Frauen stimmten Lieder an, deren Melodie bis zu ihm wehte, untermalt vom leisen Rauschen des Meeres.
Der Junge atmete noch einmal tief durch. Er lachte leise auf, als ein Blöken in seine Konzentration drang. Vor seinem geistigen Auge entstand das Bild eines langhaarigen, zottigen Ziegenbocks. Ein ulkiges Tier, fand der Fünfzehnjährige und konnte nicht widerstehen. Er riss die Augen auf, lehnte sich so weit wie möglich aus dem Fenster und sah sich suchend um. Der Himmel war klar, bescherte ihm eine weite Sicht und - da waren sie. Am Hang des Berges wanderte eine ganze Herde Wollziegen ins Tal. Das zottige Fell war geprägt von schmutzigem Weiß und allen erdenklichen Erdtönen. Als Joselito während der Reise zum ersten Mal diese Tiere bestaunt hatte, hatten die Händler erklärt, die Wollziegen würden geschoren werden, ganz ähnlich wie Schafe. Aus der Wolle würde grobes Tuch und robuste Kleidung für das einfache Volk gemacht. In den langen Wintermonaten sollten diese Stoffe herrlich warm halten. Joselito beobachtete, wie zwei Hunde, die ebenso zottig aussahen wie die Ziegen, kläffend um die Herde rannten, einzelne Tiere immer wieder zurück brachten. Mitten in der Herde lief ein junges Mädchen, eher Kind als Frau und ein Stück davor ein junger Mann, der ungefähr so alt sein mochte, wie Joselito selbst. In ihm wuchs der Drang zu den beiden hinzulaufen, mit ihnen zu reden und zu lachen, ihnen ebenso Unglaubliches aus der Heimat zu erzählen, wie er es hier sah. Doch war er eingesperrt in dem Zimmer im zweiten Stockwerk der Villa und konnte froh sein, dass MacDubhgall ihn nicht in ein Verließ gesperrt hatte.
Der Halbwüchsige strich sich das schulterlange, kastanienbraune Haar aus der Stirn und sah der Ziegenherde nach, bis diese seinem Blickfeld entschwand. Er atmete noch einmal tief durch, genoss den herben Geschmack der Luft und sah sich weiter um. Erst als sein Blick am Waldrand hängen blieb, gelang es ihm, einige Nuancen dieser Duftnoten zu bestimmen. Es roch nach dem Harz der Nadelbäume, nach blühenden Kastanien und Buchen. Der Duft weckte ferne Kindheitserinnerungen. Die Hände auf die Fensterbank gestemmt, beugte er sich vor. Hatte er wirklich einen kleinen Jungen am Waldrand gesehen oder spielte ihm seine Gedächtnis einen Streich? Als Knabe war er durch einen ganz ähnlichen Wald gestromert, hatte mit seinem Freund aus dem nahen Dorf fantastische Wegelagerer gejagt, Geister aufgeschreckt und Schätze entdeckt. Ein Messer blitzte in der Erinnerung auf und Joselito sog heftig die Luft ein, schüttelte den Kopf um die Bilder zu verdrängen. Er sollte sich auf die Zukunft konzentrieren, nicht auf die Vergangenheit. Und seine Zukunft hieß Leathan.
Joselito seufzte tief und flüsterte den Namen vor sich hin. Fühlte sich so Liebe an? Diese Frage hatte er sich auf der Reise oft gestellt. In jedem Fall war es eine unerträgliche Sehnsucht. Er lehnte den Kopf gegen den hölzernen Rahmen und blickte zum Himmel. Eben malte die Sonne ihren abendlichen Abschiedsgruß auf die weißen Bergspitzen. Es war ein Anblick, der den Jungen beinahe bei jedem Sonnenuntergang staunen ließ, seit er im Hochland von Kaldur weilte. Meneado lag viel weiter südlich und die Weinberge waren nicht annähernd so hoch, als das dort Schnee lag. Wenn der Himmel dort so klar war, ließ die untergehende Sonne die Hänge mit den Weinreben geradezu in heiligem, goldenen Licht erstrahlen. Hier in den Bergen verabschiedete sie sich mit einer wahren Explosion von Farben. Joselito hatte nicht gewusst, wie viele Rottöne es auf der Welt gab, ehe er ins Hochland kam. Wo sich die Sonnenstrahlen in den fernen Gletschern brachen, zogen bunte Lichterbögen über die Spalten. Wie zu einer stummen Melodie veränderten sich die Farben, schufen immer neue Bilder. Der Junge konnte nicht anders, als das Schauspiel zu bewundern, bis die Sonne so tief stand, dass der Himmel erst dunkelblau, dann langsam schwarz wurde. Zum Schluss strahlten die weißen Berggipfel in der Dunkelheit, als hätten sie das Sonnenlicht getrunken. Fröstelnd zog Joselito die Schultern hoch. Die Nächte in Kaldur waren kälter als im Süden. Er trat einen Schritt zurück und schloss das Fenster. In Gedanken noch bei dem Naturschauspiel, zeichnete er mit den Fingern die filigranen Schnitzereien nach, die in dem dunklen Rahmen eingelassen waren. Das Bild war in vier Teile gegliedert, von denen jedes eine Szene zeigte, in der die Wolle der Ziegen verarbeitet wurde. In den großzügigen Lücken war fein gegerbtes Leder gespannt, dass am Tage ein wenig Licht hineinließ, die kalte Luft jedoch draußen hielt. Als er sich ins Zimmer drehte, war es stockdunkel. Der Junge tastete nach der Kerze, die auf dem nahen Tisch stand, und nach den Zündhölzern, die daneben lagen. Im Schein der Flamme setzte er sich wieder an den Tisch. Er zog die Schachtel mit den Steinen heran, mit der er zuvor gespielt hatte, lauschte dann aber nur auf Geräusche im Haus. Vor einigen Stunden hatte Parnel, der Diener, der für Joselito verantwortlich war, ihn zum Abort geleitet. Doch seit dem Frühstück hatte er nichts zu Essen bekommen und dem Jungen knurrte der Magen. Er seufzte leise, als er nichts hörte, und versuchte sich auf das Spiel zu konzentrieren.
Da er den Mond von seinem Fenster aus nicht sehen konnte, hatte Joselito kein Gefühl dafür, wie schnell die Zeit verging. Inzwischen hatte er die Steine zu einer dritten Spielrunde aufgestellt und kämpfte gegen Langeweile. Ab und zu hörte er Schritte im Gang. Jedes Mal hielt er im Spiel inne, lauschte und hoffte das Parnel die Tür entriegelte, um ihn herauszulassen. Wenn das so weiterging, hatte er Leathan nicht ein einziges Mal gesehen, bis ihn jemand abholte. Außerdem knurrte sein Magen immer lauter. Der Junge seufzte noch einmal, stand wieder auf und öffnete das Fenster. Kühle Nachtluft strich ihm über das Gesicht und durch das rotbraune Haar.
Und dann endlich vernahm er das erlösende Geräusch, des Schlüssels, der im Türschloss gedreht wurde. In Erwartung des alten Dieners, der sein Essen balancierte, während er sich mit dem Schloss abmühte, eilte Joselito zur Tür, seine Mahlzeit entgegen zu nehmen. Doch als das Holz aufschwang, stand dort nicht Parnel. Es war ein junger Mann, dessen Haar, dunkel und gelockt, das helle Gesicht noch bleicher erscheinen ließ. Das gelbe Laternenlicht aus dem Flur beschien die ebenmäßigen Züge und die gerade Nase. Die schmalen Lippen verzogen sich zu einem Schmunzeln und in den braunen Augen blitzte etwas amüsiert auf.
“Leathan”, hauchte Joselito atemlos. Im nächsten Moment warf er die Arme um den Hals des Größeren, stieß dabei beinahe das Tablett um, das dieser in einer Hand hielt.
“Nun mal immer langsam mit den jungen Pferden.” Leise lachend legte der Gelockte den freien Arm um den Burschen und schob ihn zurück ins Zimmer. Mit dem Fuß gab er der Tür einen Schubs, damit sie zu fiel. Im nächsten Moment presste Joselito seine Lippen auf Leathans. Alles war vergessen, die Sehnsucht, die Unannehmlichkeiten der langen Reise, die Furcht vor Salamons Zorn. Seine Lippen waren noch ebenso kühl, wie der Halbwüchsige es in Erinnerung hatte.
“Ich glaubte, ich sehe dich nie wieder”, stieß Joselito aus, als er den Kuss löste. Lächelnd, mit glänzenden Augen sah er zu dem lang Vermissten auf. Leathan erwiderte den Blick. Ohne ihn abzuwenden, schob er das Tablett auf den nahen Tisch, legte dann auch den anderen Arm um den warmen Körper, der sich so bereitwillig an ihn schmiegte.
“Es ist wirklich wunderschön zu sehen, wie dein Hunger nach mir größer ist, als nach allem, was unsere Köchin dir auftischen könnte”, raunte er leise. Als wollte Joselitos Magen dem widersprechen, erklang ein deutlich vernehmbares Knurren. Beide lachten auf und der Jüngere löste sich eher wiederstrebend von dem wohl proportionierten Körper. Seine Finger glitten Leathans Arm hinab und fanden die bleiche Hand, umschlossen diese und ließen sie nicht mehr los. Er drehte sich zum Tisch, achtete aber darauf, dass der Gelockte dicht hinter ihm blieb. Jetzt, wo er ihn endlich zurückhatte, wollte Joselito ihn jede Sekunde der Nacht spüren. Leathan tat ihm den Gefallen, legte das Kinn auf die linke Schulter des Sterblichen und lüftete das Tuch von dem Holzbrett. Darauf lagen duftendes Körnerbrot, kalter Braten, geschnittene Rüben, löchriger Käse, eine Schale mit Kräuterbutter und eine mit süßem Brei.
“Warum hast du nie geschrieben?”, erkundigte sich Joselito leise. Er griff nach einem Stück Brot, zog es durch die weiche Butter und biss ab. Es schmeckte köstlich.
“Ich habe hier viel zu tun.” Leathan legte das Leinen über die Stuhllehne, griff dann nach dem Krug und füllte den Tonbecher mit süßem Rotwein.
“Ich habe dich vermisst.” Kauend legte Joselito den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und sog den Duft des Mannes ein, den er so oft in seinen Träumen gerochen hatte. Dieser lächelte, drückte den Jungen mit sanfter Gewalt auf den Stuhl. “Iss, bevor du über mich herfällst.”
Der Jugendliche grinste breit, warf dem anderen einen vieldeutigen Blick zu, den Leathan mit einem Zwinkern erwiderte. Dann aber deutete der Kaldure auf die Schachtel mit den Steinen, die nun hinter dem Tablett auf dem Tisch stand. “Was ist das?”
“Salto de Piedra, ein Spiel, das die Seefahrer mir gezeigt haben.”
“Und wie spielt man es?”
Joselito beobachtete, wie der Ältere sich auf den zweiten Stuhl setzte. Er wusste genau, dass sein Gegenüber ganz bewusst nach einem anderen Thema suchte und das versetzte ihm einen schmerzhaften Stich. Hatte Leathan ihn denn gar nicht vermisst? Doch Joselito tat so, als merkte er dies nicht, nahm sich ein Stück Braten und erklärte die Regeln des Steinchenspiels.
Als auch der letzte Krümel von der Platte verschwunden und der Wein über die Hälfte geleert war, verzweifelte Leathan an seinem ersten Spiel. Er hatte noch drei Steine auf dem Feld, die zu weit voneinander entfernt lagen, als das er sie hätte überspringen können, wie es die Regeln erforderten. Als er nach den anderen Spielsteinen griff und eine neue Runde aufbaute, erhob sich Joselito, trat hinter ihn und legte ihm die Arme um die Schultern.
“Du wirst es auch dieses Mal nicht schaffen”, raunte er.
“Was bringt dich darauf?”
Der Junge streichelte über den feinen Hemdsstoff. “Weil du dafür Ausdauer brauchst”, erklärte er, während er langsam zum Hals kraulte. “Und Ehrgeiz.” Ganz leicht glitten seine Finger über die kalte, bleiche Haut, strichen über den Adamsapfel, der zuckte, als Leathan sprach.
“Und du behauptest, das fehlt mir?”
Joselito umfasste die dunklen Locken, die noch länger waren als sein eigenes Haar. Er beugte sich vor, hauchte einen Kuss auf den freigelegten Hals. Seine Antwort war eher ein Atmen, als das wirklich ein Ton mitschwang. “Ja.”
Der Kaldure griff nach den beiden schmalen Handgelenken, befreite sich aus der Umarmung und schob den Jüngeren vor sich her zum Bett. Joselito ließ ihn gewähren, keuchte aber auf, als er auf die weiche Matratze fiel und gleich darauf das Gewicht des Älteren auf sich spürte. Leathan umfasste nun die Gelenke mit einer Hand, griff mit der anderen in das glatte, kastanienbraune Haar und zog den Kopf zur Seite, entblößte den Hals. Erwartungsvoll spannte sich Joselito an, schielte aus den Augenwinkeln zu Leathan, als dieser das Haupt senkte. Da war das kurze Stechen, das ihn zusammenzucken ließ und gleich-. Er erwartete dieses unbeschreibliche Gefühl, das seinen ganzen Körper überschwemmte, doch stattdessen wuchs der Schmerz nur noch mehr an. Der Junge keuchte auf, presste die Zähne zusammen und versuchte sich aus dem fester werdenden Griff des Blutsaugers zu befreien.
“Hör auf! Du tust mir weh!”, rief Joselito, ehe er aufschrie. Der Piyavka
löste den Biss, doch nur, um dem Knaben eine Ohrfeige zu verpassen. Joselito hob die Arme und zog den Kopf ein, um sich zu schützen, was jedoch kaum machbar war. Immer noch hielt Leathan seine Handgelenke und griff erneut in sein Haar.
“Das war es doch, was du vermisst hast, nicht wahr?” Die Stimme klang ruhig und berechnend. “Deswegen bist du doch hergekommen. Gefällt es dir nicht mehr?”
Der Sterbliche schüttelte den Kopf, soweit es ging, ohne dass er sich selbst die Haare ausriss. Leathan hielt ihn so fest, dass seine Augen tränten und er nur in das blasse Gesicht schauen konnte. Wildheit und diese kaum zu benennende Gefahr lagen in den braunen Augen, genau, wie er es in der Nacht zuvor bei MacDubhgall gesehen hatte. Dieses Mal spürte Joselito jedoch nicht diese Angst in sich. Leathan war sauer - warum auch immer - aber er würde ihn nicht ernsthaft verletzten, dessen war der Halbwüchsige sicher. Dennoch klang seine Stimme nicht so fest, wie er es gern gehabt hätte.
“Das stimmt nicht. Ich habe dich vermisst, nicht nur den Biss, alles von dir.” Joselito blinzelte, als das Gesicht vor ihm verschwamm. Einzelne Tränen rannen seine Schläfen hinab. Leathan starrte ihn einen Moment lang an, ließ ihn dann los und erhob sich.
“Hast du eigentlich eine Ahnung, was ich mir von Caladh anhören durfte?”
Joselito rutschte weiter auf das Bett, rieb sich die Handgelenke und tastete dann nach der schmerzenden Stelle an seinem Hals. Die Kerze spendete nicht genug Licht, als das er das Blut auf seinen Fingerspitzen sehen konnte, aber er spürte es.
„Er warf mir vor, das Eigentum eines anderen verführt zu haben.“
„Ich bin nicht Salamons Eigentum. Ich bin sein Sohn.“
„Umso schlimmer“, zischte Leathan. „Dann wird Salamon sagen, ich habe seinen Sohn und zukünftigen Erben entführt.“
„Du hast mich nicht entführt!“
„Dann eben verführt! Da wird er keinen Unterschied sehen.“
„Das ist nicht wahr! Salamon bestimmt nicht, wen ich Liebe!“
Joselito spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Ein grimmiges Lächeln fand auf seine Lippen, als Leathan den Mund öffnete und wieder schloss, ohne etwas zu sagen.
„Du hast Recht. Ich sehnte mich nach dem Biss, aber auch nach dir.“ Der Junge richtete sich auf und rutschte vom Bett, fixierte dabei von neuem diese gefährlichen, braunen Augen. „Ich habe auf dich gewartet, auf eine Nachricht, auf irgendein Zeichen von dir aber-.“
„Sei still“, unterbrach Leathan den Redefluss.
Joselito schwieg. Er öffnete den Mund, aber es war, als verloren die Worte auf dem Weg über die Lippen jeden Sinn und so schloss er ihn wieder.
„Setz dich“, befahl der Piyavka
.
Joselito gehorchte, sank zurück auf das Bett. Mit gerunzelter Stirn beobachtete er, wie Leathan zum Tisch trat, sich dort anlehnte, die Arme vor der Brust verschränkte und ihn anstarrte. Joselito wollte etwas sagen, doch bei jedem Versuch entglitten ihm die Worte. Mit zusammengepressten Lippen rutschte er schließlich bis an die Wand, zog die Beine an und legte die Arme darum.
Erst nach mehreren Minuten brach der Blutsauger das Schweigen. „Du glaubst ernsthaft, Salamon könnte nicht über deine Gefühle bestimmen?“
Die Frage war der reinste Hohn, wo der Blutsauger gerade im Moment über Joselitos Körper befahl, ihn mit zwei kleinen Worten seinen Willen aufzwang, am Sprechen hinderte.
„Oh, Lito, du bist so naiv, so jung.“ Seufzend schüttelte Leathan den Kopf, trat erneut zum Bett und setzte sich auf die Kante. „Du denkst, du kennst die Piyavka
, nur weil du bei Salamon lebst? In Wahrheit weißt du nichts über uns. Wir sind intrigant. Menschen sind Nahrung, Spielzeuge, Werkzeuge, Diener und manchmal - das will ich nicht abstreiten - auch Freunde. Aber Liebe? Die Liebe ist etwas für Sterbliche, Lito.“
Der Jugendliche schluckte trocken, ließ zu, dass eine kalte Hand die seine umfasste.
„Und wenn Salamon dich als Sohn annimmt, dann verspricht er sich ganz sicher mehr davon, als nur ein paar Gefühle. Statt ihm für diese Ehre zu danken, hintergehst du ihn und läufst weg.“
Die Furchen auf der jugendlichen Stirn vertieften sich noch. Da war durchaus etwas Wahres an den Worten, aber das wollte der Junge jetzt ganz bestimmt nicht zugeben. Salamon war weit weg und die latente Furcht vor dessen Reaktion verdrängte er erfolgreich.
“Komm her”, erklang Leathans Stimme in versöhnlichem Ton. Joselito wehrte sich halbherzig und kurz gegen den Zug an seinem Arm, rutschte dann aber näher und lehnte sich gegen den lang vermissten Körper. Er ließ zu, dass der Piyavka
ihn umarmte, spürte allzu gerne die glatte, kühle Wange an seiner eigenen.
“Weißt du, ich fühle mich wirklich geehrt, weil du nur wegen mir diesen weiten Weg auf dich genommen hast, aber das hättest du nicht tun sollen.”
Die Muskeln des Jüngeren spannten sich bei diesen Worten an, was Leathan keineswegs entging. Aus seiner Umarmung wurde ein Festhalten, als er weitersprach.
“Die Welt ist gefährlich, Lito. Dir hätte etwas passieren können. Was glaubst du, hätte Salamon getan, wenn dir etwas zugestoßen wäre? Wegelagerer, die dich wegen deiner warmen Kleidung umbringen. Ein Unwetter, während du auf See bist. Fremde Piyavka
, die an dein Blut wollen. Das sind nur ein paar Dinge, denen du ausgeliefert wärst. Hör auf, hörst du?”
Joselito hatte angefangen, sich aus dem kalten Griff zu befreien. Er bebte regelrecht vor unterdrückter Wut. So vieles hätte er Leathan nun zu sagen. Dass er schon als kleiner Junge allein umherwanderte, dass er all diese Gefahren durchaus kannte und sich zur Wehr setzen konnte und dass ihm all dies auch Zuhause hätte zustoßen können - doch seine Zunge weigerte sich immer noch, die Worte zu formen.
“Wenn du weiterhin unter uns leben und auch noch erwachsen werden willst, wirst du dir lernen müssen, dir gewisse Dinge anzuhören, ohne Widerworte zu geben.”
‚Ist das so?‘, dachte Joselito, drehte sich zu dem Untoten und presste seine Lippen auf die des anderen. Leathan mochte ihn vielleicht zum Schweigen verdonnern, konnte ihn aber nicht an einer Antwort hindern.
Der Kaldure zog den Kopf zurück, drückte den Jüngeren etwas von sich. “Wenn du weiter von deiner großen Liebe sprechen möchtest, werde ich gehen und dich so hier sitzen lassen.”
Joselito zögerte. In seinen blauen Augen, die regelrechte Funken sprühten, war deutlich zu lesen, dass er Leathan am liebsten sonst wo hin gewünscht hätte. Aber er wollte nicht allein in diesem Zimmer zum Schweigen verdammt eingesperrt sein, schüttelte daher langsam den Kopf.
“Und was möchtest du sagen?”
Joselito spürte, dass der Zauber von ihm genommen war, doch erst einmal atmete er tief durch. Ein unüberlegtes Wort und Leathan brachte es fertig, ihm erneut Schweigen zu befehlen. Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens fragte er: “Was war ich in Tonadas für dich, in diesen langen Nächten, in denen wir zusammen vor dem Kamin saßen, in den Weinbergen oder am Strand? Was war ich für dich, als wir im Wald ritten und was, als du mich jagtest und von meinem Blut nahmst? War ich dein Freund, deine Nahrung oder dein Spielzeug?” Er beobachtete, wie Leathan die Stirn runzelte, und fügte hinzu: “Oder vielleicht alles drei zusammen?”
Der Piyavka
antwortete nicht, musterte den Jüngeren bloß mit kritischem Blick.
“Ich werde nicht nochmal von Liebe anfangen, wenn du mir versprichst, dass ich das wieder für dich sein kann, dass ich es immer noch bin.”
Leathan schüttelte langsam den Kopf. Er hob eine Hand und strich dem Sterblichen eine Strähne des rotbraunen Haars aus dem Gesicht. “Wir sind aber nicht mehr in Tonadas, Lito.”
“Na und? Ich bin hier und du bist hier.”
“Es ist aber nicht dasselbe. Du bist hier nicht zu Hause, die Deinen sind nicht hier um dich zu schützen.”
“Ich brauche keinen Schutz vor dir”, widersprach Joselito. “Ich vertraue dir. Du hast mich noch niemals richtig verletzt.” Als Leathan den Mund öffnete, fuhr er rasch fort: “Und außerdem liegt Abridge höchstens vier oder fünf Luuf entfernt. Mit einem schnellen Pferd brauche ich nur einen Bruchteil der Zeit. Ich kann am Abend herkommen und im Morgengrauen zurückreiten. Du kannst mich ebenso besuchen.”
“Die Nächte werden kürzer, Lito”, merkte Leathan an, doch auch darauf wusste der Jugendliche eine Antwort.
“Dann bleibst du eben den Tag über. Salamons Kinder werden sich hüten, dich bei Tagesanbruch vor die Tür zu setzen.” Er grinste leicht bei den Worten und in den blauen Augen lag ein schelmisches Funkeln.
“Bitte.” Er streichelte über die Brust des Untoten, verharrte mit seiner warmen Hand an der Stelle, wo er bei einem Menschen den Herzschlag gespürt hätte. “Ich möchte doch nur bei dir sein, wenigstens ab und zu.” Oder auch, so oft und so lange es ihm nur möglich war, doch das sprach der Fünfzehnjährige sicherheitshalber nicht aus.
“In Ordnung”, gab Leathan nach. Er atmete tief durch und legte die Arme wieder um den Heranwachsenden. “Du sollst deinen Willen wieder mal bekommen, aber beschwer dich nicht, wenn ich nicht jederzeit für dich da bin. Aufdringliche Spielzeuge werden mir schnell langweilig.”
“Ich ganz bestimmt nicht.”
“Und als mein Freund wirst du akzeptieren, dass dies nur so lange gilt, wie Salamon und die Seinen es zulassen. Ich werde mich nicht gegen das Wort deines Princen
stellen.”
“Das brauchst du auch nicht”, versprach Joselito. Lächelnd rückte er wieder näher an den Größeren heran, reckte sich und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. “Bleib heute Nacht bei mir, bitte.”
Kréská
20. Tag des Winnemánodt im Jahre 1144
Am Abend des Dóityahwinley
Der Salais
starrte auf die spiegelnde Oberfläche des Tümpels, an dessen Ufer er stand. Normalerweise vermied er, sein groteskes, haarloses Gesicht zu gründlich zu betrachten. Allerdings schaute er auch eher durch seine Spiegelung hindurch, versuchte in die Welt dahinter zu starren. Da war etwas, eine Bewegung. Womöglich handelte es sich bloß um einen Fisch - vielleicht aber auch um einen Geist. Er trat einen Schritt vor und, statt das er ins Wasser trat, überfiel ihn die Kälte zwischen den Welten. Mit vor Schreck erstarrten Gliedern hing der Salais
fest. Er keuchte und die Wand aus unsichtbarem Eis drang in seine Lungen. Sie fraß sich in sein Innerstes, ergriff seine Innereien ebenso wie seine intensivsten Empfindungen. Die Aufregung über diesen verbotenen Schritt, der Stolz, dass es ihm tatsächlich gelang, wurde von einer Welle der Furcht hinweggeschwemmt, die wiederum auf ihrem Höhepunkt gefror. Für einen Augenblick der Unendlichkeit war da nichts. Er war einfach nur, existierte aber nicht. Sein Körper war aus der physischen Welt verschwunden, seine Seele noch nicht im Reich der Geister angekommen. Irgendwo am Rande seines Bewusstseins spürte der Salais
ein Zupfen. Er versuchte sich zu drehen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Eine neue Welle der Angst rollte heran, überrollte ihn regelrecht. Er wollte schreien, kämpfen oder wenigstens fliehen. Er sah nichts, hörte nichts und roch nichts. Es war weder dunkel noch hell, weder laut noch still, weder stinkend noch wohlriechend und alles zu gleich - so unwirklich. Er spürte nur. Etwas zupfte an seinem Körper, seinen Gliedmaßen, seiner Haut... seinem Selbst! Ja, es zupfte tatsächlich an seiner Substanz. Der Salais begriff und schrie. Dieses ‚Etwas‘, was immer es war, zerrte an seiner Seele. Er hörte seinen eigenen Schrei nicht und doch hallte sein Hilferuf durch die Sphären. Ein Sturm kam auf, so plötzlich wie der Salais
niemals einen erlebte. Er zerrte und riss an ihm, zog ihn fort von den unbenannten Wesen, die ihn zerfaserten. Ein Beben begleitete die Böen und auf eine surreale Weise fragte sich der Salais
, wie die Erde beben konnte, wenn es gar keinen Boden gab. Im nächsten Moment war er frei und eins. Aus den Augenwinkeln erkannte er dürre, spinnenbeinartige Gliedmaßen und lose Enden einen glitzernden Netzes, dann schob sich Nebel vor den Anblick und der Salais
landete unsanft. Er kauerte, atmete keuchend, tastete mit seinen Klauen über seinen nackten Körper und sah an sich hinunter, nur um sich zu vergewissern, dass er noch existierte. Unter sich spürte er Moos, um sich herum einen klammen Windhauch, doch nicht mehr diese eisige Kälte. Als er seinen Kopf hob, sah er mächtige Bäume - und geradewegs durch einen lichtschimmernden Körper hindurch. Der Salais
erstarrte von neuem, dieses Mal jedoch vollkommen bewusst. Er saugte Luft in seine noch schmerzenden Lungen, während sein Blick an der geisterhaften Gestalt hinaufwanderte. Es war ein Wolf. Hinter ihm aus dem Nebel traten ein Biber und ein Otter. Jeder einzelne überragte das missgebildete Wolfsmonster. Im Hintergrund sah der Salais
die verschwommenen Umrisse mächtiger Bäume, denen er aber kaum Bedeutung beimaß. Er spürte sein Herz schwer und träge, während seine goldenen Augen zwischen den Geistern hin und her huschten. Erst jetzt bemerkte er, dass der Wolf, obwohl riesengroß, noch nicht ausgewachsen war. Die Merkmale eines Welpen standen nach wie vor deutlich in seinem Gesicht.
“Wer seid ihr?”, hauchte der Salais
.
“Wir sind deine Totems”, antwortete der Otter, ohne wirklich zu sprechen. Es war ein Gefühl, das den Fiulchú
durchdrang. Auf eine unerklärbare Weise wusste er einfach, was der Geist ausdrücken wollte.
“Meine Totems”, murmelte der Salais
ungläubig. Er lernte die Legenden, da hatte er natürlich von den mächtigen Schutzgeistern gehört. Sie spiegelten die Eigenschaften der verschiedenen Sippen, Gemeinschaften, Rudel und sogar einzelner Fiulchú
wieder und halfen ihren Schützlingen in Notsituationen.
“Ihr habt mich gerettet”, fiel es dem Kogas
ein. “Wovor? Was war das? Was ist passiert?”
Ein Gefühl der Erheiterung überfiel den Salais
, das er als ein Lachen deutete. Er war bloß nicht sicher, von welchem Geist es kam. Von allen Dreien vielleicht?
Der Otter erklärte gutmütig: “Du bist in die Strukturen der Fyonn Taihvse
geraten.”
“Es war sehr leichtsinnig von dir, den Schritt ins Ská
allein zu wagen”, tadelte der Biber. Schuldbewusst senkte der Salais
den Blick. Als Schutzgeist der Auráný
war der Biber nicht nur ihm verpflichtet, sondern auch seinem Mentor.
“Wirst du es Heuler-der-Legende sagen?”
Ehe der Biber darauf antworten konnte, trat der Wolf vor. Seine Gefühle waren viel intensiver, klarer aber irgendwie auch flinker als die, der anderen beiden. “Du warst sehr mutig. Du hast deine Furcht besiegt und mich gerufen. Von heute an werde ich immer an deiner Seite sein, Geistrufer.”
“Geistrufer?”, echote der Salais
unsicher.
Der riesige Geisterwelpe rieb seinen Kopf an der nackten Haut. “Das wird dein Name sein. So werden die anderen deiner Sippe und die ganze Nation der Fiulchú
dich nennen.”
Der Missgestaltete spürte, wie die Hitze in ihm aufstieg. Sein dürrer und haarlose Schweif bewegte sich. Intuitiv schlang er einen langen Arm um den Geist. Das Gefühl war merkwürdig, weder warm noch kalt, sondern einfach nur angenehm beschützend. Ungefähr so stellte sich der Salais
die Liebkosung einer Mutter vor.
“Geistrufer”, wiederholte er leise, wobei ihm Tränen über das hässliche Gesicht liefen.
“Niemand wird dich so nennen”, durchdrangen die Gefühle des Bibers dieses intensive Glück, dass der junge Kogas
zum ersten Mal empfand. “Für sie wirst du ewig der Salais
bleiben.”
Geistrufer löste sich von seinem Wolfstotem.
“Du wirst dich beweisen müssen, jeden Tag, immer wieder und sie werden dich dennoch nicht anerkennen.”
“Warum sagst du so etwas?”, verlangte Geistrufer zu wissen. Als er sich aufrichtete, vermochte er dem Totem in die Augen zu blicken. Sie waren anders als bei jedem Fiulchú
und jedem Tier, dem er je begegnete. Selbst der weiseste Fiulchú
trug nicht dieses Wissen in sich. Selbst der älteste Wolf kannte nicht alle Zeiten, wie es dieser Geist tat. Ein leises Janken entfloh der Kehle des Salais
. Die Nähe des Welpen, dessen Kopf ihm immerhin bis zur Hüfte reichte, war eine Wohltat.
“Ich sage es”, erklärte der Biber: “weil es wahr ist. Seit Generationen beobachte ich befleckte Auráný
. Niemals werden sie von anderen Fiulchú
angenommen. Die Söhne des reinen Blutes gehören zu jenen, die härtesten mit ihnen umgehen, sie am wenigstens achten. Du solltest dich an die Kinder des Lebens wenden. Die haben Nachsicht.”
Geistrufer knurrte. Vor wenigen Atemzügen hätte er noch nicht geglaubt, dass er einem mächtigen Totem widersprechen könnte, doch der Biber hatte ihn praktisch einen Feigling genannt. “Ich bin ein Wak Folín
! Niemals werde ich zu diesen Menschen liebenden Missgeburten gehen!”
Der Biber lachte. Das Gefühl hämischer Genugtuung überschwemmte den Salais
. “Du willst ein Sohn des reinen Blutes sein? Ich sehe den Eber nicht an deiner Seite.”
Geistrufer ruckte mit dem Kopf herum. Seine Augen huschten zwischen den riesigen Bäumen umher, als müsste das Totem seiner Sippe dort jeden Moment auftauchen. Natürlich erschien es nicht. Geistrufer war tatsächlich noch kein Wak Folín
, sondern nur ein Welpe ohne Rang und Namen, der zu jeder Sippe gehören mochte. Er zögerte. Vielleicht hatte der Biber Recht. Womöglich war er bei den Lyainí Byaiha
, die jedes Leben respektierten, besser aufgehoben. Geistrufer spürte, wie der Wolfsgeist erneut seinen Kopf an ihm rieb und dieses Gefühl gab ihm Mut. Mit erhobenem Kopf sah er den Biber an. “Ich lerne von den Wak Folín
. Heuler-der-Legende ist ein guter Mentor und er vertraut auf meine Stärke. Ich werde die Prüfungen bestehen und ich werde zur Sippe der Wak Folín
gehören.”
Der Biber zeigte sich unbeeindruckt. Mit seinen unergründlich weisen Augen fixierte er den Missgestalteten. Geistrufer hielt dem Blick stand, doch mit jedem Herzschlag, fiel es ihm schwerer.
“Geh und bestehe deine erste Prüfung”, nahm er die Gefühle des Otters auf.
Geistrufer blinzelte und sah sein Totem an. “Die erste Prüfung?”
“Spiel mit mir”, mischte sich der Wolfsgeist ein, stupste mit seiner Nase die Klauen des Fiulchú
an. “Werde ein Wolf.” Er sprang auf, lief auf die Bäume zu und drehte sich wieder um, ehe er sie erreichte. Auffordernd sah er den Salais
an. Dieser schaute von dem Wolf zum Otter und weiter zum Biber. Beide traten zur Seiten und ein Gefühl der Zuversicht ging von ihnen aus. Ein Lächeln fand auf die missgestaltete Schnauze und Geistrufer rannte los, seinem Totem nach und in den Wald des Ská.
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Texte: Cover: Moonwolf Blue © Zoa@fotolia.de
Tag der Veröffentlichung: 18.06.2011
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