Bei nasskaltem Wetter gehe ich die Straße entlang. Ich will nur nach Hause. Die Lichter der Straßenlaternen spiegeln sich in den Pfützen. In dem großen Metalltor, dass die Backsteinmauer unterbricht, steht ein grobschlächtiger Glatzkopf. Seine Stimme hallt über die Straße, als er sein Gegenüber anbrüllt. Der andere ist im Schatten der Bushaltestelle kaum zu erkennen. Als zwei weitere Kleiderschrank ähnliche Herren aus dem Dunkel treten, taste ich in der Jackentasche nach meinem Handy. Ich hole tief Luft, bin nur noch wenige Schritte von den Männern entfernt. Die Aura einer beginnenden Prügelei schwingt durch die Straße, als der Glatzkopf auf den Bürgersteig tritt. Es hat etwas von einem glatten Teich, in dem ein Stein Kreise zieht.
Kaum das ich nahe genug bin, hebe ich drohend das Mobiltelefon. "Ich rufe die Polizei!" Und ich bewundere meinen eigenen Mut. Mein Herz rast. Einen Schritt schneller haste ich an den Männern vorbei. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie mir vier Augenpaare verblüfft nachschauen und der Glatzkopf sich in sein Tor zurückzieht.
Ich erreiche die Metalltreppe, die über die Böschung und unter die Bahnanlage führt. Keine dreißig Meter weiter liegt die Straße unter den Schienen, doch die meisten Fußgänger nutzen die Treppe. Fünf Stufen hinauf, ein Absatz mit einer Hundertachtzig-Grad-Drehung, fünf Stufen hinauf, ein Absatz mit einer Neunzig-Grad-Drehung und eine schräge Rampe, an deren Ende normalerweise die rotweißen Hindernisse für Radfahrer stehen. Normalerweise - heute nicht. Als ich den zweiten Absatz erreiche, blenden mich die Lichter eines Fahrzeugs. Ein Auto brettert beinahe ungebremst auf die Rampe. Die Außenspiegel reißen krachend ab und Metall quietscht auf Metall. Ich stolpere die Stufen hinunter, starre in das panische Gesicht der Frau hinter dem Steuer. Sie versucht herauszukommen, aber die Türen lassen natürlich nicht öffnen.
Mit quietschenden Reifen hält unter der Brücke ein weiteres Auto. Ich höre, wie sich eine Tür öffnet und sehe zwischen den Sträuchern hindurch und über das Dach des Wagens hinweg den Kopf eines blonden Mannes mit kurzem Haarschnitt. Die Frau versucht noch hektischer, sich aus ihrem Fahrzeug zu befreien.
Mein Daumen bewegt sich von selbst, schiebt das Handy hoch und wählt die Nummer des Notrufs.
"Ein Mann verfolgt eine Frau!", rufe ich in das Gerät, kaum das sich die zuständige Dienststelle meldet.
"Wir sind unter der Eisenbahnbrücke. Beeilen Sie sich! Sie kann nicht aus ihrem Auto." Die zur Geduld mahnende Stimme des Beamten geht mir auf die Nerven. Mein Herz rast schon wieder und Angstschweiß steht mir im Nacken. Wo ist der Blonde?
Ich haste die paar Schritte zur Straße zurück und schaue den Bahnhofsvorplatz entlang. Dahinter liegt der Eingang zur Polizeiwache.
"Dann schicken Sie halt jemanden raus! Es sind nur hundertfünfzig Meter bis hier hin." Vielleicht hat der Beamte die Dringlichkeit aus meiner Stimme gehört. Ich höre, wie er seinen Kollegen etwas zuruft.
Jemand rempelt mich an, als er an mir vorbei rennt. War es der Blonde? Die Frau? Ich laufe die Stufen zum ersten Absatz hinauf und schaue um die Ecke. Der Wagen ist leer, der Motor aus, die Lichter aber noch an.
Ich haste die Stufen hinab, sehe tatsächlich zwei Polizeibeamtinnen die Straße entlang rennen, gefolgt von einem Kollegen.
"Sie war in dem Auto", erkläre ich, als sie mich erreichen, und deute die Treppe hinauf. Der männliche Beamte läuft weiter zur Unterführung.
Ich folge den beiden Frauen langsam, als ein kurzer Fanfarenstoß eine neue SMS ankündigt; und gleich noch eine zweite. Nur kurz hebe ich den Blick zu den Polizistinnen, die ziemlich ratlos an dem Auto der Frau stehen, dann lese ich: Reden Sie mit niemanden.
Was zum Henker soll das denn heißen?
Eher nebenbei nehme ich wahr, wie eine der Uniformierten über die Motorhaube rutscht.
Die zweite SMS zeigt mir ein Video mit farbigen aber unscharfen Bildern. Voll Unverständnis starre ich auf den Film, der offenbar bei Nacht gedreht wurde. Ein Ort ist nicht auszumachen. Doch dann erhellt ein Licht das Geschehen. Es ist silberblau in einer Intensität, wie ich es nie zuvor sah. Gestalten zeichnen sich wage, kaum zu erkennen vor dem Licht ab. Es sind lediglich helle Schemen vor dem noch helleren Licht. Das Bild bewegt sich, als liefe der Kameramann. Dann findet es einen Fokus, zoomt eine Gestalt heran. Ich sehe einen Kopf, wie ich ihn noch nie zuvor sah. Er ist kahl und missgebildet. Die Stirn liegt viel zu hoch, der ist Kopf weder rund noch oval. Er hat eher die Form eines kurzen, dicken Bumerangs. Die Augen sind riesig und dunkel, eine ist Nase nicht wirklich zu erkennen und der Mund steckt voll spitzer Zähne, die an einen Hai erinnern. Das Video endet abrupt, doch das gleißende Licht verschwindet nicht.
Ich fühle mich selbst wie in slow-motion, als ich den Kopf und damit den Blick hebe. Meine Hände zittern. Da sind sie direkt vor mir, diese Kreaturen, die Aliens. Ein missgebildeter Kopf scheint hell durch das Gestrüpp am Auto des Blonden. Ich sehe nur die Arme des Polizisten. Das andere Wesen kniet beinahe neben dem Kotflügel des Autos auf der Rampe. Es ist eindeutig humanoid und scheint auf dem ersten Blick nackt. Seine ganze Haut schimmert silberblau, erhellt die Umgebung noch mehr als die Scheinwerfer. Eine Polizistin liegt halb über der Motorhaube und - sie haben Sex?
Ich zucke zusammen, als mein Handy klingelt, taste danach, halte es ans Ohr.
Ich höre Michas Stimme: "Hey Sonja, wegen dem Club..."
"Ja", unterbreche ich ihn, "danke. Ich habe gerade eine Story im Kopf."
Es ist ein Traum von einem Haus. Mein Bruder und meine Schwägerin kennen es selbstverständlich schon, doch die Kinder laufen neugierig vor und ich folge ihnen. Die Fassade besteht aus braunem Backstein, zur Holztür führen drei halbrunde Stufen. Hoch und hell sind die leeren Räume, obwohl die Fenster nicht besonders groß sind. Ich folge den Kindern durch verwinkelte Flure über Treppen und Stufen. Sie reißen eine Tür auf und stürmen hinein. Ich bin gleich hinter ihnen. Staunend bleibe ich stehen, als ich in den Raum trete. Das ganze Haus steht leer, denn die Möbel befinden sich noch auf den Transportern, die auf dem Vorplatz stehen. Doch jetzt stehe ich auf dunklem Teppich. Zu meiner linken entdecke ich eine Duschwanne, zu meiner rechten einer Sitzgruppe. Das Sofa ist wuchtig, sieht aber mit dem abgenutzten, braunen Leder gemütlich aus. Langsam gehe ich ein paar Schritte weiter. Die Mädchen rennen einmal im Slalom um die Möbel und verschwinden wieder durch die Tür, um das übrige Haus zu erkunden. Das Zimmer ist riesig. Um die Ecke geht es weiter, doch ich bin abgelenkt. Integriert im Wohnbereich steht eine Badewanne, die Wand dahinter ist gefliest. Neben der Wanne steht ein Schwenklift, wie er sonst in Altenheimen oder Krankenhäusern zu finden ist.
"Hey, Schatz!", rufe ich über die Schulter. "Hier ist schon alles behindertengerecht eingerichtet!" Kurz darauf kommt meine Frau, die Altenpflegerin, mit meiner Schwägerin ins Zimmer. Solch einen Ausdruck von Irritation muss ich zuvor auch auf meinem Gesicht gehabt haben. Doch ehe wir uns weiter wundern können, rennt unser Hund auf uns zu - wo auch immer er aus diesem leeren Zimmer herkommt. Ihm folgt eine schlanke, braune Dogge, die fröhlich mit dem Schwanz wedelt und uns sogleich beschnuppert. Unsere Blicke liegen auf der Ecke, hinter welcher der Raum weiter gehen muss und wo ein Mann vor tritt. Er ist sicherlich nur wenige Jahre älter als ich. Sein Haar ist braun und voll, zeigt keine Spuren von Grau. Dennoch weiß ich auf dem ersten Blick, dass dieser Mann sehr krank ist und das er sterben wird. Er hat die Hemdsärmel über die Ellenbogen hochgekrempelt und seine Haut klebt an den Knochen. Sein Gesicht ist eingefallen, sein Gang schleppend und müde. Doch seine braunen Augen strahlen vor Lebenswillen. Mit einem Lächeln auf den Lippen begrüßt er uns und erklärt seine Situation. Er ist zurückgeblieben, damit er in Ruhe zu Hause sterben kann.
Unterbrochen werden wir von einem Bärtigen. Er ist sicher noch keine Dreißig, kräftig, strahlt Ruhe und Zuversicht aus. Er nickt uns bloß grüßend zu, doch sein Blick zu dem Kranken ist voller Emotionen. Vor unseren Augen sprechen sie ohne einen Laut, nur durch Mimik und Gestik. Offenbar beruhigt geht der Bärtige wieder. Ich bemerke auch im hinteren Zimmer eine ähnliche Gestalt und mir ist klar: dies sind nicht die letzten einsamen Zivis. Dies sind gute Freunde, vielleicht sogar Brüder, die den Tod des Kranken nicht fürchten, ihm aber bis zuletzt beistehen werden.
Mein Bruder regt sich auf. Wir stehen in einem großen Raum, das zukünftige Wohnzimmer vermutlich. Der Fremde habe hier nichts zu suchen, ereifert er sich. Er wolle ihn nicht in der Nähe der Kinder haben und er solle nach Hause gehen. Überdeutlich hört jeder, dass er damit "Raus aus meinem Haus" meint. Wir versuchen ihn zu beruhigen. Er sitzt auf einem der ersten Stühle und ich beuge mich von hinten über ihn, halte mein Smartphone in der Hand, zeige ihm eine App. Zu lesen sind die Worte: "Wenn ich nach Hause gehe, ist mein Weg so weit, als wolltest du zum Saturn gehen." Das beruhigt ihn nicht. Vielleicht versteht er den Sinn der Worte auch nicht. Ich herrsche ihn an: "Hey, denk doch mal dran, was mit Papa war! Der wurde extra aus dem Krankenhaus entlassen, um zu Hause sterben zu können!"
Am Abend sind längst viele Umzugshelfer da. Die Arbeit hat auch meinen Bruder beruhigt. Unter dem Sternenhimmel halten wir alle mit der Schlepperei inne und schauen hinauf. Ein leises Schlurfen kündigt den Kranken an, der sich dazu gesellt. Seine beiden Freunde halfen uns schon den ganzen Tag mit den schweren Möbeln. Vielleicht gelang auch ihnen, meinen Bruder umzustimmen?
Ich schaue hinauf zu den Sternen und erkenne Bilder, vier Tiere, wovon mir der Hase am deutlichsten erscheint. Ich sehe nicht nur Sternenpunkte, zu denen ich imaginäre Linien ziehen muss, um das Tier zu sehen. Ich sehe dichte, leuchtende Linien, als hätte sich die Milchstraße neu geformt. Es ist kein Hase wie er im Stall sitzt. Er trägt Hemd und Hose und scheint einem Trickfilm oder Malbuch entsprungen. Das wiederum erscheint mir so surreal, dass ich erwache.
Texte: Cover: Broken Moon 2 © Zoa@fotolia.de
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2011
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