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Buch 1: Der Wechsel
von Corinna Kalthoff
Lektorat: Jeannine Linnepe
Grafische Gestaltung und Cover-Illustration: Nils Eumann
© Corinna Kalthoff 2009
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
1. Buch: Der Wechsel
I
Los Angeles, Kalifornien (USA)
Der morgendliche Seewind trug als erster die Botschaft von Veränderung vom Pazifik her aufs Festland. Eine sonderbare Spannung ließ die sommerliche Wärme der frühen Morgensonne erkalten.
Cody trat fröstelnd ins grelle Sonnenlicht und kniff die Augen zu. Ein unangenehm kühler Windhauch erfasste ihn und mit ihm kam die Gewissheit: Etwas war geschehen. Sein Blick glitt über die verhältnismäßig ruhigen Wellen des Ozeans. Hatte sich die typische Färbung des Pazifiks verändert? Nein, das war es nicht. Die ungewohnte Kälte konnte nur eins bedeuten: Der Sommer neigte sich langsam dem Ende zu. Ziemlich früh, fand er. Sein Blick wanderte zu der Wanduhr im Wohnzimmer zurück, die er durch die geöffnete Verandatür erkennen konnte. Die Zeiger standen auf halb sechs. Warum war er schon so früh aufgewacht? Für gewöhnlich kam er eher zu spät zur Schule. Sich durch die Haare fahrend überlegte er, ob er aufbleiben oder sich wieder hinlegen sollte. Diese unerklärliche Nervosität überzeugte ihn schnell davon, dass er vermutlich keine Ruhe mehr finden würde. Kopfschüttelnd pfiff er leise durch die Zähne und beobachtete weiterhin das Meer.
Vancouver, British Columbia (Kanada)
Über tausend Meilen in nördlicher Richtung an der Küste des Pazifiks entlang verspürte die junge Aileen ein ähnliches Gefühl. Auch sie war früher als gewöhnlich aufgewacht und starrte wie hypnotisiert aus dem Fenster ihres Zimmers in den Sonnenaufgang. Als sie gestern Abend zu Bett gegangen war, hatte sie nichts von all dem empfunden geschweige denn erahnt. Veränderung lag in der Luft, die durch das geöffnete Fenster ins Zimmer drang. Sie schalt sich für derartige Gedanken. Das war doch absurd! Seufzend rieb sie sich die Augen. Dennoch ließ sie die Erwartung nicht los, dass etwas, sei es gut oder schlecht, passieren würde. Während ihr Blick von der Aussicht abgewandt war, beschlich sie eine unangenehme Unruhe, ein aufkeimendes Angstgefühl. Als sie ihren Blick wieder auf das Farbenspiel am Horizont richtete, war jeglicher Zauber verschwunden. Verzweifelt drückte sie ihre Nase gegen das kühle Glas.
Einem plötzlichen Impuls folgend ging sie die Treppe hinunter ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Nachrichten von Krieg und Hunger in blutigen und armseligen Bildern, wie man sie immer auf den Nachrichtenkanälen sehen konnte, ließen an diesem Morgen auf sich warten. Lediglich ein verwirrter Sprecher, der auf Anweisungen und Neuigkeiten wartete, bot sich ihren Blicken dar. Er wirkte beinahe hilflos. Zweifelsohne war etwas geschehen.
"Wir wissen immer noch nicht genau, was passiert ist. Wir, äh, haben die Lage weitgehend unter Kontrolle. Es gibt keinen Grund, um in Panik zu geraten. Bleiben Sie bitte ruhig..." Bald schon tauchte ihre leicht überraschte Mutter im Zimmer auf.
"Aileen! Was bist du schon so früh wach? Mach’ bitte den Fernseher leiser!" Das Mädchen reagierte nicht. Ihre blassen, grünen Augen waren auf die Mattscheibe gerichtet. Die Luft um sie herum schien statisch aufgeladen zu sein. Der nervöse Sprecher verschwand schlagartig und ein tobender Schneesturm an Störsignalen tobte über den Bildschirm, um sich Sekunden später wieder aufzulösen. Ein Mann in einem grauen Anzug war zu sehen. Sein Gesicht war ausdruckslos, als er mit ruhiger und sachlicher Stimme zu sprechen begann:
"Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen eine Mitteilung von großer Bedeutung zu machen. Vor 37 Minuten hat die PARTEI die bisherige Regierung gestürzt. Das mag möglicherweise etwas beängstigend klingen, aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Alles wird besser werden als zuvor. Dieser Schritt war unbedingt nötig, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen. Dieser Zustand und diese Nachricht werden auf der gesamten Welt verbreitet und ausgestrahlt. Wir halten Sie auf dem Laufenden und bieten Ihnen genau das, was sie schon immer hören wollten: Die Wahrheit! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Alle Ihre Fragen werden zu einem späteren Zeitpunkt beantwortet werden, das verspreche ich Ihnen."
Auf der ganzen Welt nahmen Augen und Ohren diese Übertragung aus Radios und Fernsehgeräten auf. Wenn nicht, sorgte die Mundpropaganda für die Verbreitung dieser seltsamen Nachricht. Einige Menschen waren aus dem Schlaf gerissen worden, als ihre Familien, Freunde oder Nachbarn sie mit diesen furchteinflößenden Neuigkeiten geweckt hatten, andere schauten gerade das Nachmittagsprogramm. Kriege endeten in dieser Stunde. Waffen wurden niedergelegt. Andere ergriffen. Chaos und Aufstände gegen die unbekannte Partei wurden geboren und erstarben beinahe ebenso schnell wieder. Die Menschheit rückte in ängstlicher Erwartung dichter zusammen. Alle Sinne der Welt waren auf den unbekannten Mann, die unbekannte Partei und das unbekannte Gefühl maßloser Unsicherheit gerichtet, das sich allerorts auszubreiten begann. Die Erde hielt den Atem von Milliarden von Menschen an. Und auf die Stille folgte mit dem Ausatmen die Panik.
Ihre Mutter umklammerte Aileen zitternd.
"Oh mein Gott! Was war das? War das ein schlechter Scherz?" Sie glaubte keines ihrer Worte, obwohl sie sie aussprach. Es war ein letzter Versuch, die unglaubliche Offenbarung anzuzweifeln. Ihre Tochter starrte auf den Fernseher, der jetzt wieder den völlig verzweifelten Nachrichtensprecher zeigte. Angst und Verwirrung sprachen aus seiner Gestik und Mimik. Zu beruhigenden oder gar erklärenden Formulierungen war er nicht fähig. Aileens Augen weiteten sich in schweigendem Entsetzen. Mit offenem Mund starrte sie ihre Mutter an. Sie versuchte zu sprechen, aber kein Laut fand den Weg über ihre zitternden Lippen.
"Aileen, so sag’ doch etwas! Bitte Kind, mach’ mir keine Angst!" In Tränen ausbrechend schüttelte sie ihre Tochter. Diese seufzte, weil sie nur ganz am Rande verstand, was mit ihr geschah. Ein dumpfes Gefühl von Angst ruhte in ihrer Magengrube. Obwohl ihr Verstand ihr keine Erklärung für ihre plötzliche Stummheit nannte, wusste sie, dass es irgendwie mit den Ereignissen der vergangenen Nacht in Verbindung stand. Sie war sich nicht sicher, was genau passiert war, aber das machte keinen Unterschied. Eine Warnung von bedeutender Größe lag auf ihren Lippen, doch sie fand ihren Weg nicht hinaus. Entschlossen griff sie nach einem Stift und einem Zettel. Sie zögerte. Was sollte sie denn schreiben? Rein intuitiv kritzelte sie "Hilfe" auf das Papier. Schnell jedoch wurde ihr bewusst, dass dies nicht des Rätsels Lösung war. Verzweifelt sah sie ihre Mutter an, der immer noch Tränen über die Wangen rannen. Sie selbst war zu keiner einzigen Träne fähig.
"Oh, Aileen! Ich versteh’ das alles nicht! Warum sagst du denn nichts?" Jetzt wusste sie, was sie zu schreiben hatte: "Ich kann nicht, Mom. Meine Stimme ist weg!" Bestürzung zeichnete sich auf ihrem feuchten Gesicht ab. "Aber wieso, Aileen?" Das Mädchen zuckte mit den Schultern. Abermals begann ihre Mutter zu weinen, was sie betroffen machte. Sie konnte ihre Mutter nicht weinen sehen. Seit dem Tod ihres Vaters vor sechs Jahren war dies nicht mehr der Fall gewesen. Stumm stand sie im Wohnzimmer neben ihr und fühlte sich machtlos. Eine Hilflosigkeit packte sie, wie sie sie niemals zuvor verspürt hatte. Alles, was gestern noch so vertraut gewesen war, erschien ihr jetzt fremd und bedrohlich. Fest hielt sie Stift und Notizblock umklammert. Irgendjemand hatte ihr die Sprache genommen. Irgendetwas hatte begonnen, unaufhaltsam wie ein Sturm.
Los Angeles, Kalifornien (USA)
Cody hatte von dem schicksalhaften Bericht im Fernsehen nichts mitbekommen. Immer noch beobachtete er das Meer, das dank des Sonnenscheins und dem größtenteils blauen Himmel in seiner ganzen Farbenpracht aus Blau-, Grau- und Grüntönen erstrahlte. Mit einem Mal wurden die Töne blasser, bis sie zu einem faden Grau verschwammen. Verwundert sah er zur Sonne. Geblendet durch das brennend weiße Licht schloss er die Augen. Nach wenigen Augenblicken öffnete er sie vorsichtig wieder. Er sah nichts mehr. Wie von einem gewaltigen Schlag getroffen taumelte er einige Schritte rückwärts und verlor schließlich das Gleichgewicht. Unsanft landete er auf dem steinigen Boden der Terrasse. Er hörte das Meer rauschen und die Möwen, die sich um ihre Beute stritten. Der Wind trug ferne Stimmen zu ihm. Irgendwo bellte ein Hund. Doch er sah nichts mehr! Sein Gesäß schmerzte noch von dem heftigen Aufprall. Mit tastenden Händen versuchte er aufzustehen. Die etwa einen Meter hohe Mauer, welche die Terrasse von der Straße trennte, tauchte vor seinem geistigen, immer noch sehenden Auge auf. Er tastete danach und zog sich an ihr hoch. Sein Atem ging stockend. Keuchend und schweißüberströmt, als habe er einen 800m Lauf hinter sich, lehnte er sich gegen die Mauer an diesem kalifornischen Morgen, der so gar nicht wie jeder andere war. Obwohl es noch nicht sonderlich heiß war, stieg die aufkochende Hitze der Erschöpfung in ihm hoch. Er war blind! Dieser Gedanke ließ in wiederum frösteln. Einem Anfall von Schüttelfrost gleich wurde ihm erst heiß, dann wieder kalt. Bei dem Versuch, sich auf die Mauer zu setzen, um wieder zu Atem zu kommen, verlor Cody das Gleichgewicht. Ein erschrockenes Keuchen ausstoßend stolperte er auf den sich aufheizenden Asphalt, wo er benommen liegen blieb. Das musste ein Alptraum sein. Solche Dinge passierten nicht in Wirklichkeit. Das hoffte er zumindest. Ein weiteres vertrautes Geräusch drang an seine Ohren. Ein Auto näherte sich, die Bremsen quietschten, eine Tür wurde geöffnet und jemand stieg aus.
"Hey! Alles in Ordnung? Siehst blass aus, Junge!" Er erkannte die Stimme. Und das erste Mal in seinem Leben war er froh, sie zu hören.
"Mr. Stapleton! Ich bin’s, Cody Finley! Helfen Sie mir, ich ... bin blind!" Seine Stimme klang schwach und verzweifelt. Aber sein Geographielehrer lachte nur:
"Hören Sie, Junge! Das ist kein guter Witz! Mit derartigen Behinderungen scherzt man nicht, Finley! Ich muss mich sehr für Sie schämen! Nun stehen Sie endlich auf und lassen diese verdammte Schwindelei!" Cody riss sich zusammen, um nicht dem Bedürfnis nachzugeben, vor Wut zu schreien, und seine Stimme nicht hysterisch klingen zu lassen.
"Mr. Stapleton! Ich mache keine Witze. Mir ist das völlig ernst! Ich kann nichts mehr sehen!" Der Mann gab Geräusche der Empörung von sich.
"Sehen Sie mich an! Ach, ich vergaß, Sie können mich ja gar nicht sehen! Sehen Sie einfach nach oben." Cody tat wie geheißen. Seine blinden Augen sahen direkt in den glühenden Mantel der Sonne. Ihr ehemals tiefes Blau schien milchig geworden zu sein, erhellt durch das gleißende Licht. Keine Impulse erreichten sein Gehirn, um seinen Körper dazu zu veranlassen, sich schnellstens weg zu drehen. Stapleton stieß überrascht Luft aus. "Das ist kaum zu glauben!" Insgeheim rechnete er immer noch damit, dass der Junge gleich lauthals loslachen und ihn einen Dummkopf schimpfen würde.
"Ich bringe Sie sofort ins Krankenhaus. Dann wird sich endgültig herausstellen, ob Sie blind sind. Vielleicht ein Schock, wegen dieser Sache mit dieser eigenartigen Partei", murmelte er vor sich hin, während er Cody ungeschickt ins Auto half. Der Junge roch die Ledersitze und konnte sie fühlen. Alle Geräusche schienen in einer ungewohnten Lautstärke über seine Ohren hereinzubrechen. Die Sonne auf seiner Haut brannte intensiver als sonst. Sein Gesicht schien ebenfalls zu brennen. Übelkeit stieg in ihm hoch, während er in Stapletons Auto über den sich aufheizenden Asphalt fuhr, durch Straßen, die er nicht sehen konnte. Sein Lehrer sprach nervös auf ihn ein, doch Cody reagierte nicht mehr darauf. Sein Schicksal beschäftigte ihn im Augenblick mehr als alles andere. Jegliches Zeitgefühl hatte er verloren und hoffte immer noch, dass seine Blindheit nichts weiter als ein schlimmer Traum war, der äußerst realistisch war. Ihm war so heiß! Eine unnatürliche Hitzewelle spülte über ihn hinweg. Die Luft in seinen Lungen war stickig und trocken. Ein langgezogener Laut der Qual entwich seinen Lippen und ließ Stapleton erschrocken auf die Bremse treten. Sein Schüler wand sich mit geschlossenen Augen auf dem Beifahrersitz und stöhnte, als würde er unmenschliche Qualen erleiden. Schweißperlen schimmerten auf seiner Stirn.
"Sicher der Schock! Ist ja auch eine beängstigende Sache", brachte der Lehrer tonlos über trockene Lippen und ließ den Motor aufheulen, um seinen Weg in höchster Eile fortzusetzen. Der arme Junge benötigte dringend ärztliche Hilfe, da war er sich mittlerweile sicher. So fuhr er durch die immer voller werdenden Straßen von Santa Monica zum nächsten Krankenhaus.
Der Arzt untersuchte Cody gründlich, der leichenblass in einem Bett des Krankenhauses lag.
"Du bist blind, da besteht kein Zweifel. Die Schweißausbrüche und diese vermeintliche Hitze sind nur Folgen des Schocks. Du sagtest, dass du nie zuvor blind gewesen bist, geschweige denn an irgendwelchen Sehstörungen gelitten hast. Ist das richtig?" Cody nickte müde. "Dein Gehirn hat so empfindlich auf diese plötzliche Blindheit reagiert, dass dein Kreislauf völlig durcheinander geraten ist. Das wäre somit erklärt. Das einzige, das ich beim besten Willen nicht verstehe, ist deine Blindheit selbst. Aus dem, was du mir erzählt hast, geht kein Grund dafür hervor. Wir stehen vor einem Rätsel. Vielleicht hängt es mit dieser komischen Sendung von heute Morgen zusammen. Viele Leute spielen deshalb verrückt, obwohl sie in den Nachrichten sagen, dass die Panikwelle nicht so schlimm wie erwartet ist, als sich die Aussage als wahr erwiesen hat." Cody runzelte die Stirn. Wovon sprach der Doktor da?
"Welche Sendung meinen Sie?"
"Hast du das denn nicht mitbekommen? Die ganze Welt redet wahrscheinlich über nichts anderes! Alle sind total aus dem Häuschen!
"Heute Morgen kündigte ein Mann ohne Namen an, dass die Regierungen aller Länder und alles, was auch nur im Geringsten mit Politik zu tun hatte, gestürzt worden wären. Kurz darauf hat sich heraus gestellt, dass das Weiße Haus wie ausgestorben ist. Das Pentagon ist leer. CIA, FBI und so weiter sind spurlos verschwunden. Der Papierkram, die Akten, alles ist vernichtet!
"Es sieht fast so aus, als hätte es sie nie gegeben. Kannst du dir das vorstellen? Seitdem gab es viele Selbstmordversuche und Unfälle sowie Schocks. Jedenfalls lassen seitdem alle Menschen ihre Radios und Fernseher eingeschaltet und warten auf weitere Nachrichten von dieser mysteriösen Partei. Bis jetzt hat sich noch nichts getan. Ich dachte, dass du auch eine Art Schock-Opfer wärst, aber es sieht nicht so aus. Lass nur gut sein, es wird schon wieder! Ich schalte dir das Radio ein. Ruh’ dich erstmal aus. Ich will dich zur Beobachtung hier behalten. Neben deinem Bett steht ein Telefon. Du solltest deinen Eltern Bescheid sagen, was mit dir geschehen ist." Das Klicken der sich schließenden Tür und das leiser werdende Quietschen seiner Schuhe signalisierten Cody, dass er nun allein war. Einen Moment lang schaltete er alle Gedanken einfach ab und lauschte auf das Säuseln des Radiosprechers:
"In Philadelphia geschah etwas sehr Merkwürdiges. Direkt nach der Übertragung der fremden Partei wurde ein junger Mann von etwa 20 Jahren in ein Hospital eingeliefert. Er klagte über Schmerzen am gesamten Körper. Wenig später stellten die Ärzte eine Lähmung fest, die sich von der unteren Körperhälfte auf den restlichen Körper des Mannes ausbreitete. Trevor Burley, so der Name des Gelähmten, wirkt wie tot, dennoch arbeiten seine Lungen und sein Herz schlägt so kräftig wie zuvor. Er atmet normal, außerdem sind leichte Bewegungen der Augen festzustellen. Er selbst reagiert auf nichts oder besser gesagt, kann auf nichts mehr reagieren. In allen Städten, ach was sag’ ich, in allen Ländern der Welt geschehen solche Dinge. Die Menschheit befindet sich in einem Schockzustand. Herzinfarkte und Hirnschläge sowie Selbstmorde halten die Mediziner der Welt auf Trab. Zu einer gewalttätigen Panik ist es wider aller Erwartungen nicht gekommen. Derartige Ausbrüche halten sich in tolerierbaren Grenzen. Sämtliche kriegerischen Auseinandersetzungen wurden bis auf weiteres beigesetzt. Noch immer fehlt jede Spur von Politikern und Regierungsangehörigen. Diese Situation trifft weltweit zu. Alle warten gespannt und erwartungsvoll, vielleicht auch ängstlich auf eine neue Nachricht der geheimnisumwobenen Partei. Die Presse stellt bereits die ersten Spekulationen über den Verbleib der Politiker an. Man nimmt an, dass..." Codys Aufmerksamkeit ließ nach. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was draußen in der Welt vor sich ging. Verschwundene Lügner, die sich Politiker nannten, und eine fremde Partei riefen in ihm keine besonderen Regungen hervor. Genaugenommen waren sie ihm sogar egal. Es würde wie immer weitergehen. So war nun mal das Leben. Vielmehr machte ihm seine Blindheit zu schaffen. Er war ein sogenannter Schockfall, obwohl er vom Auftauchen dieser Partei gar nichts mitbekommen hatte. Immer noch ging alles an ihm vorbei. Menschen verschwanden, wurden krank, starben, erblindeten, die irdischen Regime wurde gestürzt, und trotzdem drehte sich die Welt einfach weiter als wäre nichts geschehen. Warum also sollte er sich Sorgen machen?
Der Gedanke, seine Mutter in Hawaii anzurufen, kam ihm in den Sinn. Sie war nie da, wenn er sie brauchte. Warum sollte sie nicht auf Geschäftsreise sein, während ihr Sohn, ihr einziger Sohn, plötzlich das Augenlicht verlor? Wahrscheinlich würde sie nicht einmal nach Hause fahren wollen. Nun, vielleicht versetzte die neue politische Situation sie in Aufregung. Als Geschäftsfrau hatte sie sich mehr als oft nach dieser zu richten. Äußerst gelassen suchte er nach dem Telefon, wobei er versehentlich das Glas mit Wasser umstieß, das ebenfalls auf dem Nachttisch stand. Ein unangenehmes Klirren. Im Geiste die Achseln zuckend hob er den Hörer ab. Hoffentlich waren nicht alle Leitungen belegt wegen dieser Partei-Geschichte. Er wartete. Endlich meldete sich eine dumpfe Stimme, sachlich und irgendwie geschlechtslos.
"Cody Finley, welches Zimmer weiß ich nicht. Ich würde gern meine Mutter im Ohana Hotel auf Hawaii anrufen Wäre das möglich?" - "Einen Moment bitte, ich verbinde." Es knackte mehrmals in der Leitung. Nach einer Weile wurde die Leitung erneut frei und eine eindeutig weibliche und bei weitem sympathischere Stimme meldete sich:
"Ohana Hotel, guten Tag. Was kann ich für Sie tun?" - "Ich hätte gerne Mrs. Finley gesprochen." Die prompte Antwort überraschte ihn keineswegs. Ehrlich gesagt hatte er nichts anderes erwartet: "Sie ist in einer Konferenz und möchte nicht gestört werden." - "Ich weiß, hier ist ihr Sohn." Ein Moment des Schweigens. "Tut mir leid, ich darf Mrs. Finley nicht stören. Sie können aber ..." Der Hörer fiel neben die Gabel, aber Cody störte sich nicht daran. Gelangweilt lehnte er sich im Bett zurück und lauschte auf das Brabbeln des Sprechers, ohne auch nur eines seiner Worte zu verstehen. Es war wie immer egal, was der Welt auch zustoßen mochte, seine Mutter war weg. Seit seinem 10. Lebensjahr hatte sie ihn ständig allein gelassen. Zuvor waren es lediglich Geschäftsreisen über 2 bis 3 Wochen gewesen. Jetzt zogen sich diese oft über ein halbes Jahr bis zu 8 Monaten hin. Doch es störte ihn nicht mehr. So gesehen verdankte er seiner Mutter seine Selbständigkeit bis auf einen Punkt: Geld. Doch davon gab sie ihm genug, um ihn zu entschädigen, wie sie selbst sagte. Offensichtlich war es ihr gleichgültig, was aus ihrem Sohn wurde. In der Schule hatte man sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Cody hingegen lernte nur, was ihn interessierte, gab aber darauf acht, dass er kein Jahr wiederholen musste. Dennoch war er alles andere als ein Liebling der Lehrer und nicht sonderlich beliebt bei seinen Mitschülern. Er war ein Außenseiter, der zwar clever, aber nicht sonderlich sozial veranlagt war. Und jetzt war er auch noch blind! Seine momentane Situation hatte etwas Absurdes.
Der Doktor hatte ihm erklärt, dass seine Sehnerven keinen besonderen Schaden aufwiesen. So blieb nur noch eine Möglichkeit: Eine Störung des Gehirns, die die Lichtimpulse daran hinderte, dort verarbeitet zu werden. Aufgrund dessen vermutete der Doktor eine Erkrankung des Sehnervs, die nicht durch eine Routineuntersuchung festzustellen war. Cody seufzte. Ihm war völlig egal, aus welchen mysteriösen Gründen er erblindet war. Das einzig Wissenswerte war, ob er jemals wieder würde sehen können. Er gehörte von Natur aus zu den ungeduldigen Dickköpfen. Allerdings neigte er auch dazu, manche Dinge, die andere Menschen in Schrecken versetzten, nicht allzu ernst zu nehmen. Wie zum Beispiel jetzt: Allen graute es vor dieser Partei, nur ihm nicht, weil ihn andere Probleme beschäftigten. Ihm fiel auf, dass er sich sein eigenes Handeln oder seine Einstellung niemals vor Augen geführt hatte. Ein humorloses Lachen folgte auf diese Redewendung. Es klang hohl im leeren Zimmer.
Die Zeit verging, und Cody erweiterte gezwungenermaßen sein Wissen über die aktuelle Lage, indem er dem Fernseher lauschte. Nie hätte er gedacht, dass es derartig viele Politiker oder überhaupt Leute, die etwas damit zu tun hatten, auf der Welt gab. Makabre Gedanken wie: "Danke, damit wäre das Problem der Überbevölkerung wohl gelöst", kamen ihm in den Sinn. Doch keiner davon konnte ihn auch nur im Geringsten erheitern. Nach diesen Stunden in endloser Dunkelheit war ihm klar geworden, dass er nie wieder sehen würde. Intuition. Sein Galgenhumor zeigte ihm einige Vorteile. Er würde endlich einen Hund bekommen. Er würde seine Lehrer nie wieder ansehen müssen. Sein Verstand holte zum Gegenangriff aus und servierte ihm die Nachteile ohne Beilagen. Er würde im Leben nicht wissen, wie der Hund aussah. Er würde keinen Menschen jemals wieder ansehen können.
Vancouver, British Columbia (Kanada)
Aileen teilte die Sorgen um ihr plötzliches Schweigen nicht mit ihrer Mutter. Auf eine gewisse Weise verstand sie diese besonderen Umstände sogar, doch ihr Gehirn ließ sie das gesamte Ausmaß des Gedankens nicht vollständig erfassen. Er glitt durch ihren Verstand, während er sich ewig in neuen Windungen drehte. Draußen auf den Straßen war es gespenstisch still. Sämtliche Nachbarn, mit denen sich ihre Mom natürlich zuvor unterhalten hatte, saßen gebannt vor ihren Fernsehern. Die erste Reaktion nach der Panik war die Kontaktaufnahme mit anderen Menschen gewesen, denn geteiltes Leid ist halbes Leid. Die Partei mochte zwar sämtliche Regierungen gestürzt haben, doch zunächst hatte die Angst vor einer ungewissen Zukunft die Weltherrschaft übernommen. Auch Aileen starrte auf die Mattscheibe, aber nicht mit dem gleichen Enthusiasmus wie ihre Schwester und ihre Mutter. Ein junger Mann, der sich die größte Mühe gab, gelassen zu wirken, hielt die Zuschauer auf dem Laufenden.
"Neuesten Meldungen nach zu urteilen wurden keine weiteren Sendungen der Partei ausgestrahlt. Jeder wartet gespannt auf Antworten von dieser neuen Vereinigung. Wir wissen nicht, was wir von ihnen halten sollen..." Ihre Schwester fuhr auf:
"Wie denn auch? Wir wissen gar nichts über sie! Idioten!"
"Ssh! Cynthia! Ich will das hören!!"
"... am Verschwinden der Politiker ist. Alle Länder sind völlig regierungslos. Erstaunlicherweise kam es bis jetzt nur zu vereinzelten gewalttätigen Ausbrüchen, Unruhen oder Plünderungen. Kriege sind unterbrochen oder..." Wieder zerfaserten Störsignale das Bild des Sprechers zur Unkenntnis. Kurz darauf erschien derselbe Mann, der vor ein paar Stunden zu ihnen gesprochen hatte. Er strahlte immer noch dieselbe Ruhe und Sachlichkeit wie zuvor aus. In diesem Zimmer, wie auch in jedem anderen mit einem Radio oder Fernseher wurde kollektiv der Atem angehalten.
"Meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich bitte Sie im Namen der PARTEI um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit. Wie ich Ihnen bereits in unserer ersten Sendung mitteilte, haben wir die Regierungen aller Nationen gestürzt. Wie Sie mit Sicherheit herausgefunden haben, sind deren Anhänger spurlos verschwunden. Aber machen Sie sich keine Sorgen um sie, denn es geht ihnen gut. Nun sind wir bereit, Ihnen Informationen über uns, unsere Herkunft und vor allem unsere Absichten und Pläne zu geben. Zunächst einmal wird es Sie interessieren, dass wir, die PARTEI, für eine friedliche Zukunft auf der Welt sorgen werden, denn das ist unser einzig wahres Ziel. Erwarten Sie also keine Kriege mehr. Diese gehören nun der Vergangenheit an.
"Wir haben wirksame Mittel dagegen erarbeitet. Viele Menschen gehören weltweit zu uns. In den nächsten Tagen werden wir endlich an die Öffentlichkeit treten. Es wird Pressekonferenzen geben, in denen alle Fragen beantwortet werden. Neue Regierungen werden entstehen, die ausschließlich aus Parteimitgliedern bestehen. Sie werden keiner ehemaligen Form gleichen." Eine Spur von Begeisterung trat auf sein Gesicht. "Die Zukunft der Menschheit liegt in sicheren Händen!" Damit endete die Übertragung. Ein weltweites Aufatmen, gefolgt von einer fassungslosen Stille, beherrschten die Straßen. Doch auch Skepsis und Wut machten sich breit. Gemischte Gefühle in einer gemischten Menschheit. Auf dem Bildschirm war nun das Nachrichtenstudio zu sehen. Verblüffte Menschen und Stimmengewirr wurden von den Kameras erfasst. Einige lachten erleichtert, andere vermochten ihren Argwohn nicht zu verbergen. Eine neue Regierung also, doch wieso sollte sie so viel besser sein als alle anderen? Manchen Menschen stand die instinktive Furcht vor Diktatur praktisch ins Gesicht geschrieben. Irgendjemand brüllte "Kommunismus!" und verließ das Studio.
Aileen stellte mit Erschrecken fest, dass weder Cynthia noch ihre Mutter sonderlich schockiert waren.
"Was kann uns schon Schlimmes passieren außer einem Einbruch an der Börse", meinte Cynthia enthusiastisch. "Immerhin meckern wir doch immer über die Regierung! Wer weiß, vielleicht haben wir jetzt das große Los gezogen." Aileen warf ihrer Schwester einen ungläubigen Blick zu und fragte sich, wer hier die kleine Schwester war; rein rechnerisch eigentlich ihre Position.
"Was denn, Aileen? Schlimmer kann's doch nicht werden! Und keine Kriege klingt doch gut. Klar, die werden auch ihre Schattenseiten haben, wie alle anderen vor ihnen, aber was soll's?" So schnell gewöhnten sich die Leute an die neue Situation. Das bisschen Gewissheit reichte aus, um sie zufrieden zu stellen. Aileen reichte das ganz und gar nicht, da ihre eigene Überzeugung, wo auch immer ihre Quellen lagen, zu intensiv war. Außerdem hatte sie schon längst gelernt, dass es immer schlimmer kommen konnte. Selbst ihre Mutter, mit der sie immer über alles reden konnte, verstand ihre Besorgnis nicht mehr.
"Schätzchen, es tut mir leid für dich, dass du dich nicht richtig freuen kannst. Aber das ist doch lange keine Grund, um zu verzweifeln und die neuen Ereignisse gleichgültig hinzunehmen. Deine Schwester hat recht. Seit Jahr und Tag regen wir uns über die Regierung auf. Jetzt haben wir, was wir wollten, einen Wechsel, einen Neubeginn. Mag sein, dass sich das auch nicht als der Himmel auf Erden herausstellt, aber zu viel Pessimismus ist schädlich. Du musst nur hoffen. Lächle bitte für mich, Aileen. Alles wird wieder gut werden!" Sie nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. Das Mädchen zwang sich zu einem Lächeln für ihre Mutter, die sie über alles liebte. Sagen konnte sie es ihr wohl nicht mehr. Zumindest nicht mit gesprochenen Worten. Möglicherweise war doch alles in Ordnung. Bevor ihr Vater starb, hatte sie ihre Mutter zum letzten Mal so hoffnungsvoll gesehen. Sie hatte nicht das Recht, ihr dieses Gefühl zu nehmen. Alles ist toll! Sagte sie sich stumm, ein neuer Anfang mit Frieden. Und Frieden war das wichtigste. Was blieb da noch zu wünschen übrig? Eine Antwort, unabwendbar wahr, setzte sich klar und deutlich ab: Freiheit. Konnte die Partei ihnen auch die Freiheit garantieren?
Eine weitere Übertragung zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Der Mann im grauen Anzug lächelte nun, was alle anderen auch lächeln ließ. Doch für Aileen schien es irgendwie nicht echt zu sein. Sekunden später war sie fest davon überzeugt, dass sie sich geirrt hatte.
"Hört, Bewohner aller Länder! Dies ist der wichtigste Moment in der Geschichte der Menschheit! Denkt immer daran! Die Zukunft gehört uns! Und sie wird wunderschön sein."
Los Angeles, Kalifornien (USA)
Auch der blinde Junge im Krankenhaus lauschte gespannt der Übertragung der Partei. Der wichtigste Augenblick in der Geschichte der Menschheit! Cody konnte die Freude des Mannes beinahe fühlen, die Freude am Erfolg. Sehnlichst wünschte er, in der Lage zu sein, wenn auch nur für ein paar Sekunden, das Gesicht des Verkünders zu sehen. Nicht, um zu sehen, wie er aussah, sondern um in seinen Augen nach der Wahrheit zu suchen. Seine Augen würden ihm sagen, ob dieser Kerl auch meinte, was er da versprach. Obwohl das starke Gefühl des Erfolgs und der Freude ihn mitriss, blieb ein Teil in ihm neutral, nein, weigerte sich, einer Täuschung zu erliegen. Doch Cody benötigte seine Augen, um wirklich überzeugt zu werden. Scheinbar war alle Welt weitgehend begeistert von dem großen Wechsel in der Geschichte. Zuerst hatte er sein Desinteresse seiner plötzlichen Blindheit zugeschrieben, aber allmählich war er sich ziemlich sicher, dass mehr dahinter steckte. Ebenso wie die anderen Menschen spürte er die Spannung, die Aufregung. Nur empfand er es anders. Irgendwie negativ. Es war wie in der Schule. Vielleicht schlug er sich aus reiner Gewohnheit auf die Seite der Skeptiker, nur um wieder einer Minderheit im Gesamtzusammenhang anzugehören.
Diese Empfindung ließ ihn auch in den nächsten Tagen, die er wieder zu Hause verbrachte, nicht los, sondern ergriff noch fester von ihm Besitz. Mittlerweile waren die anderen Stimmen lauter geworden: Skeptiker, Anhänger der gestürzten Regierung, zurückgelassene Familienmitglieder und ein paar Fanatiker, die das Ende der Welt verkündeten. Das gesamte Spektrum von Reaktionen war vertreten, doch abgesehen von der immer größer werdenden Gruppe der Befürworter wollte sich keine gemeinsame Opposition ergeben. Zudem wurden die negativen Stimmen leiser, je häufiger die Partei persönlich auf der Bildfläche erschien, Missverständnisse beseitigte und bereitwillig Antworten gab. Die Frage nach dem Verbleib der Regierungsoberhäupter beschäftigte sämtliche Presseagenturen besonders. Ein Videoband mit einem Statement des Präsidenten der USA beruhigte die amerikanische Bevölkerung und bewies den Wahrheitsgehalt der Aussage der Partei, allen Politikern ginge es gut. Sicherlich waren die Politiker in ihrem Exil alles andere als glücklich über den Lauf der Dinge, doch dies war durchaus nachvollziehbar. Zudem fluchten weltweit die ehemals stolzen Aktienbesitzer über den katastrophalen Sturz der Kurse.
Codys bester Freund Dwight hatte ihn besucht, da die Schulen für ein paar Tage geschlossen worden waren. Er war bester Laune, bedauerte ihn, wie es die Pflicht eines besten Freundes war und wollte seine Meinung über die Partei wissen. Cody zuckte nur die Achseln und sagte, dass es ihn noch weniger als gar nicht interessierte, was die taten oder nicht taten. Ein wenig eingeschnappt ließ Dwight ihn wieder allein und zeigte sich auch nicht wieder. Auch sein bester Freund war offenbar vom Strom der Begeisterung mitgerissen worden. So verbrachte er diesen und die nächsten Tage allein. Auch von seiner Mutter hörte in dieser Zeit gar nichts, was ihn keineswegs überraschte.
"Wahrscheinlich ist sie gerade dabei, sich bei den Bossen dieser dämlichen Vereinigung einzuschleimen! Ist ja auch wichtiger, als sich mal nach ihrem Sohn zu erkundigen", sprach er in die dunkle Stille, die das Haus erfüllte. Es tat weh, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte. Seine Mutter ließ ihn hängen, wie schon damals, wie eigentlich immer. Er war nicht der Traumsohn, der sich brennend für ihre Angelegenheiten interessierte. Früher war es so gewesen. Er hatte an ihr gehangen, da er sonst niemanden gehabt hatte. Sie hatte ihn als Last empfunden, und nicht nur das, sie hatte es ihn spüren lassen. Seitdem fühlte Cody sich von seiner Mutter im Stich gelassen. Ohne eine Person, zu der er aufblicken konnte, hatte ihn das Schicksal allerdings mit einer Begabung ausgestattet: die Begabung, alles zu akzeptieren und weiter zu leben, so schlimm es auch sein mochte. Er wurde mit jeder Situation fertig, auch wenn er im Zuge dessen zeitweilig eine gewisse Gleichgültigkeit an den Tag legte, die ihm selten Freunde verschaffte oder Freunde erhielt. Dwight war das beste Beispiel, obwohl er sich sicher war, dass sein Freund ihm nicht lange böse sein würde. Alles würde sich früher oder später normalisieren. Dennoch fiel es ihm alles andere als leicht, diesen Glauben aufrecht zu erhalten.
Vancouver, British Columbia (Kanada)
Aileen blieb von all dem Trubel und dem Feiern unberührt. Lediglich die Pressekonferenzen und das immer häufiger werdende Erscheinen von Parteimitgliedern nahm sie mit wachsendem Interesse wahr. Es handelte sich bei diesen um Menschen aller Rassen und Hautfarben. Sie waren freundlich, Menschen aus allen Schichten und Lebenslagen, wirkten aber distanziert, wenn sie sich in ihren grauen Anzügen in Menschenmengen bewegten. Der Presse berichteten sie, dass auch sie ein wenig Angst vor dem Sturz aller Regierungen und vor allem vor den Reaktionen der Menschheit gehabt hatten. Sie zeigten ihre Freude über den großen Erfolg ihrer "Mission", wie sie ihr Vorhaben umschrieben, offen. Aileen beobachtete sie und jede ihrer Bewegungen aufmerksam, vermied es jedoch, ihnen zu nahe zu kommen. Das Unbehagen in ihr wuchs von Tag zu Tag. Männer und Frauen aus ihrer Nachbarschaft hielten engen Kontakt zu den gutmütigen Männern und Frauen der Partei. Ebenso erwies sich die Presse als außerordentlich lästig. Der oberste der Obersten des Militärs gehörte auch zur Partei, bereits seit Jahren, wie er bekannt gab.
"Leenie! Kannst du das fassen?!" Cynthia blätterte in der neuesten Ausgabe der Vancouver Sun. In diesen Tagen rissen sich die Menschen um jede Zeitung, die etwas über die letzten Ereignisse im Zusammenhang mit der Partei berichtete. Und das taten alle, da sämtliche Mode- und Musikmagazine rapide an Interessenten verloren. Auch Aileen las seit ein paar Tagen jede Zeitung, die sie in die Finger bekam. Ihre Schwester las ihr gerade einen Artikel über die Mitgliederwerbung und die Friedensplanung der Partei vor.
">Wir haben in allen Großstädten der Welt Büros eingerichtet, wo Fragen beantwortet werden und jeder, der möchte, sich als Mitglied eintragen lassen kann. Unser Ziel ist es, die gesamte Bevölkerung der Erde zu einer Einheit zusammenzuführen
II
Vancouver, British Columbia (Kanada)
Aileens nächstes Ziel war die Surrey Centre Station in Surrey. Dort befand sich ein großes Einkaufszentrum. Zunächsteinmal wollte sie sich für die vor ihr liegende Reise ausstatten. Wohin sie gehen sollte, wusste sie allerdings beim besten Willen nicht. Die innere Unruhe wollte sie nicht loslassen, so dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht nervös mit den Füßen zu wippen. Von ihrer direkten Umgebung erhoffte sie sich Ablenkung. Die Frau neben ihr war ganz in ein Buch vertieft. So unaufdringlich wie möglich warf sie einen Blick hinein:
"Er befand sich auf dem Weg nach Los Angeles, in die Stadt der Engel, im sonnigen...". Mit aufgerissenen Augen heftete sie ihre Blicke auf den Namen der Stadt. L.A. Genau dorthin musste sie. Ihr von Trauer und Unglück erfüllter Horizont lichtete sich ein wenig. L.A. Dort würde sie Hilfe finden. Dort lag die Zukunft. Obwohl sie nicht verstand, was mit ihr geschah, besaß sie nun endlich eine einzige Gewissheit. Sie kramte ihr Geld aus der Tasche und entschied sich dafür, einen Großteil des Geldes, das sie mit Hilfe der Kreditkarte ihrer Mutter abzuheben gedachte, in US-Dollar umzutauschen. Ihre Mutter... Sie konnte jetzt nichts mehr damit anfangen. Kein Shopping mehr. Nie wieder. Tränen schimmerten in Aileens Augen. Verzweifelt klammerte sie sich an ihr Ziel. Wenn sie dieses erreicht hatte, würde alles wieder gut werden. Sie musste sämtliche anderen Emotionen ausschalten, um für sich eine Hoffnung zu bewahren. Allmählich stieg der Schlüssel zu einem allgemeinen Verständnis der Situation in ihr auf. Ihr wurde langsam etwas klar: Allein konnte sie niemals alles begreifen.
Mit gemischten Gefühlen, die gerade Empfindungen wie Trauer und Schmerz verloren, dachte sie an die lange Reise, die vor ihr lag. So viel Zeit zum Nachdenken. Sie wollte alles, nur nicht denken, sich nicht mehr erinnern können. Bald würde es wieder etwas zu tun geben. Endlich. Allerdings wusste sie jetzt noch nicht, dass es nicht bei dieser einen Reise bleiben würde. Traurig betrachtete sie das glitzernde Wasser des Fraser, als sie New Westminster über die Skytrain Bridge verließ.
Nachdem sie den Skytrain an der von ihr geplanten Station verlassen hatte, ging sie geradewegs ins Einkaufszentrum. Sie besorgte sich zunächst einen Block mit Kugelschreiber und etwas zu Essen, da sie aus Erfahrung wusste, dass sich Kummer am besten mit Essen vertreiben ließ. So war es zumindest früher immer gewesen. Doch was war schon noch wie früher? Alles war so anders, so fremd, so schrecklich. Ihre gesamte Welt war über ihr zusammengebrochen und drohte, sie unter sich zu begraben. Das durfte sie unter keinen Umständen zulassen. Sie verharrte einen Augenblick lang vor einem Bücherregal. Ein Buch. Sie brauchte etwas, womit sie sich während der langen Fahrt ablenken konnte. Sie hatte entschieden, dass es am sichersten wäre, wenn sie mit dem Bus nach Los Angeles fahren würde. Die Flughäfen wurden mit Sicherheit bewacht, falls man sie überhaupt verfolgte. Zumindest war es in Krimis grundsätzlich der Fall und obwohl es albern klingen mochte, wollte sie kein Risiko eingehen.
Der Tag neigte sich dem Ende zu, als sie sich auf einer Bank niederließ und damit begann, ihre Reiseroute auf den Block zu schreiben, um diese morgen der Person am Kartenschalter vorlegen zu können. Sorgfältig studierte sie einen Stadtplan, als auf der Straße Bremsen scharf quietschten. Aileen sah alarmiert auf. Und das zu Recht: Ein dunkelgrauer Buick fuhr auf den Parkplatz. Zwei Männer in grauen Anzügen stiegen aus. Die Partei! schoss es ihr durch den Kopf. Sie suchten sie! Warum sollten sie sonst wie nervöse Kaninchen umher schauen, als würden sie nach etwas suchen?
Aileen versteckte sich in den Büschen am Straßenrand, falls sie tatsächlich nach ihr suchten. Während sie zwischen piekenden Zweigen durch das dichte Laub verborgen hockte, entschied sie, dass es besser wäre, heute Nacht im Schutz der Dunkelheit die Grenze zu überqueren. Laut ihrer Karte war die nächste Stadt hinter der Grenze Blaine. Dorthin musste sie irgendwie gelangen, doch von ihrem jetzigen Standpunkt waren es über den Daumen gepeilt etwa 25 Kilometer bis dorthin, wenn sie dem King George Highway folgte. Zudem war sie in dieser Gegend noch nie gewesen. Die Straßennamen waren ihre einzige Orientierungsmöglichkeit. Vielleicht sollte sie doch lieber mit dem Bus fahren, zumindest ein Stück des Weges. Mit ihrer anfänglichen Schätzung hatte sie gar nicht so falsch gelegen. Erst von Blaine aus wollte sie es wagen, mit einem Greyhound Bus in Richtung Süden zu fahren.
Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie gejagt wurde. Stellte sie wirklich eine so große Gefahr für die mächtige Partei dar? Unvorstellbar. Sie war doch nur ein 16-jähriges Mädchen. Was konnte sie allein schon ausrichten? Aber möglicherweise bezogen sich die Befürchtungen der Partei genau auf diesen Punkt: Was würde geschehen, wenn sie nicht mehr allein war? Wenn sie anderen Menschen überzeugte, sich gegen die Partei zu stellen. Durch ihre Aktionen ließen sie ihr nicht wirklich eine andere Wahl.
Trotz ihrer Zweifel hielt sie sich weiterhin versteckt, weil ihr Instinkt es ihr nahelegte. Sie würde diesmal nicht in einem Bett übernachten, sondern unter freiem Himmel, falls sie überhaupt Zeit zum Schlafen finden würde. Vielleicht würde sie hier noch eine ganze Weile hocken bleiben müssen, bevor sich die beiden Typen wieder verzogen hatten. Zudem war sie noch von den jeweiligen Busverbindungen abhängig. Doch was noch bedrückender war, war die Tatsache, dass sie ganz allein sein würde. Und das für unbestimmte Zeit. Trauer kroch ihre Kehle hinauf. Aileen schluckte hart und biss die Zähne fest aufeinander. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, um zu trauern. Sie musste in Bewegung bleiben und durfte sich um keinen Preis fangen lassen, denn ihr war eine Rolle von Bedeutung in diesem Spiel der Mächte zugewiesen worden. Also musste sie unbeobachtet von hier fort, was ihr nicht gerade leicht fiel. Sie liebte ihre Heimatstadt, sowie ihr Land. Ihr blieb keine Wahl. Keiner hatte sie nach "ihrer" Meinung gefragt. Nun folgte sie einfach ihrer Intuition.
"Hey, Kind! Was machst du da?" Erschrocken fuhr sie herum. Ein alter Mann, der nach Alkohol und mangelnder Hygiene roch und abgetragene Kleidung trug, stand hinter ihr.
"Ich versteck’ mich", kritzelte sie schnell auf einen Zettel, riss ihn ab und reichte ihn ihm. Der Mann lachte rauh. "Vor denen da?" Er deutete auf die Parteimitglieder. Sie nickte. Es schien ihn nicht zu stören oder zu wundern, dass sie nicht reden konnte.
"Die sind nicht normal, ne? Unheimlich!" Er faselte weiter vor sich hin. "Du willst wohl weg von hier? Ich werd’ se für dich ablenken, abgemacht?" Ohne ihre schriftliche Antwort abzuwarten, setzte er sich in Bewegung und stolperte laut vor sich hin lallend auf die Straße. Mit aufgerissenen Augen beobachtete Aileen, wie die Parteimitglieder auf den Mann zugingen, freundlich mit ihm sprachen und ihn zu ihrem Auto begleiteten. Obwohl er sich heftig und lautstark wehrte, beförderten sie ihn irgendwie ins Innere, stiegen selbst ein und fuhren davon. Erleichtert atmete sie auf. Als der Wagen endlich außer Sichtweite war, trat sie auf die Straße und lief zu der Bushaltestelle. Dem Plan konnte sie entnehmen, dass die Linie 394 bis nach White Rock fuhr, was ihr eine Menge Kilometer einsparen würde. Nervös sah sie sich nach anderen Passanten um, die sie vielleicht beobachteten.
Ihre Nerven waren angespannt und drohten jede Sekunde zu reißen. Sie war paranoid, vermutete hinter jedem der Fußgänger ein Mitglied der Partei, das nur darauf wartete, dass sie ausstieg, um sie dann zu überwältigen und... Viele Visionen und Bilder nahmen hinter ihrer Stirn Gestalt an. Sie wollte nicht allein sein, auf keinen Fall. Ihr Herz schien so laut zu pochen, dass jeder es hören musste. Das wachsende Angstgefühl, das die Trauer um ihre Familie und die Sehnsucht in ihr schürte, wurde stärker. Abrupt hielt sie inne und blieb stehen. Sie würde umkehren, zurück nach Hause fahren. Das war doch alles Irrsinn. Die kühle Abendluft füllte ihre Lungen. Eine leichte Brise ergriff ihr rötliches Haar. Die erdrückende Angst wurde mit dem wandernden Wind fortgeweht, leise und heimlich, bis sie frei war und wusste, was sie zu tun hatte. Ihr Blick folgte der Straße.
Dort in der Ferne lag er, ihr persönlicher Schlussstrich für ihr altes Leben, die Grenze zu den USA. Sie schaute ein wenig ungeduldig auf die Uhr. Hoffentlich kam der Bus pünktlich, da sie sich auf offener Straße nackt und verletzlich fühlte. Nach etwa 20 Minuten quälenden Wartens näherte sich endlich der erwartete Bus. Mit dem ihr verbliebenen Kleingeld bezahlte sie das Ticket und war froh, als der Busfahrer sie nicht durch irgendwelche Fragen dazu nötigte, ihren Block weiterhin zu gebrauchen. Die Fahrt nach White Rock erlebte sie in einer Art Trancezustand, einem letzten verzweifelten Ansturm von Emotionen, den sie schweigend und tränenlos über sich ergehen ließ.
Die Türen des Busses öffneten sich und entließen ein Mädchen mit leerem Blick in die aufkeimende Nacht. Ohne sich umzudrehen ging sie scheinbar zielsicher die Straße hinunter in Richtung Süden.
Ihre Gefühle waren träge geworden und nach und nach eingeschlafen, während ihr Verstand Entscheidungen traf und die Kontrolle übernahm. Jetzt war sie bereit, um den entscheidenden Schritt in ihre Zukunft zu tun. Sie warf den Kopf zurück und rannte mit neuem Antrieb die Straße entlang. Noch schützte sie die Dunkelheit nicht vor neugierigen Blicken, doch das war nicht weiter wichtig, da diese Menschen vermutlich zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Wenn sie Glück hatte, würde man sie in einer Stunde nur noch als schemenhafte Gestalt in einem der unzähligen Greyhound-Busse erkennen können, welcher sich unweigerlich auf seiner Route Richtung Los Angeles befand.
Wind kam auf, der Kälte in ihre Glieder treiben wollte. Sie schlang die Arme um ihren Körper und ging entschlossen weiter. Er ließ die gewaltigen Reklameschilder am Rande des Highways eigenartige, teilweise unheimliche Geräusche von sich geben. Die Straßenbeleuchtung und die angestrahlten Schilder brachten ein wenig Licht in die Dunkelheit der Nacht und erhellten ihren Weg. Eine Zeitlang hatte Aileen die Schilder gezählt, war es aber ziemlich rasch leid geworden. Ihr Verstand redete ihr ein, dass nichts Gefährliches in ihrer Nähe war, nichts, wovor sie sich hätte fürchten müssen. Nur die Geräusche der Autos, Motorräder und Trucks, der Wind.
Nach einer langen, kalten und ermüdenden Weile erreichte Aileen den Busbahnhof von Blaine in der Nähe des Flughafens. Zum Glück war dieser tatsächlich auf ihrem Stadtplan eingezeichnet gewesen. Sie war müde bis in die Knochen und froh, ohne weitere Zusammentreffen mit der Partei nach Blaine gekommen zu sein. Ihr persönlicher Schlussstrich lag jetzt hinter und die Zukunft vor ihr. Sie gähnte herzhaft, während sie verzweifelt mit halboffenen Augen nach einem Fahrplan Ausschau hielt. Stattdessen fand sie die Damentoilette und was noch weitaus wichtiger war: sie war nicht verschlossen. Fröstelnd schlüpfte sie hinein und schloss sich in der einzigen Kabine ein. Nachdem sie sich Erleichterung verschafft hatte, entschied sie, dass es das Beste wäre, den Rest der Nacht hier zu verbringen. Es war immerhin ein wenig sicherer als draußen und noch dazu ein bisschen wärmer. Allerdings mochte das auch bloß Einbildung sein.
Sie erwachte, als jemand lautstark mit der Faust gegen die Tür hämmerte.
"Mach’ sofort die Tür auf!" Sie rieb sich die Augen und tat wie geheißen. Draußen erwartete sie strahlender Sonnenschein und ein ziemlich ungehaltener Bahnhofswächter oder etwas Ähnliches, der nicht gerade erfreut über ihre Anwesenheit zu sein schien.
"Wie ich’s mir dachte! Wieder so ’ne Ausreißerin! So was wollen wir hier nicht, kapiert? Also mach’, dass du wegkommst!" Energisch den Kopf schüttelnd zückte sie ihren Block und kritzelte ein paar hastige Erklärungen darauf. Der Wächter, unrasiert, mies gelaunt und erheblich größer und kräftiger als sie, wartete ungeduldig und las ihre Worte mit unübersehbarem Widerwillen.
"‘Ich bin unbeabsichtigt auf der Toilette eingeschlafen! Tut mir leid, Sir! Aber ich bin mit Sicherheit nicht von zu Hause abgehauen. Ich fahre zu meiner Tante in L.A.!’ Dass ich nicht lache!" Zuerst lachte er abfällig und ausgiebig, doch Aileens ernste und abwartende Miene störte ihn schließlich erheblich.
"Na schön! Schätzungsweise willst du jetzt ein Ticket kaufen, nicht wahr?" Sie nickte entschieden mit dem Kopf, woraufhin er achselzuckend abzog.
"Wird sofort erledigt, meine Dame!" schwafelte er übertrieben. "Ist es nicht ziemlich gefährlich für eine Behinderte wie dich allein mit dem Zug zu fahren?"
"Ich komm’ doch zurecht, oder?" schrieb sie gereizt, was kein bisschen gespielt war. Er zuckte gelangweilt die Achseln, ließ sich jedoch zu keinen weiteren Bemerkungen hinreißen.
"Also, ich erklär’ dir jetzt kurz, wie du am schnellsten nach L.A. zu deiner Tante kommst. Zunächst mal fährst du mit dem nächsten Bus nach Bellingham und zwar zum Bahnhof. Von dort aus fährst du mit dem Zug nach Seattle." Ihren schmerzlichen Gesichtsausdruck, als sie sich zum ersten Mal an diesem Tag an gestern erinnerte, sah er nicht, da dieser genau so schnell verschwand wie er aufgetaucht war.
"Da steigst du um in den nächsten Greyhound nach Los Angeles. Wann der genau kommt kann ich dir nicht sagen, tut mir leid." Wahrscheinlich wollte er sich nur nicht die Mühe machen. "Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob noch Plätze frei sind. Ich drück’ dir die Daumen. Das ist jedenfalls der schnellste Weg zu deiner Tante. Und hier ist das Ticket." Er machte sich nicht einmal die Mühe ihr den Preis zu nennen, doch sie las ihn einfach von dem kleinen Stück aus festem Papier ab und stellte fest, dass sie noch genügend Bargeld besaß, um es zu bezahlen. Das Geld und einen Zettel mit der Aufschrift "Vielen Dank, dass Sie einer Behinderten geholfen haben!" überreichte sie dem Mann und ging geradewegs zur Haltestelle. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis der Bus endlich eintraf. Nur einige wenige Fahrgäste hatten sich derweil zur ihr gesellt.
Als sie endlich im Greyhound nach Los Angeles saß, verbrachte Aileen die meiste Zeit damit, die Landschaft zu beobachten oder die riesigen Reklameschilder entlang des Highways zu zählen. Hin und wieder ging sie ihre Pläne bezüglich ihrer Reise noch einmal durch, um jeden Fehler auszuschließen. Immer wenn sie kurz davor stand, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, dachte sie nüchtern darüber nach, was sie wohl in L.A. tun würde oder gezwungen war zu tun. Wartete dort eine bestimmte Aufgabe auf sie? Und wenn, würde sie diese erkennen? Die Zukunft war wahrhaftig interessanter als die Vergangenheit. Dort war alles bunt und veränderbar. Alles, was da auf sie zu kommen mochte, konnte ihr jetzt und hier noch nichts anhaben. Trotz der Möglichkeit auf neue Gefahren und Schmerzen fieberte sie den nächsten Tagen geradezu entgegen.
Ein Motorradfahrer rauschte am Bus vorbei. Vermutlich ließ er den Motor absichtlich aufheulen. Angeber.
Sie war sich nicht sicher, wie lange sie schon unterwegs war. Eigentlich wollte sie es auch gar nicht wissen. Wenn sie die nächste größere Stadt erreichte, konnte sie auf die Uhr schauen.
Los Angeles, Kalifornien (USA)
Codys Tage der Dunkelheit ließen keinen Lichtschimmer erkennen. Kein Licht am Ende des Tunnels. Er wanderte ziellos durch das Haus seiner Mutter. Sein bester Freund Dwight hatte ihm geraten, sich einen Hund zu besorgen. Er hatte darüber nachgedacht und es ernsthaft in Erwägung gezogen, aber sein Stolz und sein Faulheit hielten ihn erfolgreich davon ab. Irgendwann würde er schon wieder sehen können. Warum auch nicht? Wieso sollte er sich also die Mühe machen und einen Blindenhund beantragen? Zumal er gar nicht genau wusste, wie er das genau anstellen musste.
Ihm war langweilig. Seine Tätigkeiten beschränkten sich von Fernsehen auf Musikhören, was auch allmählich eintönig wurde. Die Sendungen im Fernsehen nervten ihn von Stunde zu Stunde mehr. Es schien nur noch die Partei zu geben. Alles andere hatte an Bedeutung verloren. Ihm war dieser ganze Trubel ein Buch mit sieben Siegeln. Sollten sie doch an der Macht bleiben! Die Politiker waren verschwunden, aber wen störte das schon? Insgeheim hatten sich das sicherlich sehr viele Menschen gewünscht. Jetzt gab es neue Politiker, das war zu erwarten gewesen. Der Wechsel kam vielleicht etwas plötzlich, aber so war es besser. Im Endeffekt würde sich herausstellen, dass diese Partei auch nicht viel besser als ihre Vorgänger war.
"Was für eine Scheiße! Ich geh’ hier ein! Jeder interessiert sich nur noch für diese Partei! Ich wette, dass meine Mutter ihnen auch schon die Ärsche küsst, um daraus irgendwelche blöden Vorteile für sich zu ziehen! Autsch!" Er stieß mit dem rechten Knie an den Wohnzimmertisch, wie es ihm in der letzten Zeit häufiger passierte. Vor sich hin schimpfend rieb er die schmerzende Stelle. Es hatte keinen Sinn hier weiter im Haus herum zu hängen und Trübsal zu blasen. Also entschloss er sich, durch die Stadt zu spazieren. Santa Monica hatte für ihn nichts Neues zu bieten. Womöglich besaß es jetzt in seinen Ohren eine andere Geräuschkulisse. Und was konnte ihm schon passieren? Er hatte einen Stock, mit dem er größere Gegenstände ertasten konnte. Außerdem regten sich die Leute immer so herrlich über ihn auf, wenn er sie damit streifte oder gar zum Stolpern brachte, denn es gab wirklich noch Menschen, die ihn trotz exzellenter Sehkraft nicht wahrnahmen und direkt in den Stock hinein rannten.
Außerhalb des Hauses spürte er den Wind und die schwindende Wärme des Sommers auf seiner Haut und in seinem Haar. Dennoch blieb alles schwarz und schwärzer. Er folgte der Straße, so gut er konnte, hinaus aus den Wohnvierteln in eine belebtere Gegend in Richtung Strand. Dort hielten sich grundsätzlich viele Menschen auf. Und tatsächlich wurden die Wege belebter. Das hatte zur Folge, dass er so manchen Passanten anrempelte. Die Anwesenheit von Parteimitgliedern entging ihm natürlich. Er hörte lediglich ihre Stimmen, war aber nicht in der Lage, sie von denen der übrigen Leute zu unterscheiden. Er lauschte vielmehr auf den Klang als auf die Worte.
Als das Vorankommen ständig schwieriger wurde und er die wenige Orientierung, die ihm noch verblieben war, völlig verloren hatte, tastete er sich zu einer kniehohen Mauer, die möglicherweise zu einem Brunnen gehörte, wenn er die gluckernden Geräusche korrekt deutete. Erschöpft setzte er sich, den Stock achtlos neben sich legend, und rieb die schweißfeuchten Hände an seiner Jeans ab, die er bereits seit Tagen zu tragen glaubte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, welche Farbe sie hatte und ob es tatsächlich die gleiche war wie an den Tagen zuvor. Das schreckliche Gefühl, jeder würde ihn anstarren, beschlich ihn wie so oft in letzter Zeit. Gesteigerte Nervosität war wie üblich die Folge. Dazu kam die Hitze, die seinen Kopf scheinbar zum Glühen brachte. Dieser stellte für ihn ein Gefängnis dar, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. Gedanken und bunte Erinnerungen waren alles, das ihm geblieben war. Wie sich wohl ein Mensch fühlte, der von Geburt an blind war? Wahrscheinlich besser, denn er konnte nichts vermissen, was er niemals kennengelernt hatte.
Jemand setzte sich zu ihm auf die Mauer und legte eine Hand auf seine Schulter.
"Wer ist da? Nur zu deiner Information! Ich mag zwar blind sein, aber verarschen lass’ ich mich noch lange nicht, klar?" Seine gereizte Reaktion hatte zur Folge, dass zu seiner Überraschung gar nichts passierte. Jetzt wurde er ernsthaft wütend.
"Nun antworte doch schon! Ich werd’ allmählich sauer! Oder bist du vielleicht stumm? Ha! Guter Witz!" Er lachte humorlos. Die Person neben ihm nahm plötzlich seine Hände, legte sie an ihre Wangen und nickte. Es handelte sich bei der Person anscheinend um ein Mädchen, und um ein stummes noch dazu. Toller Zufall!
"O.K. Du bist stumm und ich bin blind, jedenfalls seit diese Typen aufgetaucht sind, aber du verstehst mich. Ich hab’ da eine Idee. Wenn du ja sagen willst, schnippst du ein Mal mit den Fingern. Bei nein zwei Mal. Gut?" Ein Schnippen.
"Also, bist du taub?" Zweimal Schnippen. Nein. War vielleicht auch eine blöde Frage. Aber es wäre immerhin möglich gewesen.
"Das ist gut. Sag’ mal, warum hast du mich eigentlich angehauen?" Keine Antwort. Cody schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.
"Tut mir leid! Noch mal von vorn: Kenn’ ich dich?" Nein.
"Kennst du mich?" Erst nein, dann ein zögerliches Ja.
"Du bist dir nicht sicher?" Zweimal Schnippen.
"Kommst du aus L.A.?" Nein.
"Aus Kalifornien?" Wieder nein.
"Auch nicht? Dann aus einem der anliegenden Staaten!" Ein energisches Nein.
"Hm! Aber aus den USA, oder?" Noch ein Nein.
"Verarsch mich nicht, in Ordnung? Flüchtling aus Mexiko, hä?" fragte er gereizt und erhielt ein bestimmtes Nein als Antwort.
"Dann eben aus Kanada?" Ein scheinbar erfreutes Ja, doch er mochte es sich auch bloß eingebildet haben. Endlich wusste er mehr. Ein stummes Mädchen aus Kanada, vermutlich aus Vancouver, das lag am nächsten, saß neben ihm. Triumphierend verkündete er:
"Du kommst aus Vancouver, hab ich recht?" Ja. Diesmal war er sich hundertprozentig sicher, dass es enthusiastisch klang. Cody freute sich ebenfalls. Es machte irgendwie Spaß, sich mit ihr zu unterhalten, auch wenn es etwas länger dauerte und er nicht die leiseste Ahnung hatte, wie sie überhaupt aussah. Jedenfalls konnte sie der Haut nach zu urteilen nicht viel älter sein als er. Eher jünger, aber da wollte er sich nicht festlegen.
Seit Wochen nagten die Langeweile und die Verzweiflung an ihm. Dwight war wie die meisten anderen Menschen auch vom Auftauchen der Partei so begeistert, dass er seinen Freund häufig vergaß. Mit seiner Mutter ging es ihm nicht anders. Nicht ein Wort hatte er von ihr gehört. Kein Brief hatte sich seit dem Ereignis in seinem Briefkasten eingefunden, wenn er den Nachbarn Glauben schenken durfte. An seinen Vater verschwendete er keinen Gedanken. Nun hatte er endlich einen Menschen getroffen, den der ganze Trubel auch nicht sonderlich zu interessieren schien.
"Weißt du, ich find’s toll, dass wir uns getroffen haben. Du gehörst wohl auch nicht zu den begeisterten Anhängern dieser Partei, oder?" Ein hektisches, aber hartes Nein. Er lachte.
"Das ist gut. Das ist sogar sehr gut! Ich versteh’ das ganze Theater nicht. Um ehrlich zu sein, ich war schon misstrauisch gegenüber Politikern. Und diese Typen sind trotz großer Sprüche mit Sicherheit um keinen Deut besser! Übrigens, ich heiße Cody. Wie heißt du? Ach, das könnte jetzt ein Problem werden. Na ja, wir könnten ja einen der netten Leute um Hilfe bitten, äh, Entschuldigung... Hey, was machst du da?" Sie ergriff sein Schultern und zog ihn sanft hoch. Er ließ alles gelassen über sich ergehen. Sie setzte ihren Zeigefinger auf seinen Rücken und begann Buchstaben darauf zu malen. Da er nur ein T-Shirt trug, dessen Farbe ihm allerdings nicht bekannt war - höchstwahrscheinlich war das Glück auf seiner Seite und vorne war ein riesiges Abbild von Mickey Mouse darauf -, war für ihn das Erkennen nicht sonderlich schwer. Er wiederholte jeden Buchstaben und wartete auf ihre Bestätigung.
"A? Klar. I? Ein L? O.K. Was jetzt? E? Noch mal E? Aha! N? Das war’s? Aileen? Klingt schön! Bist du 17 Jahre alt? Nein? Dann vielleicht 16? Bingo! Ich bin 17, aber im November werd’ ich 18. Du musst entschuldigen, aber ich laber’ meistens nur Schwachsinn. Sag’ mal, lächelst du gerade? Ja? Du machst dich doch nicht über mich lustig? - Das will ich aber auch hoffen!" Mit einem Mal fiel ihm das Lächeln wieder leicht.
Aileen empfand auch wieder etwas, obwohl es nicht so wie früher war. Dennoch war sie froh und gleichzeitig erleichtert. Sie wollte Cody sagen, dass sie ihn gesucht und gefunden hatte, auch wenn sie es gerade erst festgestellt hatte. Immerhin wurde er ebenfalls von seiner wahren Bestimmung, seiner Aufgabe abgehalten, wie auch immer diese genau aussehen mochte. Es war einfach ungerecht. Sie wusste, warum sie hier war. Jetzt war es ihr völlig klar. Anders als die vage Ahnung, in Los Angeles wartete etwas oder jemand von Bedeutung auf sie. Als sie Cody dort auf der Mauer hatte sitzen sehen, die Sonne ihn von hinten zwischen den gewaltigen Palmenblättern hindurch beschien, da war es geschehen, einer Offenbarung nicht unähnlich. Dieser Junge war ein Teil des großen Puzzles, welches sie zu lösen gedachte. Ein weiteres Teilstück befand sich im weit entfernten Philadelphia. Ob Cody sich dessen auch bewusst war? Irgendjemand hatte ihr ihre Stimme und ihm sein Augenlicht genommen, um ihnen das Zusammensetzen des Puzzles zu erschweren. Ihr Verdacht fiel auf die Partei, den unbekannten Faktor in der Gleichung des Augenblicks. Trotz dieser Behinderungen fühlte sie eine Art geistige Bindung zu ihm. Dennoch war sie zu verwirrt, um sich über die eventuelle Tragweite ihrer Bedeutung in der besagten Gleichung im Klaren sein. Das war alles so irreal. Und doch konnte sie nicht laut "Stop" rufen und einfach wieder in den klaren Pool der Realität eintauchen.
"Hey, Aileen? Bist du noch da? Sag mal, hast du schon eine Bleibe in dieser großartigen Stadt? Nein? Was hältst du davon, wenn du solange bei mir wohnst? Meine Mutter ist nicht da und wird so schnell nicht wieder kommen", bemerkte er ein wenig bitter. Sie nahm sein Angebot mit einem Schnippen an, bevor er fortfuhr:
"Wir bleiben erstmal hier, bis wir wissen, wie’s weitergehen soll. Irgendetwas ist hier faul! Und es hat was mit dir und mir zu tun. Ich meine, das ist doch nicht normal, was hier abläuft! Wir sind anders als die Leute, die hier sonst noch ‘rumlaufen. Das ist mir gerade klar geworden, als ich dich traf oder besser du mich." Er lächelte wieder, während seine dunkelblauen Augen ins Leere starrten, als suchten sie einen Gegenstand hinter dem Horizont.
"Ich glaube, dass wir von hier fort müssen, nicht wahr?" Eine Bestätigung. "Tja. Nur wohin?" Sie seufzte, etwas, das er wahrnehmen, aber nicht richtig deuten konnte. Er war lediglich in der Lage abzuwarten, dass Aileen ihm Wissen offenbarte, welches ihm fehlte. Es gab zu viele Lücken, um den Zusammenhang zu verstehen. Dabei verloren sie Zeit, die sich nicht hatten.
"Weißt du was, Aileen, wir gehen jetzt zu mir. Dann erzähl’ ich dir, was ich über die Situation denke. Es wäre nicht so schlau, das hier in der Öffentlichkeit zu besprechen. Also, gehen wir?" Sie nickte gedankenverloren, besann sich aber schnell und schnippte ein Mal mit den Fingern. Müdigkeit und Hitze hatten ihr zugesetzt. Ein paar Stunden war sie bereits durch die fremde Stadt geirrt. Ein Zufall hatte sie nach Santa Monica gebracht und zwar in Form eines Busses, der gerade zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen war. Vielleicht war es auch Schicksal gewesen. Sie verlor allmählich den Überblick. Ein wenig verärgert schob sie die lästigen Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die Fakten: Sie hatte Cody getroffen, demnach ihr primäres Ziel erreicht, obwohl sie nicht gewusst hatte, nach wem genau sie suchte, als sie aus dem Greyhound gestiegen war. Nun mussten sie sich gemeinsam auf das nächste Ziel vorbereiten. Ihr Horizont hatte sich in dem Moment erhellt, in dem sie ihn erblickte. Seiner hingegen war so schwarz wie zuvor.
III
Los Angeles, Kalifornien (USA)
Cody Finley wohnte, anscheinend allein, in einem sehr schönen Haus in Santa Monica mit Blick auf das Meer. Seinen Erzählungen entnahm Aileen, dass seine Eltern geschieden waren und er seinen Vater gar nicht kannte, da dieser Codys Mutter noch vor seiner Geburt verlassen hatte. Folglich fristete er sein Dasein bei ihr, wobei er die meiste Zeit auf sich selbst gestellt war. Ein typisches Scheidungsopfer, das eigentlich keines der beiden Elternteile haben wollte, so drückte er sich jedenfalls aus. Sie konnte ihm nichts über sich erzählen, weder vom frühen Tod ihres Vaters noch von dem grässlichen Unfall, der dem Rest ihrer Familie vor ein paar Tagen zugestoßen war. Augenblicklich machte ihr es jedoch nicht sehr viel aus, das für sich zu behalten. Irgendwann würde sie ihm alles sagen können, da war sie sich sicher.
"Na ja, das ist so in Kürze das wichtigste, was es über mich zu wissen gibt, mal abgesehen von dem, was vor kurzem passiert ist. Schätze, es sieht hier ziemlich wüst aus!" Aileen sah sich lächelnd um. Was sie erblickte, bestätigte seine Aussage. Teller und Schüsseln lagen auf dem Boden in der Küche. Wie durch ein Wunder war trotz der pastellgelben Fliesen nichts zu Bruch gegangen. Sie war gerade dabei, ihnen Tee zu machen und betätigte den Wasserkocher. Nach einer mühsamen Suche entdeckte sie in einem der hölzernen Hängeschränke, die mit tiefgelbem Lack, der zum Fußboden passte, überzogen waren, eine Schachtel schwarzen Tee. Ihr Blick fiel auf Kaffeepulver, das sowohl auf der Arbeitsplatte als auch auf dem Boden verstreut war. Insgeheim fragte sie sich ernsthaft, ob er überhaupt allein über einen längeren Zeitraum hin zurechtgekommen wäre.
"Was machst du da eigentlich?" Sie fischte einen Beutel aus der Schachtel und hielt ihn ihm unter die Nase. Er tat ihr ein wenig leid, obwohl sie sich sicher war, dass er ihr Mitleid bestimmt nicht sonderlich schätzen würde.
"Ah! Tee! Um ehrlich zu sein, trink’ ich nicht so oft Tee. Kaffee liegt mir eher." Grinsend betrachtete sie abermals das in der Küche verteilte braune Pulver. "Bei der Hitze bevorzuge ich allerdings eher was Kaltes. Bei euch ist es sicher viel kälter." Er tastete sich zu einem Küchenstuhl und setzte sich. Aileen lehnte an der Arbeitsfläche und wartete darauf, dass der Wasserkocher endlich fertig wurde. Dabei betrachtete sie Cody eingehend. Seine bereits leicht kantigen Gesichtszüge hatten sich zu einer nachdenklichen Miene verzogen, die ihn geistesabwesend wirken ließ. Eine dunkelbraune, gewellte Haarsträhne hing ihm wirr ins Gesicht. Er sah so aus, wie sie sich fühlte: müde. Vielleicht waren auch seine Nächte so von Träumen angefüllt, dass keine Zeit für Erholung blieb. Er gähnte herzhaft. Das Wasser kochte, und sie füllte es in die gläserne Kanne.
"Ist dir schon irgendwas eingefallen? Ich denke, dass wir in eine Großstadt fahren sollten. Immerhin sind Vancouver und L.A. auch Großstädte. Aber nicht hier in der Umgebung. Hey, ich hab’ eine brillante Idee! Nimm’ dir mal den Atlas aus dem Regal im Wohnzimmer. Ist so ein großer Wälzer." Sie begab sich unverzüglich in das geräumige und von Licht durchflutete Wohnzimmer. Mehrere große Topfpflanzen schmückten den gemütlichen Raum. Vor dem Kamin stand eine Ledercouch, in der anderen Ecke ein Fernseher. Die Fernbedienung lag auf dem Boden. Wie viele andere Dinge, beispielsweise ein alter Pizzakarton. Offensichtlich liebte er auch Pizza. Das erinnerte sie an ihren knurrenden Magen, doch der musste noch eine Weile warten. Sie durchsuchte die beiden wandhohen Bücherregale. Dem Staub nach zu urteilen war Cody auch vor seinem Schicksalsschlag kein sehr belesener Mensch gewesen. Dabei befanden sich schöne Stücke in den Regalen. Schließlich entpuppte sich ein nicht gerade kleines Buch in einem grünblauen Umschlag als der gesuchte Atlas. Sie blies den Staub fort und kehrte mit dem Buch in die Küche zurück.
"Hast du’s gefunden? Gut. Und was sagt die Karte?" Sie studierte sie eine Weile. Zwischen Vancouver und hier ließ sich eine gerade Verbindungslinie ziehen. Sie wählte den Mittelpunkt und zog eine weitere Gerade zur Ostküste. Diese Linie bildete zwar keinen vollkommenen rechten Winkel zur ersten, aber sie traf die Stadt Philadelphia ganz genau. Das war eigenartig. An ihrer Unterlippe nagend starrte sie auf die Karte. Die Grenzlinien verschwommen vor ihren Augen, je länger sie hinsah und die schwarze Druckschrift des Namens trat mit einem Mal deutlich hervor, ähnlich wie auf einem 3D-Bild hob sie sich vom Rest der Abbildung ab. Aileen schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Als sie die Augen wieder öffnete, war alles so wie vorher. Die Karte zeigte Grenzen und sah völlig normal aus. Sie blickte zu Cody, der immer noch schweigend auf seinem Stuhl saß und vor sich hin sinnierte. Jetzt bestand das Problem nur noch darin, ihm ihre bestätigte Vermutung mitzuteilen. Am besten benutzte sie die bewährte Methode, mit der sie ihm auch ihren Namen mitgeteilt hatte.
"Du meinst Philadelphia? Ja? Hey, bin ich gut oder was? Moment! Ich erinnere mich da an was! Wie hieß der Kerl doch gleich? Weißt du, da haben sie im Fernsehen etwas von einem Studenten gesagt, der urplötzlich am ganzen Körper von einer Lähmung befallen wurde. Der Name war, hm, ich komm’ gleich drauf! Travis, nein, es war was anderes. Jetzt hab’ ich’s! Trevor! Und wie weiter? Tja, Burlington glaub’ ich. Irgendwie sowas. Der lebt in Philly. Also ist das unser Mann! Dem ist bestimmt das gleiche passiert wie uns. Die Partei hat ihn von etwas abhalten wollen!" Sie hätte ihm zusätzlich noch gern erklärt, dass zwischen den drei Städten Linien gezogen werden konnten und daraus ein Dreieck entstand. Aber das konnte sie auch später tun. Zunächst war es wichtiger, sich so bald wie möglich auf den Weg nach Philadelphia zu diesem jungen Mann namens Trevor zu machen.
"Schätzungsweise müssen wir jetzt nach Philly. Wollte ich schon immer mal hin. Nein, Scherz! Es ist ganz schön weit, aber zu wichtig, auch wenn ich nicht alles versteh’. Irgendwas treibt mich zum handeln, als hätte ich Hummeln im Hintern." Er verstummte abrupt, als lauschte er auf eine Botschaft aus der Ferne. Die Dunkelheit in seinem Kopf hatte seine Ohren geschärft. Er befand sich in der wohligen, doch auch bedrückenden Schwärze seines Kopfes und nahm jedes Geräusch der bunten und hellen Welt auf. Seine Gedankengänge waren so verworren, dass er ihnen selbst kaum zu folgen vermochte. Allmählich kehrte er in die Realität und zu ihrem Vorhaben zurück. Geld. Toll, das einzige, was die Welt zu bewegen schien war Geld! Dennoch brauchten sie es, um von hier wegzukommen. Der Drang zu fliehen, das Gefühl, als wäre L.A. ein Spinnennetz, das einen jede Sekunde festhalten würde, wurde stärker. Augen, die sie aus allen Ecken beobachteten. Kalte Augen, die ihre würgenden Blicke um sie legten. Schemen, die wissende Finger um ihre Kehlen schlossen. Die Liste war endlos, besaß aber grundsätzlich dasselbe Resultat. Mit einem Ruck riss er sich erneut von diesen Gedankengängen los und klammerte sich an die Lehne des Sessels, ein Symbol der Realität.
Aileen bemerkte seine Nervosität, als er sich krampfhaft an der Sessellehne festhielt, Sorgenfalten seine Stirn zerfurchten und Schweißperlen durch eben diese krochen. Sie ergriff seine Hände, die kalt waren und leicht zitterten. Das war schon eine komische Sache, in die sie da hineingeraten war. Da saß sie hier mit einem Jungen, dem sie gerade erst begegnet war, in der Gewissheit, dass sie ihn schon ewig kannte, Tausende von Kilometern entfernt von ihrer Heimatstadt. Vor einem Monat noch hätte sie sich selbst für verrückt gehalten. Zu diesem Zeitpunkt jedoch schien das völlig normal zu sein. Es musste einfach geschehen. Die Gründe waren zweitrangig. Wie so oft runzelte sie die Stirn über ihre eigenen Gedanken. Cody erhob sich steif und entzog seine klammen Hände ihrem Griff.
"Ich glaube, wir sollten uns so bald wie möglich auf den Weg machen. Ich packe uns ein paar Dinge zusammen, Klamotten und so’n Zeug. Keine Sorge, ich schaff’ das schon allein. Schließlich wohne ich ja nicht erst seit gestern hier." Ein mattes Lächeln huschte über seine Lippen. "Könntest du uns was zu Essen einpacken?" Sie nickte gedankenverloren, bemerkte aber ihren Fehler rasch und schnippte einmal mit den Fingern. Das war eben die Macht der Gewohnheit. Sie sah ihm nach, als er verhältnismäßig sicher die Treppe zum Obergeschoss erklomm. Aileen schlug die Hände vors Gesicht. Sie musste schrecklich aussehen nach all diesem Horror und der überstürzten Flucht vor dem Ungewissen ins Ungewisse. Zwischen ihren Fingern hindurch erblickte sie einen Spiegel. Langsam ging sie darauf zu und sah hinein. Das blasse Gesicht mit den dunklen Ringen unter den Augen starrte sie irritiert an. Das sollte sie selbst sein? Ihr Körper hatte schon seit einiger Zeit fest auf seinem Recht nach Schlaf und Nahrung bestanden. Und immer wieder hatte sie ihn vertröstet. Später würde sie schlafen können. Mit einem Seufzer wandte sie sich von dem Mädchen im Spiegel ab und kehrte in die Küche zurück. Oben hörte sie Cody Dinge umwerfen, während er packte. Der Kühlschrank war schon ziemlich leer. Sie entschied sich dafür, Sandwiches zu machen. Cody würde sicherlich noch eine Weile brauchen, bis er fertig war.
"Hey, Aileen! Bist du noch da? Schmeiß’ mal irgendwas um oder so, damit ich höre, ob du noch da bist." Lächelnd schlug sie die Tür ein paar Mal schwungvoll zu. "Danke, gut zu wissen!" rief er und ging weiter seiner momentanen, sehr geräuschvollen Tätigkeit nach. Immer noch lächelnd machte sie sich an die Arbeit und verteilte die Toastscheiben auf der Arbeitsfläche. Mit einem Messer bewaffnet, verteilte sie abwechselnd Erdnussbutter und Marmelade auf die weichen Scheiben. Von Wurst oder gar Käse fehlte im Kühlschrank jede Spur. Es fanden sich einige angefangene Portionen vom Chinesen und ein Stück Pizza darin. Die wenigen Dosen Limonade packte sie mit den fertigen Sandwiches in ihren Rucksack. Dann lauschte sie. Er war anscheinend noch nicht mit Packen fertig. An ihrer Unterlippe nagend stemmte sie nachdenklich die Hände in die Hüften und dachte an das Stück Pizza. Sie musste etwas essen, soviel stand fest. Also holte sie es heraus und biss genüsslich hinein. Kalt, aber das störte sie nicht. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie hungrig sie eigentlich war. Das Mahl war kurz, aber sehr befriedigend. Oben polterte es noch immer, begleitet von Flüchen und sarkastischen Selbstgesprächen.
Ihr kam ein neuer Gedanke, der ihr genauso gut gefiel wie essen: Badezimmer. Dass sie erneut mit ihrem Spiegelbild konfrontiert wurde, ertrug sie mehr oder weniger gelassen. Nachdem sie sich erleichtert hatte, kämmte sie ihr Haar, doch das Ergebnis war nicht sehr zufriedenstellend. Eigentlich schrie ihr Bild geradezu nach einer Dusche, aber sie begnügte sich damit, ihr Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen und sich das Haar zu einem Zopf zu binden. Cody würde ihr mit Sicherheit eine Baseballkappe oder etwas Ähnliches leihen können. Er schien ihr der Typ zu sein, der so etwas besaß. Ihren Rucksack geschultert ging sie die Treppe hinauf, ein wenig zögernd. Auf dem Flur sah es sogar noch schlimmer aus als unten. Cody lehnte in der Tür zu seinem Zimmer, dem Chaos dahinter nach zu urteilen, musste es sich um sein Zimmer handeln. Sie legte ihm behutsam eine Hand auf die Schulter, aber er erschrak trotzdem, da er in Gedanken gewesen war.
"Hilfe! Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt! Du bist’s doch, Aileen, oder?" Sie schnippte ordnungsgemäß. "Puh! Ich dachte schon. Äh, bist du fertig?" Bevor sie irgendeine Art von Antwort gab, schob sie sich an ihm vorbei in sein Zimmer und suchte nach einer Mütze. Tatsächlich fand sie diese trotz der Unordnung ziemlich schnell.
"Was ist los? Ich weiß, dass es hier wie nach der Apokalypse aussieht, aber..." Sie drückte ihm die Kappe in die Hand. Er befühlte sie und verzog das Gesicht.
"Soll ich die aufsetzen?" Aileen bekundete ihm ein Nein. "Ach, ich hab’s! Du willst sie aufsetzen! Klar! Mach’ nur! So, ich denke, ich hab jetzt alles Notwendige. Plus Kleingeld, wenn du verstehst, was ich meine! Entschuldige, dass ich soviel rede, aber irgendwie brauch’ ich das!" Sie ergriff seine Hand, und gemeinsam gingen sie wieder hinunter, um sich auf eine weite Reise zu machen. Ihr kam der Gedanke, wann sie sich überhaupt jemals wieder irgendwo richtig zu Hause fühlen können würde.
Ihr Blick fiel auf das Meer. Gleißendes Sonnenlicht glitt über den Pazifik und entfachte ein wundersames Schauspiel. Wie gebannt starrte sie auf die glitzernden Wogen. Die Taubheit lastete immer noch auf ihren Gefühlen, wenn auch nicht mehr so stark wie auf der Fahrt hierher. Ihr Geist hingegen war klarer geworden. In Philadelphia erwartete sie die Vollkommenheit. Das hoffte sie zumindest. Obwohl sie nun mit Bestimmtheit wusste, dass ihnen mit der Partei kein großartiges Glück zugekommen war, und sie, Cody und dieser Trevor aus Philadelphia andere von dieser Tatsache überzeugen sollten, war ihr noch nicht so ganz klar, wie das vonstatten gehen sollte. Ihr Geist verlangte trotz wachsender Klarheit nach mehr und ausführlicheren Antworten.
"O.K. es kann los gehen! Ich hab’ dir übrigens auch ein paar Sachen eingepackt. Ich meine, wer weiß, wo es nach Philly als nächstes hingeht. Vielleicht ist es da nicht so warm wie hier. Das Taxi müsste gleich da sein. Ich dachte, das wäre die einfachste Art, um zur Union Station zu kommen." Hand in Hand verließen sie das Haus. Er würde es nie wieder sehen, was ihn allerdings jetzt nicht sonderlich beschäftigte. Bisher kam ihm das alles vor wie ein Spiel. Ein Spiel, das bald schon bitterer Ernst werden konnte.
Nachdem sie die Union Station problemlos und in der für Los Angeles typischen halben Stunde erreicht hatten, besorgten sie sich Tickets und begaben sich zum Bahnsteig. Das Glück war auf ihrer Seite, da in weniger als 20 Minuten ein Zug in die richtige Richtung eintreffen würde. Cody hatte darauf bestanden, die Verbindung mit der nächstmöglichen Abfahrtzeit zu wählen. Nun warteten sie mit vielen anderen Menschen, die mit Reisetaschen, Aktenkoffern oder Tüten bepackt waren, auf ihren Zug. Einige unterhielten sich. Ständige Durchsagen und das Eintreffen und Abfahren von Zügen sorgten für eine beachtliche Geräuschkulisse. Cody fühlte sich elend. Seine Ohren waren überlastet. Hilflos, wie er sich vorkam, klammerte er sich an Aileens Arm.
"Es ist so laut! Ist es wirklich so laut, oder bilde ich mir das nur ein?" Obwohl es eine rhetorische Frage war, schnippte sie einmal. Manche Leute warfen ihnen entgeisterte Blicke zu. Ein blasses Mädchen, das aussah wie ein Junkie nach einem fürchterlichen Trip, und ein Junge mit verkniffenem Gesichtsausdruck und leeren Augen, der sich an es klammerte: Ja, sie boten wahrlich ein interessantes Bild.
"Geht es deinem Freund nicht gut?" Ein Mann mittleren Alters stellte ihr diese Frage. Er trug einen beigefarbenen Anzug und lächelte freundlich. Seit wann interessierten sich ihre Mitmenschen für ihr Schicksal? Eilig schrieb sie ein paar Worte auf ihren Block: "Ich bin stumm, mein Freund ist blind. Es ist nur der Lärm." Der Mann las die Zeilen und nickte verständnisvoll. Sein darauffolgender Gesichtsausdruck gefiel ihr nicht. Sie hatte recht gehabt. Kein anderer Mensch kümmerte sich so besorgt um die Angelegenheiten seiner Mitmenschen, wenn er nicht etwas damit bezweckte. Verzweifelt sah sie sich nach ehrlicher Hilfe um, als er sagte:
"Ihr beiden kommt am besten mit mir. Ich kann euch helfen. Wir haben euch gesucht. Jetzt wird alles gut werden. Kommt." Behutsam nahm er ihren Arm. Sie musste handeln, das stand außer Frage. Wohl oder übel sah sie sich gezwungen, nun wirklich auf die Unterstützung ihrer Mitmenschen zu vertrauen, als sie Cody gegen sein Schienbein trat. Wie erwartet stieß dieser einen erschrockenen Schmerzensschrei aus. Viele Leute drehten sich neugierig oder auch verärgert um. Hoffentlich blieb es nicht nur bei Neugier.
"Hey, waren Sie das? Warum haben Sie das getan? Von wegen helfen!" herrschte er den Mann an, wobei er sich in die Richtung wandte, aus der zuvor die Stimme gekommen war. Aileen setzte ein furchtsames Gesicht auf und zog Cody ein Stück von dem Mann weg. Dabei schüttelte sie die Hand des Mannes ein wenig übertrieben ab. Endlich kam ihnen jemand zur Hilfe. Eine Frau trat zu ihnen.
"Sie können doch den Jungen nicht einfach so treten!" Empört stellte sie sich zwischen die beiden und den Mann. Als sie Codys leeren Blick bemerkte, setzte sie noch erboster hinzu:
"Er kann doch nichts sehen! Das ist ja eine Unverschämtheit! Machen Sie bloß, dass Sie wegkommen! Sonst könnte ich ungemütlich werden!" Allmählich redete sie sich in Rage, was ganz und gar in Aileens Interesse war. Der Mann, ganz offensichtlich ein Mitglied der Partei, wirkte verunsichert. Cody, der bis jetzt nur vermuten konnte, was sich um ihn herum abspielte, spürte die Spannungen sehr wohl und war nervös.
"Schämen Sie sich, Sie Bastard! Verschwinden Sie, auf der Stelle!" Er sah sie unschlüssig an, trat von einem Bein aufs andere, bis er schließlich entschied, dass es wirklich besser wäre, ihrem Rat zu folgen, und das Weite suchte. Aus unsicheren Schritten wurde schnelle, bestimmte, als er zielstrebig auf den Ausgang zu rannte. Aileen atmete erleichtert auf, während sie ihn beobachte, wie er aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Mittlerweile war der Zug eingefahren. Sie registrierte dies und verfestigte ihren Griff um Codys Arm. Bald würden sie in Sicherheit sein. Sie warf ihrer Lebensretterin einen dankbaren Blick zu, woraufhin diese sagte:
"Ist schon in Ordnung. Ich hab euch gerne geholfen. Fahrt ihr auch mit diesem Zug?" Das Mädchen nickte, woraufhin die Frau sich anschickte, Cody in den Zug zu helfen. Drinnen machte sie sich auf die Suche nach einem leeren Abteil und hielt die Tür auf.
"Ich heiße übrigens Raisa Lisle. Und mit wem habe ich die Ehre?" fragte sie lächelnd.
"Ich bin Cody Finley und das ist Aileen. Ihren Nachnamen weiß ich leider nicht, weil sie stumm ist. Wie Sie sich vorstellen können, ist es für uns nicht gerade leicht, uns zu unterhalten", antwortete Cody, der sich jetzt weitaus besser fühlte. Ein Pfeifen ertönte und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Raisa wiegte ihren Kopf leicht hin und her, als Aileen ihr einen Zettel reichte.
"Also, Cody, deine Freundin heißt Aileen Dow. Bevor sie zu dir nach Los Angeles kam, oh, du kommst ursprünglich aus Vancouver? Da hast du aber einen ganz schön weiten Weg hinter dir. Und wo soll's jetzt hingehen?" Es folgte ein bedrücktes Schweigen.
"Nach Philadelphia, wir...", eigentlich wusste er nicht, was er auf ihre Frage erwidern sollte. Wie konnte er dieser Frau erklären, was ihnen zugestoßen war und was sie nun zu tun gedachten? Ihm fiel noch nicht einmal eine plausible Erklärung für ihre gemeinsame Reise ein. Trotzdem musste er es versuchen:
"Wir haben uns zufällig getroffen und herausgefunden, dass wir das gleiche Ziel haben. War ziemlich praktisch für mich. Ich bin nämlich noch nicht lange blind." Das war immerhin keine Lüge. Dennoch behagte ihm dieses Tasten über unsicheren Boden nicht sonderlich. Es war an der Zeit, das Thema zu wechseln.
"Haben Sie Kinder, Mrs. Lisle?" Er hatte zwar nicht die geringste Vorstellung davon, wie alt sie war, da er ihre Stimme schwer einordnen konnte, aber über 30 war sie mit Sicherheit.
"Nennt mich ruhig Raisa. Mrs. Lisle klingt viel zu förmlich. Nein, ich habe keine Kinder. Das liegt vermutlich daran, dass mein Mann schon recht früh an Krebs erkrankt ist." Sie schwieg erneut für eine Weile. Ein nachdenklicher Ausdruck trat in ihr Gesicht. Ihre blassblauen Augen schienen in die Ferne der Vergangenheit zu blicken. Aileen hingegen hatte sich fest vorgenommen, ihren Blick fest auf die Gegenwart zu richten und die Vergangenheit fürs erste zu begraben. Ein neues Leben hatte für sie und auch für Cody begonnen. Es würde nie wieder so werden, wie es früher war. Früher, bevor die Partei in ihr Leben getreten war.
"Aber um noch mal auf euer Ziel zurückzukommen, dieser Zug fährt doch nur bis Albuquerque."
"Stimmt schon. Wir müssen dort eine Unterkunft finden, weil erst am nächsten Tag ein Zug fährt, der uns über Kansas City nach St. Louis bringt." Raisa musste unwillkürlich lächeln.
"Ob ihr’s glaubt oder nicht, ich wohne in Albuquerque. Wenn ihr wollt, könnt ihr gern bei mir übernachten. Ich habe ein Gästezimmer, das so gut wie nie benutzt wird, was ich ehrlich schade finde. Also, was sagt ihr? Es würde mich jedenfalls sehr freuen. Was mich übrigens noch interessieren würde: Was wollt ihr wirklich in Philadelphia? Ist eine ganz schöne Strecke bis zur Ostküste. Seid ihr etwa durchgebrannt?" Cody überlegte angestrengt. Um ehrlich zu sein wusste er das überhaupt nicht. Zunächst einmal mussten sie diesen Trevor finden. Das erschien ihm als primäres Ziel durchaus akzeptabel.
Raisa sah das Mädchen erwartungsvoll an. Die beiden Kinder, in ihren Augen waren es Kinder, mal abgesehen von dem Ausdruck in ihren Augen, waren ihr auf Anhieb sympathisch. Sie schienen keine Junkies oder gar Kriminelle zu sein, wenn sie ihrer Intuition trauen durfte. Der blinde Junge seufzte und begann zu sprechen:
"Wir sind uns nicht so sicher, was wir in Philadelphia wollen. Fest steht nur, dass wir dorthin müssen. Seit diese Partei aufgetaucht ist, ist irgendwas passiert. Ich war plötzlich von einer Sekunde zur anderen blind. Aileen konnte nicht mehr sprechen. Bis ich sie heute traf, hatte ich nicht den blassesten Schimmer, was ich tun sollte. Wir haben eine Aufgabe, die von großer Bedeutung ist. Und es hat was mit diesen Typen zu tun, die Friedensbringer spielen wollen. Das klingt alles ziemlich verrückt, aber es ist so." Aileen seufzte ebenfalls. Er empfand genau wie sie und hatte sich offenbar doch dazu entschieden, dieser netten Frau die Wahrheit zu sagen, was auch immer diese genau beinhaltete.
Sie sah Raisa an, die über das gerade Gesagte nachdachte. Ein wenig erinnerte sie sie an ihre Mutter, doch sie wischte diesen Gedanken energisch beiseite. Eine verrückte Idee entstand hinter ihrer Stirn: Raisa sollte mit nach Philadelphia kommen, sollte sie begleiten, wohin ihr Weg auch führen mochte. Sie würden Hilfe brauchen. Und Freunde. Viele gute Freunde. Schnell kritzelte sie ein paar nervöse Zeilen auf den Block und gab ihn Raisa, die das Geschriebene eingehend studierte. Schließlich sah sie Aileen offen an und sagte:
"Wenn ich eure Situation richtig einschätze, seid ihr aus irgendwelchen Gründen auf der Flucht vor der Partei. Wieso weiß ich nicht, vielleicht hat es etwas mit eurer Aufgabe zu tun, wer weiß. Ihr könnt also niemandem trauen. Wieso wendet ihr euch ausgerechnet an mich? Nur weil ich euch am Bahnhof geholfen habe?" Ihre Miene verriet nichts über ihre Gedanken. Aileen nahm den Block wieder an sich und schrieb: "Tief in meinem Innern weiß ich genau, dass wir dir vertrauen können, Raisa." Dass ihr die Gründe für diesen intuitiven Einfall verborgen blieben, erwähnte sie nicht. Die Frau las den Zettel und strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihr langes Haar zeigte noch keine Spur von Grau, aber dafür hielt sie Aileen noch für zu jung, auch wenn sie ihr Alter nicht genau bestimmen konnte.
"Du wirst mich wahrscheinlich für albern halten, aber ich meine das völlig ernst und will mich nicht über euch lustig machen. Vor einer Woche ungefähr überkam mich eine Ahnung, ein Gefühl, dass ich nicht mehr lange in Albuquerque bleiben würde. Aus diesem Grund bin ich zu einer alten Freundin nach Los Angeles gefahren, doch das vertrieb dieses eigenartige Gefühl keineswegs."
"Moment, worum geht es jetzt eigentlich? Ich komm’ nicht mehr so ganz mit!" wandte Cody ein, der in bezug auf die Unterhaltung im Trüben fischte. Nachdem sie es ihm erklärt hatte, bekundete er seine Begeisterung für Aileens Vorschlag.
"Nun ist es scheinbar soweit. Das heißt, ich werde mit euch fahren. In letzter Zeit sind viele komische Dinge geschehen, da kommt es auf ein paar mehr auch nicht an", meinte sie fröhlich. "Außerdem hat alles seinen Sinn und Zweck." In diesem Punkt waren sich alle einig. Und in Philadelphia würden sie den Sinn ihres Vorhabens hoffentlich verstehen.
Für eine Weile schwiegen sie, Aileen gezwungenermaßen, die anderen aus freien Stücken. Raisa hatte über einiges nachzudenken. Zum Einen konnte sie damit beginnen, sich von ihrem gewohnten Leben zu verabschieden, zum Anderen gab es da noch ihre Zukunft. Das war verrückt, was sie da vorhatte. Während das Mädchen aus dem Fenster schaute und die vorbei sausende Landschaft betrachtete, döste Cody allmählich ein. Doch immer wieder schrak er hoch, bevor er die tiefen Abgründe des Schlafs erreicht hatte.
Er sah den nächsten Tagen mit der gleichen stummen Furcht entgegen wie die anderen auch obwohl sie keiner aussprach oder niederschrieb. Es geschahen wirklich seltsame Dinge, aber wenigstens passierten sie nicht nur ihm. Auch Raisa schien auf geheimnisvolle Weise davon betroffen zu sein. Worte wie göttliche Bestimmung und Schicksal spukten durch seinen Kopf. Nein, damit hätte er es sich zu einfach gemacht. Es musste eine Erklärung für diese Ereignisse geben und er würde sie finden. Vielleicht nicht heute oder morgen, doch irgendwann würde er es verstehen. Schließlich schlief er tatsächlich ein, versank in einer noch tieferen Schwärze als der, in welcher er momentan lebte.
Als der Zug den letzten Halt vor ihrem ersten Ziel passiert hatte, erwachte Cody erneut, und wie jedes Mal, wenn er die Augen öffnete, wunderte er sich über die andauernde Dunkelheit. Raisas Stimme drang an seine Ohren, obwohl er einen Moment brauchte, um sie richtig einzuordnen. Anscheinend erzählte sie etwas über Albuquerque. Ach ja, da wollten sie hin, um am nächsten Tag nach St. Louis weiterzufahren. Sie waren unterwegs nach Philadelphia. Sein Verstand hievte sich weitaus träger in den Wachzustand, als es sein Körper und sein Bewusstsein getan hatten.
"Sieht so aus, als wären wir bald da." Ein wenig desorientiert griff er nach Aileens Hand. Das Mädchen saß neben ihm und drückte sanft die seinige. Wenigstens war er nicht allein. Er hatte unerwartet neue Freunde gefunden.
Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er L.A. womöglich niemals wieder sehen würde. Sein altes Leben war jetzt vorbei. Sooft ihm dieser Gedanke kam, lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Seine Freunde gehörten der Vergangenheit an. Freunde? Eigentlich hatte er nur einen richtig guten Freund gehabt, der mit ihm durch Dick und Dünn gegangen war. Dwight Biederman, den er seit seiner Kindheit kannte. Seine Familie hatte sich häufig um Cody gekümmert, wenn seine Mutter wieder einmal geschäftlich unterwegs gewesen war.
Noch vor ein paar Monaten hatten er und Dwight eine gesamte Nacht lang in Clubs und Bars verbracht, ausgerüstet mit der Kreditkarte seiner Mutter und gefälschten Ausweisen. Immerhin waren sie erst siebzehn Jahre alt. Der Anlass war wie immer eine Geschäftsreise seiner Mutter gewesen. Dwights Eltern waren überzeugt, dass ihr Sohn lediglich bei seinem besten Freund übernachtete. Bis 5 Uhr morgens waren sie von einem Lokal ins nächste gezogen. Und weil das Glück ihnen hold war, wurden sie dieses Mal nicht verhaftet, hatten aber über das restliche Wochenende mit einem heftigen Kater zu kämpfen. Dwights Eltern waren nicht sonderlich erfreut gewesen und hatten ihrem Sohn Stubenarrest erteilt. Das hatte die beiden allerdings nicht von neuen Dummheiten abgehalten. Damals hatte Cody Angst gehabt, dass die Bullen sie wieder erwischten. Jetzt lachte er darüber. Alles war so irreal gewesen, so unwirklich wie ein Traum. Und das Schlimmste war: Dwight, seine Mutter, seine anderen Freunde, überhaupt sein gesamtes bisheriges Leben gehörten nun dazu. Es war vorbei und hatte an Bedeutung eingebüßt.
"Cody. Aileen. Wir müssen hier aussteigen." Raisa half ihm aus dem Abteil und führte ihn anschließend aus dem Zug. Unsicher stand er auf dem Bahnsteig. Aileen setzte Raisas Reisetasche ab und atmete einmal tief ein und aus. Als sie sich umsah, bemerkte sie, wie eine schlanke, blonde Frau mit hochgesteckten Haaren auf sie zukam. Sie trug eine Aktentasche und ein formelles, schieferfarbenes Kostüm. In ihrem Kopf schrillten Alarmsirenen los. Diese Frau gehörte mit Sicherheit zur Partei. Mit sicheren Schritten kam sie auf das ungleiche Trio zu, ein nicht zu deutendes Lächeln auf den Lippen.
"Cody, Liebling! Endlich habe ich dich gefunden. Was tust du denn hier? Ich habe dir doch gesagt, du sollst eine Nachricht hinterlassen, wenn du wegfährst. Und wer sind diese Leute?" Aileen und Raisa staunten nicht schlecht, als sie den blinden Jungen besitzergreifend und ein wenig unwirsch in ihre Arme zog und ihn fest an sich drückte. Alles in allem wirkte es nicht sehr liebevoll. Cody schien das ebenso zu empfinden und versuchte verzweifelt, sich aus der Umarmung zu befreien. Raisa warf Aileen einen auffordernden Blick zu und die beiden stürmten entschlossen auf die fremde Frau zu, um Cody zu helfen. Dieser hatte vorerst seine Gegenwehr aufgegeben und versuchte seiner Überraschung Herr zu werden, nachdem er die Stimme und den Geruch der Frau endlich eingeordnet hatte - es war seine Mutter. Da er ihre Aufmachung nicht sehen konnte, fragte er sich, wie sie ihn gefunden hatte. Er hatte tatsächlich keine Nachricht hinterlassen.
Ehe Raisa ein Wort hervorbrachte und Aileen die Unterarme der Frau packen konnte, wurde es Cody zu bunt:
"Mom! Lass das! Bitte!" Sie ließ ihn widerstrebend los und begann auf ihn einzureden. "Mom! Ich erkläre dir alles, wenn du für einen Moment ruhig bist. Ich bin unterwegs nach Colorado, du weißt schon, ich wollte Travis besuchen. Aber da ich blind bin, bin ich aus Versehen in den falschen Zug gestiegen. Diese nette Frau und ihre Tochter wollen mir helfen." Die beiden hielten überrascht inne. Das war seine Mutter? Aileen betrachtete sie neugierig unter dem Rand ihrer Kappe hervor. Die Nachricht, dass ihr Sohn neuerdings blind war, schien sie nicht sonderlich zu überraschen, geschweige denn zu bewegen. Ob er wohl wusste oder zumindest ahnte, dass sie ein Mitglied der Partei geworden war? Seinen Worten nach zu urteilen, schien er ihr jedenfalls nicht zu trauen.
"Du willst zu Travis? Warum denn? Jetzt bin ich wieder da, und du kommst mit nach Hause!" Er schüttelte unwillig den Kopf.
"Mom, ich fahre zu Travis, ob du willst oder nicht. Ich hab’s ihm versprochen, und ich halte meine Versprechen, im Gegensatz zu dir. Erst lässt du mich allein und meldest dich Monate lang nicht und jetzt stellst du Ansprüche von wegen ich soll mit dir nach Hause kommen? Dass ich nicht lache! Lass mich in Ruhe und leb dein eigenes Leben. Ich sorge eh schon seit geraumer Zeit selbst für mich, also was soll’s!" Seine Mutter schnappte empört nach Luft, doch er ließ ihr keine Möglichkeit etwas zu sagen. Er hatte die Nase voll. Außerdem kam es ihm immer verdächtiger vor, dass ausgerechnet seine Mutter wusste und sich vor allem darum kümmerte, wo er sich aufhielt. Immerhin hatte er es niemand anderem außer Aileen erzählt und die war ja die ganze Zeit über bei ihm gewesen. Warum war sie also hier? Irgendwie musste er versuchen, diesen Bahnhof zusammen mit Aileen und Raisa zu verlassen, aber möglichst ohne seine Mutter.
"Cody, keine Widerworte mehr! Wir fahren jetzt nach Hause!"
"Nein Mom! Du kannst mich nicht zwingen!"
"Das ist richtig, Mrs. Finley. Meine Tochter und ich haben ihn auf eine Tasse Tee oder Kaffee eingeladen. Und wenn er darauf besteht, mitzukommen, können sie ihn nicht daran hindern. Also leben Sie wohl." Raisa nahm Cody einfach bei der Hand und setzte sich in Bewegung. Seine Mutter hingegen blieb verblüfft stehen und machte keine Anstalten, ihnen zu folgen oder sie gar aufzuhalten.
"Das werden Sie noch bereuen." Mit diesem Satz wandte sich Mrs. Finley ab und ging mit schnellen Schritten den Bahnsteig hinab. Aileen beschleunigte ihr Tempo ebenfalls, weil sie befürchtete, Codys Mutter könnte Hilfe holen. Es kam ihr albern vor, sich ständig nach der Frau umzudrehen, doch sie konnte nicht anders. Als sie sie nicht mehr sehen konnte, fühlte sie sich nicht viel wohler, im Gegenteil: Sämtliche Instinkte drängten sie zur Eile, denn die Frau gehörte zur Partei und wollte sie mit allen Mitteln aufhalten oder von dem abhalten, was auch immer sie zu tun gedachten. Sie hatte ohne zu zögern ihren eigenen Sohn verraten. Für welchen Preis? Diese Frage beschäftigte das Mädchen, während sie Raisa mit Zeichen zu verstehen gab, dass sie sich beeilen mussten, wenn sie das Bahnhofsgelände noch unbeobachtet verlassen wollten. Die ältere Frau nickte und öffnete die Tür des ersten Taxis, das vor dem Bahnhof parkte. Vielleicht fiel es den Leuten von der Partei auf diese Weise schwerer, ihre Spur zu verfolgen.
Auf der Rückbank kniend suchte Aileen die Straße nach möglichen Verfolgern ab, doch anscheinend waren sie schnell genug gewesen. Erleichtert atmete sie auf. Es war bereits Spätnachmittag und die Abendsonne überzog die Stadt mit einem Hauch von Rotgold. Raisa plauderte mit dem Fahrer und Cody starrte mit steinerner Miene aus dem Fenster, während Häuser, Geschäfte und Tankstellen an seinen Augen ungesehen vorüber rasten. Wahrscheinlich beschäftigte ihn der Vorfall mit seiner Mutter noch zu sehr. Währenddessen schob Aileen alle Fragen, ob nun eher mystischer oder rein praktischer Natur zur Seite und freute sich auf eine heiße Dusche. Sie verspürte ein starkes Verlangen danach, sich den Dreck vom Körper zu schrubben - und die Erinnerungen. Ob diese wohl auch einfach so im Abfluss versickern würden?
"Da vorne ist es. Vielen Dank!" Der Taxifahrer hielt an und nannte Raisa den Preis für die Fahrt.
"Der Rest ist für Sie! Schönen Abend noch!" sagte sie lächelnd und half Cody aus dem Wagen. Der misstrauische Blick, den der Fahrer ihnen zuwarf, entging ihnen. Ihre Blicke, zumindest die Raisas und Aileens, waren auf das Haus vor ihnen gerichtet. Hätten sie sich noch einmal umgedreht, wäre es ihnen mit Sicherheit verdächtig vorgekommen, dass der Mann einen finsteren Gesichtsausdruck aufsetzte und sich etwas auf einem Notizblock notierte, bevor er losfuhr. Diese Leute standen also seiner gemütlichen Zukunft im Weg? Das würde er zu verhindern wissen, dachte er und griff zum Funkgerät. Im Laufe des Abends oder des nächsten Tages würde Raisa Lisle, 46 Jahre alt, verwitwete Hausfrau, Besuch bekommen.
IV
Albuquerque, New Mexico, USA
"So, kommt rein, Kinder. Es ist zwar nicht das Hilton, aber es ist gemütlich und trocken. Und ich kann euch aus sicherer Quelle sagen, dass das Essen genießbar ist!" Aileen und Cody mussten lachen, auch wenn es ihrem Ausdruck von Heiterkeit ein wenig an Herzlichkeit und Tiefe fehlte. Nach allem, was Raisa über die beiden erfahren hatte, nahm sie es ihnen nicht im Geringsten übel. Gutgelaunt schob sie die beiden ins Wohnzimmer und drückte sie auf die Couch.
"Wartet hier, ich hole uns etwas zu trinken." Damit verschwand sie durch den Flur in die angrenzende Küche. Aileen sah sich neugierig um. Der Raum war geschmackvoll und wohnlich eingerichtet. Beruhigende Pastelltöne in einer wohlüberlegten Kombination beherrschten sowohl die Couch und den Sessel als auch die Wände. Ein Schrank aus hellem Holz und ein gläserner Tisch, auf dem ein Strauß aus getrockneten Blumen stand. Den einzigen Kontrast bildete der schwarze Fernseher. Bevor das Mädchen die Aquarelle an den Wänden genauer studieren konnte, kam Raisa auch schon wieder zurück und reichte ihnen Gläser mit Limonade.
"Ich schätze mal, ein schönes Bad oder eine heiße Dusche könnten euch jetzt gut tun." Daraufhin nickte Aileen seufzend. Ihre Vorstellung vom Paradies bestand in diesem Moment aus genau dem, was die Frau gerade vorgeschlagen hatte. Sie klopfte dem Mädchen schmunzelnd auf die Schulter.
"Komm mit. Ich zeige dir, wo das Bad ist und gebe dir frische Handtücher. Cody, wie steht es mit dir?" Der Junge hockte in sich zusammengesunken auf der Couch und rührte sich nicht. "Ich denke, er sollte sich eine Weile ausruhen." Sie führte Aileen aus dem Zimmer in den ersten Stock. Das Badezimmer schloss sich dem Stil der restlichen Einrichtung an. Die Kacheln waren weitgehend weiß und wurden lediglich von ein paar in hellem Grün gehaltenen Platten unterbrochen. Ein Fenster erhellte den Raum noch zusätzlich. Sie fühlte sich zum ersten Mal wieder richtig wohl, seitdem sie von zu Hause fortgegangen war. Raisa gab ihr die versprochenen Handtücher und erkundigte sich, ob sie etwas zum Anziehen bräuchte.
"Nicht? Gut. Ich lass dich jetzt allein. Freu dich schon mal auf ein warmes Abendessen. Du siehst aus, als hättest du schon eine ganze Weile nichts Richtiges mehr gegessen." Sie schloss die Tür hinter sich und ließ sie allein im Badezimmer. Aileen überlegte eine Weile und entschied sich für eine Dusche, da sie keine Lust hatte zu warten, bis die Wanne voll genug gelaufen war. Sie legte ihre Kleider ab und machte einen Schritt auf die Duschkabine zu. Ihr Blick blieb jedoch an dem blassen Mädchen hängen, welches ihr aus dem Spiegel entgegen blickte. Fettige Haarsträhnen hingen ihr wirr ins Gesicht und die dunklen Ringe unter den Augen waren ebenfalls nicht verschwunden. Sie sah an sich herunter und stellte fest, dass sie ein wenig abgenommen hatte. Vor ein paar Tagen noch hätte sie sich darüber gefreut, ihrem Idealgewicht wieder näher gekommen zu sein, doch momentan war ihr ihre Figur eigentlich egal. Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden betrat sie die Duschkabine und drehte das Wasser auf. Die prickelnden heißen Strahlen flossen über ihren übermüdeten Körper. Das Paradies in flüssiger Form!
Nachdem sie schier eine Ewigkeit die wohlige Wärme des Wassers genossen hatte, trat sie ein bisschen wehmütig aus der Dusche und trocknete sich mit einem weichen und wundervoll duftenden Handtuch ab. Jetzt fühlte sie wieder das Leben durch ihre Adern pulsieren. Erfrischt und sauber genoss sie diesen Moment des Wohlfühlens und schloss die Augen. Im Haus war es vollkommen still. Sie dankte Gott dafür, dass sie nicht auch noch taub war, denn je bedächtiger sie lauschte, desto mehr Geräusche nahm sie wahr. Das Zirpen der Grillen, das rhythmische Ticken einer Uhr irgendwo im Haus, ab und zu die typische Hintergrundmusik von Küchenarbeit und natürlich den Wind, welcher ums Haus streifte. Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie sich anzog.
Wenig später stieg Aileen ins Erdgeschoss hinab und fand Cody immer noch schlafend in einem Sessel vor. Die Erschöpfung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Mundwinkel zuckten nervös und in unregelmäßigen Abständen warf er sich unruhig hin und her, meistens begleitet von einem Stöhnen oder Seufzen. Es musste sich wohl um einen besonders schlimmen Alptraum handeln. Sie selbst hatte ein sehr traumreiches Leben hinter sich, das bisher jedoch nur selten von bösen Träumen heimgesucht worden war. In letzter Zeit allerdings bestanden ihre Nächte aus einem beängstigenden Wirrwarr, das nur selten einen Sinn ergab.
Leise sank sie neben Cody in die Knie und strich ihm sanft durchs Haar, woraufhin er aus dem Schlaf hoch schrak.
"Ehh! W... was?! Wo...wo bin ich?" Verwirrt sah er Aileen direkt an, die sich ein Lächeln verkneifen musste. Seine Augen schienen sie tatsächlich anzuschauen, doch das war nur eine Illusion. Er konnte sie genauso wenig sehen, wie sie ihm sagen konnte, was ihr gerade durch den Kopf ging.
"Aileen? Bist du es?" Als Antwort nahm sie seine Hand und drückte sie. "Puh! Ich dachte schon, meine... meine Mutter wäre hier. Wir sind bei Raisa zu Hause, richtig?" Sie bejahte diese Frage auf ihre eigentümliche Art.
"Cody! Aileen! Das Abendessen ist fertig! Kommt ins Esszimmer!" Das Mädchen erhob sich und half Cody aus dem Sessel. Hand in Hand gingen sie in den anliegenden Raum, welcher der gemütlichen Atmosphäre des restlichen Hauses in Nichts nachstand. Die Deckenleuchte verbreitete warmes Licht, während sie sich hungrig über Raisas Gemüseeintopf hermachten. Sie nannte das echte Hausmannskost – und tatsächlich schmeckte es ausgezeichnet, selbst Cody, der bisher ein strenggläubiger Anhänger des Junkfood-Imperiums gewesen war.
Raisa genoss es, nach langer Zeit mal wieder für jemanden gekocht zu haben und nun mit den Kindern gemeinsam am Tisch zu sitzen und sich das Essen schmecken zu lassen. Sie kam sich ein bisschen albern vor bei dem Gedanken, dass es so einfach viel besser schmeckte, als wenn sie nur für sich selbst kochte und die Mahlzeit wie gewöhnlich im Wohnzimmer einnahm, den Fernseher als einzige Unterhaltung. Teilweise musste sie grinsen, weil der Junge anfangs einige Schwierigkeiten damit hatte, den vollen Löffel ohne etwas zu verlieren geradewegs in seinen Mund zu befördern. Ihr Angebot, ihn zu füttern, lehnte er dankend ab.
Nachdem das Mahl beendet war, schlug Raisa vor, schlafen zu gehen, doch Aileen hob abwehrend die Hände. Eine innere Unruhe ließ sie nicht rasten und trieb sie statt dessen immer weiter. An dem Gesichtsausdruck der Frau erkannte sie, dass diese sie nicht verstand. Also griff sie nach ihrem Block und kritzelte einige Worte darauf. Als sie fertig war, reichte sie ihn Raisa.
"Du willst weiterfahren? Nach Philadelphia? Jetzt?! Es ist spät abends! Ich muss noch einige Sachen zusammenpacken und außerdem könntet ihr beiden eine Mütze voll Schlaf mehr als alles andere gebrauchen!" Das Mädchen sah sie eindringlich an. "Wir müssen j e t z t weiter!" stand unwiderlegbar in ihren blassgrünen Augen geschrieben.
"Nun gut, wenn du meinst. Was ist mit meinem Haus? Werde ich es verkaufen können?" Aileen überdachte dies einige Sekunden lang und schüttelte dann zaghaft den Kopf. Auf den traurigen Blick in den Augen der Frau hin ergriff sie deren Hand. Cody war anscheinend dergleichen Ansicht.
"Du kannst es mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht verkaufen. Ich befürchte, dass man uns jagen wird. Ach was sag' ich! Natürlich sind die schon längst hinter uns her! Leider weiß ich nicht genau warum, obwohl ich es dir gerne sagen würde. Es tut mir ehrlich leid, dass alles so undurchsichtig ist. Vielleicht solltest du es dir nochmal überlegen, ob du uns wirklich begleiten willst."
"Ich habe mich bereits entschieden. Und hinter seinen Entscheidungen muss man stehen, egal, welche Konsequenzen das hat", erwiderte Raisa überzeugt.
"Jedenfalls bin ich mir sicher, dass wir in Philadelphia mehr erfahren werden. Nimm alles mit, was du brauchst. Ich... es tut mir wirklich leid..." Er konnte das Lächeln der Frau nicht sehen, als sie sagte:
"Das macht nichts. Wahrscheinlich hätte ich sowieso in naher Zukunft alles verloren. Ich bin nämlich nicht überzeugt davon, dass diese Partei ihr ach so freundliches Gesicht beibehalten wird." Sie seufzte dennoch schwer. "Aileen, pack uns doch bitte etwas Essbares für unterwegs ein." Aileen nickte und für einen Moment glaubte sie, Tränen in den Augen der Frau ausmachen zu können. Diese wandte sich jedoch rasch ab und begab sich ins obere Stockwerk.
"Jetzt geht’s wieder los, nicht wahr?" Sie klopfte auf den Tisch, stand dann auf und ging zum Kühlschrank. "Soll ich dir helfen?" fragte Cody und wollte aufstehen, woraufhin sie zu ihm eilte und ihn sanft aber bestimmt wieder in den Stuhl zurück drückte.
"Du denkst, ich würde ein unheilbares Chaos anrichten?! Pah! Na ja, vielleicht hast du ja Recht. Ich komme mir irgendwie nutzlos und lästig vor!" Aileen betrachtete ihn eine Weile, wie er da vor ihr saß und ins Leere starrte. Ein plötzlicher Einfall brachte sie zum Lachen. In geräuschloser Freude holte sie ihren Rucksack und gab ihn Cody.
"Ich soll den Rucksack für dich offenhalten?! Was für eine bedeutende Aufgabe! Danke!"
Eine halbe Stunde später standen sie reisefertig vor der Eingangstür. Raisa warf noch einen letzten Blick auf den Ort, an dem sie den Großteil ihres bisherigen Lebens verbracht hatte, dann öffnete sie entschlossen die Tür. Draußen war es dunkel und etwas frisch, aber nicht kalt. Der Mond verbarg die Hälfte seines Gesichts und erhellte damit den nachtblauen Himmel. Cody schlug vor, zu Fuß zum Bahnhof zu gehen, da er diese Art der Fortbewegung für sicherer hielt. Raisa und Aileen nahmen ihn in ihre Mitte und überquerten die scheinbar ausgestorbene Straße, die nur von wenigen Laternen erhellt wurde. Das meiste Licht spendeten jedoch die vielen erleuchteten Fenster der anderen Häuser. Dort saßen gerade Menschen, die zu Abend aßen, fernsahen, lachten, sich unterhielten oder vielleicht stritten oder traurig waren. Aber es waren Menschen, die sich durch ihren geregelten Lebenslauf von ihnen unterschieden. Wie lange es allerdings noch dabei bleiben würde, vermochte niemand mit Gewissheit zu sagen.
Die kleine Gruppe betrat eine dunklere Seitenstraße, weil sie die Hauptstraßen meiden wollten. Den Sinn dieses Versteckspiels verstanden sie alle nicht so genau, empfanden es dennoch als notwendig. Raisa führte sie auf Umwegen durch die Stadt zum Bahnhof. Plötzlich hielt sie unvermittelt an.
"Mist! Ich habe das Licht im Schlafzimmer brennen lassen!" Cody lachte leise. Als ob das nun noch von irgendeiner Bedeutung wäre! Aber ein Teil von ihm konnte sie nur zu gut verstehen.
Von weitem hörten sie eine Sirene näher kommen. Es war ein Feuerwehrwagen, der mit Blaulicht durch die Straßen jagte. Unbeirrt setzten sie ihren Weg fort, obwohl Raisa und Aileen das übliche Interesse an der Ursache der Sirene heuchelten, da sich in ihrer Nähe ein Polizeiwagen befand. Der Polizist stand in der offenen Fahrertür und verlangte über Funk Aufklärung über den Einsatz des Feuerwehrwagens. Die quäkende Stimme aus dem Funkgerät informierte nicht nur ihn.
"Es brennt in 1437 Hill Road. Das Feuer ist plötzlich ausgebrochen. John vermutet Brandstiftung, aber Genaueres wird sich sowieso erst nach einer Untersuchung sagen lassen. Zunächst einmal müssen Macs Leute das Feuer löschen. Bis jetzt sieht es so aus, als wäre niemand mehr in dem Haus gewesen, als das Feuer ausbrach. Hoffe ich jedenfalls. Ende!" Raisa sog scharf die Luft ein. Als sie außer Hörweite der Polizisten waren, sagte sie fassungslos:
"Wären wir erst morgen aufgebrochen, wie ich es vorgeschlagen hatte, wäre von uns jetzt nicht viel mehr übrig als ein Häufchen Asche, da bin ich mir sicher." Sie ließ Codys Arm los und drückte Aileen fest an sich, während Tränen über ihre Wangen liefen. "Ohne dich wären wir jetzt tot!" schluchzte sie. Cody wollte etwas sagen, hielt sich dann aber doch zurück. Nach einer Weile ließ sie Aileen los und die beiden nahmen ihn wieder in ihre Mitte. Den restlichen Weg zum Bahnhof verbrachten sie in bedrücktem Schweigen.
Um diese Zeit hielten sich nur wenige Menschen bei den Gleisen auf. Es war mittlerweile nach zehn Uhr abends. Raisa und Aileen studierten den Fahrplan in der Hoffnung, dass so bald wie möglich ein Zug käme, der sie wenigstens ein Stück weiter von hier fort brächte. Das Glück war auf ihrer Seite .
"In etwa 20 Minuten fährt ein Zug in die richtige Richtung. Einen direkten Weg gibt es morgen wieder, aber so viel wussten wir immerhin auch schon! Wir müssen umsteigen, aber in Anbetracht unserer Situation ist das kein Problem, oder? Die Fahrt wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Von St. Louis aus sehen wir weiter, wie wir am besten nach Philadelphia kommen. Wir sollten den Leuten hier nicht unbedingt verraten, wohin wir eigentlich wollen. Während der Fahrt können wir alle ein wenig schlafen. Das wird uns allen gut tun, besonders euch beiden", sagte Raisa mit gedämpfter Stimme zu ihren Begleitern. Gemeinsam gingen sie zuerst in einen Zeitungsladen in der Bahnhofshalle. Raisa wollte sich noch etwas zu lesen für die Fahrt mitnehmen. Aileen dachte an ihr Buch, von dem sie trotz ihrer bereits sehr langen Reise kaum etwas gelesen hatte. Sie hatte hauptsächlich aus dem Fenster gestarrt und die vorbei rauschende Landschaft beobachtet. Ebenso wie diese waren nämlich auch ihre Gedanken einfach an ihr vorbei gerauscht, so dass sie sich nicht mit ihnen auseinander setzten musste. Als sie endlich zu ihrem Gleis gingen, von dem ihr Zug abfahren würde, beobachtete sie Raisa aufmerksam. Wieder erinnerte sie sie an ihre Mutter. Mom. Hatten sie sie wohl schon beerdigt? Ob sie wohl nach der verlorenen Tochter suchten, die den schrecklichen "Unfall" auf wundersame Weise überlebt hatte? Sie schwor sich, dass sie den Tod ihrer Familie rächen würde. Bisher hatte sie weder Cody noch Raisa davon erzählt. Aber bis sie sich nicht wieder richtig unter Kontrolle hatte, würde sie es zunächst dabei belassen. Mit geballten Fäusten starrte sie in den klaren Himmel, der so gar nicht zu ihrer Situation und Stimmung passen wollte.
Die letzten Minuten des Wartens zogen sich in die Länge und sowohl Raisa als auch Aileen mussten sich bemühen, sich nicht andauernd umzudrehen und nach Menschen in grauen Anzügen Ausschau zu halten. Um die Zeit zu verkürzen, schrieb sie ein paar Zeilen auf ihren Block und reichte ihn Raisa. Diese las das Geschriebene und nickte nachdenklich.
"Du hast recht. Es ist wirklich eigenartig, dass die Leute von der Partei grundsätzlich in grauen Anzügen herumlaufen. Ich meine, gut, es ist vermutlich so was wie ihr Markenzeichen, aber wenn sie euch doch verfolgen wollen, wäre es durchaus praktischer für sie, wenn sie sozusagen in Zivil nach euch suchen würden. Aber was soll’s! Es ist nur zu unserem Vorteil, wenn wir sie früh genug erkennen", sagte sie, damit auch Cody ihren Gedankengängen mühelos folgen konnte.
"Allerdings werden auch Leute Paranoia in uns wachrufen, die nur so graue Anzüge tragen und gar nicht zur Partei gehören", murmelte der Junge. Die Erschöpfung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Sie hörten den herannahenden Zug, noch bevor die Ansage ihn ankündigte. Der Druck auf Raisas Herz ließ ein wenig nach. Als sie endlich im Zug saßen und sie einen letzten Blick auf ihre Heimatstadt warf, rollten erneut Tränen über ihre Wangen. Ihr Haus. Ihre Erinnerungen. Alle waren sie Opfer eines von der Partei gelegten Brandes geworden. Aber andererseits... Vielleicht war es sogar besser so. Auf diese Weise ließ sie wenigstens nichts zurück. Ihre Vergangenheit war sozusagen aufgeräumt, abgeschlossen. Es gab für sie keine Versuchung mehr, wieder zurückzugehen. Dennoch waren ihre Gedankengänge denen Aileens nicht unähnlich: Die Zeit der Rache gegen die Partei würde kommen. Allerdings dachte Raisa bei dem Wort "Rache" in anderen Kategorien als das Mädchen. Sie war lediglich fest entschlossen, dem Treiben dieser Leute ein Ende zu setzen. Es dauerte ein wenig länger, bis auch sie in den ersehnten Schlaf hinüber glitt, welcher erfreulicherweise frei von Träumen war.
Unterwegs
Ein sanftes Rütteln weckte Aileen . Sie blickte verschlafen in Raisas warme und freundliche Augen, die im Licht der Sonne blau strahlten, obwohl sie ansonsten nur blass schimmerten. Einen Augenblick überkam sie ein starkes Angstgefühl. Orientierungslos wie sie war, missfiel ihr die Gewissheit, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wo sie sich gerade befanden. Verwirrt sah sie zum Fenster.
"Du musst aufwachen, Aileen. Bald kommen wir in St. Louis an. Erinnerst du dich? Dort müssen wir umsteigen." Raisa lächelte das Mädchen aufmunternd an, das nun weitaus erfrischter und gesünder aussah als am Vortag. Was eine heiße Dusche, etwas Vernünftiges zu Essen und eine Mütze voll Schlaf doch ausmachen konnten! Zugegeben, sie hatte weitaus länger als nur ein paar Stunden geschlafen. Aber da sie sich sicher war, dass Aileen den Schlaf dringend nötig gehabt hatte, hatten sie und Cody sie ruhig weiter schlafen lassen und sich blendend unterhalten.
Von ihm hatte sie eine Menge über seine Vergangenheit erfahren, die verglichen mit ihrer einer Achterbahnfahrt gleichkam. Er hatte sich nie auf irgendetwas in seinem Leben verlassen können, mal abgesehen von der Tatsache, dass seine Mutter niemals da sein würde, wenn er sie brauchte. Es gab nicht viel, was ihn noch sonderlich aus der Fassung bringen konnte. Selbst seine plötzliche Blindheit hatte er nach kurzer Zeit hingenommen und als unausweichlich akzeptiert. Einerseits war ihr klar, dass es sich dabei um keine sehr lobenswerte Eigenschaft handelte, andererseits hatte es auch seine Vorteile. Cody war ein Junge, der grundsätzlich weit davon entfernt war, in einem Sumpf aus Selbstmitleid zu versinken. Er war seiner Ansicht nach gegen jeden noch so schweren Schicksalsschlag abgehärtet... bis jetzt zumindest.
St. Louis, Missouri, USA
Der Zug fuhr in den Bahnhof ein, um sich einiger Fahrgäste zu entledigen und wieder andere aufzunehmen. Ein Knotenpunkt des Lebens voller Menschen, die sich auf dem Weg zu ihren unterschiedlichen Zielen für einen kurzen Zeitraum zusammenfinden würden, ohne wirklich zusammen zu reisen. Am Gleis erwartete die drei Reisenden niemand. Keiner schien sie zu verfolgen. Keine grauen Anzüge weit und breit. Aileen sah sich nach allen Seiten aufmerksam um, konnte aber nichts Auffälliges entdecken.
"Ich glaube, wir werden nicht verfolgt! Kommt! Wir haben nur wenig Zeit, bis der nächste Zug abfährt." Raisa achtete kaum noch auf die vorbei eilenden Menschen, weil sie den Zug auf keinen Fall verpassen wollte. Ansonsten wären sie gezwungen, ganze anderthalb Stunden am Bahnhof zu warten und das konnte unter Umständen gefährlich werden. Aileen schenkte im Gegensatz zu ihren Reisegefährten den anderen Menschen, die ihren Weg kreuzten, gesteigerte Aufmerksamkeit. Sollte sie jemand Verdächtigen erblicken, musste sie schnell reagieren. Vielleicht folgte ihnen wirklich niemand. Es war auch viel wahrscheinlicher, dass sie jemand beobachtete, um im richtigen Moment einzugreifen. Ihr Blick blieb an einer Gruppe von Männern hängen, die immer wieder zu den drei Reisenden herüber schaute. Sie trugen zwar keine grauen Anzüge, waren allerdings nicht gerade Meister darin, ihr recht eindeutiges Interesse zu verbergen.
Als Raisa kurz inne hielt, um sich zu orientieren, zupfte Aileen diese am Ärmel und nickte unauffällig zu den vier verdächtigen Gestalten hinüber, die sich gerade in Bewegung setzten, vermutlich, um ihnen den Weg zu ihrem Bahnsteig abzuschneiden. Raisa verstand sofort und überlegte nicht lange.
"Hört zu, ihr beiden. Ihr werdet allein weiterfahren. Ich werde sie ablenken, damit ihr ohne Schwierigkeiten den Zug erreichen könnt. Seid vorsichtig! Und ich bin mir sicher, dass wir uns wieder sehen. Los jetzt!" Die Frau blickte sich kurz um und entdeckte zwei Männer, von denen einer eine Polizeiuniform trug. Zielstrebig ging sie auf die beiden zu. Die Handlanger der Partei näherten sich immer noch zielstrebig Cody und Aileen, die ihrerseits schnellen Schrittes in Richtung Gleis eilten.
"Officer! Dieser Mann dort hat im Zug versucht, mir meine Handtasche zu stehlen! Er hat wohl gedacht, er könnte sich mit seinen Komplizen einfach so davon machen!" Beide Männer folgten ihr sofort, denn wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem zweiten Mann um einen Polizisten in Zivil. Gerade als die Männer ihr Tempo dem des Mädchens und des Jungen anpassen wollten, stellten sich ihnen Raisa und die Polizisten in den Weg. Sie reagierten verblüfft und ein wenig verärgert zugleich auf die Anschuldigungen der Frau, da diese soeben ihr Vorhaben, die beiden Jugendlichen abzufangen erfolgreich verhindert hatte.
In der Zwischenzeit waren Aileen und Cody zu dem Bahnsteig gelaufen, an dem ihr Zug abfuhr, hatten diesen gerade noch erwischt und saßen jetzt verhältnismäßig sicher in dessen Inneren. Sie waren betrübt darüber, ihre Reise von nun an ohne ihre neu gewonnene Freundin fortsetzen zu müssen. Aileen verspürte das Bedürfnis, Cody zu fragen, ob sie Raisa wohl jemals wiedersehen würden. Was hatten sie eigentlich für ein Recht dazu, einfach das Leben irgendeines anderen unschuldigen Menschen auf den Kopf zu stellen? Wie es aussah, hatten sie in der Tat das Recht dazu und die Partei hatte es ihnen gegeben, soviel stand für das Mädchen fest.
Das gleichmäßige Rattern des Zuges vermochte keineswegs ihre aufgeriebenen Nerven zu beruhigen.
"Meinst du, wir sind jetzt sicher? Vielleicht sind trotzdem einige von denen im Zug!" sagte er mit unheilverkündender Miene. Er hatte Recht. Das Risiko war durchaus gegeben. Sie sah sich im Waggon um. Er ließ sich weder abschließen, noch bot er große Möglichkeiten zum Verstecken. Plötzlich kam ihr eine Idee: Der Schlafwagen. Sie zog Cody hoch und schulterte ihren Rucksack, um das Abteil zu verlassen.
"Was..." Sie legte ihm ihren Zeigefinger auf die Lippen und setzte ihren Weg fort, ihn hinter sich herziehend. Auf ihrer Suche nach dem Schlafwagen fiel ihr nichts Außergewöhnliches auf. Der nächste Halt wurde angekündigt und somit das Risiko auf unliebsame Gesellschaft größer. Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte. Der nächste Waggon musste der Schlafwagen sein, sonst waren sie verloren. Seufzend blieb sie stehen, so dass Cody gegen sie stieß. Vor ihr lag ein Postwagen. Es war der letzte Waggon des Zugs. Ihnen blieb keine andere Wahl, sie würden sich hier verstecken müssen, bis sie sicher sein konnten, dass niemand von der Partei in diesem Zug nach ihnen suchte. Der Zug kam zum Stehen. Aileen wartete, bis er vollständig angehalten hatte und ging dann in den Waggon. Hier würden sie vermutlich zuletzt suchen, oder zuerst, oder überhaupt nicht, womöglich waren gar keine Männer oder Frauen in Grau zugestiegen. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und verließ mit zunehmender Geschwindigkeit den Bahnhof von East-St. Louis. Die Suche nach ihnen, wenn es denn eine gab, hatte in diesem Moment begonnen.
Vor ihr lagen Säcke mit Briefen und Container mit Paketen. Unter anderem fand sie auch mehrere sperrige Kisten, auf denen "Circus Zamboloni" zu lesen stand. Vorsichtig versuchte sie, eine der Kisten zu öffnen, was ihr zu ihrer Überraschung ziemlich leicht gelang. Es handelte sich offensichtlich um die Trickkiste eines Zauberers. Sie besaß einen geräumigen Hohlraum. Wenn man sie beim ersten Mal öffnete, sah man allerlei Tücher und andere Zauberaccessoires. Darunter ließen sich allerdings sogar Menschen, zumindest einer, vor den Augen der Zuschauer verbergen. Ohne zu zögern schob sie Cody auf die Kiste zu und schubste ihn praktisch hinein. Auf seinen entgeisterten Gesichtsausdruck hin, gab sie ihm einen Zauberstab in die Hand und wartete.
"Du meinst, ich soll mich hier drin verstecken? In einer Zauberkiste? Gut. Und was ist mit dir?" Sie klopfte ihm auf die Schulter. "Um dich soll ich mich nicht kümmern?" Ein Schnippen. "Du spinnst wohl!" Ungeduldig drückte sie ihn zurück in die Kiste.
"O.K. O.K. Ist ja schon gut! Ich bleibe hier drin, bis du mich herausholst. Keine Sorge, ich werde mich nicht bemerkbar machen, egal, ob du es bist und erst recht nicht, wenn du es nicht bist." Eilig huschte sie zurück zur Tür und schaute in den Gang. Bisher näherte sich niemand dem Postwagen. Ihnen war ein kurzes Aufatmen vergönnt.
"Was meinst du, Aileen. Sind überhaupt Parteimitglieder in diesem Zug?" Sie bejahte grimmig, auch wenn er diesen Unterton vermutlich nicht wahrnehmen konnte.
"Wir sollten besser auf alles gefasst sein. Drück mich einfach in die Kiste, wenn du etwas Verdächtiges hörst oder siehst." Wieder schnippte sie mit den Fingern und ließ sich neben der Kiste nieder. Hätten sie Raisa doch bloß nicht in St. Louis zurücklassen müssen. Ihre Augen auf die Tür gerichtet entschied sie, dass sie nicht lange ruhig sitzen bleiben konnte, und stand auf. Der Weg zur Tür war nicht weit. Immer noch konnte sie auf dem Gang niemanden sehen. Die Tür eines Abteils wurde aufgeschoben und ein kleiner Junge, der seine Mutter hinter sich her schleifte, kam heraus. Vermutlich suchte er die Waschräume. Hier war ein guter Ort, um zu warten. Zeitweise wünschte sie sich sogar, dass die Leute in den grauen Anzügen endlich kämen, damit sie sich wieder entspannen konnte. Diese ließen sich jedoch Zeit und erreichten den Postwagen erst nach mehr als anderthalb Stunden. Offenbar hatten sie den Rest des Zuges einer sehr gründlichen Untersuchung unterzogen. Aileen hüpfte ungeschickt dank ihrer steif gewordenen Glieder zu der Kiste, in der Cody hockte und signalisierte ihm, dass es soweit war. Die Partei stand praktisch vor der Tür.
"Dann bis irgendwann. Hoffentlich!" Sie berührte noch einmal seine Wange, bevor sie beide Deckel der Kiste endgültig schloss. Mit besorgtem Blick musterte sie die Kiste. Was, wenn er da drin ersticken würde? Sie verbannte diesen Gedanken aus ihrem Verstand und klopfte in altem Aberglauben dreimal auf eine weitere hölzerne Kiste.
Nun blieb nur noch ein Problem: Wo sollte sie sich verstecken? Sie vergeudete weitere Minuten an diese Frage, als Stimmen und Schritte das Rattern des Zuges übertönten. Wieso hatte sie sich nicht früher darüber Gedanken gemacht? Gehetzt sah sie sich wieder um. Ihr Puls erhöhte sein Tempo unerbittlich. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Ihr Gehirn, das mittlerweile auf Hochtouren lief, sah nur eine Möglichkeit: Sie musste den Zug verlassen. Eiligst bahnte sie sich ihren Weg durch die Säcke und Container bis zur hinteren Tür. Sie war verriegelt, was Aileens Drüsen dazu veranlasste, noch mehr Angstschweiß zu produzieren. Verzweifelt rüttelte sie an der Tür. Die Schritte kamen immer näher.
Plötzlich gab die schwere Tür ein wenig nach, was neue Kräfte in ihr mobilisierte. Endlich ließ sie sich so weit öffnen, dass sie sich durch den entstandenen Spalt nach draußen schieben konnte. Der Fahrtwind packte sie erbarmungslos, noch ehe sie die Tür wieder geschlossen hatte. Fast im selben Moment gesellte sich die Angst dazu und krallte sich in ihrem Nacken fest. Zum ersten Mal war sie fast dankbar für ihre Stummheit, da sie ansonsten laut geschrien hätte. Unter Aufwendung großer Kraft gelang es ihr, sich zu ducken. Der Lärm war unbeschreiblich, so dass sie nicht in der Lage war, die Männer im Innern des Wagens zu hören. Sie betete inständig, dass sie Cody nicht fanden.
Die Zeit verstrich, zumindest nach den Gesetzen der Logik, während sie im Fahrtwind ausharrte und ihr Kopf leer und überfüllt zugleich war. Woher sollte sie wissen, wann die Leute von der Partei den Postwagen wieder verlassen hatten? Ihr Zeitgefühl war vom Fahrtwind fort geweht worden. Sie beschloss, noch etwas länger zu warten.
Ihre Arme wurden allmählich müde vom Festhalten. Ein stetiger Schmerz zog sich durch ihre Sehnen. Als sie es nicht mehr aushielt und ihre Beine ebenfalls nachzugeben drohten, richtete sie sich steif wieder auf und lugte durch das Fenster – direkt in das Gesicht eines Mannes. Ihr Herz setze aus, doch ihr Instinkt zwang sie zum Handeln. Obwohl es sie mehr als große Überwindung kostete, kletterte sie unter die kleine Stahlplattform, auf der sie bis eben gestanden beziehungsweise gekauert hatte.
Heiße Tränen der Angst ließen sie für den qualvollen Bruchteil einer Sekunde erblinden und Todesängste ausstehen. Sie versuchte die Tränen weg zu blinzeln und erkannte, dass ihr Rücken dem Boden gefährlich nahe kam. Über sich auf der Plattform erkannte sie Schuhsohlen. Der Mann hatte sie also gesehen. Ihre Kraftreserven erschöpften sich immer mehr, während sie unter dem fahrenden Zug zwischen Leben und Tod hing. Erschrocken spürte sie, wie ihr linker Arm taub wurde und sie jede Macht über ihn zu verlieren drohte. Hinter ihrer Stirn sah sie sich in einer Blutlache auf den Schienen liegen. Sie bereute es in diesem Augenblick zum ersten Mal, so viele Thriller gesehen zu haben. Mit geschlossenen Augen klammerte sie sich verzweifelt an die Metallleisten und -stangen unterhalb der Plattform.
Als sie die Augen wieder aufschlug, waren diese feucht und klebrig von Tränen. Ihren linken Arm spürte sie nicht mehr, aber er hielt sich immer noch fest. Das verschaffte ihr ein wenig Hoffnung. Trotz ihrer schmerzenden Glieder gelang es ihr, den Kopf so zu verdrehen, dass ihr ein weiterer Blick auf die Plattform möglich war. Keine Schuhsohlen mehr. Sie war leer. Erleichterung durchflutete sie und linderte für den Bruchteil einer Sekunde ihre Schmerzen.
Mit einem Mal bemerkte sie, dass der Zug seine Geschwindigkeit ständig verringerte. Das war ihre Chance! Wenn der Zug zum Stillstand kam, würde sie sich auf die Schienen herablassen und dann wieder auf die Plattform klettern. Dennoch schien es Stunden zu dauern, bis der Zug endlich zum Stillstand kam. Der Ruck beim Bremsen ließ sie ihren Halt verlieren und auf den Rücken fallen. Ein scharfer Schmerz fuhr einem Blitz gleich durch ihre Wirbelsäule und versiegte glücklicherweise auf der Stelle wieder. Stöhnend krabbelte sie unter dem Waggon hervor und hoffte, dass sie niemand dabei beobachtete.
Ein erneuter Ruck ging durch den Zug, als er sich wieder in Bewegung setzte. Schnell nahm sie Anlauf und sprang auf die Plattform, was ihr allerdings nicht ganz gelang. Ich bin zu schwach! schoss es ihr durch den Kopf. Von Panik erfasst zog sie mit letzter Kraft den Rest ihres geschundenen Körpers auf die Plattform.
Der Zug erreichte wieder seine Reisegeschwindigkeit, als Aileen die Tür hinter sich schloss und keuchend im Postwagen stand. Der Bahnsteig war zu ihrem Glück nicht besonders lang, so dass sie sich bereits im Inneren des Wagens befand, als der Waggon diesen passierte. Der Erschöpfung nahe hing sie am Fenster und starrte hinaus. Die kleine Gruppe grauer Gestalten auf dem Bahnsteig veranlasste sie dazu, die Augen zu schließen und auf den Boden zu rutschen, wo sie eine ganze Weile liegen blieb. Geschafft! Vorerst.
Sie sah an sich herab. Ihr T-Shirt und die Jeans standen vor Dreck und waren an einigen Stellen gerissen. Ihre Arme waren zudem mit einer unüberschaubaren Anzahl von Schürfwunden übersät. Die Prellungen und blauen Flecke würden sich mit der Zeit bemerkbar machen. Im Geiste stellte sie sich ihr Gesicht vor und musste lachen, was für einen unwissenden Beobachter wahrscheinlich lächerlich gewirkt hätte. Plötzlich erstickte ihr das stumme Lachen in der Kehle. Cody! Sie hatte ihn völlig vergessen! Schnell schob sie sich an den Containern vorbei zu der Zauberkiste und öffnete sie. Er lag dort in der gleichen Position, in der sie ihn zurückgelassen hatte und gab keinen Laut von sich. Erleichtert berührte sie seine Schulter und nahm seine Hand.
"Aileen? Wurde aber auch Zeit! Ich ersticke hier drin! Stell dir vor, die Typen haben tatsächlich die Kiste aufgemacht und sind prompt auf den alten Trick reingefallen. Einen Moment lang dachte ich, sie hätten dich erwischt, als einer von ihnen irgendwas davon faselte, er habe außerhalb des Waggons ein Gesicht am Fenster gesehen. Er hat nachgeschaut und letztendlich zugegeben, dass er sich das wohl eingebildet haben musste. Hast du dich wirklich draußen versteckt?" Sie half ihm aus der Kiste und führte ihn zur Tür. "Ich fass es nicht! Deine Haut ist ganz kalt! Wenn wir die nächste vertrauenswürdige Person treffen, musst du das unbedingt aufschreiben, einverstanden? Darüber will ich mehr wissen!" Ein Schnippen. Ihr Magen knurrte grimmig. Cody schlug vor, wieder ein Abteil aufzusuchen, bevor noch ein Schaffner hereinkam und auf die dumme Idee kam, sie könnten blinde Passagiere sein.
"Was natürlich in bezug auf mich zutreffen würde", fügte er grinsend hinzu, während sie durch den Zug zurück gingen. Die Fahrgäste warfen ihr skeptische Blicke wegen ihres schmutzigen Äußeren zu, doch ihr war das einerlei. Nachdem ihre müden Knochen endlich wieder saßen, verschlang sie gleich drei Sandwiches auf einmal. Diese ließen sie automatisch an Raisa denken. Was wohl aus ihr geworden war? Schließlich bat sie eine Frau schriftlich, sie möge doch ihrem blinden Reisebegleiter freundlicherweise mitteilen, dass sie die Waschräume aufzusuchen gedachte.
"Mach dir keine Sorgen! Ich rühr mich nicht vom Fleck!" kommentierte er lachend. Mit ihrem Rucksack in der Hand betrat sie den engen Waschraum. Nachdem sie sich erleichtert hatte, streifte sie das schmutzige T-Shirt ab und stopfte es in den Rucksack. Mit der schmutzigen Hose würde sie wohl noch eine Weile leben müssen. Das Wasser war lauwarm und somit zum Kühlen der Prellungen, welche sie sich während ihres kleinen "Ausflugs" zugezogen hatte, ungeeignet. Allerdings trug es sehr zu ihrem übrigen physischen Wohlbefinden bei. Sie fühlte sich sauberer.
Ein Mann hämmerte von außen gegen die Tür und verlangte, dass sie sich gefälligst beeilen sollte, da der Waschraum ja schließlich nicht ihr allein gehören würde. Er schaute ziemlich verwundert drein, als sie ihm lächelnd einen Zettel unter die Nase hielt, auf welchem stand: Entschuldigen Sie vielmals, aber mir ist vorhin im Speisewagen ein kleines Missgeschick passiert! Dabei zeigte sie ihm ihr schmutziges T-Shirt, welches sie zusammengeknüllt in der Hand hielt. Es war am Ärmel aufgerissen und lohnte daher nicht gewaschen zu werden. Er sagte, das sei schon in Ordnung und ließ sie passieren. Gute Laune überkam sie so unvermittelt wie ein warmer Sommerregen. Der Drang, vor Freude zu pfeifen, war sehr stark, wurde aber von der Last ihrer Erinnerungen vereitelt. Also kehrte sie in das Abteil zurück, in dem Cody entspannt saß und wie immer ins Nirgendwo starrte.
Sie ließen Stadt für Stadt hinter sich und bald waren sie nur noch eine Station von Philadelphia entfernt. In Harrisburg hatte der Zug einen 20minütigen Aufenthalt, der Aileen den letzten Nerv raubte. Von Bahnhof zu Bahnhof war ihre Furcht vor einer erneuten Überprüfung des Zugs durch die Partei gewachsen. An ihrer Unterlippe nagend beobachtete sie die Menschen auf dem Bahnsteig aufmerksam. Cody hingegen wirkte sehr gelassen, was sie nicht verstand.
Der Aufenthalt verlief ohne Vorkommnisse. Sie näherten sich ihrem endgültigen Ziel. Was genau würden sie dort tun? Hoffentlich wusste Cody eine Antwort auf diese Frage. Und ... was kam danach? War diese Stadt wirklich ihr endgültiges Ziel?
V
Philadelphia, Pennsylvania, USA
Da standen sie nun Hand in Hand außerhalb des Bahnhofs von Philadelphia, endlich am Ziel. Ein wenig verloren, aber eindeutig am Ziel. Cody zog die Stirn in Falten.
"Also Aileen! Jetzt müssen wir nur noch diesen Trevor finden. Wenn wir dann immer noch nicht schlauer sind, bin ich mit meiner Weisheit am Ende. Dann lass uns mal damit anfangen, die Krankenhäuser abzuklappern!" Im ersten Krankenhaus hatten sie kein Glück, aber die Schwester am Empfang konnte ihnen Auskunft über den Aufenthaltsort von Trevor Burley - nicht Burlington, wie Cody die ganze Zeit über vermutet hatte - geben. Folglich machten sich die beiden Jugendlichen auf den Weg zum Friends Hospital, obwohl keiner von ihnen auch nur die leiseste Ahnung hatte, wo sich dieses befand. Zunächst suchten Aileens aufmerksame Blicke nach einem Stadtplan. Mit der Zeit fühlte sie sich sicher zwischen all den Menschen, die ihr ein Gefühl von Anonymität verliehen. Sie führte Cody durch eine Stadt, in der sie selbst eine Fremde war und häufig Fußgänger nach dem Weg fragen musste, da sie bisher noch keinen Stadtplan gefunden hatten.
Eine Frau in einem geblümten Kleid riet ihnen auf eine äußerst unfreundliche Weise, doch der Einfachheit halber ein Taxi zu nehmen. Trotz ihres Auftretens befolgte Aileen den Rat nur zu gerne. Sie wollte so schnell wie möglich Trevor finden, bevor es zu spät war. Aber zu spät für was genau? Das wusste sie nicht. Jedenfalls würde es für irgendetwas Wichtiges zu spät sein, wenn sie sich nicht beeilten.
Cody sagte kaum etwas, lauschte nur auf die Geräusche der Großstadt, durch die sie irrten. Er vertraute auf Aileen und dass sie den richtigen Weg finden würde, wobei er sich wie schon zuvor nutzlos und hilflos vorkam. Seine Lebenseinstellung, welche von seiner Mutter wohl genährt worden war, hielt ihn von größerem Selbstmitleid fern. Egal, was passieren würde, Cody Finleys Schicksal war es, immer weiter über die Erde zu wandeln, bis der Tod ihn einholte. Bis dahin würde er das Beste aus seinem Leben machen und es nehmen, wie es war. Für manche mochte dies eine eigenartige Einstellung sein, doch bot sie Vorteile, wie es auch schon Raisa aufgefallen war. Immerhin hatten die Geschehnisse der letzten Zeit etwas sehr Positives mit sich geführt: er war in den Genuss gekommen, Aileen kennenzulernen. Auch wenn er sie nicht sehen konnte, wusste er instinktiv, dass sie ... nun... etwas ganz Besonderes war.
Eben diese riss ihn aus seinen Gedanken, als sie ihn sanft in ein Auto schob und seinen Kopf nach unten drückte, wie sie es bei Verhaftungen im Fernsehen gesehen hatte. Den Geräuschen nach zu urteilen, handelte es sich bei dem Wagen um ein Taxi. Hatten sie überhaupt noch genügend Geld dafür? Das Innere des Wagens roch nach Leder, Schweiß und schlechtem Rasierwasser.
Während der Fahrt erzählte ihnen der Taxifahrer lauter uninteressante Dinge und viel schlimmer: Er stellte dumme Fragen, wo sie denn herkämen, wen sie denn im Krankenhaus besuchen wollten oder ob einer von ihnen Beschwerden hätte. Am liebsten hätte er gesagt: Das geht dich einen feuchten Dreck an! Er ließ es bleiben, da er ihre Situation nicht durch so etwas Lächerliches verschlimmern wollte.
Brummend nahm der schlecht rasierte Mann das Geld entgegen, nachdem sie das Krankenhaus erreicht hatten. Aileen winkte lächelnd und betrat dann mit Cody an der Hand das große Gebäude. Sterile Gerüche, die typisch für jedes Krankenhaus waren, schlugen ihnen entgegen, doch ihn trafen sie stärker.
Sie kamen zum Stehen und Aileen stieß ihn kurz an.
"Ahem, wir suchen das Zimmer von Trevor Burley." Er konnte nicht sehen, wie die Schwester am Empfang ihn skeptisch ansah.
"Sind Sie Verwandte von Mr. Burley?" Er war ein wenig unsicher, da er die Frau nicht sehen konnte, aber vielleicht konnte er das zu ihrem Vorteil ausnutzen.
"Ich schon, ich bin Trevors Cousin aus Colorado. Meine Freundin Maggie begleitet mich nur, weil ich blind bin und Hilfe brauche. Als ich von dem Vorfall gehört habe, bin ich gleich hergekommen. Trevor hat nicht mehr so viele Verwandte, die ihm nahestehen, wissen Sie." Er schaffte es, sein Lächeln echt wirken zu lassen.
"Gut. Tragen Sie sich bitte hier ein. Die Zimmer Nummer ist E 130." Aileen griff nach dem Stift und schrieb so unleserlich wie möglich Maggie Rubinstein auf die Liste der Besucher, die nicht gerade sehr lang war. Cody hatte intuitiv recht gehabt zu haben: Viele Freunde und Verwandte schien Trevor nicht zu haben. Sie bedankte sich stumm vor sich hin lächelnd und ging mit Cody an der Hand in Richtung Aufzug. Ihr Rücken brannte unter den neugierigen Blicken der Schwester, jedoch ließ sie sich nichts anmerken und drehte sie sich nicht um.
Im Aufzug befanden sich noch andere Menschen: Patienten, Besucher und ein Pfleger. Ein alter Mann mit auffällig schönen silbergrauen Haaren, dessen breites Gesicht eingefallen wirkte. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er früher einmal blendend ausgesehen hatte. Eine Frau auf Krücken verließ den Fahrstuhl. Auf einem Bein hinkte sie und ihr rechtes Auge war geschwollen. Das andere wirkte feucht und deutete auf die scheinbar ständige Trauer der noch verhältnismäßig jungen Frau hin. Aileen schätzte sie auf 20 bis 25 Jahre. Beim Verlassen des Fahrstuhls lächelte sie Aileen unsicher zu. Wer sie wohl so zugerichtet hatte? Ihr erster Verdacht fiel auf den Ehemann oder Freund. Von solchen Dingen hörte man häufig in den Nachrichten oder sah es im Fernsehen. Schließlich verweilte sie bei dieser Theorie. Letztendlich hatten sich das Leben dieser Frau und ihres nur kurz berührt und würden nun wieder eigene Wege gehen.
Als sie im richtigen Stockwerk ankamen, empfingen sie weiße und kahle Flure, die trotz vereinzelter Bilder ungastlich und steril aussahen. Bald schon standen sie vor einer weißen Tür auf der ein rotes Schild prangte: E 130. Hier also lag Trevor Burley, das Ziel ihrer Reise nach Philadelphia. Sie klopfte leise und öffnete vorsichtig die Tür, die mit einem leisen Quietschen, das die Ruhe des Gebäudes dennoch nicht zu stören vermochte, aufschwang. Das Zimmer war ebenso weiß und hell gestrichen wie der Flur. Im großen weißen Bett auf der Fensterseite des Raumes, umgeben von allerlei Gerätschaften, die die Lebensfunktionen des jungen Mannes überwachten, lag eine blasse Gestalt, deren Kopf ein brauner, kurzer Haarschopf umhüllte. Die grünen Augen, deren Farbe sehr intensiv war, starrten an die Decke. Keine Bewegung war zu beobachten. Seine Gesichtszüge waren schlaff, aber dennoch ausdrucksstark, unterstützt von kräftigen Wangenknochen.
"Hallo Trevor! Wenn du mich hören kannst, hör zu. Ich schätze, du weißt, wovon ich rede. Mein Name ist Cody Finley. Neben mir steht Aileen Dow. Es ist schon eine komische Sache, die uns da passiert ist. Wir sind wohl ein Team; leider sind wir beide genauso gehandikapt wie du. Aileen kann seit dem Auftauchen der Partei nicht mehr sprechen und ich bin seitdem blind. Jetzt bleibt abzuwarten, was zu tun ist." Aileen seufzte. Sie hatte darauf gehofft, dass sich alle Rätsel von selbst lösen würden, wenn sie Trevor erst einmal gefunden hatten. Verzweifelt nagte sie an ihrer Unterlippe und sah auf den reglosen Mann hinab. Durch ein Fenster schien Sonnenlicht. Sie dachte angestrengt nach. Mit einem Mal war ihr bewusst geworden, was es war. Sie verließen sich immer auf andere, vertrauten auf deren Hilfe. Das musste aufhören, ansonsten waren sie dem Untergang geweiht. Diese Partei würde sie alle, die gesamte Menschheit, in ein großes Unglück stürzen, soviel wusste sie mit Bestimmtheit.
Als sie zum Sprechen ansetzte, um es Cody und auch Trevor mitzuteilen, verstand sie endlich, warum sie alle drei verschiedener Eigenschaften beraubt worden waren. Der eine wusste etwas, was der andere nicht wusste, wobei es sich dabei nicht um bewusstes Wissen handelte. Nur konnte keine optimale Kommunikation zustande kommen. Nun war der Zeitpunkt gekommen, aus eigener Kraft die Probleme zu behandeln und den Griff zu bekommen. Jetzt galt es nur noch, diesen Einfall den anderen zu erklären. Aber wie sollte sie das bewerkstelligen? Aufgeben erschien ihr nicht als gute Option. Sie musste abwarten, Ruhe bewahren und den Dingen gelassen ins Auge sehen.
Dennoch schrak sie zusammen, als die Tür sich öffnete und eine Gruppe von fünf Männern in grauen Anzügen hereinstürzte. Sie fielen über den Raum her wie Ameisen über ein am Boden festklebendes Bonbon. Cody bemerkte, dass ihre Situation sich enorm verschlechtert hatte, obwohl er die Aufmachung der Fremden nicht sehen konnte.
"Die Partei!" stieß er ein wenig ungläubig hervor. Ein Mann mit schwarz glänzenden Haaren lachte trocken. Steine, die in einen schmalen Brunnenschacht purzelten und von ihm verschluckt wurden. Aileen bekam eine Gänsehaut.
"Ja, mein Junge. Die PARTEI. Letztendlich haben wir euch doch noch gekriegt." Die Stimme des Mannes klang noch schauriger als das Lachen. Seine stahlgrauen Augen, die kein Erbarmen versprachen, fixierten Aileen.
"Nun, was wollt ihr unternehmen? Warum seid ihr hier?" Cody trat einen Schritt vor, der ziemlich sicher für einen Blinden war.
"Um ehrlich zu sein, habe ich nicht die geringste Ahnung, warum ich hier bin. Ein innerer Drang und das Gefühl, dass die Partei ein böses Spiel mit uns treibt, haben mich dazu gebracht. Ich schätze, dass es Aileen genauso ging." Während Codys Erklärung hatte der Mann sie nicht aus den Augen gelassen.
"Stimmt das?" Sie nickte hilflos. Ein Schwächegefühl überkam sie. "Meine Herren, liebe Kollegen, unser Plan zu Vereitlung der Rebellion hat hervorragend funktioniert. Bringen wir sie jetzt nach oben. Nach ein paar gründlichen Tests und Untersuchungen können wir weiter entscheiden, ob wir sie zurückschicken. Kommen Sie, wir befinden uns in Eile." Sie wusste nicht, was jetzt mit ihnen geschehen würde. Angst drückte auf ihren Brustkorb und machte ihr das Atmen schwer. Nach Codys Hand greifend wich sie einen Schritt zurück und stieß gegen Trevors Bett.
Ein anderer Mann ließ sich von einem dritten mit Brille eine Kapsel reichen, die einer Tablette nicht unähnlich war, nur dass sie viel zu groß war, um sie zu schlucken. Er richtete sie auf das Mädchen. Ein süßlich riechendes Gas strömte aus. Kurz darauf sank sie bewusstlos zu Boden.
Cody bemerkte, dass sie fiel, als sie seine Hand losließ. Er versuchte sie noch aufzufangen, doch in seinem Kopf begann sich ein irrsinnig buntes Karussell zu drehen. Die Farben blendeten ihn zunächst, zogen immer schneller vorbei, bis sie zu einem verwischenden Weiß verschmolzen. Seine Eindrücke schwanden, ebenso wie seine restlichen Sinne. Er drehte sich mit dem Karussell und versank wie Wasser im Abfluss einer Dusche.
Er kletterte aus einem schwarzen Loch, das unendlich tief war, wieder an die mentale Oberfläche des Seins. Seine Zunge fühlte sich eigenartig an. Etwas nicht Definierbares lastete auf seinem Kopf. Völlig orientierungslos tastete er mit kribbelnden Fingern seine Umgebung ab. Das Resultat verwirrte ihn noch mehr als seine gegenwärtige Lage. Glatter Boden. Links von ihm eine Wand. Er öffnete die Augen, obwohl seine Lider unsagbar schwer waren. Dunkelheit, wie er erwartet hatte, doch irgendetwas war anders als sonst. Die Dunkelheit, die er nun sah, besaß Formen und Schatten. Er kniff die Augen zusammen und bedeckte sie mit seiner Hand. Als er sie wieder fort nahm, stellte er etwas Unglaubliches fest: seine Hand war sichtbar für ihn. Er konnte wieder sehen! Sein Puls beschleunigte sich und sein Atem kam stoßweise. Die Zeit der Blindheit war vorbei. Eine unbändige Freude darüber erfasste ihn und brachte ihn zum Lachen.
Allmählich gewöhnten sich seine Augen und sein Gehirn wieder daran, Dinge wahrzunehmen. Die Dunkelheit wurde durchschaubarer. Neugierig sah er sich um. Ein dunkler Raum bestehend aus Ecken und Kanten, der weitgehend leer war. Neben ihm lagen zwei weitere Gestalten auf dem Boden, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Sein Gedächtnis schaltete sich ein und erinnerte ihn an alles, was vor seinem Blackout geschehen war. Seine Glieder waren immer noch unbeweglich und steif, dennoch schaffte er es, sich ein paar Zentimeter über den glatten Boden - er vermutete, dass es sich dabei um irgendein Metall handelte - zu ziehen und erreichte das Mädchen, das rechts von ihm lag. Es musste Aileen sein, darin bestand kein Zweifel. Er rüttelte sie sanft, soweit seine Muskeln das schmerzlos zuließen. Alles in allem erinnerte ihn dieser Zustand an einen gewaltigen Kater.
"Aileen! Wach auf. Ich bin‘s, Cody. Ich kann wieder sehen! Hey, Aileen!" Sie bewegte sich und gab ein langgezogenes Seufzen von sich. Schließlich wandte sie sich ihm ächzend zu. Auch ihr Körper schmerzte. Im selben Moment ging das Licht an. Es geschah so unerwartet und plötzlich, dass Cody dachte, er müsste gleich wieder erblinden. Vorsichtig öffnete er seine Augen erneut, die vom grellen Licht geblendet waren. Aber es war die Blindheit, unter der man grundsätzlich litt, wenn man durch unerwarteten Lichteinfluss geblendet worden war. Sie ging schnell vorüber. Er war begierig darauf, wieder zu sehen, seine Umgebung in sich aufzunehmen und alles zu genießen, ob es nun eintönig und trist oder farbig und interessant war. Der Schock ging vorüber und Cody richtete seine Augen zum ersten Mal richtig auf Aileen, die ihn nun schon so lange begleitet hatte. Er hatte sich nie zuvor Gedanken über ihr Aussehen gemacht und jetzt sah er sie vor sich. Als erstes blieb sein Blick an ihren Augen hängen, die ihn fragend anschauten. Ein zartes Grün, das ihn irgendwie an März oder April erinnerte. Ihr Haar war voll und glänzend, reichte ihr bis zu den Schultern und war von kräftig brauner Farbe, durchsetzt von einem kupfrigen Rotton, was ihre helle Haut blasser erschienen ließ, als sie eigentlich war. Ein schwaches Lächeln kräuselte ihre Lippen.
Für einen kurzen Augenblick fehlten ihm die Worte. Er wollte ihre Stimme hören.
"Aileen, ich kann wieder sehen..." Versuch mal, zu sprechen, wollte er sagen, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken. Ein Moment völliger Stille zog vorüber, während sie einander gegenüber auf dem Boden kauerten. Sie räusperte sich geräuschvoll und setze endlich zum Sprechen an. Mit einem Wort durchbrach sie die Schallmauer des Schweigens. Sie strahlte vor Freude.
"Ich kann wieder reden! Oh Cody! Endlich! Aber wieso? Was ist passiert?" Er zuckte die Achseln und lauschte auf den angenehmen Klang ihrer Stimme, bevor er antwortete:
"Das würde mich auch interessieren. Ich hab nicht die geringste Ahnung, wo wir hier sind und was wir hier sollen."
"Weißt du, Cody, im Augenblick ist mir das völlig gleich! Wir haben wieder alle Sinne beisammen." Sie machte eine kurze Pause. "Und alle Tassen im Schrank", fügte sie augenzwinkernd hinzu, woraufhin sie sich lachend in die Arme fielen. So leicht konnte man alles um sich herum vergessen und sich einfach dem Glück des Augenblicks hingeben, ohne an die Zukunft oder die Vergangenheit zu denken. Doch wie immer waren die Arme der Realität stark und ihre Finger kräftig. Eine kratzige Stimme begann hinter Aileen zu sprechen, deren Redeversuche den ihren nicht unähnlich waren. Nach einigem Räuspern und befreiendem Husten wurden die Worte verständlich.
"Hört mal, ihr beiden, ich selbst freue mich auch sehr darüber, dass ich wieder voll funktionsfähig bin. Ich schätze, ich war noch ärmer dran als ihr. Jedenfalls sollten wir uns erstmal Gedanken darüber machen, wo wir sind und was wir als nächstes unternehmen sollten, findet ihr nicht?" Cody und Aileen drehten sich überrascht um.
"Wer ist das?" fragte Cody. Sein Gegenüber musterte ihn eine Weile, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Er hatte Trevor bisher noch nicht zu Gesicht bekommen. Dieser hatte breite Schultern, wirkte sehr kräftig und intelligent. Das braune Haar trug er in einem modernen Kurzhaarschnitt. Die grünen Augen funkelten lebhaft. Ihre Farbe war intensiv und ausdrucksvoll, wie es bereits Aileen im Krankenhaus aufgefallen war. Sie lachte amüsiert.
"Das ist Trevor." Er zog eine Grimasse.
"Woher sollte ich das wissen? Schließlich habe ich ihn noch nie gesehen!" Er bemühte sich, empört zu klingen, was ihm allerdings misslang. So gut hatte er sich seit langem nicht mehr gefühlt.
"Hättest du dir das nicht denken können, Cody?" Trevor hingegen klang wirklich empört. Der Junge grinste spöttisch, sagte aber nichts. Er fragte sich ernsthaft, was er mit diesen beiden Teenagern anfangen sollte. Zugegeben, er war selbst gerade einmal 20 Jahre alt, aber er fühlte sich weitaus erfahrener und reifer: seine Kindheit war alles andere als verspielt gewesen. Für sein Medizinstudium musste er sehr hart arbeiten. Das war auch der Grund für seinen Fleiß, den er sich und anderen täglich neu bewies.
"Also, was glaubt ihr, wo wir sind?" Beide zuckten ratlos die Achseln, wie er es erwartet hatte.
"Und was gedenkt ihr zu tun, um.." Aileen unterbrach ihn abrupt.
"Ich habe nicht die geringste Ahnung, was wir tun sollen, weil ich das alles nicht verstehe", sagte sie mit Nachdruck. "Warum haben wir uns überhaupt auf diese komische Reise begeben? Ich weiß es nicht mehr, nur noch schemenhaft. Ich...ich will nach Hause." Ihr Gesichtsausdruck strafte ihre Aussage für einen kurzen Moment lügen, doch Trevor verstand sie nicht.
"Mir geht es nicht anders. Ich fühle mich auf einmal total hilflos", versuchte es Cody ein zweites Mal, wobei er Trevor eindringlich ansah. Endlich bemerkten sie Zeichen des Verstehens in seiner Miene. Um ein verzweifeltes Seufzen bemüht, atmete Aileen auf.
"Ihr habt recht. Ich möchte auch zu meinem Studium zurück. Aber dazu müssten wir hier herauskommen, wo auch immer hier ist", murmelte er so niedergeschlagen, wie es ihm möglich war.
Außerhalb des Raumes, in dem sich Aileen, Cody und Trevor befanden, betrachteten den Insassen unbekannte Augenpaare die Szene mit einem triumphierenden Lächeln.
"Es ist vollbracht. Wir haben die Rebellion vereitelt. Nun können wir mit der nächsten Phase beginnen, ohne gestört zu werden." Hände wurden geschüttelt.
"Aber Dom, was geschieht nun mit ihnen?" Er deutete auf die drei jungen Leute. "Töten wir sie? Nur der Vorsicht halber?" Sein Gegenüber hob die Brauen.
"Töten? Nein, das verstößt gegen die Regeln. Wir dürfen ihnen kein Haar krümmen und daran werden wir uns halten. Verstanden?" Alle Anwesenden nickten. "Gut. Bringt sie in bewusstlosem Zustand nach St. Louis. Wenn sie alle weit von ihren Heimatstädten entfernt sind, wird schreckliches Heimweh von ihnen Besitz ergreifen, so dass jeder seinen eigenen Weg gehen wird. Sie werden sich trennen. Geht nun! Dies duldet keinen Aufschub!"
"Dom, ein Punkt wäre da noch zu klären." Kühle Blicke glitten über den Fragenden.
"Warum sind zwei von ihnen vor uns weggelaufen?" Ein Lachen.
"Nun, zum Einen war es eine ganz natürliche Reaktion. Als ihnen jeweils einer ihrer Sinne genommen wurde, brachten sie es automatisch mit der Partei in Verbindung. Die Familie des Mädchens ist beseitigt worden. Was sollte sie anderes tun als rennen? Zum Anderen wurden sie beeinflusst. Folglich besteht keine Sorge. Und nun befolgt meine Anweisungen!" Dom zupfte seinen dunkelgrauen Anzug zurecht und wandte seinen Teammitgliedern den Rücken zu.
So trug es sich zu, dass Aileen, Cody und Trevor in St. Louis, Missouri, mitten auf der Straße erwachten und nicht die geringste Ahnung hatten, was mit ihnen geschehen war. Ihre Kleidung war schmutzig und alle klagten über Kopf- und Gliederschmerzen.
"Jetzt versteh ich wirklich nichts mehr! Wo sind wir denn jetzt gelandet und was zum Teufel sollen wir hier?" Cody blickte erwartungsvoll in die Runde. Er fühlte sich voller Energie, seit er seine Sehkraft wiedererlangt hatte. Nun stand er nicht mehr neben dem Geschehen, sondern mitten drin wie früher. Ein Gefühl von Wirklichkeitsnähe ließ das Blut angenehm in seinen Adern rauschen. Unternehmungsdrang erfüllte ihn, wie Champagner, - nicht irgendein Schaumwasser, sondern echter französischer Champagner - der sprudelnd in ein jungfräuliches Sektglas floß und an der Rändern überschwappte.
Aileen schien ähnliche Gefühle zu hegen als sie ihnen mitteilte, was ihr im Krankenhaus klar geworden war.
"Deshalb denke ich, es wäre das Beste, dieser Partei Einhalt zu gebieten, die den Menschen den Frieden vorgaukeln, sie aber hinter ihren Rücken ganz langsam und heimlich jeglicher Freiheit berauben will. Ich glaube fest daran, dass was auch immer uns beide nach Philadelphia getrieben hat, wollte, dass wir die Partei aufhalten!" Diese Worte kamen mit gewaltiger Leidenschaft und Überzeugungskraft direkt aus ihrem Herzen. Cody nickte beeindruckt und bekundete seine Zustimmung, indem er sagte:
"Jetzt, wo wir alle zusammen sind, können wir es schaffen."
"Ihr seid irre! Dieses Chaos ist euch nicht bekommen. Ich bin mitten im Studium! Und wie sollen wir drei etwas gegen die Partei ausrichten? Sie sind uns zahlenmäßig und organisatorisch weit überlegen. Und wer hat überhaupt gesagt, dass sie böse Absichten hätten?" Damit stand Trevor auf und klopfte sich den gröbsten Schmutz von seiner Kleidung. Missbilligend betrachtete er die Müllsäcke, aus denen Abfall quoll wie Gedärme aus einem aufgeschlitzten Körper. Ein Paradies für Viren, Bakterien und Pilze, in dem sie hier lagen. Das Mädchen erhob sich ebenfalls und legte ihm die Hand auf die Schulter, was bei einem Größenunterschied von etwa 25 cm ein wenig seltsam aussah. Neben ihm und seinen fast 1.90 m wirkte selbst sie zerbrechlich, obwohl sie nicht gerade zu den Porzellanpüppchen der Gesellschaft zählte.
"Du weißt, dass es wahr ist. Bitte bleib bei uns. Wir gehören zusammen, und wir haben eine Aufgabe! Auch wenn wir nicht ganz verstehen, warum ausgerechnet wir auserwählt worden sind - und von wem - und woher unser Wissen stammt, sollten wir unsere Augen vor den Tatsachen nicht verschließen, denkst du nicht auch?" Ihr Blick traf den seinen und fixierte ihn für eine Weile.
"Welche Tatsachen denn?" fragte er, obwohl er sich denken konnte, was sie als nächstes sagen würde.
"Cody, du und ich sind für eine ganze Zeit gewisser Fähigkeiten beraubt worden - aus welchem Grund? Weil die Partei irgendetwas von uns befürchtet. Zweitens kann ich mir nicht vorstellen, dass es Frieden gibt und die Menschen gleichzeitig frei bleiben, und damit meine ich wirklich frei, sowohl in den Gedanken als auch körperlich. Die Partei hat uns hierher gebracht, um uns zu verwirren und uns dazu zu bewegen, wieder in unsere Heimatstädte zurückzukehren, zu einem Leben, das wir nicht mehr führen können. Wenn du genau darüber nachdenkst, wirst du feststellen, dass auch dein altes Leben mit Sicherheit nicht mehr so wie vor dem Auftauchen der Partei sein wird." Die Skepsis in seiner Miene war deutlich und nicht zu übersehen.
"Komm schon, Trev! Nun hab dich nicht so!" Beide sahen belustigt auf Cody hinab, der immer noch zwischen den Müllsäcken kauerte. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, umspielte ein Lächeln Trevors breite Lippen, und er willigte ein. Ihre Worte hatten ihn überzeugt.
"Steh endlich auf, Cody! Oder wühlst du gerne im Müll?" Er klammerte sich mit wehmütigem Blick an einen der Beutel und schluchzte.
"Ja und? Ist das etwa ein Verbrechen?" Trotz der verhältnismäßig ernsten Situation mussten sie herzlich lachen. Trevor half ihm auf die Beine. Sie machten sich auf den Weg in die Zukunft, als sie aus der Gasse auf eine belebte Straße hinaustraten. Einige Leute gingen einen Schritt schneller, als sie die dreckigen Gestalten bemerkten, die soeben aus der finsteren Gasse aufgetaucht waren. Andere beäugten sie wie Tiere im Zoo, woraufhin Aileen Cody bat, keine dummen Bemerkungen zu machen. Die Sonne schien. Ein warmer Wind wehte durch die Stadt, die sie noch nicht identifiziert hatten. So höflich wie nur möglich fragte sie einen der Passanten, die in Massen vorbei strömten, wo sie sich befanden und wie spät es war. Ein wenig schlauer kehrte sie zu den Jungs zurück.
"Es ist 14.24 Uhr und wir befinden uns in St. Louis!" Ihr Gesicht war blass. "Könnt ihr mir erklären, wie wir von Philadelphia hierher gekommen sind? Als Cody und ich in Philadelphia ankamen, hatten wir den 27. August und heute ist der 29.!" Trevor atmete tief ein, was die von Abgasen schwangere Luft durch seine Lungen jagte. Es roch, nein, duftete nach Stadt. Leider nicht nach dem Atlantik.
"Ich weiß, dass es uns ein Rätsel ist, wie wir hierher gekommen sind, aber viel wichtiger ist, dass wir frei sind und uns überlegen sollten, was wir als nächstes tun. Kennt ihr vielleicht jemanden hier in St. Louis?" Das Kopfschütteln der beiden war die befürchtete Antwort.
"Aber ich habe eine Idee! Aileen, weißt du noch, als wir uns hier in dieser Stadt von Raisa getrennt haben?" Das wusste sie nur zu gut und tiefes Bedauern erfüllte sie. Schließlich war es noch gar nicht so lange her, dass sie die neu gewonnene Freundin und Verbündete wieder verloren hatten.
"Na ja, möglicherweise ist sie noch hier. Wir müssen sie nur finden Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass sie zurück nach Albuquerque gefahren ist. Wohin auch!" Die Aussicht darauf, Raisa wiederzusehen, erfüllte Aileen mit Hoffnung, dennoch hatte sie Bedenken.
"Nur! Du hast leicht reden. Hast du eine Ahnung, wie viele Hotels und Motels es in dieser Stadt gibt, von den äußeren Bezirken ganz zu schweigen! Aber versuchen sollten wir es trotzdem. Es ist immerhin besser als gar nichts." Sie seufzte.
"Wer ist Raisa, wenn ich fragen darf?" erkundigte sich Trevor. Cody erzählte ihm kurz, wer sie war und wie sie sich kennengelernt hatten.
"Na schön! Allerdings weiß ich nicht, wie wir sie finden sollen. Die Chance ist mehr als gering!" bemerkte er nicht ohne einen pessimistischen Unterton. Cody stemmte die Hände in die Hüften. Das lockige Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Seine dunkelblauen Augen funkelten wild. Trevor vermutete, dass er irgendeinen psychischen Schalter umgelegt hatte, der den Jungen dazu veranlassen würde, unvernünftig zu handeln. Das vor Schmutz stehende T-Shirt hing aus seiner Jeans, die an den Knien aufgeribbelt waren.
"Was denkst du eigentlich, Trevor? Dass uns alle Dinge in die Arme fliegen, wenn wir sie nur ausbreiten? Die Dinge haben sich geändert, für mich jedenfalls. Vergiss dein altes Leben, damit ist jetzt Schluss. Für immer. Wir müssen unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen, sonst nimmt uns diese verdammte Partei auseinander!" Trevor sah den Jungen abwartend an, zumindest schien es so. In seinem Inneren tobte er vor Wut. Was bildete sich dieser unverschämte Bengel eigentlich ein? Er hatte seit seiner frühesten Kindheit für jeden weiteren Tag hart arbeiten müssen. Sein Studium hatte ihn viele Opfer gekostet, vermutlich hundertmal mehr, als dieser Wurm jemals erbracht hatte. Er würde sich nicht von einem grünen Highschoolküken sagen lassen, dass man für seine Zukunft arbeiten musste!
Er packte den Jungen, den er um einen guten Kopf überragte, am Kragen und riss ihn gewaltsam von den Füßen. Cody wirkte überrascht, jedoch keineswegs erschrocken oder gar verängstigt.
"Wie kannst du es wagen, mir vorzuwerfen, ich wüsste all diese Dinge nicht! Ich wusste diese Dinge schon, als deine Mama dich noch zur Schule gefahren hat, du mieser kleiner Dreckskerl!" Heftig atmend ließ er ihn wieder auf den Boden hinab und durchbohrte ihn mit Blicken, auf welche Cody gelassen einging.
"Könntet ihr euch vielleicht bald einigen? Wir haben hier wichtigere Probleme zu lösen, als wer von euch beiden der Coolere ist!" fuhr Aileen dazwischen.
Einige Passanten bedachten die drei Jugendlichen, die sich gegenseitig anschrien und aussahen wie Obdachlose, mit neugierigen Blicken. Die einen empfanden Mitleid, die anderen reine Abscheu. Währenddessen funkelte Aileen ihre Begleiter wütend an.
"Trevor, es reicht. Cody, entschuldige dich bei ihm!" forderte sie sie auf. Zu seiner Überraschung wandte sich der Junge an ihn und hielt ihm seine Hand entgegen. Unsicher beobachtete er Cody, der stumm und nur mit der ausgestreckten Hand vor ihm stand, das T-Shirt noch von seinem Griff zerknittert. Am Kragen war es eingerissen. Mit einem Mal schämte er sich für sein rüdes Verhalten.
"Es tut mir leid, Trevor, ich wollte dir nicht unterstellen, dass du keine Ahnung vom Leben hast. Das war unfair und dumm von mir." Eine Weile dachte er darüber nach, ob Cody es ehrlich meinte. Schließlich ergriff er die ausgestreckte Hand und schüttelte sie. Obwohl es ihm missfiel, dass er offenbar in der Lage war, seine Fehler einzugestehen, wollte er keinen Streit mit dem Jungen. Sie würden niemals Freunde werden, so viel stand für Trevor Burley fest. Mit einem miesen Angeber wollte er nicht befreundet sein, weil man solchen Menschen nicht vertrauen konnte. Aileen tat das offensichtlich, doch die Lektion musste sie selbst lernen.
Die Menschen auf dem Gehsteig machten einen Bogen um die drei, als sie schließlich aus der Gasse traten. Einige standen einfach bloß da und starrten sie an, als wären sie äußert seltene und gefährliche Tiere. Wo aber waren die Gitter, welche die Menschen glauben ließen, dass sie nichts von den drei Wilden zu befürchten hatten?
Zuerst nahm Aileen die näherkommenden Sirenen nicht wahr, bis zwei Streifenwagen auf der Straße vor ihnen zum Stillstand kamen. Sie bedachte sowohl Trevor als auch Cody mit einem "Das haben wir nun davon!" Blick. Ein Polizist in Zivil stieg aus und kam direkt auf sie zu. Er war ein wenig größer als Trevor, jedoch älter und weitaus kräftiger gebaut. Das dichte, dunkelblonde Haar war kurz und praktisch geschnitten. Aus ruhigen, dunklen Augen betrachtete er sie kühl und distanziert, ein Wärter, welcher um die Tücken der verschiedenen Raubtiere wusste und sich in ihren Käfig wagte, ohne etwas befürchten zu müssen.
"Was soll der ganze Trubel hier, Leute? Wenn ihr drei Ärger machen wollt..."
"Nein, nein, Officer, wollten wir nicht. Mein Freund und ich hatten nur eine unbedeutende Meinungsverschiedenheit!" Trevor bemühte sich, freundlich und einlenkend zu sprechen, während er Cody kameradschaftlich eine Hand auf die Schulter legte.
"Das ist es doch immer, nicht wahr? Eine kleine Meinungsverschiedenheit. Am Ende freuen sich die Schwestern und Ärzte oder gar die Pathologen." Der Polizist war offenbar unbeeindruckt und musterte sie weiterhin eingehend. "Du, Mädchen, erzähl mir mal, was wirklich passiert ist." Aileen schluckte unmerklich und legte sich schnell die Worte zurecht.
"Na ja, es war so wie Trevor gesagt hat. Die beiden hatten einen Streit. Nichts Bahnbrechendes. Ist längst begraben. Ich schätze, Sie wollen vielmehr wissen, warum wir so schmutzige Kleidung tragen und was wir hier zu suchen haben, nicht wahr?" Er grinste humorlos, woraufhin Cody neben sie trat.
"Gar nicht so dumm. Ziemlich vorlaut, findest du nicht?"
"Vielleicht", meinte sie mit fester Stimme. "Sie brauchen nicht den harten Cop zu mimen. Wir haben weder etwas Böses getan, noch vor, etwas zu tun. Wir suchen jemanden. Es wäre sehr nett, wenn Sie uns helfen könnten." Ein trockenes Lachen entwich seiner Kehle. Über die Schulter blickend winkte er seinen Kollegen, der abwartend neben dem Wagen stand, heran.
"Nimm die hier fest und bring sie aufs Revier. Es sind jugendliche Unruhestifter. Man sollte ihnen mal so richtig den Hintern versohlen. Ab mit ihnen!" Damit wandte er sich ab, die Einwände des Mädchens ignorierend. Nacheinander wurden sie in den Streifenwagen gestoßen. Gegen die andere Tür gedrängt, registrierte Aileen in Panik, wie die Knöpfe automatisch herunter schnackten. Das Geräusch hatte etwas Endgültiges an sich. Sie bedeckte ihre Augen mit den Händen. Es war vorbei. Ihre Geschichte würde ihnen keiner glauben, die Partei würde bald Verdacht schöpfen und sie erneut in ihre Gewalt bringen. Ihre vorgetäuschte Unwissenheit würden sie ihnen bestimmt nicht ein weiteres Mal abkaufen. Es war zum Verzweifeln.
Cody, Trevor und sie hielten eine große Verantwortung in den Händen, wer auch immer sie dort hinein gelegt haben mochte. Die Partei war ein Problem, das gelöst werden musste, und dies war ihre Aufgabe. Es waren zu viele seltsame Dinge geschehen, als dass sie die Notwendigkeit ihres Handelns noch länger aufschieben durften. Ihr Herz verkrampfte sich schmerzhaft, als sie an ihre Mutter und ihre Schwester dachte. Sie wollte um sie weinen und ausgiebig trauern, um dann in Ruhe weitermachen zu können, doch die Zeit erlaubte es ihr nicht. Es gab noch soviel zu tun. Warum musste es ausgerechnet sie treffen? Unter Dutzenden von Menschen war gerade sie auserwählt worden. Eine kalte Wut überrollte sie und ließ sie den Urheber dieser Tragödie verfluchen. Die Partei oder sonstwen. Keine Träne verließ jedoch ihre Augen. Noch nicht. Dafür war später Zeit.
Durch ihre Finger schaute sie aus dem Fenster des Polizeiwagens. Die Straße flimmerte ein wenig in der sengenden Mittagssonne. Der Sommer tobte sich noch einmal richtig aus, bevor er mit dem September dem Herbst weichen musste. Herbst. Das war immer ihre liebste Jahreszeit gewesen, Indian Summer. Seufzend konzentrierte sie ihren Blick auf die Farben des Lebens außerhalb des Wagens. Menschen schlängelten sich hektisch durch den dichten Verkehr. Chrom und Stahl glänzten neben den schweißüberströmten Gesichtern der Passanten. Nichts hatte sich verändert. St. Louis bot dafür ein hervorragendes Beispiel, so dachte sie jedenfalls.
Denn die Idylle war allenfalls trügerisch. Erst nach und nach fielen ihr die unnatürlich vielen Träger grauer Anzüge in allen Schattierungen auf, welche die Menschenmengen durchdrangen wie Erzadern. Nur dass diese Adern sie eher an krankhafte Geschwüre oder Metastasen erinnerten. Immer mehr. Die Art, wie sie sich unter den anderen Leuten bewegten, verriet ihr, dass es sich dabei nicht um einfache Anwälte oder andere Vertreter der Anzug tragenden Rassen handelte.
Hin wieder blieben ihre Blicke an ihnen hängen und plötzlich befiel sie das Gefühl, sich vor ihnen verbergen zu müssen. Das Gefühl ergriff stärker Besitz von ihr, so dass sie sich von der Straße abwenden musste und Cody, der neben ihr saß, ansah. Im Gegensatz zu Trevor war er völlig gelassen und entspannt. Neben ihm rutschte der große Mann unruhig auf dem Leder hin und her.
"Was sollen wir jetzt tun, verdammt?" Cody hob fragend die Augenbrauen.
"Bleib ruhig, Trevor. Ich bin schon öfter verhaftet worden. Da ist nicht viel bei." Beide sahen ihn überrascht an. Trevor runzelte anhand seines Tonfalls die Stirn und begründete diesen mit jugendlichem Leichtsinn. Wie konnte man nur stolz darauf sein?
Aileen war der vermeintliche Stolz, welchen Trevor in Cody Stimme gehört haben wollte, nicht aufgefallen.
"Weswegen?" Der Junge drehte sich ein wenig zu ihr, um sie ansehen zu können.
"Ich schätze, ich hätte die alte Frau nicht auf die Straße schubsen sollen." Er machte eine bedeutsame Bewegung mit der rechten Hand. "Schon gut, das war nicht ernst gemeint. Sagen wir's mal so: meinem gefälschten Ausweis mangelte es an Qualität." Trevor sog scharf die Luft ein, hielt sich aber geschlossen. Warum war Unehrlichkeit bei den Jugendlichen heutzutage so beliebt?
"Mach dir keine Sorgen, Aileen. Uns kann nicht viel passieren." Immer noch erfüllte sie eine unangenehme Unsicherheit.
Die Fahrt zum Polizeirevier zog sich in die Länge wie ein Kaugummi, der einfach nicht reißen wollte. Flimmernde Hitze ließ die vorbei wabernde Menschenmenge zu einem Wirrwarr aus Farben zerfließen, das mehr und mehr von einem monotonen Grau dominiert wurde. Die Partei breitete sich aus und zerfraß das System wie ein mutierendes Virus, das unheilbar zu sein schien. Die Vorstellung, sich selbst als so eine Art Antikörper oder Serum zu betrachten, behagte ihr nicht sonderlich.
Sie blinzelte und rieb sich die Augen, um wieder klar sehen zu können. Ein paar Jugendliche, etwa 15 Jahre oder älter, sahen den Anzugträgern mit unverhohlenem Misstrauen nach, als ob sie am liebsten mit faulen Tomaten nach ihnen werfen wollten. Die Stimmung war längst nicht mehr so fröhlich und entspannt, wie kurz nach der öffentlichen Vorstellung und Machtübernahme der Parteimitglieder. Einige wenige Menschen begannen, Fragen über die Herkunft und über die sogenannten wahren Absichten zu stellen, was nicht gerade erwünscht und ungefährlich war, wie sich in nicht allzu ferner Zukunft herausstellen sollte. Zudem war es recht auffällig, wie wenige Stimmen sich erhoben, um nach dem Wie der Machtübernahme durch die Partei zu fragen. Das plötzliche und unerwartete Verschwinden der Regierungsmitglieder weltweit war ein Ereignis, über das niemand offen zu sprechen wagte. Die Partei hatte sie verschwinden lassen, das wusste jeder, also war es nicht schlau, sich mit ihnen anzulegen. Jeder war erleichtert darüber, dass ihre Absichten anscheinend positiv waren. Was gab es Wünschenswerteres als den Weltfrieden? Sie hatten Glück gehabt, dass die Partei keine Tyrannen an die alten Machtpositionen gesetzt hatten.
Cody schien ähnliche Gedanken zu hegen, denn seine Augen schauten in dieselbe Richtung wie die ihren.
"Melde der Zentrale, dass wir hier eine Streife brauchen. Das sieht nach Ärger aus. Warum müssen diese Teenager nur auf der Straße herumlungern, anstatt irgendwas Sinnvolles zu tun, sich zum Beispiel Gedanken über die Zukunft zu machen!" knurrte der Mann, der sie verhaftet hatte, wobei er einen bedeutungsschweren Blick in den Rückspiegel warf. Dabei tun sie das sogar, dachte das Mädchen und sah ihnen nach.
"Geht klar, Detective Grant", erwiderte sein Partner eifrig. Cody runzelte kurz die Stirn. Ein Detective? Womit war ihnen nur diese Ehre zuteil geworden? Während er weiterhin darüber nachgrübelte, fühlte sich Trevor kontrolliert und gefangen. Auch ihm war der hohe Grauanteil in der Bevölkerung nicht entgangen. Außer den wenigen Informationen durch die sich unterhaltenden Schwestern im Krankenhaus und durch den beinahe ständig laufenden Fernseher hatte er sich nur ein äußerst verwaschenes eigenes Bild machen können. Zudem war er größtenteils mit anderen Gedanken beschäftigt gewesen, als mit den Plänen der Partei. Ihr Hauptziel schien es jedoch zu sein, Frieden auf der gesamten Erde zu verbreiten. Sie wollten alle Menschen zu einer Einheit machen, indem sie bewirkten, dass jeder ihrer Partei beitrat. Die Grundidee mochte zwar gut sein, aber Trevor hielt das nicht nur für unmöglich, sondern für krank. Es erinnerte ihn zu sehr an den Kommunismus. Jegliche Individualität würde durch diese Vereinheitlichung ausgelöscht werden. Dennoch hatte er sich, nachdem er sich halbwegs mit seiner Lage abgefunden zu haben glaubte, eingehender mit der Vorgehensweise der Partei beschäftigt, soweit die zu ihm dringenden Informationen das erlaubten. Aus seinem organischen Kerker heraus hatte er die Rolle eines Beobachters angenommen, wenn er nicht gerade von Existenzängsten überfallen wurde.
Auch andere Menschen hatten der Partei vorgeworfen, den Kommunismus in die Staaten einführen zu wollen, was deren Vertreter jedoch verneinten. Ihre Idee eines politischen Systems mochte zwar einige Grundzüge bereits vorhandener Systeme aufweisen, sei aber einzigartig und völlig neu. Aus Amerikas starker Abneigung gegenüber dem Kommunismus ließ sich möglicherweise ein Plan entwickeln, mit dem sie der Partei einen Schlag versetzen konnten.
Er zuckte innerlich zusammen. Jetzt dachte er auch schon wie ein Verschwörer! Der Grundgedanke, sich gegen ein feindliches Regime zu stellen, störte ihn dabei weniger als die Vorstellung, dass irgendeine mysteriöse Macht dahinter steckte, welche Aileen, ihn und Cody zusammen geführt hatte. Er gestand sich ein, dass sein Zustand der völligen Lähmung recht ungewöhnlich gewesen war, ebenso wie die plötzliche Blind- und Stummheit der beiden anderen, aber wer oder was sollte schon dahinter stecken? Gott? Ganz sicher nicht.
Der Wagen hielt abrupt an. Sie befanden sich nun auf einem Parkplatz vor dem Polizeirevier, von dem Grant gesprochen hatte.
"Los! Aussteigen! Macht schon!" Grant riss Aileen förmlich aus dem Auto, als sie, immer noch ein wenig benommen, im Inneren verweilte, als er die Tür öffnete, in der Hoffnung, sie würde sich zur Wehr setzen. Sie enttäuschte ihn mit trägem Gehorsam. Ebenso war es bei den Jungen. Er beschloss, ihnen Handschellen anzulegen. Sie entsprachen nicht seinem vorgefertigten Steckbrief eines Jugendlichen, der sich in sein Gehirn eingebrannt hatte, sie waren nicht so laut und trotzig. Die Vorstellung, dass es durchaus noch andere Exemplare der Gattung junger Mensch gab, stieß Detective Grant bitter auf.
Schweigend stiegen sie die Stufen zum Police Department hinauf. Aileens Handgelenke begannen leicht zu schmerzen. Allmählich fühlte sie sich wirklich wie eine Verbrecherin, obwohl sie wusste, dass sie nichts getan hatte. Diese Unbeschreiblichkeit, die sie nach L.A. und schließlich nach Philadelphia geführt hatte, war wie weggewischt. Sie waren auf sich allein gestellt und mussten Entscheidungen treffen und etwas unternehmen. Sie begriff mit einem Mal den Sinn ihres unerwarteten Erwachens in einer schmutzigen Gasse in St. Louis: Es sollte sie verwirren und aus dem Konzept bringen. Kopflos und verängstigt sollten sie sich alle in ihre jeweilige Heimatstadt aufmachen. Die Parteimitglieder, welche sie aus dem Krankenhaus entführt hatten, mussten sie betäubt und hierher gebracht haben, nachdem sie sich vollkommen sicher waren, dass sie keine Bedrohung für sie darstellten. Das plötzlich aufkeimende Verantwortungsgefühl in ihrer Brust bot ihr eine willkommene Stütze in dieser wirren Situation. Sie mussten zusammen bleiben und geschlossen hinter ihre gemeinsame Aufgabe treten, auch wenn diese der Besteigung des Mount Everest ohne jegliche Ausrüstung und Kenntnisse glich.
Nebeneinander standen sie vor einem Protokolleur, der an einem abgenutzten hölzernen Pult saß und hinter dem großen Monitor kaum zu sehen war.
"Name und Wohnort?"
"Aileen Dow, Vancouver." Der breitgesichtige Mann mit Tränensäcken unter seinen wässrig grauen Augen schaute hinter seinem Monitor hervor und hob eine Braue, enthielt sich aber jeglichen Kommentars.
"Cody Finley, Santa Monica." Die Bewegung wiederholte sich. Nun war allerdings deutliches Misstrauen in seinen Augen.
"Trevor Burley, Philadelphia."
"Ha!" stieß er humorlos aus. "Guter Witz! Hört mal, Freunde, so geht das nicht. Ihr müsst mir schon die Wahrheit sagen. Wir finden sie ja doch raus. Es kostet mich nur mehr Zeit, die ich nicht habe. Kapiert?" Cody begegnete seinem Blick mit ausdrucksloser Miene.
"Das ist die reine Wahrheit, Officer." Dieser lachte lauthals.
"Sicher ist es das! Detective Grant! Das sollten Sie sich anhören!" Der hochgewachsene Mann warf ihnen einen nicht allzu freundlichen Blick zu und kam mit langsamen Schritten auf sie zu, deren Tempo ihnen verdeutlichen sollte, dass sie sich eindeutig in der falschen Position befanden, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Scheinbar gelassen hörte er sich an, was der Officer ihm zu sagen hatte, dann wandte er sich an die drei Verhafteten.
"Das klingt in der Tat lächerlich. Wenn ihr glaubt, dass ihr mich verarschen könnt, seid ihr ganz schön auf dem Holzweg." sagte er ruhig. Dennoch bereitete Aileen dieser Tonfall Unbehagen, "Ich werde euch jetzt noch einmal fragen, wo ihr herkommt. Überlegt euch gut, ob ihr mir nicht doch lieber die Wahrheit sagen wollt." Der letzte Satz war ohne Zweifel eine Drohung gewesen. Trevor, der gegen seinen eigenen Stolz zugeben musste, dass ihn der Detective ziemlich eingeschüchtert hatte, nahm sich ein Herz und erwiderte so beherrscht wie möglich:
"Das ist die Wahrheit. Überprüfen Sie die Daten, wenn Sie wollen." Sein Magen zog sich augenblicklich zusammen, als er registrierte, wie Grants Gesicht sich verdunkelte und seine Haltung sich anspannte. Es schien, als müsse er sich zurückhalten, um Trevor nicht am Kragen zu packen.
"Was bildest du dir eigentlich ein, du Witzfigur? Hm? Erst Randale machen und dann so was! Man sollte euch euer rotzfreches Grinsen aus der Fresse prügeln!" stieß er mit einer Stimme hervor, die selbst Cody das Blut in den Adern gefrieren ließ. Vor dem lauthals brüllenden Choleriker hatte man weitaus weniger zu befürchten, als vor einem Mann, der nur zu gut wusste, wie er seine Wut beherrschen konnte.
"Ihr wollt es anscheinend nicht anders. Also gut! Überprüfen Sie die Daten der drei. Gönnen wir ihnen den Spaß. Es wird vorläufig der letzte sein! Officer Spire, stecken Sie sie in eine der Zellen." Mit diesen Worten und steinharter Miene wandte er sich ab.
Detective Grant war sich sicher, den Sieg bereits in der Tasche zu haben: ein oder zwei Stunden hinter Gittern würden den Willen der drei Halbstarken schon brechen. Das war in der Regel der Fall. Jugendliche Straftätern hatten bei ihm von vornherein schlechte Karten, da er ihnen gegenüber eine starke Abneigung empfand. In gewisser Weise hatten sie ihn so schwer verletzt, dass Narben zurückgeblieben waren, die ihn zwangen, sich an ihre Ursachen zu erinnern. Eigentlich war es nur eine einzige, ein menschenförmiger Fleck auf seiner Seele, der nicht zu entfernen war.
Vor vielen Jahren war sein kleiner Bruder, ein hilfsbereiter und freundlicher Junge von 16 Jahren, nur vier Jahre jünger als er damals, ins Kino gegangen und nicht mehr nach Hause gekommen. Von Gleichaltrigen waren er und sein Freund zu Tode geprügelt worden. Die Tatwaffen waren Hände, ein Baseballschläger und zerbrochene Bierflaschen gewesen, wie die Gerichtsmedizin später feststellte. Da seine Eltern sich zu diesem Zeitpunkt auf einer Urlaubskreuzfahrt im Pazifik befunden hatten, war er gezwungen gewesen, den Leichnam seines Bruders zu identifizieren. Trotz des weitgefächerten Flussdeltas in seinem weißen Gesicht handelte es sich unverkennbar um seinen kleinen Bruder. Seit diesem Tag war sein Herz, das bisher groß und offen gewesen war, zu solidem Stein geworden, wie Lava, die erkaltet. Seit nunmehr 18 Jahren trug er diese Last schon mit sich herum und so mancher Jugendliche hatte darunter leiden müssen.
Da die Anzahl der Zellen auf dem Revier begrenzt war, wurden Aileen, Cody und Trevor zusammen in eine Zelle gesperrt, wofür das Mädchen dankbar war. Rechtens war das sicher nicht, doch dieses Gebäude war anscheinend nicht für die längere Aufbewahrung von Häftlingen gedacht. Allein in einer dunkeln und muffigen Kammer gefangen zu sein, war keine angenehme Vorstellung. Eine Weile beobachtete sie das Geschehen jenseits der Gitterstäbe. Jemand legte ihr eine Hand auf die Schulter und zog sie sanft ins Innere zurück.
"Mach dir nichts draus, Aileen. Das ist alles halb so wild. Dieser Grant versucht nur, uns einzuschüchtern." Es war Cody, der sie schließlich auf das durchgelegene Feldbett niederdrückte und sich neben sie setzte. Seine Nähe wirkte beruhigend auf ihre geschundenen Nerven.
Trevor kauerte ihnen gegenüber auf einer Art Bank. Für ihn schien eine Welt zusammengebrochen zu sein.
"Der Medizinstudent im Knast! Eine Tragödie von und mit Trevor Burley!" scherzte der Junge, doch er reagierte nicht darauf. Schweigend starrte er auf den dreckigen Boden der Zelle, völlig geistesabwesend, den leeren Blick in eine andere Welt gerichtet, vermutlich in die Vergangenheit.
"Mach dich nicht über ihn lustig! Wenn mein ganzes Leben nicht sowieso schon das reinste Chaos wäre, würde ich jetzt mit hundertprozentiger Sicherheit heulend in der Ecke hocken und nach meiner Mama rufen", versetzte Aileen und bereute den letzten Teil des Satzes, sobald sie ihn zu Ende gesprochen hatte. Sie konnte rufen, so viel und so laut sie wollte, es würde niemand da sein, um ihren Ruf zu hören. Sie kämpfte die aufwallenden Emotionen mit aller Gewalt nieder und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf Cody.
"Immerhin hat er keine Knasterfahrung. Im Gegensatz zu dir!" Der Angesprochene zog einen Schmollmund und mimte den Beleidigten.
"Pöh! Für was hältst du mich denn? Für einen Triebtäter oder was?" Sie schüttelte bloß den Kopf und musste unwillkürlich lachen.
"Hm, vielleicht hast du damit sogar recht", sagte er und rückte ein wenig näher, während er sein Gesicht zu einer derartig grotesken Maske verzog, dass sie in schallendes Gelächter ausbrach.
"Damit... kannst du... noch nicht mal kleine Kinder erschrecken!" brachte sie prustend hervor. Das Spiel beendend fiel er mit in ihr helles Lachen ein. Er war erleichtert, sie ein wenig aufgemuntert zu haben, denn ihr trauriges Gesicht bedrückte ihn gleichermaßen.
"Ihr seid nicht mehr ganz dicht. Das ist die einzige Erklärung!" Trevors Stimme klang ungesund schrill. Ihre Heiterkeit stieß bei ihm auf keinerlei Verständnis.
"Hey, Trev! Beruhige dich. Es sieht schlimmer aus als es ist." Er ließ sich nicht überzeugen, woraufhin Cody die Schultern zuckte und sich wieder Aileen zuwandte.
"So hab ich mich beim ersten Mal auch gefühlt. Das einzige, das mir wirklich Sorgen macht, ist, dass es hier niemanden gibt, der ein gutes Wort für uns einlegt oder gar die Kaution bezahlt, sollte eine gestellt werden. Es ist immerhin möglich, dass die Partei uns wieder einsperren will."
"Aber warum? Erst lassen sie uns gehen und dann sind sie uns wieder auf den Fersen? Klingt ziemlich unlogisch in meinen Ohren." Darauf wusste er keine Antwort. Sie wippte leicht auf der quietschenden Matratze. Die Wogen hatten sich geglättet. Vorerst. Ihre Jeans stand vor Dreck, was kein Wunder war, schließlich war es dieselbe Hose, in der sie unter einem fahrenden Zug gehangen hatte. Das schien schon Ewigkeiten zurück zu liegen. Doch Cody sah ihr direkt in die Augen und schien den Zustand ihres Äußeren zu ignorieren. Wahrscheinlich war er sich seines eigenen sehr wohl bewusst.
"Eins sag ich dir, wenn du nicht bei mir wärst, würde ich denen alles erzählen, was sie hören wollen, nur um hier raus zu kommen", murmelte sie kaum hörbar. Er nickte nur. Ein warmer Luftzug fuhr in die Zelle und wirbelte Staub auf. Irgendjemand hatte die Tür des Reviers offen stehen lassen. Die warme Sommerluft fand ihren Weg ins Haus der Gerechtigkeit. Das Mädchen inhalierte genüsslich die angenehmen Gerüche. Sie schloss die Augen und dachte an Vancouver und den traumhaften Indian Summer mit seinem unübertrefflichen Farbenspiel. Die Vergangenheit überfiel sie mit Bildern von ihrer Mutter und ihrer Schwester, die hinter ihren geschlossenen Lidern vorüberzogen wie Gewitterwolken. Der Schmerz folgte den Bildern wie Donner dem Blitz.
Gequält öffnete sie die Augen wieder, um den Erinnerungen zu entfliehen. Später konnte sie sich darum kümmern und alles verarbeiten. Jetzt war noch nicht der richtige Zeitpunkt. Die ebenfalls nicht gerade rosige Gegenwart beanspruchte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Ihre Welt bestand momentan lediglich aus Cody, Trevor und der Partei. Mehr Leben war alles, was sie sich wünschte. Ein freies und eigensinniges Leben voller freier und eigensinniger Menschen, die nicht so leicht verzweifelten und aufgaben. Diese Menschen würden ihre Freunde sein und ihr Kraft geben. Vorerst jedoch musste sie sich mit dem Gedanken an sie zufriedengeben. Sie sah zu Trevor hinüber, der in einen unruhigen Schlaf gesunken war.
"Er hat nicht richtig schlafen können, als er gelähmt war, weil er Angst hatte, nicht mehr auf zu wachen." Cody sah verblüfft zu der leicht zitternden Gestalt hinüber.
"Hat er dir das gesagt?" Sie bekundete stumm ihre Zustimmung.
Den Nachmittag über redeten sie leise miteinander oder saßen aneinander gelehnt und schweigend da. Die Zeiger der runden Uhr gegenüber der Zelle waren anscheinend mit einem neuartigen Superkleber zum Stillstand verdammt worden, so sehr sie sich auch anstrengten, vorwärts zu kommen. Am frühen Abend wachte Trevor wieder auf, geplagt von Rückenschmerzen. Seit sie inhaftiert worden waren, hatte Grant nicht mehr mit ihnen gesprochen und nur ab und zu von seinem Schreibtisch aus zu ihnen herüber gesehen. Sein Blick verhieß nichts Gutes. In der verstrichenen Zeit war nichts Besonderes mehr geschehen. Es hatten sich keine anderen Gefangenen zu ihnen gesellt. Ein alter Mann hatte Anzeige gegen seinen Nachbarn erstattet, weil dieser angeblich seinen preisgekrönten Dobermann vergiftet haben sollte.
Letztendlich musste sich Grant dermaßen gelangweilt haben, dass er zu den drei einzigen Inhaftierten hinüber ging und sie scharf musterte.
"Na, wie geht’s euch so? Falls es euch interessiert, wir haben eure Adressen und Namen überprüft. Ihr habt die Wahrheit gesagt. Aber ich warne euch, das bedeutet noch lange nicht, dass ihr mir einfach so auf der Nase herum tanzen könnt! Meine Geduld ist alles andere als unendlich, klar?" Er schwieg einen Moment, in dem er fieberhaft nach einen Weg suchte, es diesen Rotznasen heimzuzahlen. Gut, Trevor Burley war seit ein paar Tagen volljährig, aber in Grants Augen war er nichts weiter als ein Collegelümmel. Diese spürbare Feindseligkeit verunsicherte Cody zum ersten Mal seit sie eingeliefert worden waren. Er warf einen raschen Seitenblick auf Aileen, die wie schon die ganze Zeit neben ihm auf der Pritsche saß und sich offenbar auch nicht ganz wohl in ihrer Haut fühlte. Trevor machte den Eindruck eines geprügelten Hundes. Das Schweigen zog sich unangenehm in die Länge, als Cody plötzlich etwas einfiel: Sie hatten ihr Anrecht auf mindestens ein Telefonat noch nicht genutzt! Bevor er jedoch den Triumph in vollen Zügen genießen konnte, schaltete sich sein Verstand ein und wies ihn darauf hin, dass es niemanden gab, den sie anrufen konnten.
VI
St. Louis, Missouri, USA
Detective Grants Augen bohrten sich in die seines Gegenübers, einem Mädchen von 16 Jahren. Allmählich überkam ihn nämlich das Gefühl, dass diese Unruhestifter, deren widerlichen Trotz er ihnen unbedingt austreiben wollte, keine waren. Diese Möglichkeit ärgerte ihn mehr als die sprichwörtliche große Klappe oder der trotzigste Blick. Er sah sich nicht gern im Unrecht und schon gar nicht in einer Angelegenheit wie dieser.
Die blassgrünen Augen vor ihm entbehrten jeder Aufmüpfigkeit. Statt dessen schienen sie die seinen nach dem Was und dem Warum zu fragen. Im Moment wusste er selbst nicht, wie es weiter gehen sollte. Ihm war praktisch der Wind aus den Segeln genommen worden. Dennoch ärgerte er sich maßlos über seine Lage. Allerdings wäre es kindisch, wenn er seiner Wut jetzt Ausdruck verlieh. Der Klügere gibt nach, dachte er und seufzte kaum hörbar.
"Aileen, richtig?" Sie nickte. "Ich möchte dich bitten, mich an meinen Schreibtisch zu begleiten. Ich habe ein paar Fragen." Noch während er dies sagte, schloss er die Tür der Zelle auf.
Keinem der drei Insassen war die Veränderung in Grants Stimme und Haltung entgangen. Cody warf Trevor einen fragenden Blick zu, den dieser mit einem Kopfschütteln quittierte. Aileen erhob sich und schüttelte Codys Hand ab, als er versuchte, sie zurückzuhalten. Er kämpfte gegen das seltsame Gefühl von Furcht an, welches seinen Magen malträtierte. Was sollte der Mann ihr schon tun? Sie vor seinen Augen erschießen oder niederschlagen? Ein dumpfes Unbehagen blieb zurück und ließ sich von seinen mehr oder weniger logischen Argumenten nicht beeindrucken. Sein nächster Blick galt erneut Trevor, der dem stummen Hilferuf mit Erstaunen begegnete, sich jedoch abermals in Schweigen hüllte.
Bevor das Mädchen an Grants Schreibtisch Platz nahm, erhellte ein beruhigendes Lächeln ihre schmutzigen Wangen. Dann richtete sie ihren Blick auf den Detective und bemühte sich, ausgeglichen und ruhig zu wirken. Er musterte sie eine Weile aus unergründlich dunklen Augen. Wenn Augen wirklich die Fenster zur Seele darstellten, hatte jemand in seinem Fall die Vorhänge zugezogen.
"Ich gebe dir nun eine Chance, mich davon zu überzeugen, dass ihr drei keine Querulanten seid." Die Wahl seiner Worte ließ sie innerlich zusammenschrumpfen. Querulanten...
"Zunächst würde mich mal interessieren, wie ihr drei euch kennengelernt habt. Immerhin kann man eure Heimatstädte nicht gerade als Nachbarstädte bezeichnen." Sie rutschte auf dem unbequemen Holzstuhl hin und her, dessen vorderes rechtes Bein zu kurz sein musste, um mit den anderen eine Einheit bilden zu können. Verkrampft bemühte sie sich, nicht zu kippeln, da sie aus Erfahrung wusste, wie leicht Erwachsene, insbesondere Lehrer, davon in Rage gerieten.
"Es ist eine eigenartige Geschichte, das möchte ich vorweg betonen", begann sie und erschrak ein wenig über ihren formalen und einlenkenden Ton, der in seinen Ohren recht angenehm klang. "Es hat mit dem Auftauchen der Partei angefangen. Ich war gerade auf dem Weg nach L.A., weil ich meine Tante besuchen wollte. Sie wollte in Palm Springs ein Haus kaufen und meinte, wir könnten uns in L.A. treffen." Schon vermisste sie die formale Ausdrucksweise wieder. Sie klang irgendwie besser, erwachsener. Den Detective schien diese Veränderung nicht zu stören.
"Na ja, meine Tante wollte einfach, dass ich mal mehr sehe als nur Vancouver, Sie verstehen schon. Nun, als ich im Hotel ankam, fand ich eine Nachricht. Meine Tante war immer noch zu Hause in Albuquerque." Seine ruhige und abwartende Mimik geriet kurz in Bewegung, als sie den Namen der Stadt nannte. "Ich sollte zu ihr fahren, da sie nicht genau wusste, wann sie aufbrechen konnte. Kam mir zwar komisch vor, aber was blieb mir also anderes übrig, als zu ihr zu fahren. Am Busbahnhof hab ich dann Cody", sie nickte zur Zelle hin, "kennengelernt. Mal im Vertrauen", sagte sie leiser und beugte sich ein Stück vor, "er ist von zu Hause weggelaufen, glaube ich, aber mit Sicherheit kann ich das nicht sagen. Jedenfalls", fuhr sie in normaler Lautstärke fort, "hat er mich nach Albuquerque begleitet, wo ich Raisa – so heißt meine Tante – getr..."
"Du redest doch nicht etwa von Raisa Lisle aus Albuquerque, New Mexico, oder doch?" fragte er verwundert und hob eine Braue. Ihre Augen weiteten sich vor Freude und Überraschung, als sie nickte. Konnte es sein? War ihre Freundin immer noch hier?
"Vor ein paar Tagen ist sie mir am Bahnhof von St. Louis entgegengekommen, weil sie Parteimitglieder des Diebstahls beschuldigte. Auf dem Revier hat sich die Anklage allerdings als falsch herausgestellt. Sie hat sich dafür entschuldigt. Da sie hier niemanden kennt, sind wir in Kontakt geblieben. Mir ist immer noch nicht ganz klar, warum sie überhaupt hier ausgestiegen ist, wo St. Louis nicht ihr Zielort zu sein schien." Aileens Augen strahlten, während sie gespannt zuhörte.
"Wo ist sie?" fragte sie atemlos. Wenn sie noch hier war, bedeutete das, dass sie sich wiedersehen würden. Sie spürte, wie ihr vor Aufregung heiß wurde. "Könnte ich sie vielleicht anrufen?"
Er strich sich übers Kinn und dachte einen Moment darüber nach.
"Hm, ja, natürlich. Ihr habt euren Anruf noch offen. Doch vorher möchte ich noch wissen, wie Trevor in deine Geschichte passt." Ihr Atem stockte kurz. Was sollte sie jetzt sagen? Sie konnte ihm unmöglich erzählen, dass die Partei hinter ihnen her war, aus welchen Gründen auch immer. Ihr Zögern schien ihn nicht im Geringsten zu überraschen.
"Das habe ich mir gedacht. Ich habe Trevors Namen in eine Suchmaschine eingegeben. Den Medien ist er kein unbeschriebenes Blatt. Er hat bis zu seinem mysteriösen Verschwinden vor wenigen Tagen in einem Krankenhaus in Philadelphia gelegen, da den Ärzten unerklärliche Lähmungen seinen Körper befallen hatten. Seltsamerweise traten diese Lähmungen mit der Machtübernahme der Partei auf. Und jetzt, drei Tage später taucht dieser junge Mann in St. Louis auf? Irgendetwas stimmt da nicht, denkst du nicht auch, Aileen Dow aus Vancouver?" Sie ahnte fast, was er als nächstes sagen wollte. Die Explosion ihres Hauses war mit Sicherheit nicht unbemerkt geblieben. Vermutlich war sie sogar die Hauptverdächtige. Sie erwiderte seinen Blick ohne zu blinzeln.
"Sagen Sie es nicht. Ich möchte nur eines wissen", er betrachtete sie abwartend, "soll ich es gewesen sein?" Seine Hand wanderte unter sein Kinn und kratzte einen imaginären Bart.
"Hm, nicht wirklich. Einige Ermittler sind zwar der Ansicht, dass du es gewesen sein könntest, doch im Allgemeinen giltst du als vermisst. Zeugenaussagen der Nachbarn widerlegten eine mögliche Schuld bei dir, da es keinerlei Schwierigkeiten in deiner Familie gab. Und Nachbarn schenkt man gern Glauben. Immerhin kriegen sie alles mit, häufig auch die Dinge, die sie gar nichts angehen. Warst du es denn?" Zuerst glaubte sie, dass er sie aufziehen wollte, doch der ernste Gesichtsausdruck hatte sich die ganze Zeit über nicht verändert. Stumm schüttelte sie den Kopf.
"Du weißt aber, wer es war, oder?" Er wusste es anscheinend auch, wenn sie seine Art zu fragen richtig deutete.
"Ja."
"Dann war die Geschichte mit der Tante gelogen?" Wieder bejahte sie. "Habe ich mir gedacht. Lügen ist nicht gerade deine Stärke. Nun, hier, du kannst mein Telefon benutzen." Er reichte ihr seinen Dienstapparat und eine Zettel mit einer Telefonnummer darauf. Ein wenig verwirrt nahm sie beides entgegen. Bis vor kurzem hatte sie noch gedacht, ihre Situation erfassen und einschätzen zu können. Jetzt tappte sie erneut im Dunkeln.
"Du musst vorher die Null wählen." Sie nickte und begann mit zitternden Fingern die Tasten zu drücken. Feuchte Abdrücke blieben auf den Tasten zurück und verrieten ihre Nervosität, vielleicht sogar mehr. Sie wartete gespannt. Eine tiefe Männerstimme empfing sie am anderen Ende der Leitung und erkundigte sich höflich nach ihrem Begehr.
"Raisa Lisles Zimmer bitte," sagte sie fast ohne zu stottern. Die Stimme bat sie, einen Moment Geduld zu haben. Es klickte in der Leitung. Bitte lass sie da sein, dachte sie. Noch ein Klicken.
"Hallo?" Aileen lachte erleichtert.
"Raisa? Ich bin’s." Ihre Brust fühlte sich mit einem mal so leicht an.
"Wer ist denn da bitte?" Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Raisa kannte ihre Stimme doch überhaupt nicht!
"Entschuldige, hier ist Aileen. Erinnerst du dich?" Ein kurzer Moment des Schweigens, dann überfiel sie die Frau mit einem Redeschwall.
"Aileen? Du kannst sprechen? Ich glaub’s ja nicht! Gott sei Dank! Wie ist es euch ergangen? Geht es Cody gut? Habt ihr diesen Trevor gefunden? Erzähl schon! Oh Gott, ich hab mir solche Sorgen um euch gemacht. Von wo rufst du eigentlich an? Wir müssen uns unbedingt treffen. Woher hast du meine Nummer? Ich rede schon wieder zu viel!"
"Wir sind in St. Louis, auf dem Polizeirevier." Sie erzählte ihr in knappen Worten, was ihnen seit ihrer Trennung zugestoßen war. Dass der Detective sie dabei interessiert beobachtete und jedem ihrer Worte Beachtung schenkte, bemerkte sie nur am Rande. Es war ihr auch gleich. Immerhin kannte er die halbe Wahrheit schon, warum nicht auch die ganze?
"In Ordnung. Ich bin so schnell wie möglich bei euch. Grüß Cody von mir!" Den Tränen noch nie so fern wie in diesem Augenblick legte sie den Hörer auf und gab den Apparat dankbar an Detective Grant zurück, welcher ihn wortlos entgegennahm.
"Sie kommt vorbei. Möchten Sie jetzt wissen, was tatsächlich geschehen ist?" Zu ihrem Erstaunen schüttelte er den Kopf.
"Heute nicht mehr. Ich fahre jetzt nach Hause. Bestellt Raisa einen schönen Gruß von mir!" Damit erhob er sich und wies Aileen an, sich wieder in die Zelle zu begeben. Verwirrt leistete sie der Anweisung Folge und wurde von den neugierigen Blicken ihrer Freunde in Empfang genommen. Sie hatten das Gespräch lediglich mit den Augen verfolgen können und waren dementsprechend gespannt auf ihre Worte. Detective Grant verschwand aus ihrem Sichtfeld.
"Und? Was hat er gesagt?" fragte Trevor, während Cody sie eindringlich ansah.
"Ich habe Raisa angerufen", war alles, das sie hervorbrachte.
"Ehrlich?" entfuhr es Cody. "Kommt sie hierher? Das ist spitze! Wir sind so gut wie gerettet!"
"Immer langsam! Das kann doch nicht alles sein, worüber ihr gesprochen habt, oder?" Aileen senkte den Kopf.
"Leider nicht. Grant weiß etwas, nur bin ich mir nicht genau sicher, was das ist. Ich erzählte ihm eine falsche Geschichte über unsere Reise, doch er ..."
"Bist du irre? Wir stecken schon tief genug drin!" unterbrach sie Trevor.
"Wo drin? In der Scheiße? Ich wusste nicht, dass Medizinstudenten fluchen." Trevor packte Cody am Kragen und drohte ihm, bis Aileen dazwischen ging.
"Jedenfalls wusste er von deiner Lähmung. Ich glaube, dass er sich über den Einfluss der Partei in dieser Sache bewusst ist."
"Ob uns das von Nutzen sein wird, werden wir also erst morgen erfahren", murmelte er und ließ sich auf die Pritsche sinken.
Allmählich trudelte die Nachtbesetzung ein. Einige musterten sie, andere ignorierten sie trotz der Kenntnisnahme ihrer Anwesenheit. Ein Mann in Uniform kam grinsend auf die Zelle zu, um sie genauer zu betrachten.
"Lasst mich raten. Detective Grant hat euch eingelocht, stimmt’s?" Keiner der drei Insassen reagierte. "Hab ich’s mir doch gedacht. Kinder sind seine Spezialität, müsst ihr wissen." Er lachte ausgiebig über seine witzige Bemerkung und bog sich vor Lachen, wobei er einen beachtlichen Bierbauch präsentierte. Ein paar seiner Kollegen fielen in das Gelächter mit ein. Aileen warf Cody einen verächtlichen Blick zu und drehte sich angewidert um.
"Was soll das denn? Ich rede mit euch!" beschwerte sich der Officer beleidigt. Wieder hatte er die Lacher auf seiner Seite. Das Spiel begann ihm Spaß zu machen. Aileen lehnte sich zu Cody hinüber.
"Haben wir jetzt keine Rechte mehr oder was?" fragte sie leise, woraufhin er bloß die Schultern zuckte. Er hoffte, dass Raisa kam, bevor diese Witzfigur auf andere Gemeinheiten zurückgriff, wie er sie selbst schon erlebt hatte.
"Warum seid ihr denn hier?"
"Ich frage mich allen Ernstes, wer hier in diese Zelle gehört", murmelte Aileen kaum hörbar, so sehr hatte sie ihre Stimme gesenkt, um den unverschämten Mann nicht zu verärgern, welcher gutgelaunt damit fortfuhr, sie mit weiteren dummen Sprüchen zu malträtieren.
"Sag mal, Kleine, du würdest dich doch hier bei uns viel wohler fühlen, als in dieser schmutzigen Zelle, nicht wahr? Immerhin befändest du dich dann in der Gesellschaft netter Polizisten!" Sie kniff die Augen zusammen und schob die Unterlippe ein wenig vor.
"Nur über meine Leiche", murmelte sie, dieses Mal laut genug, dass die Polizisten es verstehen konnten. Pfiffe und erstauntes Schweigen. Der vorlaute Fettwanst fühlte sich in seinem Ansehen verletzt und konterte sofort.
"Oho! Da hat aber jemand eine ganz schön große Klappe!" Codys Gesichtsausdruck versteinerte sich. Bei einfachen Schikanierungen würde es jetzt nicht mehr bleiben. Er selbst hatte sich durch eine dumme und unvernünftige Bemerkung eine heftige Ohrfeige eingefangen, von welcher er trotz einer Anzeige noch Tage später etwas gehabt hatte. Für den brutalen Officer hatte es dank guter Beziehungen seinerseits keine schwerwiegenden Konsequenzen gegeben. Natürlich gab er ihr keine Schuld, denn sie kannte das Risiko nicht und ärgerte sich zu Recht. Leider konnte sie nicht mit Fairness rechnen.
"Bleib ruhig, Aileen. Sag am besten gar nichts mehr." In ihren Gedanken rächte sie sich mit schlagfertigen Kommentaren, die auch nicht gerade der Höflichkeit entfallen waren. Aber sie waren nichts im Vergleich zu dem, was ihr Widersacher, als welchen sie ihn innerlich betrachtete, zu sagen hatte:
"Weißt du, was ich glaube? Nein? Ich denke, du hast deinen Zuhälter beschissen, weil du zu wenig Knete anschaffen konntest." Sie starrte ihn völlig entgeistert an. Vielleicht ließ sich ihre Reaktion auf ihre behütete Kindheit zurückführen, denn selbst hinter ihrer Stirn, in ihrer eigenen Arena, war sie nicht derartig ausfallend geworden. Doch wenn es der Kerl nicht anders haben wollte, blieb ihr keine andere Möglichkeit. Dies war ein Duell, das sie um jeden Preis gewinnen wollte, obwohl es normalerweise gar nicht ihre Art war, Menschen fertigzumachen oder bloßzustellen. Sie ging mit größter Sorgfalt vor, indem sie ihren Gegner eingehend musterte. Er musste um die 50 sein, zu schwer für seine Größe und ziemlich unansehnlich. Seine Hände endeten in prallen Würsten, von denen ein Finger eine Delle aufwies. Der rechte Ringfinger. Also war dieses fettleibige Etwas verheiratet gewesen. Allein die Vorstellung löste Widerwillen in ihr aus. Nun lebte er also allein und achtete nicht mehr sonderlich auf sein Äußeres. Das Hemd war nicht mehr das jüngste und schlecht gebügelt, wenn überhaupt. Außerdem hatte er speziell sie angegriffen. Mit diesen Informationen konnte sie zum Gegenschlag ausholen.
Ohne auf die Einwände ihrer Freunde zu achten, erhob sie sich und verschränkte die Arme vor der Brust. Ein amüsiertes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie mit fester und leicht höhnischer Stimme zu sprechen begann:
"Sicher, Officer! In diesem Milieu kennen Sie sich offensichtlich ausgezeichnet aus. Hat Sie Ihre Frau deswegen verlassen? Wundern würde es mich jedenfalls nicht. Obwohl das nicht der einzige Grund gewesen sein kann", fügte sie hinzu und bedachte ihn mit einem abschätzenden Blick. Seine Kinnlade war heruntergeklappt und machte keine Anstalten, ihre Position zu verändern. Ihre Pfeile hatten anscheinend direkt ins Schwarze getroffen. Er machte ein paar unsichere Schritte in ihre Richtung. Überraschung und Wut belebten sein Gesicht, das sich allmählich rot verfärbte. Selbst seinen klatschenden und pfeifenden Kollegen hatte es die Sprache verschlagen, bis einer applaudierte.
Ihr schockierter Gegner fuhr herum, wobei das Fett auf seinen Hüften wackelte, als wäre er ein lebender Pudding. Als er sich Aileen zuwandte, funkelten seine wässrigen Augen vor Zorn über die Demütigung. Seine Mundwinkel zuckten. Alles in allem erinnerte er sie an einen viel zu fetten Boxerrüden, der angreifen wollte, jedoch genau wusste, dass er bereits besiegt worden war. Die meisten anderen Polizisten fielen in den Applaus mit ein. Schnaubend schob sich der Besiegte in Richtung der Waschräume davon.
Die Gewinnerin staunte über sich selbst, dass sie etwas Derartiges über die Lippen gebracht hatte und dem fettleibigen Kerl damit den Todesstoß versetzte hatte. Das genaue Gegenteil von diesem lehnte auf der anderen Seite des Büros an seinem Schreibtisch vor der Wand mit den Fahndungsschreiben und betrachtete sie missbilligend. Nachdem sie dem Blick eine Weile standgehalten hatte, gab auch er auf und verbarg seine Nase in seinen Unterlagen. Vielleicht ging es ihm ebenfalls nahe, was sie gesagt hatte. Oder er war bloß ein Freund des fetten Kerls. Erleichtert wandte sie dem Revier den Rücken zu. Cody und Trevor starrten sie an.
"Sag mal, du siehst gar nicht so gemein aus. Woher wusstest du, dass dieser Typ geschieden ist, wenn man mal von seinem Äußeren und dem Charakter absieht?"
"Reine Beobachtungsgabe", schnappte Trevor.
"Entschuldigen Sie, Mr. Holmes, aber Sie wissen ja, dass dem guten Dr. Watson solche Dinge immer entgehen."
"Hört auf, euch wie Kinder zu benehmen! Deshalb sitzen wir immerhin hier drin!" ermahnte sie Aileen. Cody sah sie entschuldigend an.
"Immerhin hat er mich einen Dummkopf genannt. Da musste ich doch wenigstens meine Ehre verteidigen!"
"Erstens habe ich dich keinen Dummkopf genannt und zweitens: Von welcher Ehre redest du?" konterte Trevor streitlustig. Das Mädchen stampfte wütend mit dem Fuß auf.
"Schon gut. Ich hör auf. Kein Wort mehr, versprochen. Wir sind ja erwachsene Menschen, ich zumindest." Cody wollte gerade protestieren und öffnete die Lippen, als sie ihm zuvorkam und ihm einfach den Mund zuhielt, so dass nur unverständliches Gemurmel zu hören war. Die Stimmung war entspannt. Plötzlich:
"Aileen! Cody! Endlich! Oh Gott, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!" Eine hochgewachsene Frau in den 40ern kam mit wehendem Haar und offenen Armen auf sie zu, wurde aber von den Gitterstäben aufgehalten.
"Raisa!" Aileen sprang auf und lief ihr entgegen. Es war unglaublich, wie sehr sie die beiden ins Herz geschlossen hatte. Durch die Eisenstäbe drückte sie das Mädchen an sich, Freudentränen vergießend. Verwunderte Blicke ruhten auf dem Rücken ihres beigen Mantels.
"Wie ist es euch ergangen? Sagt schon!" Cody musterte sie von oben bis unten, da er sie im Gegensatz zu Aileen zum ersten Mal sah. Das lange Haar war hellblond, von zarter Farbe wie Seide, wasserblaue warme Augen ruhten in einem ebenmäßigen und blassen Gesicht. Er hatte nie darüber nachgedacht, wie sie aussehen könnte, doch selbst wenn, wäre er auf dieses Bild niemals gekommen. Mit einem umwerfenden Lächeln umarmte sie ihn, wobei er den dezenten Duft von Seife wahrnahm.
"Du siehst gut aus. Deine Augen wirken jetzt viel lebendiger. Und du bist also Trevor." Er erhob sich und reichte ihr die Hand. "Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Raisa Lisle. Ist William hier? Ich meine natürlich Detective Grant." Sie schüttelten die Köpfe.
"Na ja, da kann man nichts machen." Die übrigen Polizisten, die in ihrer Nähe standen, benahmen sich jetzt besonders höflich und zurückhaltend. Manchmal war es äußerst unvorteilhaft, jung zu sein, dachte das Mädchen seufzend.
Nach der freudigen Begrüßung erzählte Raisa kurz, was nach ihrer Trennung geschehen war. Anschließend lauschte sie Aileens Erzählung, ohne sie zu unterbrechen oder Fragen zu stellen. Allein an ihrer Mimik ließen sich die Gedanken hinter ihrer teilweise gerunzelten Stirn erahnen. Als sie verstummte, herrschte einen Moment lang Stille.
"Wenigstens kannst du wieder sprechen. Es ist schön, endlich deine Stimme zu hören. Aber warum haben sie euch nach St. Louis gebracht? Was wollten sie damit bezwecken? Ich wünschte, ich wüsste, wo sie überall ihre Finger im Spiel haben! Man sieht sie beinahe an jeder Straßenecke. Richtig gespenstisch ist das manchmal", sie verfiel ins Flüstern, "um ehrlich zu sein, fühle ich mich oft von ihnen beobachtet, obwohl sie geschäftig und uninteressiert wirken." Jemand legte ihr eine Hand auf die Schulter und sagte:
"Ja, schon, aber sie sehen und hören mehr, als wir ahnen. So geht jeder professionelle Beobachter vor." Raisa verkrampfte sich und drehte rasch den Kopf. Es war William Grant, der ihr ernst in die Augen blickte. Ihr fiel ein Stein vom Herzen.
"William! Verdammt, hast du mich vielleicht erschreckt!" Er murmelte eine Entschuldigung und trat näher an die Gitterstäbe. Sein Blick wanderte in die ungemütliche Zelle, in deren Ecken sich Schmutzlachen gebildet hatten. Er überlegte, wie lange die letzte Grundreinigung her sein mochte. An den rußigen Wänden bröckelte schon der Putz und er glaubte, an einigen Stellen Schimmel entdecken zu können. Wie lange war es seit der letzten Renovierung her? Erst jetzt fiel ihm auf, wie heruntergekommen die Zelle aussah. Das Gesundheitsamt würde sich wie ein hungriger Piranha auf diesen Verstoß gegen die Hygienevorschriften stürzen. Wieso war ihm das früher nie aufgefallen?
"Raisa, kannst du die Geschichte der drei bestätigen? Ich weiß zwar noch nicht alles ganz genau, habe mir aber ein recht detailliertes Bild gemacht. Die Partei ist auch ein führender Bestandteil. Allerdings fehlen mir die Verbindungsstücke."
"Sie sagen die Wahrheit, William. Du musst sie freilassen. Es könnte sein, dass die Partei immer noch hinter ihnen her ist. Wir werden dir alles Weitere erklären, das verspreche ich dir."
"Keine Sorge, ich werde sie frei lassen. Und die Partei hat auch nicht geschlafen. Das Gesuch um ihre Herausgabe wird morgen auf meinem Schreibtisch liegen." Aileen wurde blass und wich einen Schritt ins düstere Innere der Zelle zurück. Cody umklammerte die Gitterstäbe so fest, dass sämtliches Blut aus seinen Fingern gepresst wurde und die Gelenke kurz davor schienen, die gespannte Haut zu durchstoßen. Trevor blieb nach außen hin völlig gelassen und schüttelte nur stumm aber endgültig den Kopf, als würde er das auf keinen Fall zulassen.
"Das geht nicht!" sagte Raisa bestimmt. Dennoch schwang ein Hauch von Furcht in ihrer Stimme, eine Spur von Zweifel an dem nahen Schicksal und der Entscheidung, die es unweigerlich forderte. "Vergiss es! Die kriegen diese drei niemals!" Einige Polizisten drehten sich fragend zu der Frau neben Detective Grant um.
"Ich habe nicht vor, sie auszuliefern", eröffnete er ihr zu seiner eigenen Überraschung. "Doch bevor ich euch helfe, möchte ich folgende Dinge wissen: erstens: Warum interessiert sich die Partei für diese Kinder? Und zweitens: Was habt ihr vor? Vielleicht schließe ich mich euch an." Aileen starrte den Mann, der sie noch heute Nachmittag angeschrien hatte, mit neuem Respekt an. Hatte er helfen gesagt? Raisa nickte nachdenklich.
"Gut. Cody? Willst du anfangen?" Seine Hände fielen von den Stangen wie abgestorbene Efeuranken und verschwanden im schmutzigen Dunkel der Zelle. Die Lippen waren zu einem schmalen, festen Strich zusammengepresst.
"Na ja, ich weiß auch nicht genau, wie ich das ausdrücken soll. Es ist mir ja selbst nicht ganz klar. Als die Partei auftauchte, konnte ich nicht mehr sehen, Aileen war plötzlich stumm und Trevor war gelähmt, aber das wissen Sie ja schon." Grant unterbrach ihn mit einer Geste.
"Ich möchte nur wissen, was die Partei an euch so besonders findet. Über den Rest weiß ich mehr oder weniger Bescheid." Der Junge bemerke, dass sich der Detective sehr zusammenreißen musste, um nicht wütend zu werden.
"Ich glaube,...hm... ich glaube, dass wir in der Lage sind, sie aufzuhalten." Nach einer Weile lachte Grant.
"Das klingt in der Tat lächerlich. Drei Halbstarke retten die Welt!" Raisa warf ihm einen missbilligenden Blick zu, der allerdings so gut wie nichts erreichte.
"Nicht die Welt. Nur diesen kleinen Teil. Das denke ich jedenfalls, " verteidigte sich Trevor. Der Detective atmete tief ein und wieder aus, um den Druck in seiner Brust ein wenig zu lindern. Endlich blickte er Cody wieder in die Augen, die ihn aufmerksam fixiert hatten. Aus ihrem tiefen Blau drang keinerlei Information über die Vorgänge hinter der Stirn des Jungen.
"Also, ... Cody, ... ich weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll, aber... Nun, ich möchte euch das glauben, doch aus persönlichen Gründen fällt mir das nicht gerade leicht. Dennoch werde ich es versuchen." Diese vage Unsicherheit passte nicht wirklich zu dem hochgewachsenen, einschüchternden Mann, den sie bisher kennengelernt hatten.
"Das heißt, dass Sie uns helfen wollen?" fragte Cody zweifelnd. Grant blickte sie alle nacheinander an, auch Raisa, die neben ihm stand. Dann nickte er langsam. Ein Teil von ihm schüttelte ungläubig den Kopf darüber, dass er das eben tatsächlich gesagt und auch so gemeint hatte. Das Leben geht weiter, ob es mir nun gefällt oder nicht, ermahnte er sich stumm. Ein Satz, den er vor einiger Zeit gehört hatte, kam ihm wieder in den Sinn: Jeder muss seine eigenen Antworten finden, denn es gibt Dinge, die von der Allgemeinheit ausgeschlossen sind. Es hatte den Anschein, dass er nun eine Antwort auf eine drängende Frage erhalten hatte, nur war er sich noch nicht ganz sicher, ob sie ihm gefiel. Manche Veränderungen beanspruchten Zeit, während andere von einem scheinbar harmlosen Liderschlag auf den nächsten geschahen.
"Meine erste Frage wäre somit beantwortet. Die Partei ist hinter euch her, weil ihr irgendeine Gefahr für sie darstellt. Das ist ein Grund, auch wenn ich ihn nicht so recht nachvollziehen kann. Zu meiner zweiten Frage: Was genau habt ihr vor?"
"Um ehrlich zu sein haben wir uns darüber noch keine Gedanken gemacht. Nennen Sie es jugendlichen Leichtsinn." Grant runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. Aileen wartete nur noch darauf, dass er eine Braue skeptisch hochzog. Dies tat er jedoch nicht.
"Jedenfalls ist das einzige, das wir mit hundertprozentiger Sicherheit wissen, dass die Partei nichts Gutes im Schilde führt. Das Ergebnis ihrer Bemühungen um Frieden wird das Gesicht des Menschen, so wie wir ihn kennen, verändern. Mit der Zeit bin ich zu dem Schluss gekommen, dass wir drei hier, und Raisa natürlich, eine Art Organisation gründen sollen, welche der Partei entgegen wirkt, bevor diese zu stark wird und Maßnahmen gegen uns unternimmt, wie sie bereits begonnen haben, glücklicherweise ohne Erfolg. Das ist die Wahrheit, so weit wir sie begriffen haben. Die Ursache hierfür liegt immer noch im Dunkeln, wo sie wahrscheinlich auch bleiben wird." Der Detective stopfte seine Hände tief in die Hosentaschen und hob seinen Blick zur Decke. Neben ihm trat Raisa nervös von einem Fuß auf den anderen und musterte den Mann neben sich.
"Sehen Sie, Mr. Grant, die Partei verspricht uns Frieden, was ja an sich nicht schlecht ist. Immerhin haben wir uns das alle immer gewünscht, oder? Zu Frieden gehört das Prinzip der Ordnung. Ohne diesen Zustand erhalten wir keinen Frieden aufrecht, denn Chaos geht Hand in Hand mit Krieg. Um Ordnung durchzusetzen brauchen wir Regeln, an die wir uns uneingeschränkt halten müssen", erklärte Aileen. Trevor, der ihrem Gedankengang gefolgt war, fuhr fort:
"Genau. Regeln sind unerlässlich. Auch in unserer Gesellschaft, die sich gerade im Umbruch befindet, gab es Regeln. Allerdings hat sich nicht jeder ausnahmslos daran gehalten, sonst wären Sie arbeitslos. Um Frieden zu ermöglichen, ist die Partei folglich gezwungen, dafür zu sorgen, dass sich jeder an die festgelegten Regeln hält. Dies wollen sie erreichen, indem jeder Mitglied wird, so dass wir alle zusammen gehören. Das klingt ja ganz toll, dennoch ist es undurchführbar, wenn die Menschen als Individuen weiterexistieren sollen. Mit der Individualität würden sie die Menschen auch ihrer Freiheit berauben. Und ich bin mir sicher, dass jedem die persönliche Freiheit mehr wert ist, als allgemeiner Frieden. Ich meine, was haben wir von Frieden, wenn uns die Freiheit fehlt, dieses auch wirklich zu genießen."
"Vielleicht werden wir uns irgendwann einmal soweit entwickelt haben, dass wir unseren starken Drang nach persönlicher Freiheit einschränken können, um einen zivilisierten Frieden zu bewahren. Aber solange dies nicht der Fall ist, wird jeder Versuch, uns Frieden aufzudrängen, der mit dem Verlust unserer Freiheit einher geht, auf Widerstand stoßen", vollendete Aileen die Argumentation.
"Sie hat recht. Wenn man mal darüber nachdenkt, sind viele Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen entstanden, weil Menschen sich Regeln widersetzt haben, oder für ihre Freiheit gekämpft haben, ob das nun gerechtfertigt war oder nicht", überlegte Raisa laut.
"Das würde ich auch sagen. Der Wunsch nach Freiheit und der Druck von Regeln rechtfertigen noch lange kein sinnloses Morden", warf Grant ein.
"Es liegt eben in der Natur des Menschen, alles was er tut, grenzenlos zu übertreiben", lieferte Cody als schwache Verteidigung seiner Rasse. Grant verfiel erneut in tiefes Nachdenken. Sein Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass diese Gedanken nichts mit dem Thema von eben zu tun hatten. Seine Entscheidung stand kurz bevor.
VII
St. Louis, Missouri, USA
"Wheeler! Stanzs!" Los, bringt die drei zum Wagen! Schneller! Die Partei hat die sofortige Auslieferung verlangt! Macht schon! Soll ich euch vielleicht eure Krücken holen?! Beeilung!" Detective Grants durchdringender Bass erfüllte das Revier, während Aileen, Cody und Trevor von den beiden angesprochenen Polizisten aus der Zelle gezerrt wurden. Raisa sah hilflos zu und wandte sich immer wieder an Grant, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Ihre Einwände blieben fruchtlos. Grants Erde war einfach zu trocken oder sogar aus totem Beton.
"William, bitte! Ich dachte..."
"Was?" Er funkelte sie wütend an, bevor er seinen Gefangenen schweigend folgte. Die selbstbewusste Frau ließ sich allerdings nicht so leicht abwimmeln, geschweige denn einschüchtern. Sich eine Strähne des platinblonden Haars aus der Stirn blasend stürmte sie hinter dem gut anderthalb Köpfe größeren Mann her und packte seinen Arm, auf dass er beinahe sein Gleichgewicht verloren hätte.
"William Grant!" versetzte sie scharf. "Ich bestehe darauf, mitzukommen!" Gesunde Zähne entblößten sich zu einem humorlosen Lächeln, das in etwa die Wärmeemission eines Eisfachs besaß.
"Wie Sie wünschen, Mrs. Lisle. Aber lassen Sie meine Jacke los." Damit setzte er seinen Weg fort, dicht gefolgt von einer verzweifelten Raisa, die sich sein Verhalten nicht im Geringsten erklären konnte. Vor wenigen Augenblicken schien es noch, als wollte William sie unterstützen. Immerhin hatte er etwas von helfen gesagt. Und jetzt das!
In der Zwischenzeit hatten Wheeler und Stanzs die kriminellen Jugendlichen auf den Rücksitz des Streifenwagens befördert. Cody fand sich an die gegenüberliegende Tür gequetscht. Der Hebel zum Herunterkurbeln des Fensters – in diesem Wagen sowieso überflüssig – machte sich schmerzhaft in seiner linken Seite bemerkbar. Zu seiner Rechten kauerte Aileen wie gelähmt. Sie schien nicht zu bemerken, wie hinter Trevor die Tür achtlos zugeworfen wurde, und Grant den Motor anließ.
"Mrs. Lisle wünscht die Gefangenen zu begleiten, deshalb fahre ich allein. Und macht euch keine Gedanken über den Bericht. Den schreibe ich, wenn ich wieder da bin. Bis dann!" Raisa blieb keine Zeit, sich anzuschnallen, bevor der Detective auf die Straße fuhr. Das Signal, welches sie darauf hinwies, dass ihr Sicherheitsgurt noch ungebraucht rechts neben ihrer Schulter hing, erfüllte den Wagen. Es zerrte an ihren Nerven und veranlasste sie dazu, eiligst den Gurt anzulegen. Mit dem Klicken reduzierte sich die Geräuschkulisse auf das Brummen des Motors und den Straßenlärm.
"Hey, Aileen. Aileen!" Verzweifelt sah sie zu Cody, der seinen Körper gerade in eine bequemere Lage brachte. Sein breites Grinsen ließ sie stutzen.
"Hör auf zu grinsen, Finley! Für dich gibt es nichts mehr zu lachen, Freundchen!" Der Junge brach in schallendes Gelächter aus.
"Klingt wie Clint Eastwood in seinem schlechtesten Film, Grant!"
"Für dich immer noch Detective!" Aileen und Trevor sahen sich entgeistert an. William lenkte den Wagen in eine Parklücke und schaltete den Motor aus.
"Wartet mal einen Moment hier. Ich bin gleich zurück", sagte er und stieg aus. Raisa sah ihm nach und verfolgte, wie er auf ein Bankgebäude zuging. Verwirrt drehte sie sich halb nach hinten und nagelte Cody mit Blicken an den Rücksitz.
"Sag mir auf der Stelle, was hier vorgeht!" forderte sie ihn auf. Ihre Augen blitzten.
"Nun, ich würde Ihnen liebend gerne weiterhelfen, Mrs. Entschuldigen Sie vielmals, ich habe Ihren Namen nicht richtig verstanden, aber diese Angelegenheit unterliegt der strengsten Geheimhaltung." Damit schaute er unbeteiligt aus dem Fenster und pfiff leise vor sich hin. Trevor ballte die Hände zu Fäusten, als William die Tür öffnete und einstieg.
"Keine Gewalt in diesem Wagen, wenn ich bitten darf! Also, wohin soll’s denn gehen?" Die blonde Frau neben ihm wandte sich ihm zu und hob eine Braue, was ihrem Gesicht noch mehr Reiz verlieh.
"Ich verlange jetzt eine Erklärung, oder ich werde schreien!" drohte sie scharf. William lächelte.
"Ich habe beschlossen, euch wohin auch immer zu begleiten und euch zu helfen. Die Gründe dafür sind mir nur teilweise klar. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es richtig ist, dass es der Weg ist, den ich einschlagen soll. Es ist an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Die Vergangenheit kann ich nicht mehr ändern, egal, wie viele jugendliche Straftäter ich verhafte. Ich will euch nicht erklären, was dies für mich bedeutet, zumindest jetzt noch nicht. Aber ich rate euch im Guten, das Vertrauen, das ich hiermit in euch fasse, nicht zu enttäuschen." Seine eher kryptischen Worte ließen Raisa an ein Orakel denken, erfüllten sie jedoch zugleich mit großer Freude und Erleichterung. Sie hatten der Partei ein Schnippchen geschlagen und einen weiteren Reisegefährten gewonnen.
William Grant, ehemaliger Police Detective in St. Louis, hatte noch einen anderen Grund, sein Leben hinter sich zu lassen und etwas Neues zu beginnen, und dabei handelte es sich nicht um die abermals abgelehnte Beförderung zum Lieutenant.
"Zum dritten Mal: wohin soll’s jetzt gehen? Ich nehme doch mal an, ihr habt eine Vorstellung davon, wie es jetzt weitergeht."
"Erstmal raus aus der Stadt. Dann sollten wir uns in Ruhe zusammen setzen und darüber nachdenken", entschied Raisa.
"Also kein Plan", murmelte William und seufzte. "Ehrlich gesagt habe ich nichts anderes erwartet." Die Frau neben ihm lehnte sich in ihrem Sitz zurück und entspannte sich. Plötzlich fiel ihr etwas ein.
"William! Willst du nicht erst noch nach Hause fahren und ein paar Dinge mitnehmen?"
"Dinge?" wiederholte er fragend.
"Na ja, persönliche Sachen, die dir zu wichtig sind, um sie zurückzulassen. Ich für meinen Teil würde schrecklich gerne bei dem Motel vorbeifahren, in dem ich übernachtet habe, um mein Gepäck abzuholen."
"Gepäck?" echote er skeptisch. Sie knuffte ihn in die Seite.
"Nicht, was du jetzt denkst. Es ist nur eine Reisetasche. Eine kleine, mehr nicht. Stimmt doch, Aileen, oder?" Das Mädchen auf der Rückbank nickte zustimmend.
"Ehrlich nur eine kleine Tasche", pflichtete sie der älteren Frau bei. William brummte eine Zustimmung. Vielleicht war es gar keine so schlechte Idee, Kleidung und einige andere Dinge mitzunehmen.
Er begleitete Raisa auf ihr Zimmer. Der Aufzug war leer und bot somit Raum für eine offene Unterhaltung.
"War es für dich eigentlich schwer, dein Leben hinter dir zu lassen?" erkundigte er sich zögernd. Sie senkte den Kopf und schwieg einen Moment.
"Zuerst schon. Ich hatte ein kleines Haus. Alle meine Erinnerungen waren darin verwoben. Die Partei hat mir geholfen, diese hinter mir zu lassen, indem sie ein Feuer gelegt hat. Von meinem alten Leben ist nichts als Asche übrig geblieben", sagte sie leise und mit belegter Stimme. In ihren Augen schimmerten Tränen. Augenblicklich bereute William seine Frage und verfluchte sich stumm für seine Gedankenlosigkeit.
"Es... es tut mir leid, ich wollte nicht..." Sie unterbrach ihn mit einer wegwerfenden Geste.
"Ist schon in Ordnung. Irgendwie haben sie es mir dadurch leichter gemacht. Ich kann es mir nicht mehr anders überlegen, denn es gibt nichts mehr, wohin ich zurückkehren könnte. Bist du dir sicher, dass du wirklich mit uns kommen willst?" Überrascht sah er sie an.
"Ja, das bin ich. Es ist verrückt, aber... ihr braucht Hilfe, soviel steht fest. Und ist es nicht die Aufgabe eines Polizisten, Menschen zu helfen?" Sie zog eine Grimasse.
"Schon, aber denkst du nicht auch, dass das hier ein wenig übertrieben ist?"
"Wenn du nicht willst, dass ich euch helfe, brauchst du es nur zu sagen", erwiderte er kühl. Doch Raisa war weit davon entfernt, darauf hereinzufallen.
"Mich führst du nur ein Mal hinters Licht, William Grant!" sagte sie mit erhobenem Finger, als sich die Türen des Fahrstuhls öffneten.
Gegen 22 Uhr befanden sie sich endlich auf dem Weg aus der Stadt. Die drei Jugendlichen hatten darauf bestanden, in Williams Apartment zu duschen und saubere Kleidung anzuziehen. William hatte Trevor in Sachen Kleidung aushelfen können, da der junge Mann zwar nicht seine Statur, aber beinahe die gleiche Körpergröße aufwies. Erstaunlicherweise waren Aileen und Cody immer noch im Besitz der Rucksäcke, die sie aus L.A. mitgebracht hatten.
"Im Nachhinein ist mir etwas Komisches aufgefallen", eröffnete Trevor. "Findet ihr es nicht auch seltsam, dass ich, als wir in St. Louis aufwachten, wieder meine Kleidung trug, die ich bei meiner Einlieferung getragen habe? Irgendwer muss mich umgezogen waren, während wir wo auch immer waren." Aileen nickte nachdenklich.
"Ist wirklich seltsam. Aber noch viel weniger würde mir die Vorstellung behagen, dass irgendjemand, den ich überhaupt nicht kenne, mich komplett umgezogen hat", bemerkte Cody grinsend. Trevor warf ihm einen extrem unfreundlichen Blick zu und murmelte eine Erwiderung, welche jedoch in dem sie begleitenden Knurren unterging. Raisa schüttelte lachend den Kopf und wandte sich wieder ihrer Begutachtung von Williams Wohnung zu. Das Appartement war nicht sonderlich groß, wirkte jedoch geräumig. Die zwei Zimmer neben der Küche boten die klassische Aufteilung in Wohnraum und Schlafzimmer. Die Einrichtung richtete sich nach keinem bestimmten Stil oder Farbton. Die Frau seufzte leise, als sie an ihr Haus dachte, welches für sie nun verloren war. Sie hatte ihre Einrichtung geliebt, besonders das aus Eichenholz gearbeitete Ehebett. Nun war es vermutlich nicht viel mehr als ein Häufchen Asche oder von Ruß und Feuer gekennzeichnet.
"Wir sollten hier nicht viel länger herumtrödeln als notwendig. Wer weiß, wann die Partei Wind davon bekommt, dass etwas nicht stimmt. Jedenfalls sollten wir zu diesem Zeitpunkt so weit von St. Louis weg sein wie möglich. Habt ihr euch schon überlegt, wohin wir fahren sollen?" erkundigte sich William, eine lederne Tasche in der Hand, in welcher sich Kleidung zum Wechseln, wärmere Pullover und andere Sachen von eventueller Wichtigkeit befanden.
"Hast du einen Straßenatlas?" erkundigte sich Aileen.
"Ich schlage vor, dass wir zunächst die Stadt verlassen, uns eine Unterkunft suchen und..."
"Dazu bleibt uns keine Zeit, Cody!" beharrte William.
"Wir legen hier und jetzt unser Ziel fest und legen dann einen Teil der Strecke per Greyhound zurück." Alle Augen richteten sich überrascht auf Trevor. "Das ist sicherer, als wenn wir mit dem Wagen des Detectives fahren. Die Spur ist leichter zu verfolgen. Später können wir uns immer noch ein Auto besorgen."
"Gute Idee. Aber hat eigentlich schon mal jemand darüber nachgedacht, wie wir das alles bezahlen wollen?" warf Raisa ein. William schüttelte ungeduldig den Kopf.
"Zuerst das eine Problem und dann das andere. Hier ist der gewünschte Straßenatlas. Bevor wir uns Sorgen über Finanzen machen, legen wir eine Route fest." Das Mädchen nahm den unhandlichen Atlas entgegen und schlug die Seite mit dem Kontinent von Nordamerika auf. Eselsohren und vereinzelte Kaffeeflecken verzierten das Papier. Für ein paar Minuten studierte sie die Karte.
"Ich bin dafür, dass wir über die Grenze gehen."
"Nach Mexiko?" Sie bedachte Cody mit einem Stirnrunzeln.
"Nein, nach Kanada. In den Großstädten der USA wird sich die Partei ohne Zweifel weitaus schneller festsetzen als in Kanada. Deswegen halte ich eine kanadische Kleinstadt für den sichersten Ort, um sich zu organisieren. Die Leute sind dort misstrauischer, wenn man den Medien Glauben schenken kann." Sie bezog sich damit auf die vereinzelten Aufstände und Proteste gegen die Machtübernahme der Partei, welche sich von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen auf die ländlichen Bezirke beschränkten.
"Das ist richtig, aber was bringt uns das, wenn sie weder der Partei noch uns über den Weg trauen? Und warum ausgerechnet Kanada?" fragte Cody. Sie lächelte ihn gewinnend an.
"Um zuerst deine letzte Frage zu beantworten: Es ist besser, wenn wir uns dort niederlassen und einen Stützpunkt gründen, wo sie es nicht direkt vermuten werden. Es liegt auf der Hand, dass in Nordamerika die Vereinigten Staaten das Informations- und Machtzentrum darstellen, auch wenn ich das als gebürtige Kanadierin nur ungern zugebe. Also gehen wir in die Berge, eine nette kleine Stadt am Fuße der Rockies vielleicht. Und glaub mir, sie werden uns vertrauen. Wem würdest du eher glauben, ein paar normal aussehenden und freundlichen Leuten oder kühlen Anzugträgern, die einen spontan an Anwälte und dergleichen erinnern?" Bevor er etwas erwidern konnte, fuhr Raisa dazwischen.
"Du hast recht, Aileen. Doch unter diesen Umständen sollten wir nicht vergessen, dass wir auch irgendwo wohnen müssen. Auf die Dauer wird ein Motel recht teuer. In nicht allzu ferner Zukunft neigt sich mein Bargeldvorrat dem Ende."
"Was glaubt ihr, was ich vorhin in der Bank gemacht habe?" erkundigte sich William ein wenig gereizt und deutete auf seine Tasche. Cody starrte ihn verblüfft an, während Trevors Gesichtszüge vor Bestürzung zu entgleisen drohten.
"Aber Mr. Grant, das... das können wir doch nicht... nein, ich meine..."
"Erstens, ich heiße William oder einfach nur Grant, wenn dir das lieber ist, und zweitens: Ich verlasse diese Stadt, meinen Job und alles andere für immer. Wozu sollte ich dann meine Ersparnisse für mich behalten? Wir stecken jetzt gemeinsam in dieser Sache drin, oder nicht?" bemerkte er, immer noch ein wenig verwundert über sich selbst. Raisa bedachte ihn mit einem warmen Lächeln. Auch Aileen und Cody schenkten ihm dankbare und bewundernde Blicke, die dem ehemaligen Detective unangenehm und peinlich zu werden begannen. Sich räuspernd lenkte er die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf das ursprüngliche Thema zurück.
"Kanada also. In den Rockies hattest du gesagt? Das Gebiet müsste auch in dem Atlas drin sein. Hoffe ich jedenfalls." Das Mädchen begann erneut zu blättern, bis es eine Karte der Provinzen Alberta und British Columbia gefunden hatte. Ihre Augen wanderten zu der großen Stadt an der Küste - ihrer Heimatstadt. Sie fühlte Schwermut und starke Emotionen in sich aufsteigen, so dass sie den Blick schleunigst gen Osten wandte.
Währenddessen nahm Cody Trevor genauer in Augenschein, welcher auf einem Stuhl eher hing als saß und sich die Augen rieb.
"Hat jemand ein paar Streichhölzer für Trevor?" fragte er in die Runde. Die grünen Augen, die sonst so intensiv leuchteten wirkten blass, beinahe glasig, und wurden von dunklen Ringen umzingelt. Hin und wieder fielen sie gegen den Willen ihres Trägers zu. William pochte mit einem Briefbeschwerer in Form eines Revolvers ein paar Mal auf die Tischplatte.
"Reiß dich zusammen. Du kannst später schlafen, wenn wir unterwegs sind. Aileen? Könntest du bitte die Karte auf den Tisch legen, so dass jeder hinein schauen kann?" Sie tat wie geheißen und rückte ihren eigenen Stuhl dementsprechend näher an die Tischkante. Raisa übernahm die Wortführung.
"Hier haben wir also das Gebiet westlich der Rockies. Hat jemand einen Vorschlag?" Mit einem Seitenblick auf Cody fügte sie hinzu: "Wenn möglich einen ernsthaften." Die gelbe Lampe strahlte warmes Licht auf den runden Plastiktisch in Williams Küche, die mit fünf Personen schon überfüllt wirkte.
"Warum beschränken wir uns auf die westliche Seite jenseits des Gebirges? Der Osten täte es doch auch", sagte Trevor müde.
"Schon, aber ist das nicht weiter als die Westseite?" entgegnete Cody.
"Wozu gibt es Greyhounds oder Züge?" war die müde Gegenfrage.
"Schon vergessen? Mit unseren großzügigen Spenden sollten wir sparsam umgehen und sie nicht allein für den Transport ausgeben."
"Stimmt", murmelte er gähnend.
"Dennoch sollten wir keine zu kurze Distanz wählen. Nur als Vorsichtsmaßnahme versteht sich", gab William zu bedenken, dessen Blicke wiederholt zu Digitaluhr des Videorecorders wanderten. Wie lange mochte sich diese Diskussion wohl noch hinziehen?
"Ich glaube, ich habe den richtigen Ort gefunden." Alle starrten Aileen irritiert an. Sie schien ein gutes Gespür für Orte entwickelt zu haben, mutmaßte Trevor stumm.
"Revelstoke."
"Klar, kenn ich! Wieso Rebelstoke?" Raisa ermahnte den Jungen mit einem für Erwachsene typischen Blick und sah Aileen erwartungsvoll an.
"Es heißt Revelstoke! Mit einem V. Es ist eine Kleinstadt. Laut dem Atlas etwa 8000 Einwohner. Äh, ich will dieses Schriftstück nicht kritisieren, aber eine neuere Version wäre vielleicht ganz angebracht, wenn wir uns letztendlich auf Weg machen."
"Kein Problem. Wo du gerade davon sprichst: wir sollten uns recht bald auf den Weg machen", machte William den Gedanken hinter seiner Stirn Luft.
"Schon gut, William. Aber eine Frage hätte ich noch. Aileen? Wieso ausgerechnet dieser Ort? Weißt du etwas über ihn?" Trevor, der mittlerweile einen Teil seiner Schläfrigkeit überwunden hatte, sah das Mädchen forschend an.
"Nicht viel mehr, als dass er existiert." Sie zuckte die Achseln. "Irgendwie habe ich nur das Gefühl, dass es der richtige Ort ist. Fragt mich nicht wieso." Niemand verweigerte ihr diesen Gefallen, obwohl das Interesse an der Klärung dieser Frage erhalten blieb. Cody war aufgestanden und wanderte unruhig durch das Zimmer bis er schließlich am Fenster verweilte und die vielen kleinen Lichter in der Dunkelheit jenseits der Glasscheibe betrachtete. Aileen teilte die wenigen Informationen über Revelstoke mit, die sie besaß.
"So weit ich weiß, ist es ein netter kleiner Ort, der bei Touristen nicht unbeliebt ist. Sowohl im Winter als auch im Sommer. Er liegt am Fuß der Rockies und am TransCanadaHighway. Ich denke, es wird nicht schwierig sein, mehr darüber zu erfahren, wenn wir erstmal da sind. Vorausgesetzt, ihr seid alle einverstanden." Eine nachdenkliche Stille folgte ihren Worten.
"Bevor irgendjemand noch etwas sagt, würde ich gerne was loswerden." Trevors Stöhnen missachtend fuhr Cody fort. "Ich will nicht wissen, woher Aileen die Sicherheit nimmt, dass Revelstoke der richtige Ort ist. Trotzdem hat mich diese Sicherheit beeindruckt und ich stimme auf jeden Fall dafür, dorthin zu fahren und nirgendwo anders." William lehnte sich zurück und klatschte ein paar Mal in die Hände.
"Brillanter Vortrag! Ich werde mich anschließen. Bei Revelstoke habe ich ein gutes Gefühl in der Magengegend. Wie steht es mit euch beiden?" fragte er an Trevor und Raisa gewandt.
"Einverstanden. Trevor?"
"Ja. Wenn Aileen dieser Meinung ist, schließe ich mich an. Immerhin hat die ganze Sache bei ihr begonnen. Irgendwie." Abwesend rieb er sein Kinn, welches sich nach der erst kürzlich vollzogenen Rasur angenehm glatt anfühlte.
"Gut. Dann ist unser Ziel beschlossene Sache. Ich schlage folgende Route vor: zuerst fahren wir mit dem Greyhound nach Iowa. Wir besorgen uns in, hm, ja wo, hm, in Mason City einen günstigen Gebrauchtwagen und fahren von dort aus über Minnesota in Richtung Grenze", entschied William.
"Mason City? Wieso dort?" erkundigte sich Cody.
"Das habe ich gerade spontan beschlossen, klar?"
"Wie Fensterglas."
"Freut mich. Sind alle einverstanden?" Nachdem sein Vorschlag allgemeine Zustimmung erhielt, stand William abrupt auf. "Dann auf zum Busbahnhof. Wir werden dort warten, bis der nächste Bus in Richtung Iowa fährt. Während der Fahrt können wir dann schlafen. Ich schätze, dass wir eine ganze Weile unterwegs sein werden. Sicherlich nicht weniger als 12 Stunden."
Trübes Tageslicht empfing sie, als Aileen die Augen aufschlug. Vereinzelte Regentropfen prallten auf die Scheiben des fahrenden Busses und ließen den Fahrtwind ihren weiteren Weg am Glas entlang bestimmen. Ein dumpfer Schmerz machte sich in ihrem Rücken breit, als wollte er sich nach dem Erwachen strecken. Sie nickte ihm in Gedanken zu wie einem alten Bekannten. Er war ihr noch von ihrer Fahrt nach Los Angeles in guter Erinnerung geblieben. Sie beugte ihren Rücken, soweit es der geringe Raum ihres Sitzplatzes zuließ und registrierte erleichtert, dass der Schmerz ein wenig an Intensität verlor.
Ein Blick zu ihrer Rechten verscheuchte die letzte Einsamkeit ihres Schlafes. Es war ein beruhigendes Gefühl, neben einer vertrauten Person aufzuwachen anstatt neben einer völlig fremden.
"Morgen. Hast du gut geschlafen?" begrüßte sie Raisa lächelnd. Das Mädchen verzog das Gesicht und veränderte abermals seine Position.
"Soweit das in einem Bus möglich ist", erwiderte sie gähnend. "Und du?"
"Ebenso. Ich bin jedes Mal aufgewacht, wenn der Bus irgendwo angehalten hat. Kam glücklicherweise nicht so oft vor."
"Immerhin bin ich es ja schon fast gewohnt, in einem Bus zu schlafen, wenn ich an die Strecke von Seattle nach L.A. denke. Wann halten wir denn das nächste Mal an? Und wo sind wir überhaupt?"
"Unser nächster Halt ist Cedar Rapids", meldete sich William, der hinter ihnen saß. "In etwas mehr als einer Stunde müssten wir dort ankommen."
"Frühstück", bemerkte Raisa augenzwinkernd und rieb sich den Bauch.
"Na ja, wenn man bedenkt, dass wir bereits weit nach Mittag haben", gab William zu bedenken.
"Das mag ja sein, aber die meisten von uns haben bis vor kurzem noch geschlafen. Wenn ich das richtig sehe, räkelt sich Trevor immer noch in Morpheus‘ Armen." Aileens Blicke wanderten kurz über den Gang zu Trevor, der sich großzügig über zwei Sitze verteilt hatte und immer noch friedlich schlief.
"Ist doch egal wie wir es nennen. Nahrungsaufnahme klingt gut", mischte sich Cody ein, welcher neben William am Fenster saß, und in diesem Moment auf dem Sitz kniete, um bequemer über die Lehne schauen zu können.
"Setz dich lieber vernünftig hin! Wie alt bist du eigentlich?" herrschte der Mann ihn an. Kinder! Zu seiner Überraschung rutschte Cody wieder in seinen Sitz und ersparte sich jeglichen Kommentar.
Die Sonne hielt sich weiterhin hinter einer soliden grauen Wand aus Wolken verborgen, als die kleine Gruppe von fünf Personen zu dem wartenden Greyhound zurückkehrte. Mit ihnen bewegten sich weitere Reisende auf den Bus zu. Der Mantel der Anonymität bewahrte sie vor prasselnden Schauern aus Neugier.
"Der Spaziergang hat richtig gutgetan. Meine Beine waren schon ganz steif."
"Ich kann es irgendwie nicht glauben, dass wir das hier tatsächlich tun!" sagte Trevor plötzlich. Die Fassungslosigkeit gab seiner Stimme einen beinahe kindlichen Klang. "Ich meine, das ist doch irre! Oder nicht?" Ein schwacher Wind strich durch ihre Haare. Alle Augen waren auf den ehemaligen Medizinstudenten aus Philadelphia gerichtet. Mitgefühl, Ausdruckslosigkeit, Verbundenheit und Ratlosigkeit sprachen aus ihnen.
"Es sind schon verrücktere Dinge passiert", meinte Cody.
"Und mal abgesehen davon: ich frage dich, Trevor, was sollen wir sonst tun?" fragte Aileen. Der Angesprochene zuckte hilflos die Achseln.
"Irgendwas. Aber das hier... ich weiß nicht. Wir könnten doch..."
"Einfach zurück in unser altes Leben?" vollendete Raisa seine Aussage. "Glaubst du das allen Ernstes? Wir haben keine Wahl mehr, das müssen wir uns bewusst machen. Ihr drei hattet von Anfang an nicht die Wahl. Auch wenn ich nicht die geringste Ahnung habe, was deine Blindheit oder deine Stummheit oder deine Lähmungen zu bedeuten hatten, geschweige denn, wie sie zustande kamen, ist mir eine Sache klar geworden: ihr müsst eurer Intuition folgen, wo immer sie auch herrührt." Alle anderen Passagiere waren bereits eingestiegen, so dass sie die einzigen waren, die noch im Atem des ungastlichen Tages standen.
"Ich gebe dir vollkommen recht, Trevor, es ist verrückt, aber Raisa hat recht. Ob es nun Schicksal war oder was auch immer, ich habe noch nie an so was wie Schicksal geglaubt und... jedenfalls …" Cody brach abrupt ab.
"Auch wenn wir es nicht verstehen bin ich mir sicher, dass wir alle Teile von etwas Besonderem, etwas Großem sein werden", sagte Raisa und wies auf die Tür. "Wir sollten hier nicht länger herum trödeln; der Busfahrer wird schon ungeduldig." Bevor sie die Stufen erklommen, murmelte Aileen kaum hörbar:
"Um herauszufinden, was uns am Ende des Weges erwartet oder wo er beginnt, müssen wir ihm folgen, ob wir wollen oder nicht." Trevor hielt lediglich kurz inne, ehe er endgültig im Inneren des Busses verschwand.
Die Probleme anderer Leute hatten eine beruhigende Wirkung auf Aileen. Sie vermochten sie zumindest zeitweilig von ihren eigenen abzulenken. Warum sollte ihr Leben das einzige sein, das auf dem Kopf stand? Langsam schob sie mit ihren Fingern die Seiten an der Stelle auseinander, welche ihr alter Fahrschein in dem Buch markierte, das sie sich noch vor ihrem Aufbruch nach Los Angeles gekauft hatte. Seitdem war sie nicht gerade weit gekommen, da ihre Gedanken jedes Mal aufs Neue abgedriftet waren. Sie rückte sich in eine bequeme Lage und begann zu lesen:
"Kapitel 2
28.11.1996
Viele Menschen sahen zu, als der Mann am späten Nachmittag verhaftet wurde. Wenige Augenblicke zuvor hatte er noch genüsslich auf seinem Hot Dog herum gekaut. Dann war er aufgestanden und hatte zu schreien begonnen. Er schien völlig den Verstand verloren zu haben. Von wilder Furcht ergriffen war er in Panik geraten, wobei er sich immer wieder im Kreis gedreht hatte und beinahe auf die Straße gestolpert wäre. Es folgte eine kurze Phase der Ruhe, in der er aus wässrig-blauen Augen wie ein gehetztes Tier in der Falle einen unsichtbaren Punkt in der Luft fixierte. Sein braunes Haar stand wirr vom Kopf ab. Der Rest des Hot Dogs lag auf dem Pflaster. Irgendjemand war hinein getreten, so dass nur noch zerdrücktes Brot und ein unappetitlich anzusehendes Stück aufgeplatzter Wurst, aus der Kraut mit Soße blutigen Eingeweiden gleich herausquoll, übriggeblieben waren. Eine junge Frau, die ihr Baby an ihre Brust drückte, war vor Schrecken keuchend auf die andere Straßenseite geflüchtet, während ein älterer Herr im schwarzen Anzug, womöglich ein Richter auf dem Weg zur Arbeit, die Polizei benachrichtigt hatte.
"Helft mir! So helft mir doch! Ich habe Angst!" brüllte der Mann, als er von zwei Polizisten an dem unbeachteten Kadaver des Hot Dogs vorbei zum Wagen geschleift wurde. Die beiden Männer hatten ihre Probleme damit, den Durchgedrehten unter Kontrolle zu bringen. Er war groß, um die 1.80 m, wirkte aber eher schlaksig und dünn. Dennoch wand er sich schnell wie ein Fisch auf dem Trockenen in ihren Griffen. Endlich gelang es ihnen, ihn in den hinteren Teil des Autos zu stoßen, wo er für Sekunden benommen verharrte. Dies gab ihnen genau die Zeit, die sie benötigten, um die Tür zu schließen. Es war vorbei. Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass sich der Kerl beruhigen würde.
"Hey Hal, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass die Kiste so’n verdammtes Gitter hat. Obwohl mir ‘ne Stahlwand lieber wäre, Mann!" sagte der Polizist zu seinem schwer atmenden Kollegen, dessen Gesicht die Farbe einer reifen Tomate angenommen hatte, als er eingestiegen war und einen besorgten Blick über die Schulter warf. "Fahr los! Ich will den Irren da hinten so schnell wie möglich los werden!" Hal nickte zustimmend und startete den Motor. Das Geräusch der quietschenden Reifen wirkte beruhigend auf seine geschundenen Nerven.
Der Mann auf dem Rücksitz war wie gelähmt. Ein heftiges Zittern ließ ihn nicht völlig zur Ruhe kommen, doch war er nicht in der Lage, auch nur einen Muskel zu entspannen. Er hatte schon öfters Angst gehabt, aber noch nie zuvor waren sie so mächtig gewesen wie jetzt. Kein klarer Gedanke fand seinen Weg in sein Bewusstsein. Seine Selbstbeherrschung hatte versagt und die Panik ihn überwältigt. Er fühlte sich wie nach einem dieser Alpträume, die einen noch nach dem Erwachen in ihrem Bann gefangen hielten, und zwar mit eiserner Faust.
Mit weichen Knien kauerte er auf dem unangenehm riechenden Boden einer Gummizelle. Eine gestärkte Zwangsjacke hätte jede seiner Bewegungen beschränkt, wenn ihm der Sinn danach gestanden hätte. Die Angst saß tief in seinen Gliedern und wollte ihn einfach nicht loslassen. Sein Zeitgefühl jedoch hatte ihm diesen Gefallen getan. Erst jetzt nahmen seine schmerzenden Augen den Mann im weißen Kittel wahr, der in der Tür stand.
"Guten Tag. Mein Name ist Dr. Marcus. Ich habe gehört, dass Ihnen heute Nachmittag ein kleines Malheur passiert ist." Er starrte den Doktor an. Warum sagte er nicht gleich, dass er ausgerastet war und jede Beherrschung verloren hatte!
"Wie heißen Sie? Vielleicht können wir uns darüber unterhalten, was da vorhin passiert ist. Was meinen Sie?" Vorhin. Es war also nicht allzuviel Zeit vergangen, seitdem ihm die Nerven gerissen waren. Er schluckte mehrmals und räusperte sich leise.
"Ich heiße Virgil Pious, Dr. Marcus. Und ich muss Ihnen sagen, dass mir so etwas zum ersten Mal in meinem ganzen bisherigen Leben passiert ist. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen meine Gründe gesagt habe, werden Sie mich verstehen." Ein wenig reumütig stellte er sich vor, was der Captain dazu gesagt hätte. Der Captain, wie hatte er wohl auf diese Situation reagiert? Wo waren die anderen? "Bitte Gott, lass sie noch am leben sein!" flehte er stumm, den Blick hoch zu der mit Gummi versehenen Decke gerichtet. Ob Gott wohl auch die Menschen in schalldichten Gummizellen hören konnte?
"Nun, Mr. Pious. Legen Sie los. Erzählen Sie mir ein wenig über ihre Gründe." Der Klang seiner Stimme missfiel Virgil, doch er nickte nur und begann zögernd seine unglaubliche Geschichte zu erzählen, die in der Vergangenheit ihren Anfang nahm, in Virgils Vergangenheit."
"Hey, Aileen!" Sie sah von den eben gelesenen Zeilen auf und musste angesichts Codys Timing schmunzeln.
"Herzlichen Glückwunsch! Du hast genau das Ende des Kapitels abgepasst. Meine Schwester hat es grundsätzlich fertiggebracht, mich mittendrin zu unterbrechen." Frischer Schmerz wallte in ihr auf, doch sie wehrte sich dagegen. Nicht jetzt, betete sie stumm und fixierte ihre Aufmerksamkeit auf Cody, der sie fragend musterte. Hatte er etwas bemerkt?
"Äh, ich wollte dich nicht beim Lesen stören, wirklich." Er zögerte, als ihm klar wurde, dass die Situation sich verändert hatte, wenn auch kaum merklich. Sie klappte das Buch zu und legte es beiseite.
"Hast du doch gar nicht. Was ist denn?" Vermutlich hatte er sich diese scheinbare Veränderung bloß eingebildet.
"Ich, ähm, ich hab mal darüber nachgedacht, was wir vorhaben, und da ist mir klar geworden, dass wir eigentlich gar nichts Konkretes vorhaben."
"Es klingt vielleicht komisch, aber ich mach mir deswegen überhaupt keine Sorgen. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass sich alles fügen wird. Bisher konnten wir sehr gut auf unsere Intuition bauen. Und ich glaube, das sollten wir auch weiterhin tun", antwortete sie.
"Einfach so? Völlig blind?"
"Es ist unser Verstand. Wenn wir uns selbst nicht mehr trauen können, wem dann?"
"Es war ja auch nur so ein Gefühl. Einerseits denke ich, dass alles ganz allein in unseren Händen liegt, und andererseits fühle ich mich, als ob ich in einem Bus sitze und…" Sie unterbrach ihn lachend:
"Wir sitzen doch in einem Bus!" Er schüttelte heftig den Kopf.
"Nein, ich meine, ja, das weiß ich! Dieses Gefühl, es ist, als ob ich in einem Bus oder irgendeinem anderen Fahrzeug sitze und keinerlei Kontrolle über den Weg habe, auf dem wir uns bewegen und... du weißt, was ich meine, oder?" Sie schaute an ihm vorbei zu Raisa und William auf der anderen Seite des Ganges. Schließlich lehnte sie sich gegen die Scheibe, um ihr Gegenüber direkt ansehen zu können, und nickte langsam.
"Ich glaub schon. Mir ist die Sache bisher nur ungewohnt und seltsam vorgekommen. Glaubst du an Schicksal?" Die plötzliche Wendung, welche die Frage bewirkte, verwirrte ihn.
"Nein, nicht so richtig. Bis zu einem gewissen Punkt, ja, aber wir haben trotzdem die Wahl, eine Änderung zu bewirken. Hast du "Im Auftrag des Teufels" mit Al Pacino und Keanu Reeves gesehen?"
"Ja. >Freier Wille!
VIII
Mason City, Iowa, USA
Der folgende Morgen begann mit einem Knalleffekt. Als sie den gestrigen Tag in dem Motel, in dem sie sich jetzt befanden, beendet hatten, war Aileen seufzend auf die weiche und vollständig horizontal ausgerichtete Matratze des Bettes gesunken und nach ein paar geflüsterten Dialogen mit Raisa eingeschlafen. Nun wurde die Zimmertür aufgestoßen und jemand stürzte in den Raum. Sie setzte sich starr vor Schreck im Bett auf und dankte allen Göttern, die gerade zuhörten, dass sie noch zu müde war, um zu schreien. Vor ihren Augen tanzten Lichtpunkte, Nachwirkungen des tiefen Schlafs, welcher sie immer noch umklammert hielt. Eine Hand legte sich über ihren Mund und nahm ihr jede weitere Chance, um Hilfe zu rufen.
"Nicht schreien. Ich bin’s nur", sagte eine vertraute Stimme direkt neben ihrem Ohr. Sie drehte den Kopf und blickte Cody verärgert an, der grinsend neben ihr auf der Bettkante saß.
"Was sollte das?" fragte sie leise. "Du hast mir einen Heidenschrecken eingejagt!" Er tätschelte ihr die Wange.
"Sollte nur ein kleiner Scherz sein, um den Morgen gut zu beginnen. Du musst dir angewöhnen, in Zukunft schneller zu reagieren. Du schläfst zu tief. Immerhin hast du mich nicht mal rein kommen hören, obwohl ich eine Menge Krach gemacht hab." Sie zog die Brauen hoch und deutete mit dem Finger auf Raisa, die keinerlei Anzeichen zeigte, dass sie sich Codys geräuschvollem Eindringen bewusst geworden war.
"O.K." gab er lachend zu. "Eigentlich sollte ich euch lediglich wecken. Schätze, wir müssen uns bald auf den Weg machen, wenn wir vor heute Abend noch von hier verschwinden wollen. Eins muss ich wirklich sagen, im Gegensatz zu vor dem Auftauchen der Partei haben wir jetzt eine Menge Spaß." Gähnend strich er sich eine störende Strähne des dunkelbraunen Haars aus der Stirn und ließ sich auf das Kissen fallen, auf dem zuvor ihr Kopf geruht hatte. "Spaß macht müde. Du kannst dir nicht vorstellen, wie laut dieser Grant schnarcht. Unerträglich!" stöhnte er und bedeckte seine Augen mit dem linken Unterarm. "Und wie hast du geschlafen? Die Betten scheinen mir weitaus bequemer zu sein als das Sofa, mit dem ich mich wegen meiner unterragenden Körpergröße begnügen durfte." Sich wieder zurücklehnend entgegnete sie:
"Sehr gut. Ich will dir aber nicht vorschwärmen, wie unheimlich bequem diese Matratzen sind, also halte ich mich geschlossen."
"Wie nett von dir. Hey, rate mal, wer gerade aufgewacht ist!" Das Mädchen setzte sich erneut auf und sah zu Raisa hinüber, die ihren Blick aus vom Schlaf vernebelten Augen erwiderte.
"Morgen. Was machst du denn hier, Cody? Ist es etwa schon Morgen?"
"Nein, heute. Aber du warst nah dran. Wirklich gut. Leider war es nicht gut genug. Darf ich Ihnen nun unseren begehrten Trostpreis..."
"Cody! Bitte! Ich kann Gameshows nicht ausstehen. Und um diese Zeit erst recht nicht! Wie spät ist es eigentlich?"
"Kurz nach acht. Also höchste Zeit, um aufzustehen!" verkündete Cody, die Imitation eines Showmasters beibehaltend. Raisa rüttelte nur drohend an ihrem Kissen, das Gesicht zu einer typischen Morgengrimasse verzogen.
"Hast du’s bequem, Cody?" fragte sie dann, ihren Kopf auf die Handflächen gestützt.
"Kann nicht klagen."
"Dann tut es mir leid, dich stören zu müssen, aber wir sollten jetzt wirklich aufstehen. Ich weiß, das sagt genau die Richtige! Trotzdem, geh jetzt bitte. Und danke noch mal fürs Wecken." Der Junge richtete sich mühsam und unter Protest auf und mimte den geprügelten Hund, als er sich gekonnt aus dem Zimmer stahl.
Völlig desorientiert versuchte Aileen sich in dieser fremden Stadt zurechtzufinden. Grant hatte ihr aufgetragen herauszufinden, ob Fotos und offizielle Suchmeldungen von Ihnen veröffentlicht worden waren. Deshalb hatte sie ständig das Gefühl, verfolgt oder beobachtet zu werden. Diese Art von Paranoia spornte ihre Schweißdrüsen zu Höchstleistungen an. Schwindel überfiel sie, um ihr Unbehagen perfekt zu machen. Um nicht weiter aufzufallen, setzte sie sich auf eine Bank. Sie musste sich zunächst einmal beruhigen.
Es war Donnerstag, der 31. August, ein bewölkter Vormittag in Mason City, Iowa. Aileens Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, da der störrische Wind es ihr andauernd ins Gesicht getrieben hatte. Bekleidet mit einem einfachen grünen Sweatshirt und einer Jeans versuchte sie, die Sonne jenseits der Wolkenmassen auszumachen, jedoch vergeblich. Sie sog die Luft tief in ihre Lungen. Es duftete nach Stadt, wenn auch der vage Geruch des Pazifiks fehlte, den sie von ihrer Heimatstadt gewohnt war. Je mehr sie sich auf den Lärm der vorbeifahrenden Autos konzentrierte, desto bedrohlicher klang er.
Für einen oberflächlichen Beobachter wirkte sie wie ein gewöhnliches Mädchen, das auf einer Bank saß und den Verkehr beobachtete, ein ruhiger Fleck inmitten der Bewegung. Die junge Frau mit den wilden schwarzen Locken erkannte aber, dass es sich sehr große Sorgen zu machen schien.
"Ist etwas passiert? Kann ich dir helfen?" Aileen blickte in die graublauen Augen, die einen mystischen Kontrast zu dem südamerikanischen Teint und dem dunklen Haar bildeten. Ein mildes und besorgtes Lächeln umspielte ihre vollen Lippen.
"Es ist alles in Ordnung. Ich bin nur ein bisschen außer Atem", log sie. Die Frau, welche sich zu ihr herunter gebeugt hatte, betrachtete sie prüfend, was zunehmend unangenehmer zu werden begann. Wie sich sehr rasch herausstellte, konnte sie entweder nicht lügen, oder es lag an der ausgeprägten Menschenkenntnis ihres Gegenübers.
"Nein, das glaube ich dir nicht. Was ist los? Du kannst es mir ruhig erzählen. Hat dich vielleicht jemand belästigt?" Sie richtete sich wieder auf und betrachtete mit zusammengekniffen Augen die Umgebung, obwohl kein Sonnenstrahl die Wolkendecke durchbrach. Dann studierte sie eingehend Aileens Gesichtszüge, bis mit einem Mal ein Hauch von Erkenntnis durch ihre Augen wehte.
"Moment mal! Du bist doch das Mädchen, das sie in den Nachrichten zeigen! Du bist von zu Hause weggelaufen!" Aileen wagte vor Empörung kaum den Mund zu öffnen. Einem Fisch nicht unähnlich bewegte sie ihre Lippen ein paar Mal.
"Das... das ist eine Lüge! Was sagen sie sonst noch?" wollte sie atemlos wissen.
"Nun, du bist immerhin die Tochter eines bedeutenden Parteimitglieds." Aileen stieß ein erschüttertes Lachen aus und schüttelte den Kopf.
"Das ist kaum zu glauben! Ich kann es nicht fassen! So eine Scheiße!" fluchte sie hinter aufeinander gepressten Zähnen und lief dann rot an. "Oh, Verzeihung, ich wollte nicht..." Ihre Mutter hatte es nicht gern gehört, wenn sie fluchte. Die junge Frau verschränkte die Arme vor der Brust und verlagerte ihr Gewicht auf den linken Fuß.
"Das dachte ich mir! Dieses "Bitte, mein Kind, wir machen uns Sorgen um dich!" kam mir gleich so verlogen vor. Ich hab von Anfang an nicht geglaubt, dass diese Typen sonderlich vertrauenswürdig sind. An der Uni, wo ich studiere, geben sie sogar Seminare. Und wie du dir denken kannst, sind die meisten Studenten Feuer und Flamme, besonders die aus den gesellschaftswissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fachbereichen", meinte sie abfällig und blies sich eine störende Locke aus der Stirn. "Was hast du denn ausgefressen, wenn du nicht von zu Hause weggelaufen bist?" Aileen war hellhörig geworden, da ihr die Abneigung in der Stimme der jungen Frau nicht entgangen war. Entweder war dies eine Falle oder sie hatte womöglich eine neue Verbündete gefunden. Klar, meldete sich eine gelangweilte Stimme in ihrem Hinterkopf, sie wird sofort mit euch kommen, ganz bestimmt. Sie verbannte die Stimme und grübelte angestrengt. Immerhin war es eine Chance, die sie nicht ungenutzt verstreichen lassen durfte. Einen Plan schmiedend stand sie auf und reichte ihr die Hand.
"Hi! Ich bin übrigens Aileen. Wahrscheinlich weißt du das bereits." Die junge Frau schlug lächelnd ein.
"Freut mich! Mein Name ist Beth. Beth Hyam. Was hältst du davon, wenn wir einen Kaffe oder so was trinken gehen? Dann kannst du mir ja erzählen, was wirklich dahinter steckt. Ich kenn hier in der Nähe ein ganz passables Café." Erfreut nahm sie Beths Einladung an. Im Notfall konnte sie sich immer noch aus dem Staub machen, auch wenn sie ernsthaft hoffte, dass dies nicht der Fall sein würde. Gemeinsam schlenderten sie unter den bedrückend tief hängenden Wolken die Straße entlang, bis sie schon nach kurzer Zeit das besagte Café erreichten.
"Na, hab ich etwa zu viel versprochen?" Aileen ließ bewundernde Blicke über die Einrichtung gleiten, welche augenscheinlich aus den 50er Jahren stammte.
Als sie selbst einen Milchkaffee vor sich stehen hatte und Beth ihr hinter einer Tasse Chai Latte gegenüber saß, begann diese zu ihrer Überraschung von sich zu erzählen.
"Wie ich schon sagte, bin ich Studentin. Ich studiere Biologie an der Uni von Minnesota. Eigentlich alle meiner Kommilitonen fahren voll auf die Partei und ihr Infoprogramm ab, was mir total gegen den Strich geht, wie du dir sicherlich vorstellen kannst. Momentan spiele ich mit dem Gedanken, die Uni zu wechseln oder sogar zu schmeißen, weil das einfach nicht so weitergeht. Kannst du dir vorstellen, dass man als Student egal welcher Fachrichtung von denen Stipendien für Auslandsaufenthalte und Praktika bekommen kann? Schmiergelder nenn ich das!" Aileen lauschte ungläubig ihren Worten.
"Ich hab mich eigentlich noch nie viel mit Politik beschäftigt, aber das hier geht eindeutig zu weit. Erst entführen sie Menschen gegen ihren Willen, auch wenn es Politiker sind, sie haben trotzdem kein Recht dazu! Und dann erwarten sie, dass wir das einfach so hinnehmen! Ich frage mich nur ständig, wieso keine von den ganzen aufständischen Fraktionen was auf die Beine gestellt bekommt. Ist dir das nicht auch aufgefallen?" Das Mädchen nickte erst und schüttelte anschließend den Kopf.
"Ehrlich gesagt hab ich mal abgesehen von der ersten Woche nach der Übernahme nicht viel Nachrichten mitbekommen", gestand sie.
"Du warst auf der Flucht, oder?" Sie zögerte mit ihrer Antwort.
"Schon, aber nicht vor meinen Eltern. Ich... ich würde dir wirklich gern mehr erzählen, aber..." Beth nickte verständnisvoll.
"Du weißt nicht, ob du mir trauen kannst. Ich könnte dich zu mir nach Hause einladen, damit du in meinem Schrank nachsehen kannst, ob graue Kostüme oder gar Anzüge drin hängen, doch das würde auch nicht viel bringen, oder?" Aileen musste unwillkürlich kichern.
"Wenn ich meiner Intuition trauen darf, habe ich überhaupt keine Zweifel an deiner Ehrlichkeit, Beth", sagte lachend. Sofort kam ihr die gestrige Unterhaltung mit Cody wieder in den Sinn. Hatte sie ihm nicht versichert, dass sie sich allein darauf verlassen konnten? Die letzten Zweifel aus dem Weg wischend fasste sie einen Entschluss und schlug Beth vor, sie zu den anderen, die sie allerdings nicht namentlich nannte, zu begleiten. Diese sah überrascht von ihrer Tasse auf.
"Das klingt ja nach einer waschechten Verschwörung! Von irgendwelchen anderen haben sie in den Pressemitteilungen nichts gesagt. Mal ganz unter uns, ich hab an der Uni selbst schon versucht, eine Interessengruppe zu gründen, die eine Art Opposition zur Partei bildet."
"Und?" fragte Aileen gespannt.
"Na, was wohl? Ein Sprecher des örtlichen Parteibüros hat mir erklärt, dass sie innerhalb der eigentlichen Partei Oppositionsgruppen hätten, und ob ich mich dort nicht engagieren wollte. Satz mit X! Und du und diese anderen Leute habt anscheinend auch etwas in der Richtung vor, nicht wahr?"
"Ganz genau. Wir sind uns zwar noch nicht so ganz einig, wie wir das anstellen wollen, aber ich denke, wir haben die richtige Einstellung und den Willen zur Tat."
"Das ist doch schon mal was. Und die Freiheit, euer Vorhaben in die Tat umzusetzen, habt ihr auch noch. Ich drücke euch auf jeden Fall die Daumen." Einen Moment lang fühlte sie sich versucht, sie auf der Stelle zu bitten, mit ihnen nach Revelstoke zu gehen, doch letztendlich siegte die Vorsicht. Sollten die anderen darüber entscheiden. Ihre Meinung war immerhin nur eine unter fünf.
"Also, Aileen, ich komm gerne mit und lerne deine Freunde kennen. Aber lass uns erst in Ruhe zu Ende trinken, ja?"
"Natürlich!" erwiderte sie gutgelaunt, war jedoch mit ihren Gedanken bereits bei der bevorstehenden Begegnung.
Bis auf Raisa hatten sich alle Mitglieder der kleinen Verschwörergruppe, wie Beth sie treffend bezeichnet hatte, wieder im Motel eingefunden. Aileen holte tief Luft und sagte:
"Hallo, ich bin wieder da. Das ist Beth. Sie hat mich in der Stadt angesprochen, weil sie mich anhand Suchmeldung aus dem Fernsehen erkannt hat." Es konnte nicht schaden, diese Neuigkeit mit einfließen zu lassen, um zumindest einige verbalen Attacken von Beth und sich selbst fernzuhalten. "Sie teilt unsere Ansichten über auf die Partei auf der ganzen Linie." William Grant war vom Bett aufgesprungen und wirkte plötzlich sehr verärgert. Sein Blick zuckte zwischen Aileen und Beth hin und her, doch letztere kam ihm zuvor, als er den Mund öffnete, um etwas zu sagen.
"Ich weiß schon, was ihr vermutlich sagen wollt. Aber lasst mich euch versichern, dass ich keine Spionin der Partei bin. Ich misstraue ihren Plänen genauso wie ihr. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Gegner der Partei verstanden haben, dass sie sich im Geheimen organisieren müssen, um zu verhindern, dass ihre Aktionen frühzeitig unterbunden werden. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass ihr nicht die einzigen seid, die etwas gegen diese Typen unternehmen wollen." In der Zwischenzeit war Raisa ebenfalls eingetreten und stand abwartend im Türrahmen. Ein anerkennendes, wenn auch überraschtes Nicken war die einzige sichtbare Bewegung ihrerseits.
"Du willst dich uns also anschließen?" fragte Trevor, was Aileens Herzschlag beschleunigte. Es wäre schön und vor allem hilfreich, wenn Beth mit von der Partie wäre. Hoffentlich war es kein Fehler gewesen, sie dermaßen schonungslos daraufhin anzusprechen. Beth sah ihn ein wenig irritiert an, als wäre diese Idee vollkommen neu für sie.
"Nun, eigentlich würde ich schon gerne dazu gehören, anstatt mich bloß hilflos darüber aufzuregen..." Ihr Blick wanderte zu Aileen, die schräg neben ihr stand. "Immerhin scheint eure Organisation noch nicht sonderlich groß zu sein, wenn ich mich hier so umblicke." Raisa grinste, während Grant verärgert mit den Augen rollte.
"Wenn ich es mir recht überlege, möchte ich mich euch anschließen", sagte sie bestimmt. "Und bevor ihr etwas dagegen sagt, bedenkt, dass es ohne Mitglieder keinen Club geben kann." Beth wurde Raisa immer sympathischer, besonders ihre lebhafte Art. Sie machte sich lediglich Sorgen wegen Grant, da sie ihm mit ihrer Offenheit anscheinend auf den Fuß getreten war.
"Du solltest dir deinerseits darüber im Klaren sein, dass eine ‘Mitgliedschaft’ dich viel kosten wird, und das nicht in finanzieller Hinsicht, wenn du verstehst, was ich meine", entgegnete Trevor. "Wie du dir zweifelsohne vorstellen kannst, haben wir nicht vor, hier in Mason City unser Lager aufzuschlagen, sondern anderswo. Du müsstest also dein Leben vollständig aufgeben, alles, deine Familie, deine Freunde und so weiter. Kein Kontakt mehr. Und wenn du nicht bereit bist, dieses Opfer zu bringen, kannst du’s gleich vergessen." Aileen und Cody runzelten die Stirn über Trevors feindliche Ansprache. Auf diese Weise würden sie keine Unterstützung bekommen. Doch Beth schien da anderer Ansicht zu sein. In ihren Augen blitzte es kampflustig auf, als sie zum Gegenschlag ausholte.
"Glaub mir, ich weiß, auf was ich mich einlasse. Ich bin nicht so blauäugig, wie ich aussehe. Punkt eins: meine Familie redet seit meiner Entscheidung, Biologie zu studieren, anstatt Richard Klerkenstein zu heiraten und Hausfrau zu werden, kein Wort mehr mit mir. Die meisten alten Freunde hab ich während meiner Studienzeit kaum mehr gesehen, und meine Kommilitonen, na ja, bis auf einen oder zwei vielleicht, werde ich wohl kaum vermissen. Und eins versichere ich euch: wenn ich einmal eine Entscheidung getroffen habe, bleibe ich dabei und stehe voll dahinter!" Aileen gab Raisa mit einem Seitenblick zu verstehen, wie sie über Beth dachte. Die ältere Frau zwinkerte ihr kurz zu, um ihre Zustimmung zu bekunden. Trevor rieb sich das Kinn und nickte langsam. Codys breites Grinsen sprach für sich und hätte des erhobenen Daumens gar nicht bedurft. Alle Blicke richteten sich auf Grant. Eine unangenehme Stille bahnte sich an, doch er sagte nur:
"Hast du einen Wagen?"
"Ja, allerdings müsste einer mit dem Kofferraum Vorlieb nehmen."
"Das ist kein Problem. Wann können wir aufbrechen?"
"Nachdem wir uns einander vorgestellt haben", antwortete sie grinsend. Abrupt stand er auf und machte einen Schritt auf sie zu.
"Ich bin William Grant, ehemals Police Detective, aus St. Louis, Missouri." Er streckte ihr seine Hand entgegen. Beth ergriff sie.
"Freut mich. Beth Hyam, ehemals Biologiestudentin aus dieser wunderschönen Stadt in Iowa."
"Cody Finley, ehemals blind und wohnhaft in L.A., Kalifornien. Es ist mir eine Ehre", kam es aus einer Ecke des Zimmers.
"Ich heiße Trevor Burley und komme ursprünglich aus Philadelphia, Pennsylvania. Bis vor ein paar Wochen hab ich Medizin studiert", erklärte er wehmütig. Die Universität vermisste er jetzt schon. Sein Studium hatte ihm ernsthaft Spaß gemacht und er war stolz auf seine Leistungen gewesen.
"Mein Name ist Raisa Lisle. Ich habe bis vor kurzem in Albuquerque, New Mexico, gewohnt und hatte einen Job in einem Kaufhaus, bei Sears, um genau zu sein." Beths Lächeln hatte sich kaum verändert.
"Freut mich sehr, euch alle kennenzulernen. Ich werde nicht fragen, wohin die Reise gehen soll. Nehmt mich einfach mit. Irgendwann werde ich es ja feststellen." Grant nickte zustimmend.
"Dann auf zu deinem Wagen. Pack am besten nur die nötigsten Dinge ein. Wenn die Partei tatsächlich eine Suchmeldung nach Aileen ans Fernsehen weitergeleitet hat, sollten wir keine Zeit verlieren." Seine Jacke über den Arm werfend durchquerte er den Raum, um seine Reisetasche zu holen. Raisa und Aileen gingen ins Nachbarzimmer, um ihre Sachen einzusammeln. Beth folgte ihnen.
"Der Wagen steht direkt vor der Tür. Das altersschwache grüne Gefährt."
Ungefähr fünf Minuten später hatten sie sämtliches Gepäck samt Cody in den Kofferraum verfrachtet, ausgecheckt und saßen vollzählig im Wagen. Beth startete den Wagen, welcher nicht sonderlich begeistert über die zusätzliche Belastung war.
"Keine Sorge, ich wohne nicht allzu weit von hier, auch in einem Motel, da meine Eltern sich geweigert haben, mich aufzunehmen."
"So übel nehmen sie dir deine Entscheidung, nicht den Mann ihrer Wahl geheiratet zu haben?" fragte Cody ungläubig.
"Das tun sie. Aber was soll’s. Zuerst habe ich mir Gedanken darüber gemacht, doch mittlerweile bin ich der festen Überzeugung, dass sie mir irgendwann verzeihen werden."
"Nett, dass du mir beim Packen helfen willst, Aileen. Obwohl, ich bezweifle, dass es viel sein wird", sagte sie mit in die Hüften gestemmten Händen, als sie sich in ihrem Zimmer umsah. Ohne große Umschweife begann sie dann, ihren Rucksack mit Kleidung und Waschutensilien zu bestücken. Seufzend verweilte ihr Blick auf einer Tasche mit Büchern und Unterlagen.
"Nur schade um die Bücher. Die Unibibliothek wird sich freuen!"
"Wer weiß, vielleicht finden sie sie, wenn sie nach dir suchen, was früher oder später der Fall sein wird." Beth warf ihr einen skeptischen Blick zu. "Ehrlich. Erst benachrichtigt die Uni deine Eltern, wenn deine Freunde dort sich Sorgen über deinen Verbleib machen. Die werden sich in den ansässigen Motels erkundigen usw."
"Wenn du meinst. Aber bis dahin wird noch einige Zeit vergehen. Lass uns gehen, ich werde die Bücher woanders verstauen. Wenn ich sie hier lasse, finden die zu schnell heraus, dass was nicht stimmt."
"Ja, du hast recht. Wohin willst du sie denn bringen?" Beth überlegte kurz.
"Vielleicht zu meinen Eltern. Wenn alles gut geht, lass ich sie im Keller verschwinden. Immerhin hab ich immer noch einen Schlüssel, es sei denn, sie haben die Schlösser auswechseln lassen."
State Road 9, Minnesota
Jenseits von Downer, Minnesota, gab der Motor äußerst beängstigende Geräusche von sich, röchelte und erlag den ungewohnten Belastungen von sechs Personen.
"Verdammt! Ich wusste es! Diese Schrottkarre! Tut mir echt leid, aber ich fürchte, wir müssen einen anderen Weg finden, um weiter zu kommen."
"Mist!" brummte Grant. "Da kann man nichts machen. Lasst uns den Wagen hinter den Büschen dort verstecken. Es kommt ja nicht zum ersten Mal vor, dass Autos am Straßenrand liegen bleiben, ohne eine Spur von ihrem Besitzer. Wer nicht genau weiß, wonach er suchen soll, wird keinen Verdacht schöpfen."
"Rein statistisch geschieht gerade in mindestens 20 Staaten exakt das gleiche", bestätigte Trevor die Meinung des Ex-Detectives.
Es hatte zu regnen begonnen. Der Tag war dunkler und kühler geworden. Fröstelnd standen vier Gestalten im strömenden Regen, während die anderen beiden ein paar Meter weiter auf einem Meilenstein hockten und um die Wette zitterten. Offenbar hatte niemand daran gedacht, einen oder mehrere Regenschirme mitzunehmen. Obwohl es erst zehn Uhr morgens war, kam es ihnen so vor, als stände der Einbruch der Dunkelheit kurz bevor. Autos fuhren verwischten Schatten gleich an ihnen vorüber. Keiner der Insassen hielt es für angebracht, auf die ausgestreckten Daumen zu reagieren, welche die durchnässten Gestalten dem unbarmherzigen Regen auslieferten. Die Kälte labte sich hungrig an den von flüssiger Wärme durchströmten Gliedern und lähmte sie allmählich. Aileen drückte sich enger an Cody, der neben ihr auf dem Stein kauerte und einen Arm um sie gelegt hatte.
"Ist es immer so kalt hier?" fragte er gegen den aufkommenden Sturm ansprechend. Er erhielt keine Antwort, nur das sanfte Heulen des Windes und das vereinzelte Brummen der Motoren. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Entschlossen sprang er auf und zerrte das Mädchen mit sich.
"Ich hab eine geniale Idee! Trevor! Ich brauche deine Jacke!" schrie er.
"Wozu?"
"Frag nicht, ich erklär’s dir später! Gib sie mir einfach!" Nach einigem Zögern überreichte er seinen einzigen Schutz gegen den Regen, der sich mit der Zeit vollgesogen hatte, an den Jungen, der mit Aileen im Schlepptau die Straße hinauf rannte.
"Was hast du vor?" rief sie. Er grinste und packte ihre Jacke. "Was soll das?" fragte sie irritiert. Er ließ sich nicht beirren und stopfte Trevors durchnässte Jacke, welche er zu einem Bündel zerknüllt hatte, unter die ihre.
"Jetzt halte ich nach einem geeigneten Fahrzeug Ausschau! Warte hier!"
"Moment mal, Cody! Ich seh aus, als wäre ich hochschwanger!"
"Das ist ja auch Sinn der Sache!" meinte er zwinkernd. Sie verdrehte die Augen. Auf so eine Idee konnte auch nur er kommen!
Etwa eine halbe Stunde verging bis ein Wohnwagen auf die Gruppe zugeschossen kam. Cody gestikulierte wild und machte sich daran auf die Straße zu springen. Aileen schüttelte noch einmal den Kopf und verzog das Gesicht, als würden sie die schlimmsten Wehen peinigen, während sie das Bündel unter ihrer Jacke hielt wie einen Bauch. Mit den Armen wedelnd sprang Cody tatsächlich auf den Asphalt und winkte dem Fahrer des Wohnwagens zu, wobei er ständig auf Aileen zeigte, die ernsthaft daran zweifelte, dass der Fahrer sie überhaupt richtig sehen konnte.
"Er ist total irre! Habt ihr eine Ahnung, was er damit bezweckt?" stellte Trevor tonlos fest.
"Wenigstens versucht er, etwas an unserer Situation zu verändern", erwiderte Beth zähneklappernd. Der Fahrer des besagten Wohnwagens hielt an. Wie Cody nun erkennen konnte, war der Mann allein, was ihm mehr als nur gelegen kam. Mit einem bestürzten Gesichtsausdruck riss er die Beifahrertür auf und keuchte:
"Meine Freundin...sie...sie bekommt gleich ihr Kind! Der Wagen...er ist...total im Arsch. Bitte! Helfen Sie uns! Meine ganze Familie ist hier!" Der Mann, der ihn an wenig an einen freundlichen Bären erinnerte, lächelte mitfühlend und sagte in einem angenehmen Bariton:
"Sag ihnen, sie sollen alle einsteigen. Ich hab genug Platz. In welches Krankenhaus soll’s denn gehen?"
"Danke! Nach Crookston", sagte Cody, scheinbar am Ende seiner Kräfte und winkte den anderen, sich zu beeilen. Er half Aileen, welche ihr Schauspiel perfektioniert hatte, umständlich auf den Rücksitz. Bald folgten auch die anderen aus dem verwaschenen Zwielicht des Tages ins warme Innere des Wohnwagens, der, sobald die Türen geschlossen waren, losfuhr.
"Sag mal, junger Freund. Ist Crookston nicht ein bisschen weit, wenn es so eilig ist? Ich wohne dort. Die Fahrt wird mindestens eine Stunde dauern. In welchen Abständen kommen die Wehen denn?"
"Welche Wehen?" fragte Trevor, der auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte und ließ somit die Lüge wie eine Seifenblase zerplatzen.
"Was soll das heißen?" Der rotblonde Mann funkelte Cody durch den Rückspiegel an. Dieser verbarg sein Gesicht hinter den Händen.
"Danke Trevor! Toll gemacht! Erinnere mich daran, dass ich dir so bald wie möglich einen Orden dafür verleihe! Hören Sie, Mister, es liegt weder eine Schwangerschaft noch sonst ein Notfall vor, mit der Ausnahme, dass wir alle dabei sind, uns eine Lungenentzündung zu holen. Aber es war der einzige Weg, aus diesem Mistwetter herauszukommen. Es tut mir leid, ehrlich. Aber wir stehen schon seit über zwei Stunden hier am Straßenrand." Seine tropfenden Haare unterstützten den Blick eines verlorenen Hündchens, der ihm in so mancher Situation hilfreich gewesen war.
"Komm mir nicht auf die Mitleidstour, Freundchen. Diese Waisennummer zieht bei mir nicht. Trotzdem nehme ich deine Entschuldigung an. Ich gehöre nicht zu der Sorte Autofahrer, die Anhalter sofort wieder auf die Straße setzen, besonders nicht bei so einem Wetter." Wie um ihm zuzustimmen, krachte in diesem Moment ein Blitz- und Donnergespann durch den Himmel.
"Ihr habt wirklich Glück, dass ich von Natur aus ein hilfsbereiter Mensch bin, und euch nicht direkt in der nächsten Kleinstadt rausschmeiße! Wohin wollt ihr überhaupt?"
"Wohin fahren Sie denn, wenn ich fragen darf?" erkundigte sich Raisa höflich.
"Nach Crookston, was anscheinend eh euer Ziel war, wenn das nicht auch gelogen war."
"Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns bis dorthin mitzunehmen? Wir sind auf dem Weg zur Grenze." Der Mann hob die Brauen und rieb sich den rötlichen Bart.
"Nun, das ist kein Problem. Bruce Eaton ist mein Name. Ihr könnt mich Bruce nennen. Mit wem habe ich die Ehre? Die Wahrheit fände ich dieses Mal ganz nett." Trevor lachte kleinlaut und stellte sie alle der Reihe nach vor. Bruce verlor sehr schnell jeden Argwohn und unterhielt sich angeregt mit seinen neuen Begleitern. Er entpuppte sich als netter und freundlicher Mensch, der oft und gerne lachte und ehrliches Verständnis für seine Mitmenschen aufbrachte. Er erzählte ihnen von seinem Beruf als Truckfahrer und von seinen Träumen, eine eigene Spedition zu gründen. Die Straße war seine Leidenschaft, ebenso wie große Autos. Dies war auch der Grund dafür, dass er diesen Wohnwagen fuhr. Nicht, dass er etwa eine große Familie gehabt hätte. Er lebte allein in einem kleinen Haus in Crookston, wenn er mal nicht unterwegs war. Sein Leben mochte auf den einen oder anderen eintönig wirken, doch er genoss es, den Fahrtwind auf den Straßen zu fühlen und so viele Städte wie möglich zu besuchen.
"Zu Hause habe ich eine große Sammlung von Streichholzschachteln aus jedem Motel und jedem Diner, in dem ich bisher Rast gemacht habe", verkündete er stolz. "Wenn ihr nichts anderes vorhabt, kommt doch noch auf einen Sprung bei mir vorbei. Ich mach uns frischen Kaffee und bringe euch dann zur nächsten Greyhound Station. Was haltet ihr davon?" Raisa nahm das Angebot dankend an. Je länger die Fahrt dauerte, desto mehr gelangte sie zu dem Schluss, dass Bruce eine ideale Ergänzung ihrer Gruppe abgeben würde. Es war viel zu leicht, anderen Menschen zu vertrauen.
Nach einer Weile kam das Gespräch aus unerfindlichen Gründen auf das Thema Partei zu sprechen. Bruce erklärte, dass er es gut fand, frischen Wind in der Politik zu spüren, hatte jedoch seine Zweifel an der radikalen Vorgehensweise der Partei.
"Erst die ganzen Menschen und jetzt auch noch ihre Familien! Und die Partei weigert sich, auch nur ein bisschen dazu zu sagen! Ich bin davon überzeugt, dass sie früher oder später genauso werden wie die alte Regierung. Das liegt in der Natur von Machtpositionen. Erstmal abwarten, wie sich das alles entwickelt. Ich hatte mit Politik noch nie viel am Hut und das wird sich schätzungsweise auch nicht ändern. Solange die sich nicht genauso radikal in die Wirtschaft einmischen und mich in Ruhe lassen, soll’s mir egal sein." Eine vernünftige Einstellung, wie Beth fand. Immerhin hatte sie sich selbst bis zu diesem Vorfall auch nicht für Politik interessiert.
"Ich bin ganz froh, dass ihr euch doch noch zu sehr angenehmen Mitreisenden gemausert habt. Es geht doch nichts über muffige Anhalter. Nur eins wundert mich; warum seid ihr in einer so großen Gruppe unterwegs? Wie Pfadfinder seht ihr mir nicht aus?" Betretenes Schweigen. "Nun, ich halte mal eben an. Muss noch jemand kurz austreten?" Trevor nickte, obwohl er gar nicht musste, doch er wollte Bruce begleiten, damit dieser sich nicht um seinen Wagen zu sorgen brauchte. Sie hatten ihm schließlich keine überzeugenden Gründe geliefert, dass sie nicht vorhatten, seinen Wagen zu stehlen oder ihn gar hinterrücks zu ermorden. Derartige Dinge las man nur zu oft in der Zeitung. Er hatte ihn richtig eingeschätzt, denn als er ausstieg, ließ er den Zündschlüssel keineswegs stecken.
"Ich bin dafür, ihn zu bitten, mit uns zu kommen", schlug Raisa vor, sobald sie außer Hörweite waren.
"Ich weiß nicht", murmelte William. "Er mag zwar sehr nett sein, aber..." Cody schnippte mit den Fingern.
"Ich hab’s! Wir kaufen ihm sein Auto ab!" Beth und Aileen sahen ihn entgeistert an.
"Klingt nach einem gut durchdachten Einfall!" kommentierte William ironisch.
"Wart’s doch erstmal ab, Grant! Er braucht uns nicht zu begleiten. Es ist besser, wenn er hier bleibt und weiter seiner Arbeit nachgeht. Sollten wir geschnappt werden, wird sich herausstellen, dass der gute Bruce den Wagen als gestohlen gemeldet hat. Wenn wir unser Ziel erreicht haben, fährt einer von uns den Wagen sonstwohin, lässt ihn dort stehen. Zuvor haben wir selbstverständlich das Nummernschild entweder entfernt oder unkenntlich gemacht. Dann können die Polizei und somit auch die Partei keinerlei freundschaftliche Verbindungen zwischen uns und Bruce finden. Was ich zu sagen versuche, ist, dass wir dann einen Informanten hätten, der ganz nebenbei die parteilichen Aktivitäten in den Städten, die er besucht, beobachten kann. Sollte etwas Seltsames oder Wissenswertes vorfallen, kann er uns Bescheid geben."
"Hm! Nicht schlecht. Die Sache mit dem Informanten ist eine Überlegung wert. Vielleicht sollten wir’s versuchen."
"Das denke ich auch!" meinte Beth und Raisa nickte.
"Lasst uns abwarten, bis wir in Crookston sind. Dann können wir entscheiden."
"Aber dieses Mal sollten wir Trevor vorher einweihen", gab Aileen zu bedenken und stieß auf allgemeine Zustimmung. In diesem Moment wurde die Wagentür geöffnet und besagter junger Mann stieg auf den Beifahrersitz.
"Es ist ganz schön kalt geworden! Aber wenigstens hat es aufgehört zu regnen." Bruce brummte eine Antwort und ließ den Motor an.
"Dann lasst uns mal weiter fahren. In weniger als einer halben Stunde müssten wir da sein."
Als Bruce den Wagen in die Einfahrt seines Hauses lenkte, war es bereits nach Mittag. Die Insassen stiegen aus und streckten sich. Bruce schloss den Wagen ab und führte sie zur Haustür. Im Inneren war es warm, aber düster. Der Besitzer des Hauses knipste das Licht an und verbannte somit den trüben Tag endgültig nach draußen. Anstatt in den Wohnraum führte er sie nach hinten ins Badezimmer, damit sie ihre Jacken zum Trocknen aufhängen konnten.
"Ihr seht ganz schön durchnässt aus. Habt ihr Sachen zum Wechseln? Gut. Ich befürchte nämlich, dass besonders die Damen meine Größe nicht teilen. Ich schlage vor, dass ich die Jacken im Keller in den Trockner tue. Dann sind sie schnell wieder trocken. Zieht euch erstmal um. Ich für meinen Teil hab einen Bärenhunger."
"Wir könnten Pizza bestellen", schlug Beth vor.
"Glänzende Idee!" bekundete Cody seine Meinung.
"Also gut, dann machen wir das." Raisa verschwand als erste im Badezimmer, um sich umzuziehen. Die anderen folgten Bruce in den Keller zum Trockner.
"Nachdem die Jacken trocken sind, kommt eure restliche Kleidung dran. Wenn ich euch richtig verstanden hab, wollt ihr so schnell wie möglich weiterreisen, nicht wahr?"
"Richtig", erwiderte William. "Vielen Dank, Bruce." Dieser machte eine wegwerfende Bewegung mit seiner prankenartigen Hand.
"Gern geschehen." Sie bestellten Pizza und machten es sich in seinem geräumigen Wohnzimmer gemütlich. Das Haus besaß nur ein Stockwerk, nämlich das Erdgeschoss, welches in Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer aufgeteilt war. Die Einrichtung wirkte eher praktisch. Ein paar Pflanzen, eine Blumenvase und ein Bilderrahmen mit Familienphotos waren die einzige Dekoration. Dennoch fehlte es dem Wohnraum nicht an einer persönlichen Note.
Im Flur klingelte das Telefon. Bruce erhob sich.
"Kaum hat man sich mal hingesetzt, sitzt einem das Telefon im Nacken." Mit schlurfenden Schritten begab er sich zu dem Apparat an der Wand neben der Tür zur Küche. "Hallo? - Oh, grüß dich, Harry! Wie geht’s? - Was? Ist nicht dein Ernst! - Das darf doch nicht wahr sein! Was denkt sich der Kerl dabei? - Hm. Verstehe. - Hat sonst noch niemand was Genaueres gehört? - Aha. Neue Routen also. Daran ist doch nichts auszusetzen. - Hat er klipp und klar gesagt, dass man früher oder später fliegt, wenn man ihr nicht beitritt? - Das wollen wir erstmal sehen! So leicht lass ich mich nicht abspeisen, das sag ich dir. - Ja, vor einer halben Stunde oder so. - Das macht doch nichts. Je eher ich das weiß, desto besser. - Du auch. Bis Montag dann, falls Trooman keine Konferenz einberuft." Als er das Telefon einhängte, fehlte auf seinem Gesicht jede Spur eines Lächelns. "Verdammt!"
"Schlechte Nachrichten?" erkundigte sich Raisa besorgt.
"Kann man wohl sagen. Ich lass mich nicht gerne zu etwas zwingen, wenn ihr versteht, was ich meine." Verärgert durchquerte er den Raum, zu aufgebracht, um sich zu setzen. In der Ferne erschallte Donnergrollen und untermalte das wütende Stampfen der schweren Schritte.
"Das war mein Kollege Harry. Der Eigentümer unserer Speditionsfirma ist seit ein paar Tagen Mitglied in dieser Partei. Er hat denen angeboten, seine Firma, so weit dies möglich ist, in den Dienst ihres großen Plans zur Befriedung der Menschheit zu stellen. Pathetischer Scheiß! Fazit ist, dass jeder Mitarbeiter dazu aufgefordert ist, ebenfalls beizutreten, ansonsten ist er sich nicht sicher, ob eine dauerhafte Anstellung gewährleistet werden kann."
"Mit welcher Begründung denn?" wollte Trevor wissen.
"Damit auch jeder voll und ganz hinter seinen Aktionen steht und mit Herz und Seele bei der Sache ist! Als ob man das nur ist, wenn man diesem komischen Verein beitritt. Das klingt nach einem Fall für die Gewerkschaft, wenn ihr mich fragt!" knurrte er missmutig.
"Falls diese nicht auch schon Mitglied geworden ist", gab Cody nicht ohne willkürlichen Pessimismus zu bedenken. Er war sich des praktischen Nutzens dieses Anrufs durchaus bewusst.
"Wer weiß, vielleicht hätte ich mich selbst irgendwann dazu entschlossen, ihre Sache zu unterstützen, aber auf diese hinterhältige Weise? Nein! Nicht mit mir, meine Freunde! Doch was hab ich erwartet? Politiker sind und bleiben Politiker, egal wie sie sich nennen oder wie sie vorgehen. Nichts hat sich grundlegend verändert!" Enttäuscht starrte er auf die dunkle Mattscheibe des Fernsehers, der ihm vor nicht allzu langer Zeit den großen Wechsel offenbart hatte, welcher vielen Menschen Grund zur Hoffnung gegeben hatte.
Trevor beschloss, dass dies der ideale Zeitpunkt war, um Bruce mit ihrer Auffassung bezüglich der Partei und Codys Vorschlag vertraut zu machen.
"Bruce. Setz dich bitte einen Moment. Wir haben dir etwas zu sagen", begann er zuerst ein wenig unsicher. Im Lauf seiner kleinen Rede festigten sich sowohl seine Stimme als auch seine Haltung.
Nach etwa 20 Minuten erhob sich Bruce erneut und nahm seinen unruhigen Rundgang wieder auf, wobei er die Hände gegeneinander rieb, als wäre ihm kalt.
"Das klingt alles ziemlich verwirrend. Ein bisschen Ärger auf der Arbeit und ich soll mich deswegen einer Rebellion anschließen? Ich weiß nicht, ich, ein Rebell? Das ist albern!" Er lachte unsicher.
"Überleg es dir, wir wollen dich zu nichts zwingen. Das einzige, um das wir dich bitten, ist, uns nicht zu verraten, falls du dich dagegen entscheidest." Er nickte geistesabwesend.
"Das heißt also, dass ihr mich nicht zum Schweigen bringen wollt, wenn ich von all dem nichts wissen will?" Beth sah ihn verblüfft, beinahe empört an.
"Natürlich nicht. Es gibt andere Wege. Du weißt zum Beispiel nicht, wohin wir überhaupt unterwegs sind und selbst wenn, könnten wir unsere Pläne immer noch ändern", sagte Grant fest. Bruce kam abrupt zu einem Halt und sah Grant fest an.
"O.K., ich bin einverstanden. Aber ich habe eine Bedingung: Sollte ich gefeuert werden oder einfach bloß die Lust an der Schauspielerei verlieren, bin ich jederzeit bei euch willkommen!"
"Das ist ja wohl selbstverständlich!" Aileen, Cody und Raisa hatten fast synchron gesprochen.
"Und noch etwas! Ich werde kein Geld von euch nehmen. Stellt euch mal vor, ich melde den Wagen als gestohlen und kaufe mir dann von heute auf morgen einen neuen. Wie soll ich erklären, wo das Geld herkommt? Ich vertraue darauf, dass ihr die Karre nicht zu Schrott fahrt und dafür sorgt, dass ich sie irgendwie wiederbekomme. Also, wenn ich Freitag in einer Woche von meiner Tour zurückkomme, werde ich den Diebstahl bemerken. Montag holt mich Harry ab und nimmt mich mit, deswegen wird das ganze plausibel klingen. Das Garagenschloss werde ich eigenhändig aufbrechen. Bleibt nur zu hoffen, dass es die Nachbarn nicht eher bemerken als ich, sonst muss ich wohl oder übel die Polizei verständigen." Das Auslösen der Türklingel führte zu erschrockenem Luftschnappen.
"Das wird die Pizza sein. Geh mal einer von euch. Ich werde ein paar Bier aufmachen. Ich muss doch darauf trinken, dass ich wildfremden Leuten mein Auto leihe!"
Am späten Abend desselben Tages verließen die sechs zukünftigen Widerstandskämpfer nach einem herzlichen Abschied ihren neu gewonnenen Freund Bruce Eaton in dessen Wohnwagen und machten sich auf den Weg Richtung Interstate 29, um hinter Pembina die Grenze zu überqueren. Zur Abwechslung kamen ihnen an diesem Punkt ihrer Reise die bisher getroffenen Maßnahmen der Partei gelegen. Diese hatte nämlich als eine ihrer ersten Amtshandlungen veranlasst, dass sämtliche Grenzen geöffnet wurden. Natürlich gab es, was die Überwachung anging, einige notwendige Ausnahmen, doch darüber wurden keine Details veröffentlicht. Bruce hatte ihnen jedoch versichert, dass der von ihnen ausgewählte Grenzübergang nicht mehr besetzt war. Das hatte er bei seiner letzten Lieferung nach Winnipeg herausgefunden. Anschließend würde sie die Interstate 75 direkt nach Winnipeg führen, wo sie sich um eine Unterkunft in Revelstoke kümmern wollten. Ein Motel würde auf die Dauer ihrem Plan, sich einzubürgern, entgegen wirken.
Je näher sie der Grenze kamen, desto mehr verebbten die Gespräche unter den Insassen des Wohnwagens. Mit dem Bedürfnis, ihre Bedenken den anderen mitzuteilen, wich auch die kindliche Abenteuerlust dem eher rationalen Denken eines weitaus erwachseneren Geistes. Dass es kein Zurück mehr gab, stand außer Zweifel.
'Was für eine komische Wendung mein Leben genommen hat!' dachte Cody, als er die schemenhafte Landschaft mit den Augen einzufangen versuchte. Noch vor einem Monat hatten er und Dwight in der Schule nachsitzen müssen, eine ideale Gelegenheit, um über die Zukunft zu plaudern.
"Wir werden langsam zu alt, um gemeinsame Banküberfälle zu planen", hatte Dwight nachdenklich gesagt.
"Du hast recht. Wir sollten auf Internet-Verbrechen umsatteln!" Sein Freund hatte über diesen Scherz nur müde gelächelt.
"Nein, im Ernst, Cody. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mit meinen Noten aufs College gehen kann!"
"Ach was! Wir reißen uns in diesem Jahr einfach am Riemen und schaffen einen Spitzen-Abschluss!" Dwight zog eine Grimasse.
"Und wie man sieht, hatten wir einen guten Start", meinte er spöttisch und wies auf den Lehrer, der ihnen bereits warnende Blicke zuwarf. "Aber wahrscheinlich hast du recht. Und wenn's nicht klappt, werden wir eben Hacker!" Mittlerweile hatte Cody eingesehen, dass er falsch lag. Es war nur leichter, das zu glauben: Sorglos in den Tag hinein leben und abwarten, was das Leben einem bescherte. Er selbst war gleichermaßen erschrocken und überrascht über seine Erfahrung gewesen, dennoch hatte sie ihn eines gelehrt: Signifikante Wendungen im Leben ließen sich weder umtauschen noch in der hintersten Ecke des Schranks verstauen.
Trevor hatte sich dafür entschieden, dass es an der Zeit war, der Zeit vor dem 16. August nicht mehr nachzutrauern. Seit er ein kleiner Junge war, hatte das Leben ihm beigebracht, dass es nicht sein Freund sein wollte. Eigentlich war es mit niemandem befreundet. Schicksalsschläge hatte er zu Anfang als ungerecht und gemein empfunden, jedoch war ihm schnell klar geworden, dass niemand die Schuld für das Geschehene trug. Er hatte es zu akzeptieren und damit fertig zu werden. Und in diesem Fall war es genauso, denn es gab keine Ausnahmen. Was half es schon, wenn er der Partei die Schuld an seiner jetzigen Situation gab? Gar nichts. Er fühlte sich nicht besser und es änderte nichts daran. Das Leben ging weiter, sagte er sich und schaute auf die Straßenkarte. Noch ein paar Meilen und sie würden die Grenze passieren.
Das Bedürfnis, mit dem rechten Bein zu wippen, wurde immer stärker, doch Beth unterdrückte es tapfer. Sie war nervös.
'Weißt du eigentlich, was du da tust?' fragte ihre innere Stimme spitzfindig. Sie nickte bestimmt im Geiste: 'Ich bin lediglich spontan und nehme mein Leben selbst in die Hand!' - 'So? Das glaubst du also wirklich, hm?' Ihre Vernunft ersparte sich weitere Kommentare angesichts ihrer Lebensumstellung. Trotzdem formulierte sie abermals folgenden Gedanken: Ja, ich glaube fest daran, dass ich das Richtige getan habe! Ich habe eine Entscheidung getroffen und werde dazu stehen!" Das war die reine Wahrheit, nur war sie sich nicht sicher, ob es nun naiv oder mutig war.
Raisa freute sich schon auf den nächsten Tag, wenn sie die Landschaft endlich im Tageslicht sehen würde. Sie war noch nie im Norden gewesen, geschweige denn so viel herumgereist. Albuquerque, die Stadt in der sie aufgewachsen war, und L.A. waren die einzigen Ort gewesen, die sie bis vor kurzem in ihrem bisherigen Leben besucht hatte. Das Auftauchen der Partei war ein tieferer Einschnitt gewesen, als sie zunächst angenommen hatte. Ihr Leben hatte sich auf den Kopf gestellt, zum dritten Mal in der gesamten Zeit, die sie auf dieser Erde verbracht hatte. Als sie 17 Jahre alt war, hatte sie sich in Randall Lisle verliebt und beschlossen, den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen. Er war ihre Sonne gewesen, über 20 Jahre lang, bis der Krebs ihn ihr weggenommen hatte. Das war vor sechs Jahren gewesen. Damals war sie der festen Überzeugung gewesen, dass auch ihr Leben zu Ende war. Lange Zeit hatte sie am Abgrund gestanden und in die Tiefe gestarrt, in der Randall für sie endgültig und unwiderruflich verschwunden war. Doch irgendwann, eines Morgens hatte sie aus dem Fenster gesehen. Es war ein warmer Tag gewesen. Die Sonne hatte geschienen, die Vögel gezwitschert. Da war ihr bewusst geworden, dass es immer noch Licht gab, welches bis in ihre Welt am Abgrund vorzudringen vermochte. Einen letzten wehmütigen Blick in den Abgrund werfend hatte sie diesem den Rücken zugekehrt, sie würde schon früh genug wieder davor stehen. Das hier war nichts dagegen, dachte sie und lächelte in die Nacht hinein und der näherkommenden Grenze entgegen.
'Ich bin total verrückt!' dachte William, während er sich bemühte, sich auf den Lauf der Straße zu konzentrieren. Er warf einen flüchtigen Blick in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass er doch nicht verrückt war. 'Es gibt Leute, die schlimmere und viel verrücktere Dinge getan haben als ich!' verteidigte er sich vor sich selbst. Bisher hatte er grundsätzlich zu allen Entscheidungen gestanden und dieses Mal würde es auch nicht anders sein. Außerdem würde er nicht den Helden spielen, der die Menschheit vor der bösen, bösen Partei beschützten sollte. Der Menschheit an sich konnte niemand mehr helfen. Er hatte das hier ausschließlich für sich getan.
'Bald bin ich wieder zu Hause, ' dachte Aileen nachdenklich. 'Zu Hause...'
IX
Winnipeg, Manitoba, Kanada
"Ich kann Sie nur zu Ihrer Wahl beglückwünschen. Revelstoke ist ein wunderschöner Ort, um sich dort niederzulassen. Am Fuße der Rocky Mountains liegend bietet er eine traumhafte Landschaft. Ich weiß, was Sie jetzt denken: die Frau hört sich an wie ein drittklassiger Werbekatalog, aber glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich war selbst schon einmal dort." Raisa lächelte wohlwollend.
"Und nun zum Geschäftlichen. Es hat Sie zweifelsohne gewundert, dass sich mein ‘Maklerbüro’ in meinem Haus befindet und ich einen sehr kleidsamen rosafarben Kittel mit einem Namensschild trage. Eigentlich bin ich Floristin von Beruf, aber das Maklergeschäft bringt mir zusätzlich Geld ein, das ich gut gebrauchen kann. Dass ich nicht zu der Sorte Makler gehöre, die ihre Interessenten zu den entsprechenden Grundstücken begleiten, um sie herumzuführen, wissen Sie, sonst hätten Sie sich nicht an mich gewandt. Kurz gesagt, Sie können mir, was Zustand der Häuser und Informationen allgemein betrifft, blind vertrauen. Dafür erwarte ich jedoch von Ihnen, dass Sie den Vertrag aufmerksam lesen und sich ausnahmslos an die gegebenen Bedingungen halten. Haben wir uns soweit verstanden?" Die rundliche Frau lächelte reserviert. Ihr Name war Vivian Riordan, dem Schild auf dem Kittel nach zu urteilen. Ihr Haar war noch dunkler als die kaffeebraune Haut, welche für ihr Alter, das Raisa um die 50 schätzte, noch ausgesprochen glatt und regelmäßig wirkte. Das lockige Haar war zu einer modernen Kurzhaarfrisur geschnitten. Raisa erwiderte das Lächeln, wenn auch herzlicher und sagte:
"Eine Freundin hat mir von Revelstoke vorgeschwärmt, nachdem sie ihren sommerlichen Wanderurlaub dort verbracht hatte. Bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen versichere, dass ich mich genau an den Vertrag halten werde. Ich hatte selbst schon genug Ärger, als dass ich anderen Menschen selbigen zufügen möchte. Ich muss an meine Kinder denken. Wir wollen ein friedliches Leben führen, ohne ihren Vater, wenn Sie verstehen." Eine Spur von Mitgefühl und Verständnis glimmte in ihren braunen Augen auf, die mit ein wenig Grün durchsetzt waren. Ein sanftes Nicken unterstrich die Mimik.
"Deshalb wenden sich viele Leute an mich, um ein Haus zu erwerben. Ich..." Die Haustür ging auf und eine tiefe Stimme rief:
"Ich bin zu Hause, Vivian!" In einer Explosion von Nervosität und Eile ließ diese die Maklerunterlagen in ihre Tasche verschwinden.
"Sie müssen..." Abermals verstummte sie, als ihr Ehemann, eine Hüne von einem Mann, zur Tür hereinkam. Raisas Herz setzte beim Anblick seiner Kleidung kurz aus. Der anthrazitfarbene Anzug sprach für sich. Dennoch setzte sie ein Lächeln auf und reichte ihm die Hand.
"Hi! Ich bin Lili. Die Schnittkünste Ihrer Frau sind einfach überwältigend! Sie war so freundlich, mir bei einem Problem mit meinen Kletterrosen zu helfen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen!" Er schüttelte ihre ausgestreckte Hand kurz und gelangweilt.
"Freut mich. Wenn Sie mich entschuldigen." Rasch verließ er den Raum und schloss die Tür hinter sich.
"Danke", flüsterte Vivian, bevor sie in normaler Lautstärke fortfuhr: "Es ist eine Sache der Geduld und Sorgfalt. Wenn Sie einmal angefangen haben, dürfen Sie nicht einfach mittendrin aufhören. Zudem sollten Sie sich zuvor ein Schema überlegen, wie genau die Rosen wachsen sollen. Um welche Spezies handelt es sich denn? Oh, wenn Sie nichts dagegen haben, können wir das Gespräch in meinem Laden fortsetzen. Meine Mittagspause ist fast vorbei. Wenn nicht allzu viel los ist, zeig ich Ihnen ein paar Dinge." Die beiden Frauen durchquerten gemeinsam das Wohnzimmer, wo Mr. Riordan an einem kleinen Schreibtisch aus Eichenholz saß und gar nicht erst aufblickte, als sie an ihm vorüber gingen.
"Bis heute Abend, Schatz", rief Vivian, bevor sie die Haustür hinter sich schloss. Die abwesende, gemurmelte Antwort drang nicht bis dorthin vor.
Der bewölkte Himmel spannte sich über ihre Köpfe und ließ sie aufatmen. Sogleich machte Vivian ihrem Ärger Luft.
"Es tut mir wirklich leid, wie er sich aufgeführt hat! Seitdem er für die Partei arbeitet, benimmt er sich so. Der Chef seiner Bank ist beigetreten und somit auch ein Großteil seiner Angestellten. Er arbeitet jetzt viel mehr als früher, besonders im Außendienst. Ich hab manchmal das Gefühl, dass er seine Kunden nicht länger nur berät, sondern ihnen nahelegt, der Partei schnellstmöglich beizutreten! Es ist zum Verzweifeln! Er benimmt sich wie der letzte Dreck! Verzeihen Sie bitte meine Ausdrucksweise. Außerdem ist er sauer, weil ich noch kein Mitglied bin. Was sollen die mit einer Floristin? habe ich gefragt, woraufhin er meinte, ich hätte das gesamte Prinzip nicht verstanden. Nein, danke! Vermutlich müsste ich dann mein Maklergeschäft aufgeben und das will ich nicht." Nach einer Weile, als sie bereits in ihrem Wagen saßen, fügte sie hinzu.
"Bisher hab ich immer gedacht, dass jeder beitreten soll, damit wir alle eine 'große Familie' werden. So ein Quatsch! Bei ihm klingt das eher nach einer Religion. Herr Gott! Ich erzähle Ihnen hier von meinen Problemen! Sie müssen ja sonst was von mir denken! Natürlich besprechen wir den Kaufvertrag weiter, wenn wir im Laden sind. Dort ist auch mein eigentliches Büro, falls man das so nennen kann." Sie fuhren in Vivians altem Ford durch die belebten Straßen.
"Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Sie mag zwar etwas persönlich sein..."
"Nur zu."
"Mit dem Maklergeschäft verdienen Sie doch sicherlich eine ganze Menge. Was machen Sie damit, wo Ihr Mann anscheinend nichts davon erfahren darf?" Die Bremsen quietschten, als sie vor einem der vielen Stoppschilder hielten.
"Eigentlich war ich fast schon soweit, ihm zu sagen, was ich so nebenbei verdiene. Seine neue ‘Berufung’ kam mir dann in die Quere. Ich wusste auf einmal nicht mehr, wie er reagieren würde. Es war, als ob der Mann, mit dem ich seit knapp 30 Jahren verheiratet bin, mir von heute auf morgen fremd geworden wäre. Na ja, von heute auf morgen ist übertrieben. Aber es ist so. Schreckliche Sache für eine Ehe, nicht wahr? Jedenfalls hatte ich das Geld gespart, um uns beiden eine Kreuzfahrt zu ermöglichen. Sie wissen schon, unsere Ehe ein bisschen auffrischen. Aber so wie’s jetzt aussieht, weiß ich nicht mehr, ob ich das tun möchte, ob es überhaupt einen Sinn hat. Um ehrlich zu sein, habe ich schon mit dem Gedanken gespielt, mich mit dem Geld von hier abzusetzen. Ich meine, wenn wir uns nicht mehr vertrauen, kaum noch miteinander reden, wozu führen wir dann noch eine Ehe? Ich mag zwar alt sein, wenn ich den Kindern glauben kann, aber den Rest meines Lebens will ich auf keinen Fall in diesem Zustand verbringen!" schloss sie mit brüchiger Stimme. Raisa kam sich gemein vor, als sie begeistert registrierte, dass Vivian mit Motiv und Engagement ein perfektes Mitglied ihrer kleinen ‘Familie’ wäre. Vielleicht spielte sie jedoch nur ein Spiel mit ihr. Eine Falle musste sie durchaus in Erwägung ziehen. Trotz allem hatten sie es bisher recht leicht gehabt, den halbherzigen Versuchen, sie zu fangen, zu entgehen. Folglich war erhöhte Vorsicht geboten. Jedem zu misstrauen fiel ihr schwerer, als sie erwartet hatte. Früher war alles viel einfacher gewesen... die guten alten Zeiten! dachte sie schmunzelnd. Kaum geschah etwas Neues, vermisste man das Alte! Ein Seufzer schlich sich über ihre Lippen.
"Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht mit meinem Geplapper nicht langweilen."
"Nein, nein, ich musste nur an früher denken. Das hat mich seufzen lassen. Ich bin froh, dass alles vorbei ist. Die letzten Monate waren die Hölle!" Die Lügen glitten ihr wie schlüpfrige Schlangen von den Lippen. Und sie würden sie beißen, wenn sie eine falsche Bewegung machte. Dennoch war sie nicht religiös genug, um zu glauben, dass man für Lügen in die Hölle kam, falls es einen solchen Ort überhaupt gab.
Ehe Raisa mit der Maklerin in Kontakt getreten war, hatten sie sich in Familien aufgeteilt. Sie selbst fungierte als Mutter von Trevor, Aileen und Beth, während William und Cody ein von Sorgen geplagtes Vater-Sohn-Gespann bildeten. Um ihre gemeinsame Reise zu erklären, würde sie erzählen, dass sie und William seit einiger Zeit mehr als nur gut befreundet waren. Zum jetzigen Zeitpunkt war Raisa allerdings nicht gewillt, Vivian detaillierte Informationen über sich und ihre Begleiter zu geben. Das konnte sie immer noch tun, falls Bedarf daran bestand, um die Floristin mit dem Nebenjob nicht misstrauisch zu machen. Es durfte auf keinen Fall so aussehen, als hätten sie mehr zu verbergen als irgendjemand anders.
In dem Blumenladen angekommen nahm das Verkaufsgespräch seinen Lauf. Das Ergebnis besagte, dass nicht viel von Grants Ersparnissen übrig bleiben würde, doch diesen Punkt hatten sie bereits mit einkalkuliert. Nachdem Vivian und sie sämtliche Verträge plus Durchschläge unterzeichnet hatten, nannte sie ihr noch die Nummer eines Schließfachs in einem Bahnhof von Winnipeg und gab ihr den Schlüssel.
"Das hier ist der einzige Schlüssel. Schicken Sie ihn bitte an den Laden, wenn Sie in Revelstoke angekommen sind. Wenn Sie zufrieden sind, bekomme ich mein Geld. Und machen Sie sich keine Sorgen, sollte der Schlüssel abhanden kommen, werde ich das Geld ebenso erhalten, da das Fach auf meinen Namen ausgeschrieben ist. Es hat also keinen Sinn, mich reinzulegen."
"Ich verstehe. Sie haben wirklich an alles gedacht."
"Wenn Sie wüssten, was ich schon alles erlebt habe. Also, ich wünsche Ihnen viel Glück und ein schönes Leben in Revelstoke. Wer weiß, vielleicht sehen wir uns dort irgendwann mal, wenn ich endgültig die Nase voll habe!" meinte sie müde
"Vielen Dank, Mrs. Riordan. Auch Ihnen alles Gute. Auf Wiedersehen!" Dieser Frau nicht auf Anhieb zu vertrauen, brach ihr beinahe das Herz. Vielleicht hätte sie doch lieber William alles regeln lassen sollen.
In einem nahegelegenen Einkaufszentrum hatte der Rest der Truppe den Tag verbracht. Suchend wanderte sie durch die kauflustigen oder bummelnden Massen. Sie hätten einen konkreten Treffpunkt vereinbaren sollen! Im Punkte Organisation mussten sie noch einiges dazulernen, wenn sie bestehen wollten.
"Hey, Raisa!" tönte es von rechts. Auf einer Bank saßen Cody und Aileen mit einer Dose Cola.
"Hi! Wo sind die anderen?" Aileen stand auf.
"Unterwegs. Nun sag schon! Was hat sich ergeben?" Ihre Augen leuchteten erwartungsvoll.
"Zunächst einmal war die Frau, mit der ich gesprochen habe, sehr nett. Ihr Name war übrigens Vivian Riordan. Eigentlich ist sie Floristin und betreibt das Maklergeschäft praktisch unter den Hand, und…"
"Spann uns nicht auf die Folter!" Cody war ebenfalls aufgesprungen und stand nun dicht hinter Aileen.
"Also gut! Ich ergebe mich der Ungeduld! Wir haben ein malerisches Haus am Stadtrand von Revelstoke. Ich vermute mal, dass Straßennamen euch nichts sagen werden. Uns bleibt zwar nicht viel Geld, aber das Haus ist möbliert. Laut Vivian müssten genügend Betten vorhanden sein, aber das werden wir ja sehen, wenn wir ankommen."
"Super! Jetzt haben wir endlich ein konkretes Ziel vor Augen! Eine kleine Sorgenpause!" meinte Cody begeistert.
"Na ja, wenn du mich fragst, fangen die Sorgen jetzt erst richtig an."
"Ach, Aileen! Sei doch nicht immer so pessimistisch!"
"Was heißt hier immer?" fragte sie ihn empört.
Auch die anderen nahmen die Neuigkeit mit Erleichterung auf. Während Raisa bei Vivian gegen ihre Empfindungen gekämpft hatte, war es den dreien gelungen, ein billiges, jedoch fahrtüchtiges Auto zu erstehen, das sie zu ihrem Haus in Revelstoke bringen würde. Dabei handelte es sich um einen schwarzen Ford Minivan, der bereits einige Jahre auf dem Buckel zu haben schien.
"Er ist aufgetankt und reisefertig! Ich werde euch nun verlassen und Bruces Wagen soweit wie möglich wegbringen." Aileen sah ihn bestürzt an.
"Das darfst du nicht! Was, wenn sie dich erwischen, William?" Raisa und Beth stimmten ihr zu.
"Es ist die beste Lösung! Cody würde von vornherein auffallen, da er noch nicht volljährig ist und vielleicht ebenso wie Aileen von der Partei gesucht wird. Außerdem traue ich seinen Fahrkünsten nicht." Aileen hielt Cody gewaltsam zurück, der wieder aus einer Mücke einen Elefanten machen wollte.
"Um es kurz zu machen: Falls wir verfolgt werden, kenne ich mich am besten mit den Vorgehensweisen der Polizei aus und kann ihnen aus dem Weg gehen. Außerdem denke ich, dass Trevor, Cody und Aileen unbedingt zusammen bleiben sollten."
"Ach! Und was ist mit uns?" fragte Beth herausfordernd. Grant sah sie eine Weile ruhig an, obwohl Feuer in seinen Augen loderte. Den Blick abwendend trat er gegen einen einsamen Kieselstein, der kurz vor Raisas Füßen zum Stillstand kam.
"Das hat nichts damit zu tun, dass ihr Frauen seid. Wirklich nicht. Klar möchte ich nicht, dass euch was passiert, aber ich denke, dass ich aufgrund meiner Karriere als Detective am geeignetsten für diese Sache bin." Beth wollte zum Gegenschlag ausholen, da sie der festen Überzeugung war, dass Grant sie hinsichtlich seiner Ansichten über Diskriminierung belog, doch die ältere Frau hielt sie zurück. Grants Gesicht war ausdruckslos. Dennoch glaubte sie zu erahnen, was hinter seiner Stirn vorging.
"Gut. Wir sehen uns später in Revelstoke. Die Adresse schreibe ich dir noch auf." Sie kramte in ihrer Tasche. Dann sah sie ihm direkt in die Augen. "Und gnade dir Gott, wenn du dort nicht in absehbarer Zeit auftauchen solltest!"
Der Abschied dauerte nicht lang, denn die Zeit drängte. Grant blickte lange in den Rückspiegel, als der den Wohnwagen vom Parkplatz des Malls steuerte. Er würde so schnell wie möglich nach Revelstoke fahren, sobald er den Wagen in sicherer Entfernung wusste. Über seine Reiseroute, über die er sich selbst noch nicht so ganz im Klaren war, hatte er nichts verlauten lassen. Allerdings wusste er, dass die anderen über den TransCanadaHighway in Richtung Revelstoke unterwegs waren. Sie hatten nicht gerade die größte Auswahl, welche Straßen sie nehmen wollten. Außerdem war es der schnellste Weg. Irgendwie bezweifelte er, dass die Partei ihnen dicht auf den Versen war. Wenn sie sie tatsächlich verhaften wollten, hätten sie es schon längst tun können. Vermutlich hatten sie weitaus wichtigere Dinge, um die sie sich kümmern mussten, als drei flüchtige Jugendliche, die keine direkte Gefahr für sie verkörperten.
Verhältnismäßig entspannt fuhr auch er auf dem TCH, um weiter westlich die Grenze zu überqueren. Seine Intuition hatte ihn im Stich gelassen. Kein komisches Gefühl in der Magengegend, keine Spur von erhöhter Nervosität. Alle Signale, auf die sich ein Mensch verlassen konnte, wenn Gefahr in der Luft lag, waren verschwunden. Vor ihm lag nur die Straße und in weiter Ferne sein unbekanntes Ziel, unsichtbar für ihn und somit auch für jeden anderen. Er lachte leise. Es war schon komisch, nicht zu wissen, wohin man fuhr. Seine Gedanken wanderten zu Raisa, Aileen, Trevor, Cody und Beth. Seine Freunde, seine neuen Freunde und seine einzigen, denn mit seiner Vergangenheit hatte er auch seine Freunde aufgegeben. Nicht, dass er viele davon gehabt hätte. Genau genommen waren es eher Kollegen als Freunde gewesen.
Trotzdem sah er sich immer noch als Polizist, als Detective mit neuen Idealen, die er von nun an vertreten würde. Mittlerweile stand er voll und ganz hinter dieser irrwitzigen Aktion und allen anderen, die mit Sicherheit folgen würden. Die Achseln zuckend überholte er einen roten Chevrolet Laster, der vor ihm in angedeuteten Schlangenlinien fuhr.
Eine knappe Stunde später machten sich auch die anderen auf den Weg. Der Highway empfing sie, bereit, sie an ihr Ziel zu führen, wenn sie ihm nur folgen wollten.
"Ich bin schon wahnsinnig gespannt auf Revelstoke. Ist schon komisch, wie leicht man doch aus seinem Leben ausbrechen kann... obwohl, so einfach war es auch nicht, das gebe ich zu", sagte Beth. "Wie war es denn für dich, Aileen?" Das Mädchen sah zu Boden und hielt ihr Buch umklammert.
"Ich wusste, dass ich gehen musste, also bin ich gegangen. Die Partei hat mir sogar die Entscheidung abgenommen, wenn man so will." Alle warteten, dass sie ihre monotone Erklärung fortsetzte, doch sie schwieg beharrlich. Beth lehnte sich über die Lehne des Sitzes nach hinten und berührte sie an der Schulter, sagte jedoch nichts.
"Wir sind jetzt alle eine große Familie. Wie die Waltons", meinte Raisa, den Blick nicht von der Straße nehmend.
"Und wer ist Johnboy?" wollte Cody wissen, eine Hand auf Trevors Schulter.
"Halt die Klappe, Cody!" Beth setzte sich seufzend wieder hin. Es würde eine lange Fahrt werden.
X
Ein anderer Ort
Weit entfernt von der Partei und ihren Plänen und Ideen brach eine furchtbare Auseinandersetzung aus, die viele Leben forderte und sich durch eine Grausamkeit auszeichnete, die manche Völker zum Verstummen brachte, andere jedoch zu einem panischen Aufschrei verleitete. Es herrschte Krieg...
Tag der Veröffentlichung: 21.12.2009
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