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Blicke

Niemand hatte es ihr gesagt. Sie wusste nicht, was sie trauriger machte. Ihr Tod, oder dass es tatsächlich keinem eingefallen war, sie zu informieren. Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie mit der Kreide den letzten Strich an der linken Augenfalte zog. Sie hob den Kopf und versuchte den perfekten Winkel zu finden, um den Blick der meergrünen Augen einzufangen. Das Klimpern einiger Münzen, die jemand im Vorrübergehen in den Becher warf, lenkte sie für einen Augenblick ab. Geld war ihr nie wichtig gewesen.
Es war in geringem Maße notwendig um den Hunger zu stillen, sie zu kleiden und das Dach über dem Kopf zu gewährleisten. Hauptsächlich brauchte sie es für Leinwand und Farben. Dafür erfüllte es seinen Zweck. Mehr wollte sie gar nicht.
"Hat bestimmt keine Arbeit", drang als Wortfetzen an ihr Ohr. Ach, wie oft hatte sie diesen und ähnliche Sätze schon gehört. Es machte ihr nichts aus. Sie brauchte keine Arbeit, sie hatte ihre Kunst.
Mit ihren Bildern, durch ihre Bilder, lebte sie, kommunizierte mit anderen. Mit denen, die verstanden darin zu lesen.


Viele waren es nicht, aber den Wenigen, die durch ihre Bilder einen Blick in ihre Seele warfen, war sie mehr als dankbar.
Die Kreide in ihrer Hand zerbrach, als sie an den Menschen dachte, der, stets mit einem Blick, selbst den tiefsten Punkt ihres Seins erfasst hatte. Groll stieg in ihr hoch, auf all die, die sie fern gehalten hatten. Besonders auf ihren Vater.

"Wenn du diesen Weg einschlägst, bist du für die Familie gestorben."
Der Tag lag weit zurück, an dem diese Worte aus seinem Mund traten. Ein vor Wut verzerrter Mund. Nur die Augen ihrer Großmutter hatten sie davon abgehalten, in Tränen auszubrechen.
Sie sprachen ihr Mut zu. Und das war es auch was sie damals am Nötigsten brauchte. Mut, ihren vorgezeichneten Weg zu gehen.
Seither rief sie sich stets diesen Blick ins Gedächtnis, wenn Zweifel an ihrer Kunst die Nächte zum Tag werden ließen. Brotlose Kunst, wie wahr.
Nicht weniger als einhundertzweiundzwanzig Werke stapelten sich in ihrem kleinen Zimmer. Verkauft hatte sie bisher nur eine Handvoll. Die Straßenmalerei im Sommer war ihre einzige Einkommensquelle. Nicht notgedrungen, nein, auch das war Kunst. Kunst, die sie am Leben hielt und das Geld für Farben lieferte.

Letztes Jahr hatte sie ihre Mutter bemerkt, die, mit einem gebührendem Abstand, ihr Wirken in der Fußgängerzone beobachtete. Als sie aufstand und ein paar Schritte auf sie zuging, drehte diese sich abrupt um. Ihr Rufen verhallte ungehört. Es tat weh.
An jenem Abend hatte sie lange das Bild ihrer Großmutter betrachtet. Über das matte Papier gestreichelt und sich aus den meergrünen Augen den Trost, den sie brauchte, geholt. Der Schmerz in ihr war nur langsam gewichen.

Und nun gab es sie nicht mehr, die Eine, die Einzige, die an sie geglaubt hat. Tot, und man hatte es ihr nicht gesagt. Vor einer Woche war schon die Beerdigung gewesen und nur durch einen Zufall hatte sie davon erfahren. Zwei Tage hatte sie keinen Pinsel mehr anrühren können. Dann trieb es sie auf die Straße.
Sie musste Abschied nehmen, auf ihre eigene Art.
Wieder fiel ein Geldstück in den Becher. Sie schaute auf, geradewegs in das Gesicht eines älteren Mannes.
Verständnis schlug ihr aus grauen Augen entgegen. Eine Hand hob sich an einen altmodischen Hut und ein Finger tippte leicht gegen den Rand. Der Mann nickte ihr zu, lächelte und ging weiter.
Gedankenverloren schaute sie ihm noch eine Weile nach, bis sie den Hut unter den Passanten nicht mehr ausmachen konnte.
Was er ihr sagen wollte, wusste sie nicht genau, doch fühlte sie sich seltsam frei. Sie nahm ein neues Stück Kreide, betrachtete noch einmal das aufgeschlagene Album neben sich, mit den vergrößerten Fotos und spürte, dass sie die Vorlage nicht mehr brauchen würde. Jeder Millimeter hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Zwei, drei kleine Striche noch, etwas Verwischen und sie fand in den Augen ihrer Großmutter das, was sie suchte, was ihr niemand nehmen konnte. Nicht ihr Vater, nicht der Tod.
Ein kleines Stück von ihr entfernt, tanzte ein Zitronenfalter über einer Mülltonne.

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Texte: copyright by Perdita Klimeck
Tag der Veröffentlichung: 13.08.2011

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