Meine Schwester LI
Ich bin eine ganz normale Frau und wenn man den diversen Zeitschriften Glauben schenkt, im besten Alter.
Wissenschaftlichen Berechnungen zu Folge gehöre ich zur Kategorie der deutschen Durchschnittsfrau, denn ich entspreche der Norm. Irgendwie hat ja in der heutigen Zeit alles eine Norm. Von der Colaflasche bis zum Kondom. Von A-Z ist alles in Kategorien, Tabellen und Spalten eingeteilt. Anhand von bunten Statistiken und Unmengen von nüchternen Zahlen finden wir unseren Platz im Leben. Korrekturen, sollte man sich mal abseits dieser Norm befinden, sind so viel leichter herbeizuführen.
In Abständen werden die Normwerte der deutschen Frau korrigiert und der Zeit angepasst. Was ich durchaus vernünftig finde. Heute gehören mit Sicherheit mehr Handtaschen und Schuhe zur deutschen Einheitsfrau, als noch vor 20 Jahren. Es wäre auch komisch, wenn man mir kein Handy zubilligen würde.
Die Kleidergröße ist das Grundgerüst der deutschen Durchschnittsfrau. Ich betone hier immer deutsch, weil diese Normen eben nur für Deutschland gelten. Jedes Land hat seine eigene " Miss Normal".
Mit Kleidergröße 38 und einem Gewicht von 64 Kilo, Schuhgröße 38 und BH -Größe 75 B, einem guten Job, geschieden, 1 Kind , in einer eheähnlichen Gemeinschaft lebend, entspreche ich genau der Norm. Ich mache zweimal im Jahr Urlaub, besitze 40 Paar Schuhe, genau so viele Handtaschen, bin nicht politisch engagiert, liebe mein Kind und meinen Partner, kümmere mich um meine Eltern, die Familie, Freunde und Kollegen. Freue mich am Tag und kranke an Alltagssorgen. Alles normal, alles Durchschnitt.
Und doch habe ich etwas, was völlig aus dieser Norm fällt, eine Schwester mit Namen LI.
Glaubt mir, wer so eine Schwester hat, braucht keine Feinde. Man kann alles mit ihr machen, nur nicht in eine Norm pressen, das lehnt sie kategorisch ab. Egal was andere sagen, sie macht was sie will. Kleidergrößen sind ihr meist egal, ihre Meinung zu Handtaschen und Schuhen ändert sie nach Lust und Laune. Mal ist sie schwer verliebt, im anderen Moment schon wieder traurig. Sie reist über Meere, fliegt zu den Sternen, ergötzt sich am Sonnenuntergang und streift ruhelos durch die Straßen.
Ich habe sie blind und taub erlebt, weinend und schreiend, in Gedanken versunken und taumelnd vor Glück. Sie ist Kind, Mann und Frau zugleich.
Meine Schwester LI ist die Frau von nebenan, die einsam in ihrem Zimmer sitzt, ist die Geliebte, die voller Zorn ihrem Freund den Koffer vor die Tür setzt. Sie zeigt ganz offen ihre Lust am Leben, an der Liebe und an der Welt. Manchmal ist sie alt und wehmütig, lebt am Rande der Gesellschaft und fühlt sich machtlos dem Geschehen um sie herum ausgeliefert.
Sie ist alles und nichts. Bettler und Tänzer, Träumer und Realist. Mal neben der Spur, kurz vor dem Abgrund und im nächsten Moment wieder auf geradem Weg. Nur nicht der Norm entsprechend.
Ab und an sind wir tatsächlich einer Meinung und sind uns ganz nah, meine Schwester LI und ich. Dann pocht mein Herz mit ihrem im gleichen Takt. Aber eben nur manchmal.
Unverständlich, dass ich geschlagen werde, wenn sie schlägt, dass man mich tröstet, wenn sie weint, mit mir lacht, wenn sie glücklich ist.
Gewiss,
sie ist meine Schwester
und ich liebe sie,
dennoch,
ich bin ich,
die mit der Norm,
sie ist nur LI.
Texte: copyright by
Perdita Klimeck
Tag der Veröffentlichung: 10.07.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
All meinen Lesern