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Es war schon weit nach Mitternacht als Gregor das knackende Geräusch einer aufbrechenden Walnuss vernahm. Sie zerbrach in seinem Kopf, entleerte ihren Inhalt und setzte sogleich eine Flut von Endorphinen frei. Er ließ sich von der Welle tragen, saugte die Worte wie einen Schwamm auf, drehte und wendete sie, um schließlich in ihrem Klang zu versinken. Längst war er nicht mehr verwundert, dass der Bildschirm des Computers völlig schwarz war und auch der Lüfter keinen Ton von sich gab. Als vor drei Tagen die erste Nuss in seinem Kopf platzte, war ihm das noch wie ein großes Rätsel erschienen. Ja, er hatte sogar für ein paar Minuten an seinem Verstand gezweifelt. Doch mittlerweile schien im das alles nur natürlich. Auch die Mahjongteilchen, die wie aus dem Nichts auftauchten und die er eine nach dem anderen wegklickte, gehörten zu ihm. Rasch beantwortete er ein paar Fragen, deren Sinn er zwar nicht verstand, aber es gehörte dazu. Es klimperte ein wenig, als die erworbenen Münzen seine rechte Hosentasche füllten.

Für eine Weile blieb alles ruhig. Lediglich Annett platzierte einen neuen Highscore von Diamond Dash auf der Zimmerwand gegenüber. Er hätte ihn knacken können, hatte aber keine Lust. Zwei seiner Freunde klopften an die Zimmertür, steckten für einen Moment den Kopf herein, ließen ein "Was geht ab" auf den Teppichboden fallen und verschwanden. Ein grüner Haken tauchte auf und flimmerte über seinem Bett. Rasch griff Gregor in seine Hosentasche und kramte ein paar Münzen hervor. Er warf sie in Richtung des grünen Hakens, der mittlerweile sein gefräßiges Maul weit aufgerissen hatte und die Münzen mit einem Schmatzen verschlang. Ein tiefes Rülpsen folgte, dann spuckte der Haken endlich die Antwort aus. Gregor fragte sich zum wiederholten Male woher Tina012 wusste, dass er gut küssen kann. Er zermarterte sich den Kopf, wo und wann diese Küsserei wohl stattgefunden hatte. Viel Zeit blieb ihm nicht zum Nachdenken, denn völlig unerwartet warf sich sein Kumpel Franz neben ihn auf das Bett und lud ihn mit Nachdruck zu einer Partie Bubble Island ein. Das konnte er nicht ausschlagen. Erst gestern hatte er nach einem 4-Stündigen Match gegen Franz verloren und natürlich sogleich um Revanche gebeten. Franz, der Dreckskerl, war natürlich gleich nach dem Sieg abgehauen. Natürlich nicht ohne einen hämisch grinsenden Smilie zu hinterlassen.

Es war herrlich die roten, blauen, grünen und gelben Blubber-
blasen zerplatzen zu sehen. So sehr vertieft merkte er überhaupt nicht, dass Tina012 einen Schlafanzug mit Bärenmotiven angezogen und Harry die vierte Flasche Bier aufgemacht hatte.

Franz verschwand schon nach einer halben Stunde und ließ ihn mit dem bunten Blubberzeugs allein. Überhaupt war es jetzt merklich stiller geworden. Gregor beschloss zu schlafen und drückte sein Gesicht tief in die Kissen. Seine Atemzüge wurden flacher und mit einem wohligen Gefühl in der Magengegend gedachte er noch kurz dem morgigen Tag. Das erste Mal seit Wochen freute er sich auf die Arbeit. Ganz genau genommen seit dreiunddreißig Tagen.
Drei davon hatte er sich noch aufgerafft überhaupt in die Firma zu fahren. Danach hatte er einen Arzt aufgesucht, etwas von Magenproblemen und zitternden Händen erzählt, um sich dann mit einer Krankmeldung - bis auf Weiteres- in seiner Wohnung zu verschanzen. Noch immer befiel ihn ein grauenhaftes Gefühl der Leere, als er an die ersten dieser dreiunddreißig Tage dachte.

TAG 0

-Wir weisen nochmals darauf hin, dass die unerlaubte Nutzung des Internets lt. betrieblicher Vereinbarung vom 01.05.2010 zu einer fristlosen Kündigung führt. -

Die Nachricht in seiner internen Mailbox störte Gregor wenig. Die Firmenleitung schickte diese Rundmail in regelmäßigen Abständen an die Mitarbeiter. Und niemand hielt sich daran. Gregor schloss das Mailprogramm und öffnete wie jeden Morgen den Webbrowser. Zwei Klicks noch und er würde bei seinen Freunden sein.

Access denied

Nach den Richtlinien der Wiesmüller GmbH wird der Zugriff verweigert. Bitte wenden Sie sich an ihren Systemadministrator.

Gregor starrte auf den Bildschirm. Das konnte nicht möglich sein. Er schloss den Browser, öffnete ihn sofort wieder und gab die Internetadresse erneut ein.


Access denied

Nach den Richtlinien der Wiesmüller GmbH wird der Zugriff verweigert. Bitte wenden Sie sich an ihren Systemadministrator.

Wieder und wieder versuchte er es, doch es änderte nichts an der Tatsache, dass sein Arbeitgeber die Seite gesperrt hatte. Nach mehr als einer halben Stunde und unzähliger, verzweifelter Versuche, gab Gregor auf.
Vorsichtig schaute er sich in dem Großraumbüro um. Wehmeyer, der schräg gegenüber seinen Schreibtisch hatte, telefonierte. Die Katzbach vor ihm biss gerade in ein Brötchen. Kalinke hielt wie üblich ein Schwätzchen mit Susi, der Praktikantin. Niemand achtete auf ihn.
Gregor war das gewohnt. In der Schule und während der Ausbildung war das nicht anders gewesen. Er war das große Nichts. Kein Streber, kein Klassenclown, ja noch nicht einmal der Typ, der in jeder Pause gehänselt wurde. Einfach nur ein unsichtbares Etwas.
Bei der Wiesmüller GmbH arbeitete er nun schon seit zwölf Jahren. Warum er nach der Ausbildung übernommen wurde war ihm ein Rätsel geblieben, zumal der Personalchef sich bis heute seinen Namen nicht merken konnte. Ihm war das nur Recht. Er kam ins Büro, erledigte sein Pensum, machte jeden Tag um die gleiche Zeit Pause, aß jeden Tag das gleiche Sandwich und genauso pünktlich wie er morgens seinen Computer hochfuhr, schloss er abends alle Programme und machte sich auf den Heimweg.

Auf die Pausen hatte er allerdings in der letzten Zeit verzichtet. Essen konnte er auch, während er sich um seine zahlreichen Freunde kümmerte. Denn Freunde hatte er in der Tat sehr viele. Fünfhundertzwölf um genau zu sein. Was brauchte er da noch die Aufmerksamkeit seiner Kollegen.

Freunde, das war das Stichwort. Gregor wandte sich wieder dem Bildschirm zu und probierte es erneut. Immer noch kein Zugriff. Schweißperlen verteilten sich in rasanter Geschwindigkeit auf seiner Stirn, sein Herz raste. Wie sollte er sich mit seinen Freunden treffen, wenn die Seite gesperrt war?
Vor lauter Verzweiflung biss sich Gregor in die rechte Hand.
Er schrie auf vor Schmerz und Kalinke schaute kurz in seine Richtung, schüttelte leicht den Kopf und wandte sich sofort wieder Susi zu. Wehmeyer und die Katzbach reagierten überhaupt nicht.

Gregor kam das sehr gelegen. Niemand brauchte zu wissen, was ihn gerade so beschäftigte. Er würde schon eine Lösung finden. Wieder und wieder huschten seine Finger über die Tastatur.
Die Zeiger der Bürouhr klickten sich mit penetranter Langsamkeit Richtung Feierabend. Gegen 16.00 Uhr war Gregor einem Zusammenbruch nahe. Er schnappte sich seinen Aktenkoffer, verstaute seine Butterbrotdose darin, murmelte etwas von Zahnschmerzen in Richtung der Kalinke und verließ das Büro. Die Bahnfahrt nach Hause kam ihm doppelt so lang vor wie üblich.


In seiner Wohnung angekommen, stürzte er sich sofort auf seinen Computer. Dass er noch seinen Mantel trug, bemerkte er nicht.


TAG 1


Um 10:12 Uhr gab Gregor auf. Seine Hände zitterten und der Druck in der Magengegend war ins Unermessliche gestiegen.

Access denied

Er wusste nicht mehr, wie oft das nun schon vor seinen Augen aufgeflackert war. Auf seinem Tisch stapelten sich die Akten. Wehmeyer hatte ihm schon einen äußerst missbilligenden Blick zugeworfen. Beachtete ihn sonst keiner aus dem Büro, schien der Aktenberg irgendeine Art der Anziehung auszuüben. Vielleicht war es aber auch das permanent klingelnde Telefon auf seinem Schreibtisch, dass den Unmut in Wehmeyers Augen auslöste. Nie war es auch nur einen Tag vorgekommen, dass er einen Anruf nicht schon beim ersten Klingeln entgegen nahm.
Wehmeyer fest im Blick, wartete Gregor auf einen günstigen Moment. Ein kurzer Klick und das Telefon war auf "Stumm" geschaltet. Er schnappte sich einige der Akten, klappte hin und wieder eine auf, schob sie über den Schreibtisch, klappte sie wieder zu. Konzentrieren auf nur einen Arbeitsvorgang konnte er sich nicht. Seine Gedanken kreisten einzig um seine Freunde.


In der Mittagspause verließ er zum ersten Mal seit Jahren das Büro. Zwei Straßen weiter gab es ein Internetcafe. Dort, so wusste er, würde er seine Freunde finden. Er atmete auf, als er feststellte, dass fast alle seine Freunde ihm noch treu waren. Was machten schon sechsundzwanzig weniger. Gregor vergaß vollkommen die Zeit und überzog seine Pause um eine Stunde. Ein missbilligender Blick von der Katzbach war die Folge.
Nach Büroschluss nahm er sich ein Taxi nach Hause. So konnte er wesentlich schneller an seinem Computer sein. Und bei seinen Freunden.

TAG 2

Wehmeyer und Kalinke steckten tuschelnd die Köpfe zusammen, als Gregor zwei Stunden nach Arbeitsbeginn das Büro betrat. Gesenkten Kopfes ging er zu seinem Schreibtisch. Noch nie war er zu spät gekommen. Ein bisschen schämte sich Gregor, aber dieses Gefühl war nicht von Dauer. Verlustängste machten ihm schon nach wenigen Minuten wesentlich mehr zu schaffen. Immerhin
hatte er es gestern Nacht geschafft, drei seiner Freunde zu beruhigen und die Zahl wieder auf vierhundertsechsundachtzig zu erhöhen. Allerdings war ihm dann nicht mehr viel Zeit zum Schlafen geblieben. Das Kaufen eines iPad hatte auch noch etwas Zeit heute morgen in Anspruch genommen.
Gregor öffnete seine Aktentasche. Ob er es wagen konnte?


Mit einem schnellen Griff holte er den iPad hervor und platzierte ihn zwischen den Aktenbergen auf seinem Schreibtisch. So, dass niemand von den anderen Einblick hatte. Das Telefon schaltete er wieder aus. Kurz widmete er sich der Einweisung. Technische Neuerungen waren für ihn kein Thema.
Schwierigkeiten hatte er nur mit seinen dicklichen Fingern den richtigen Punkt zu treffen. In seinem Eifer, alles richtig zu machen, bemerkte Gregor nicht, dass Susi hinter ihm stand und mit beiden Händen die anderen herbei winkte. Erst als Wehmeyer anklagend
"Das gibt eine Abmahnung" rief, schreckte er auf. Mit hochrotem Kopf schaltete er den iPad aus und ließ ihn in seiner Aktentasche verschwinden. Susi tippte noch kurz mit dem Zeigefinger an ihre Stirn, bevor sie sich intensiv Kalinke widmete, der wie alle anderen wieder an seinem Schreibtisch saß.

Gregor quälte sich mehr schlecht als recht durch den restlichen Vormittag. In der Pause schloss er sich auf der Toilette ein, um wenigstens einem Teil seiner Freunde die Möglichkeit zu geben, sich mit ihm zu treffen. Nachmittags versuchte er ein paar Akten abzuarbeiten, wurde aber immer wieder von Schweißausbrüchen geplagt. Früher zu gehen wagte er aber nicht. Er atmete auf, als die Uhr den Feierabend ankündigte und bestellte sich wieder ein Taxi.
Zuhause angekommen, stellte er fest, dass sich einunddreissig seiner Freunde ohne ein Wort von ihm verabschiedet hatten.


Es wurde eine lange Nacht. Nachdem er es geschafft hatte elf seiner Freunde wieder für sich zu begeistern, schlief er erschöpft über der Tastatur ein.

TAG 3


Wieder hatte es Gregor nicht geschafft pünktlich im Büro zu sein. Diesmal blieb es nicht bei einem tadelnden Blick. Offen sagte ihm Wehmeyer, dass er das nicht länger dulden würde. Beim nächsten Mal würde er es der Personalabteilung melden. Gregor schluckte nur und schleppte sich mühsam zu seinem Schreibtisch. Der Aktenberg schien im noch höher als gestern. Hin und her gerissen, zwischen Pflichtbewusstsein und dem dringendem Wunsch bei seinen Freunden zu verweilen, verharrte bewegungslos vor seinem Schreibtischstuhl. Er konnte sich nicht überwinden sich zu setzen. Gregor fühlte die Augen der anderen in seinem Rücken, hörte wie jemand seinen Namen rief, reagierte aber nicht. Ein plötzlicher Energieschub riss ihn aus der Starre. Mit einem Ruck drehte er sich um und ohne den Kollegen einen Blick zu gönnen, verließ er beschwingten Schrittes das Büro. Ein Taxi brachte ihn in die nächste Arztpraxis.

Die Krankmeldung in seiner Jackentassche kam ihm vor wie ein Freifahrtschein ins Glück, als er zwei Stunden später seine Wohnung betrat. Endlich hatte er Zeit sich rund um die Uhr um seine Freunde zu kümmern. Bis zum späten Abend hielten alle Abtrünnigen wieder Einzug in sein Heim.


In den nächsten sechsundzwanzig Tagen gelang es Georg nicht nur seine Freunde zu halten, nein, ganz im Gegenteil, er gewann noch siebenundsechzig Freunde dazu. Manchmal verlor er etwas den Überblick und handelte sich Ärger ein. Besonders schlimm war es, als er Kevin1 mit Kevin2 verwechselte und diesen nach den Brüsten seiner Freundin fragte, die dieser für kurze Zeit online gestellt hatte.
Essen und Trinken vergaß er zeitweise völlig dabei. An manchen Tagen hatte er sich noch nicht einmal gewaschen. Schlaf gönnte er sich auch kaum. Zu groß war die Angst, auch nur einen seiner Freunde zu verlieren. Zweimal klingelte sein Telefon, aber er ignorierte es. Wenn er nicht Bäume fällte besuchte er seine Freunde in deren Minen und im Zoo. Einige Male bat er um Geschenke, aber nur ganz vorsichtig, denn er wollte sich nicht aufdrängen. Um so mehr verschickte er allerdings und jede Bitte darum, beantwortete er umgehend.


Am siebenundzwanzigsten Tag geschah es zum ersten Mal, dass eine Nuss in seinem Kopf platzte. Das war kurz nachdem der Lüfter des Computers seinen Geist aufgegeben hatte und er gezwungen war den iPad zu benutzen. Seine Finger, er hatte es nicht geschafft eine passende Computermaus zu beschaffen, wollten noch immer nicht richtig treffen und völlig übermüdet war er wohl kurz eingenickt. Verwirrt schlug Gregor die Augen auf. Der iPad war geschlossen, der Computerbildschirm schwarz, der Lüfter still. Vor ihm auf dem Bett saß Kevin1 und reichte ihm einen Drink.

Mit diesem Tag veränderte sich das Leben von Gregor völlig. Er aß wieder, gönnte sich täglich ein Bad und wagte sich sogar in das Lebensmittelgeschäft an der Ecke. Und das alles ohne die Angst, seine Freunde zu verlieren. Was machte es schon, dass ihn alle anstarrten, wenn er zwischen den Regalen kurz innehielt um seine Tiere zu füttern, oder im Duell mit Franz ein paar Blasen zerschoss. Anfangs hatte er sich noch entschuldigt, aber das gab er schnell auf. Was interessierten ihn diese Gestalten, Franz und Kevin und all die anderen, die waren wichtig, sonst niemand.

TAG 34


Als der Wecker klingelte sprang Gregor gutgelaunt aus dem Bett. Die erste Nuss knackte und vermittelte ihm, dass der heutige Tag ein guter werden würde. Auf dem Weg ins Bad öffnete er das Geschenk von Kevin2 und schickte ihm mit dem Sendebutton sogleich ein Dankeschön zurück. Während er seiner Morgentoilette nachging schaute er zu wie sich die Zebras in seinem Zoo paarten.
In der Küche machte er sich sein Sandwich zurecht, packte es in seine Tasche, warf Anita R. noch ein Herzchen zu und verließ die Wohnung Richtung Bahnstation. Sieben seiner besten Freunde begleiteten ihn. Es machte ihm nichts aus, dass sie sich über ein Youtube-Video unterhielten, welches er noch nicht gesehen hatte. Sie lachten laut und er fiel in das Lachen mit ein.
Plötzlich wurde er von Tina012 angestupst. Sie lud ihn ein, ihr neuer Nachbar zu sein, was Gregor dankend annahm. Allerdings kannte er sich noch nicht richtig aus in seinem neuen Garten. Wahllos pflasterte er Wege und setzte einige Pflanzen. Das hielt ihn die ganz Bahnfahrt in Atem.
Kurz bevor er das Gebäude der Wiesmüller GmbH erreichte, stattete er Tina012 einen Besuch in ihrem Garten ab. Vielleicht konnte er ja noch etwas lernen. Während er sich noch umschaute betrat er bereits das Büro. Zeit den Garten von Tina012 zu verlassen. Dennoch, er würde sich noch einen kurzen Besuch auf seiner Kirmes gönnen, bevor der Kalinke ihm wieder Akten zuwies.

Ratz-Fatz waren zwei Bäume gefällt. Gerade als er die Axt wieder schwingen wollte bemerkte er den grässlichen Domovoi. Bevor er mit aller Kraft zuschlug lachte er laut. Das Gesicht des Domovoi sah dem Wehmeyer aber auch zu ähnlich.

Impressum

Texte: copyright by Perdita Klimeck
Tag der Veröffentlichung: 19.06.2011

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