Wechselbalg
In der Nähe von Wishborn, 1984
Seit Stunden war er nun schon in dieser Einöde unterwegs. Mittlerweile war es weit nach Mitternacht. Die Tankanzeige seines Rovers neigte sich bereits bedenklich der kritischen Zone entgegen. Verdammt, verdammt, dachte er. Warum musste auch ausgerechnet heute das Navigationssystem ausfallen. Ein leises Stöhnen neben ihm, riss ihn aus seinen Gedanken. Sofort drosselte er den Motor. Er war ohnehin nicht sehr schnell gefahren und so kam der Wagen schon nach mehreren Metern zum Stehen. Karl beugte sich besorgt über seine Frau.
Im mattroten Licht des Armaturenbrettes bemerkte er sofort die vielen, kleinen Schweißperlen auf ihrem eigentümlich bleichem Gesicht. Einzelne Strähnen ihres blonden Haares klebten auf ihrer Stirn.
"Ich glaube es ist soweit", flüsterte Agnes.
"Bist du ganz sicher? Es sind doch noch vier Wochen." Karls Stimme zitterte.
"Die Wehen kommen alle zwei Minuten", erwiderte Agnes und stöhnte erneut. "Was meinst du Karl, wie weit sind wir noch von der nächsten Stadt entfernt?"
Karl angelte nach einem Taschentuch in seiner Jackentasche und wischte ihr liebevoll den Schweiß von der Stirn. " Ich weiß es nicht, ich glaube wir haben uns verfahren." Für ein paar Sekunden legte er seinen Kopf auf ihren geschwollenen Bauch. Dann griff er mit einer Hand in das Handschuhfach und angelte eine kleingefaltete Landkarte heraus. Karl schaltete die Innenbeleuchtung des Rovers ein, faltete die Karte auseinander und versuchte, trotz des nur schwachen Lichtes, ihren ungefähren Standort zu bestimmen. Die fehlende Wärme des Motors ließ Agnes zittern. "Hier, Liebes, ich glaube ich weiß jetzt wo wir uns befinden. Vor wenigen Kilometern sind wir an einer Abzweigung vorbeigefahren. Wir müssen wieder zurück, die Straße führt in ein Dorf. Dort kann man uns sicher helfen."
Agnes unterdrückte ein weiteres Stöhnen und lächelte Karl an. "Sicher, dann fahr nur zu." Erschöpft lehnte sie sich in ihren Sitz zurück. Karl schaltete den Motor wieder ein, wendete den Rover und fuhr zu der Abzweigung zurück. Fast hätte er sie übersehen. Die Straße war sehr schmal und kein einziges Schild verwies auf ein nahes Dorf. Karls Blick lag konzentriert auf der Straße, nur hin und wieder glitt er besorgt zu Agnes. Zu Karls Erstaunen erfassten die Lichter des Rovers schon nach wenigen Minuten ein Ortseingangsschild.
"Millstone", murmelte er vor sich hin. "Komisch, der Ort ist auf der Karte gar nicht verzeichnet." Er zuckte zusammen als Agnes vor Schmerzen schrie. Ein kurzer, beruhigender Blick zu ihr und dann schaute er wieder auf die Straße. Häuser waren keine zu sehen. Im Grunde überhaupt nichts, was auf ein Dorf hindeutete.
Nach einigen hundert Metern tauchte in der Dunkelheit ein schwach beleuchtetes Gebäude auf. Es war sehr groß und Karl, der mittlerweile sehr langsam fuhr, brauchte ein paar Sekunden um zu erkennen, um was es sich handelte.
Die Umrisse einer alten Mühle hoben sich grob vom Nachthimmel ab. Er parkte den Rover, half Agnes aus dem Auto und hämmerte gegen die hölzerne Tür, da er nirgendwo eine Klingel entdeckte. Es rührte sich nichts. Als er fast schon aufgeben wollte, vernahm er schwere Schritte, die, von einem merkwürdigen Schleifen begleitet, sich näherten und mit einem groben Quietschen wurde die Tür ruckartig geöffnet.
Karl war nicht wenig erstaunt eine ungewöhnlich schöne Frau vor sich zu sehen. Sie hatte lange, blonde Haare, die wie ein Wasserfall ihr Gesicht einrahmten. Viel Zeit blieb ihm nicht darüber nachzudenken, wie die schweren Schritte zu dieser elfenhaften Figur passten. Hastig erklärte er, in welcher misslichen Lage er sich befand und bat um Hilfe.
Die Frau nickte und winkte, ohne ein Wort zu sagen, beide in die Mühle. Fast mütterlich legte sie den Arm um Agnes und führte sie in einen Raum, der sich an den Eingangsbereich anschloss. Sie bedeutete Karl, im Eingangsbereich zu verbleiben und schloss die Tür. Ihm war es recht. Was nun folgte war Frauensache. Beruhigt war er allerdings keineswegs. Je länger er wartete, desto unheimlicher erschien ihm der Ort.
Trotz anfänglicher Stille vernahm er Wasserrauschen.
"Ein Mühlbach, sicherlich. Komisch, dass ich ihn vorhin nicht bemerkt habe", sinnierte er vor sich hin. Im trüben Licht des Eingangsbereiches bemerkte er Wasserspuren, die sich wie Schlieren über den Boden ausgebreitet hatten. Genau dort, wo die junge Frau lang gegangen war. Seine Unsicherheit wurde noch vergrößert, als markerschütternde Schreie aus dem Raum erklangen, in dem sich Agnes befand. Danach herrschte Stille.
Eine Weile zögerte Karl noch, doch dann hielt ihn nichts mehr.
Er riss die Tür zu dem Raum auf und stürmte hinein.
Was er dann dort zu sehen bekam, sollte Karl niemals wieder vergessen und ihn um den Verstand bringen.
Downvalley, 2004
Agnes faltete Handtücher. Zwei Stapel lagen schon vor ihr auf dem Tisch. Es war erst zehn Uhr morgens und doch war sie schon wieder müde. Wie so oft in den letzten zwanzig Jahren hatte sie nachts kein Auge zugemacht. Manchmal, wenn sie Glück hatte, schlief Pete die ganze Nacht. Doch meistens verlangte er alle zwei Stunden nach ihr. In den ersten Jahren hatte ihr das noch nichts ausgemacht, doch mit zunehmendem Alter wurde es immer schwieriger für Sie. Pete war zwar nicht sehr groß, aber dennoch kräftig. Und auch wenn er nicht sprechen konnte, die Lautstärke seiner unartikulierten Laute, konnte er in ungeahnte Höhen schrauben. Schlimm wurde es, wenn Pete nicht sofort von ihr bekam was er wollte. Dann trat er nach ihr, schubste sie und schlug auf sie ein.
Agnes liebte Pete, obgleich sie manchmal etwas Angst vor ihm hatte.
Ein weiterer Stapel Handtücher gesellte sich zu den anderen. Agnes hob den Kopf und lauschte. Alles war ruhig im Haus. Pete schien noch zu schlafen. Vielleicht habe ich Glück und die Zeit reicht für eine Tasse Kaffee auf der Terrasse, dachte sie. Viel zu selten hatte sie die Gelegenheit diese zu nutzen. Obgleich das Haus weit abgelegen vom Dorf lag, hatte sie doch beständig Sorge, dass irgendjemand vorbeischauen könnte. Solange sie niemand sah, konnte sie so tun, als sei keiner zu Hause. Ihren Monatseinkauf erledigte sie stets in der Stadt. Immer wenn sie Karl besuchte. Pete wurde in der Zeit eingesperrt. War es anfangs nur, wenn sie das Haus verlassen musste, so war es mittlerweile schon zur festen Gewohnheit geworden, die Türe zu Pete`s Zimmer verschlossen zu halten.
Rowcity, Celtic-Clinik 2006
"Wie geht es ihm heute?" Dr. Clarkson schob die Abdeckung des Türspions beiseite und presste ein Auge dagegen. Karl lag wie immer auf seinem Bett und starrte ausdruckslos an die Zimmerdecke.
"Wie immer, Dr. Clarkson, keine Veränderung. Gestern hat er allerdings wieder nach Papier und Stiften verlangt."
Dr. Clarkson ließ die Abdeckung wieder in die ursprüngliche Lage zurückrutschen und wandte sich Schwester Phoebe zu, die neben ihm stand.
"Die Zeichnungen, wo sind sie?"
Pflichtbewusst hielt ihm Schwester Phoebe einen Stapel Blätter hin. Dr. Clarkson griff danach und schaute sie rasch durch.
"Armer Teufel", sagte er mitleidig. "Meinen Sie, wir sollten es ihm sagen?"
Schwester Phoebe schüttelte den Kopf. "Er wird es nicht begreifen. Wahrscheinlich merkt er noch nicht mal, wenn sie nicht wieder kommt. Die arme Frau, es ist aber auch wirklich zu schrecklich. Schlimm genug, dass ihr Mann seit mehr als zwanzig Jahren unter Wahnvorstellungen leidet. Stimmt es, dass man sie erst nach Wochen gefunden hat?"
Dr. Clarkson schaute sie sichtlich bewegt an. "Ja, sie ließ sich schon seit mehr als einem Jahr einmal im Monat ihre Lebensmittel nach Hause liefern. Der Fahrer wurde stutzig, als sie auch beim zweiten Versuch die Ware auszuliefern, nicht öffnete. Sie muss schrecklich zugerichtet gewesen sein, wenn man den Zeitungen glauben darf."
Er wandte sich zum Gehen. "Hängen sie die Zeichnungen zu den anderen in seinem Zimmer."
Schwester Phoebe nickte zustimmend und schloss die Tür zu Karls Zimmer auf. Karl saß mittlerweile auf einem Stuhl am Fenster und starrte durch die Gitterstäbe. Er würdigte sie keines Blickes. Schwester Phoebe begrüßte ihn dennoch freundlich, obgleich sie wusste, dass mit einer Antwort nicht zu rechnen war. Ihre Augen suchten die Wände ab, um noch ein kleines, freies Fleckchen auszumachen. Im Grunde war es überflüssig die Bilder zu den anderen zu hängen. Auf allen war das Gleiche zu sehen. Sie kannte das Motiv genau und doch konnte sie niemals das Grauen unterdrücken, was sie befiel, so oft sie eines der Bilder von Nahem betrachtete.
Zumal sich mit den Jahren seine Zeichentechnik derart verbessert hatte, dass die dargestellte Szene immer plastischer wurde.
Auch heute konnte sie dieses unheimliche Gefühl nicht ganz unterdrücken. So sehr sie sich auch jedesmal vornahm, nicht hinzuschauen, irgendetwas zog sie immer in den Bann.
Sie nahm die letze Zeichnung in die Hand und betrachtete sie.
Das Bild zeigte ein hübsch eingerichtetes Zimmer. Ein Fenster gab es zwar nicht, aber der Raum schien auf den ersten Blick freundlich eingerichtet.
Eine zierliche Kommode, mit Spiegel und Waschtisch, ein etwas altertümlich anmutender Schrank, ein kleiner Tisch, ein Bett und eine Wiege. Im Grunde alles sehr idyllisch, wäre da eben nicht dieses grauenvolle Etwas, was sich über die Wiege beugte. Man musste schon genauer hinschauen um eine Frau zu erkennen.
Wild wucherten verfilzte Haare um ein abscheuliches, mit grünen Schuppen überzogenes Gesicht. Man konnte es nur von der Seite erkennen, doch schien es Schwester Phoebe, als ob Funken aus den Augen sprühen würden. Ihr Körper war verunstaltet und hatte kaum noch etwas Menschliches an sich. Auf ihrem Arm hielt sie ein ebenso abscheuliches kleines Wesen. Es hatte einen riesigen Kopf und merkwürdig lange Gliedmaßen. Schwester Phoebe´s Blick löste sich von der Gestalt und wanderte zum Bett. Dort lag eine junge Frau, sichtlich ermattet, die unschwer als Agnes, Karls Frau zu erkennen war.
Schwester Phoebe legte das Bild auf Karls Bett und nahm ein weiteres Blatt zur Hand. Das Wesen war nun von vorne zu sehen, als ob es sich dem Zeichner zugewandt hätte. Wasser tropfte aus allen Kleidern der unheimlichen Gestalt, falls man die widerlichen Fetzen so nennen konnte. Es war so plastisch gezeichnet, dass man meinte den Modergeruch zu vernehmen.
Jetzt hielt die Gestalt allerdings einen Säugling auf dem Arm, der keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem schrecklichen Wesen auf dem ersten Bild hatte. Er hatte hübsche Gesichtszüge und sah so normal aus wie jedes andere Neugeborene. Die junge Frau in dem Bett hatte sich aufgerichtet und es war deutlich zu erkennen, dass sie schrie. In der Wiege konnte man das hässliche, kleine Wesen mit dem Wasserkopf ausmachen.
Schwester Phoebe nahm das dritte Blatt zur Hand. Sie wusste schon im Voraus, dass es schwarz sein würde, einfach nur schwarz. So war es jedesmal. Karl zeichnete stets drei Bilder. Und immer war das Dritte einfach nur mit schwarzer Farbe bedeckt. Wirr und fast mit Gewalt aufgetragen.
Sie nahm alle drei Bilder wieder in die Hand, kramte in ihrer Tasche nach einer Rolle Tesafilm und klebte die Zeichnungen zu den anderen an die Wand.
Karl starrte noch immer aus dem Fenster. Schwester Phoebe murmelte etwas in seine Richtung, was wie " bis morgen Karl" klang und verließ den Raum. Wie gewohnt drehte sie den Schlüssel zweimal um. Karl galt zwar nicht als gefährlich, aber bei dieser Art von Wahnvorstellungen war Vorsicht angebracht.
Downvalley News 28.September 2006
Noch keine Spur vom Valleymonster
Nach fünf bestialischen Morden ist es der Polizei noch immer nicht gelungen den Täter zu identifizieren. In der gestrigen Pressekonferenz machte Chief Inspector Woods, unter anderem, die wenig aussagekräftigen und wirren Zeugenangaben dafür verantwortlich. Einige der wenigen Zeugen sprechen von einem schrecklichen menschlichen Wesen, von kleiner Gestalt mit einem riesigen Kopf, während andere den Mörder mit einer Fischgestalt vergleichen.
Einig sind sich die Zeugen nur darin, dass von dem Täter stets eine modriger Geruch ausging. Deshalb wird jetzt vorrangig das Moorgebiet beim Wishborn durchsucht. Laut Chief Inspector Woods bietet das weitläufige Moor dem Täter ideale Bedingungen, um sich versteckt zu halten. Die Bevölkerung wird weiterhin gebeten Vorsicht walten zu lassen.
Downvalley News wird sie über den neuesten Stand der Ermittlungen täglich informieren.
"Wasserzauber"
Fantasy
Softcover, 220 Seiten
Preis 12,00 ¤
ISBN 978-3-942104-05-0
Sperling Verlag
Texte: Text und Cover
by
Perdita Klimeck
Tag der Veröffentlichung: 25.05.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Leseprobe aus
"Wasserzauber"
Fantasy
Softcover, 220 Seiten
Preis 12,00 ¤
ISBN 978-3-942104-05-0
Lieferbar ab Juni 2011
Sperling Verlag