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Sie bemerkte ihn nicht. Heute genauso wenig, wie an all den anderen Tagen. Warum sollte sie sich auch von den anderen unterscheiden? Niemand bemerkte ihn, hatte ihn je bemerkt.
Jeden Tag fuhr er die gleiche Strecke. Linie 18, immer um 7 Uhr 15, ab Haltestelle Liegnitzer Straße. Er musste nur drei Stationen warten, bis sie einstieg. Manchmal hatte er Pech, weil die Bahn so überfüllt war, dass er sie nur schwer oder gar nicht beobachten konnte. Deshalb blieb er grundsätzlich im Mittelgang stehen. Immer noch die beste Position um einen Blick auf sie zu erhaschen. Heute war ein guter Tag für ihn. Sein Blick legte sich auf ihr braunes, langes Haar. Sie trug es gebunden zu einem Pferdeschwanz. Das gefiel ihm, denn so konnte er mit seinen Augen den Nacken berühren. An der nächsten Haltestelle ließ er sich von den hereinströmenden Menschen ein Stück näher an sie schieben, bis er schräg hinter ihr stand. Jetzt konnte er in der gegenüberliegenden Scheibe in ihr Gesicht blicken. Lange betrachtete er den kleinen Leberfleck über ihrem linken Mundwinkel. Dann glitten seine Augen über ihre zierliche Nase, weiter höher. Als sich unvermutet ihre Blicke trafen, senkte er den Kopf.

Seit Monaten versuchte er zu ergründen, was ihn zu ihr hin zog. Da war etwas, aber bevor er es fassen konnte entglitt es ihm wieder. Worte wie Sehnsucht, Liebe und Begehren kannte er, nur das Gefühl dazu war ihm vollkommen fremd. Emotionen nannte man das. Auch Weinen und Traurigkeit war eine Emotion. Er hatte sich Bücher darüber besorgt, stundenlang in ihnen gelesen und nichts dergleichen für sich einordnen können. Nach dem, was ihm einleuchtend erschien, musste er einsam sein und voller Hass. Nur, was ist Einsamkeit, was ist Hass? Er verstand es nicht. Einmal war er über das Wort, gefühlskalt, gestolpert. Wie kann etwas kalt sein, dessen Wärme er nie spürte?
Die Fragen nisteten sich in seinem Kopf ein und raubten ihm den Schlaf.
Eine Zeitlang hatte er sich mit dem Thema Schmerz beschäftigt. Sein Arm war übersät mit Narben. Wie viele Zigaretten er dort ausgedrückt hatte, wusste er nicht mehr. Das Wort Schmerz erschloss sich ihm auch daraus nicht. Tränen war auch etwas, was er nie verstanden hatte. Obwohl er sie schon mehrfach gesehen hatte. Im Übrigen, das Einzige woran er eine dumpfe Erinnerung hatte. In den Nächten, die er nicht traumlos verbrachte. Versteckt hinter grauen Nebelschleiern sah er dann eine Gestalt mit langen, braunen Haaren, die sich über ihn beugte und eine Hand, die sich seinen Wangen näherte.
"Nicht weinen", hörte er dann eine Frauenstimme flüstern. So leise, dass er es kaum verstehen konnte. Nach solchen Nächten war sein Kissen stets feucht.
Früher, im Heim, hatte er dieses Träume fast täglich gehabt, in den letzten Jahren nur noch selten.

Die Bahn ruckelte ein wenig und er zuckte zusammen als jemand haltsuchend nach seinem Arm griff. Berührungen lagen ihm nicht. Seine Faust in der rechten Manteltasche schloss sich fester um den Messergriff. Nur nicht auffallen, dachte er. Und wusste im gleichen Atemzug, wie sinnlos seine Gedanken waren. Er würde nicht auffallen.
Noch zwei Stationen, dann wird sie aussteigen und wie jeden Tag würde er ihr folgen. Unauffällig, wie er sein ganzes Leben verbracht hatte. Letzte Woche hatte er es geschafft einige Meter neben ihr zu gehen. Sie hatte es nicht wahrgenommen, so wie sie ihn nie wahrnahm.

Wieder sah er zu ihr rüber. Ob sie das war, was man in den Büchern schön nennt? Er wusste es nicht. Was ist ein schöner Tag, was ein schöner Sonnenuntergang? All das war ihm fern.
Sie kannte er, so wie die Häuser, an denen die Bahn jeden Tag vorbeifuhr. Wie seine Schuhe, die immer am gleichen Platz in seiner Diele standen und die er jeden Morgen putzte, bevor er seine Wohnung verließ. Wie die Schuhe hatte er sie in sein Leben eingebunden.

Er streckte seinen Rücken. Nur noch ein paar Minuten, dann hätte er sie für sich alleine.
Keiner mehr, der ihm ungewollt den Blick auf sie versperren würde. Seine Hand entspannte sich in der Tasche und er vertiefte sich erneut in ihr Spiegelbild.
Eine feine Stimme riss ihn aus den Gedanken.
"Hallo du, warum guckt du immer so traurig?" Eine kleine Hand zupfte an seinem Mantel und große blaue Augen sahen erwartungsvoll zu ihm herauf.
"Ich sehe dich jeden Tag, und nie lächelst du."
Er war verwirrt, was wollte dieses Mädchen von ihm.
"Weißt du", plapperte sie fröhlich weiter, "ich bin auch manchmal traurig. Dann kommt meine Mama, und sie tröstet mich. Wenn Mama da ist, ist alles gut. Hast du keine Mama?"
Etwas durchzuckte ihn, knallte mit ungeheurer Wucht in sein Herz. Reflexartig krampften sich seine Finger um das Messer in seiner Tasche. Seine Augen füllten sich mit Tränen, während der Schmerz sich langsam in seinem Körper ausbreitete. Warm rann das Blut in seine Manteltasche.

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Texte: copyright by Perdita Klimeck
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2009

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