Noch zehn Minuten.
In zehn Minuten würde das große Feuerwerk losgehen.
Amy jedoch lag in ihrem Zimmer, hatte unglaubliche Kopfschmerzen und starrte die dunkle Decke an. Ihre Mutter hatte versprochen, sie zu holen, wenn alles so weit war. Sie wollte Amy eine kleine Überraschung machen. Vor ihr leuchteten die roten Ziffern, die ihr Radiowecker an die Wand projizierte, und sagten ihr, dass es nicht mehr lange bis zum nächsten Jahr war. Letztes Jahr war alles schiefgegangen. Ihr Hund war gestorben, ihre Schulnoten waren in den Keller gesunken, ihre Eltern hatten sich ständig gestritten, ihr Vater saß immer noch in China am Flughafen und sie selbst war so etwas wie „dauerkrank“. Zuerst ewiger Schupfen, dann ewiges Halsweh und jetzt diese elenden Kopfschmerzen. Es fühlte sich an als wolle ihr Schädel in tausend Teile bersten.
Noch acht Minuten.
Nicht nur ihre Familie hatte letztes Jahr einiges erlebt. Alles war in Umweltkatastrophen versunken. Erdbeben, Überschwemmungen, unerträgliche Hitze und Schneemassen, die den Flugverkehr lahmlegten. Natürlich hatte es die vorherigen Jahre auch Unglücke gegeben, aber 2011 waren sie ihr ungewöhnlich zahlreich vorgekommen.
Noch sechs Minuten.
Sie musste an den rätselhaften Zettel denken, den sie vor wenigen Tagen plötzlich auf ihrem Schreibtisch gefunden hatte. Sie hatte keine Ahnung wo er hergekommen sein könnte. Auch ihre Eltern und Freunde konnten sich darauf keinen Reim machen. Sie knipste die Nachttischlampe an und kramte den Zettel aus der obersten Schublade.
Nächstes Jahr wird alles anders. Du musst nur auf dein Herz hören…
Die Buchstaben leuchteten rotbraun, so dass sie auf beunruhigende Weise wie getrocknetes Blut aussahen. Auch das weiße, ausgefranste Papier gab keinen Aufschluss darüber, wo es herstammen könnte. Vom vielen Nachdenken tat ihr der Kopf noch mehr weh-was sie eigentlich nicht für möglich gehalten hätte-und sie löschte das Licht wieder.
Noch drei Minuten.
Sollten inzwischen nicht schon einige Blindgänger gen Himmel geflogen sein? Merkwürdig. Manche Leute meinen doch eigentlich immer, dass sie die ersten sein müssten, und schicken schon lang vor Mitternacht Raketen in die Luft. Auch war sonst nichts zu hören. Der Fernseher war anscheinend aus und ihre Mutter verhielt sich auch außergewöhnlich still. Oder hatte sie jetzt auch schon Probleme mit den Ohren?
Noch zwei Minuten.
Amy überlegte, dass sie ihrer besten Freundin eine SMS schreiben sollte, wenn sie schon nicht telefonieren konnten. Amy brachte nämlich immer noch keinen Ton raus, so tat ihr Hals von den vorherigen Wochen noch weh. Sie setzte sich auf und fiel sofort wieder zurück in die Kissen, weil ihr schwärzer als schwarz vor Augen wurde. Beim zweiten Mal richtete sie sich langsamer auf, nur um feststellen zu müssen dass ihr Handy den Geist aufgegeben hatte. Der Akku war mal wieder leer.
Noch eine Minute.
Wo war der Lärm? Wo war ihre Mutter? Sie kam sich auf einmal sehr einsam und unbehaglich vor. was war hier los? Warum leuchtete der Himmel nicht in tausend Farben, sondern nur in schimmerndem Silber-Grau vom Mond? Warum knallte und pfiff die Nacht von Raketen und anderen Geschossen, sondern schwieg, als wäre alles und jeder verstummt?
30 Sekunden.
Langsam bekam Amy Angst. Sie wollte zu ihrer Mutter ins Wohnzimmer, doch sobald sie sich aufrichtete verschwamm ihr Blick wieder.
20 Sekunden.
Und wollte ihr Vater nicht versuchen sie zu erreichen? Was war hier nur los!?
10 Sekunden.
Eine Träne rollte Amys Wange herunter...und färbte ihr Kissen rot.
5 Sekunden.
Ihre Kopfschmerzen ließen nach.
3...2...1...
00:00:00
Die Ziffern blinken auf...und die Sekunden blieben stehen.
Die Welt schwieg, wie unter einem schweren Tuch aus Stille.
Amy wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und erschrak, als ihre Hände rot verschmiert waren.
Plötzlich hörte sie im Flur ein leises Klicken. Es klang wie...sie kannte das Geräusch, weil sie es noch vor gar nicht so langer Zeit regelmäßig gehört hatte, aber sie konnte es nicht zuordnen. Dann schabte etwas an ihrer Zimmertür. Und ihr fiel es wieder ein. Die Krallen ihres Hundes, die über den Fliesenboden klackten und in all den Jahren die Farbe von ihrer Tür zerkratzt hatten. Und jetzt war er wieder da. Aber er war gestorben, Anfang des Herbsts. Wie war das möglich?
Die Türklinke wurde langsam heruntergedrückt. Mit leisem Knarzen ging die Tür auf. Sie hörte nun auch das leise Hecheln. Als der Kopf des Hundes in das Zimmer schaute, schrie Amy auf. Das Fell war schwarz und verfilzt, die Haut spannte sich über den Schädel, als hätte das Tier ewig nichts gegessen und die Augen glühten rot wie Blut. Mit dem Ungeheuer kam auch ein Geruch nach Verwesung und Fäulnis ins Zimmer. Amy zog sich die Decke bis unters Kinn und drängte sich so weit wie möglich in die Ecke ihres Betts. Der Hund glich einer Höllengestalt. Die Rippen stachen hervor und stellenweise war die kahle, weiße Haut unter dem Fell zusehen.
Er kam langsam auf Amy zu. Sie schrie sich die Seele aus dem Leib, doch die Welt war leer. Niemand war da, der sie hätte hören können. Außer ihr und diesem Monster gab es nichts.
Als der Hund direkt vor ihr stand, war der Gestank kaum noch auszuhalten. Alles um ihn herum nahm eine gräuliche Farbe an.
"Was bist du!!??", brach es schließlich aus Amy heraus.
Ein kehliges Knurren war die Antwort.
Und als das Monster sein Maul öffnete und ihr die Kehle zerfetzen wollte, versank sie in Ohnmacht...
Schweißgebadet schreckte Amy aus dem Albtraum hoch. Ihr Wecker zeigte 23.50 Uhr.
Noch zehn Minuten.
Zum Glück war das nur ein Traum gewesen. Aber der Schreck saß ihr immer noch in den Knochen. Sie lauschte auf Geräusche. Alles war ganz normal. Draußen waren Motorgeräusche, Kindergeschrei und auch schon einzelne Raketen zu hören. Hunde bellten draußen, doch als sie das hörte lief ein eiskalter Schauer ihren Rücken hinunter. Bei dem Gedanken an die Bestie, die in ihre Zimmer geschlichen war, bekam sie nur noch mehr Angst. Sie schlug die Decke zurück, stand auf und machte die Heizung aus. Wieder im Bett legte sei die Decke nur über ihre Beine.
Noch fünf Minuten.
Auch ihre Mutter war nicht zu überhören. Sie war entweder im Wohnzimmer oder in der Küche, das konnte Amy nicht genau sagen, aber offensichtlich war, dass ihre Mum sich auf Neujahr freute. Sie sang nämlich. Laut und Schief. Amy lachte kurz auf. Ihre Kopfschmerzen waren auch verschwunden. Was war das nur für ein verrückter Traum gewesen? Und dieser Zettel…
Noch drei Minuten.
Eilig öffnete sie die oberste Schublade ihres Nachtkästchens. Nichts. Oder doch? Zwischen den Seiten ihres Tagebuchs ragte die Ecke eines Blatts, welches sie dort nicht hingelegt hatte. Langsam nahm die das kleine Büchlein heraus.
Noch zwei Minuten.
Sie zog an dem Papier, doch es bewegte sich keinen Millimeter. Dann musste sie es wohl doch aufsperren. Draußen gingen immer mehr Raketen hoch und die Hunde bellten lauter. Bis sie den Schlüssel fand versuchte sie diese Geräusche auszublenden.
Noch eine Minute.
Endlich fand sie den kleinen silbernen Schlüssel. Sie öffnete das Schloss und schlug sie Seite auf, wo der Zettel hing. Er klebte tatsächlich fest. Auf dem vergilbten Papier war kein Schriftzug zu sehen. Langsam löste sie die Blätter auseinander.
20 Sekunden.
Die leuchtend roten Worte auf der anderen Seite sprangen sie förmlich an. Es waren dieselben wie in ihrem Traum. Mit Blut geschrieben.
10 Sekunden.
Sie starrte die Buchstaben an, unfähig sich zu bewegen.
3…2…1…
00:00:00
Ihre Mutter schrie auf.
Ein Kläffen war zu hören.
Dann das Geräusch als würden Knochen bersten und…
Stille...
Texte: Text copyright by Alex Sunbird.
Tag der Veröffentlichung: 08.01.2011
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