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6. Kapitel
Begegnung zweier Völker



Mitten in der weiten grünen Ebene saß ein Kaninchen mit seinen Jungen und fraß genüsslich am saftigen Gras. Die acht Jungtiere hockten dicht beieinander und taten es ihrer Mutter gleich. Über der kleine Familie schien die Sonne von einem strahlend blauen Himmel herab, der aber plötzlich von einem halben Dutzend Schatten verdunkelt wurde. Die Kaninchenmutter schaute nach oben, und als sie die Greifer erkannte, drängte sie ihre Kleinen in den Bau. Doch zu spät. Eines der Tiere hatte sie entdeckt und stieß einen hässlichen Schrei aus. Das erste Flugungeheuer hatte die Erde fast erreicht, als ein surrendes Geräusch zu hören war. Mit einem letzten, verwunderten Blick auf den Schaft, der aus der Brust der Echse ragte, fiel diese tot zu Boden. Die anderen Greifer - alarmiert durch das Schicksal ihres Verwandten – brachen den Angriff ab und schauten sich nach dem Ursprung des Pfeils um. Dreißig Pferde flogen in gestrecktem Galopp über das flache Land und ihre Reiter spannten ihre Bögen angriffsbereit. Der nächste Pfeilhagel holte fünf weitere Flugechsen vom Himmel. Die anderen versuchten so schnell wie möglich an Höhe zu gewinnen, um außer Schussweite zu gelangen. Sechs Greifer waren nicht schnell genug und wurden mit der nächsten Salve in den Tod geholt. Das restliche Dutzend ging jetzt zum Angriff über. Sie formierten sich, wichen den Geschossen geschickt aus und stürzten auf die Reiter nieder. Mit ihren krallenbewehrten Klauen packten sie die Männer an den Schultern, trugen sie hoch in die Luft und ließen sie dann wieder fallen.
Darian, der als einer der letzten am Schauplatz ankam, legte immer gleich zwei Pfeile auf die Sehe und schickte so drei der gewaltigen Tiere in den Tod, Als eine Echse direkt auf ihn zuflog, zog er sein Schwert und schnitt ihr tief in den Flügel, wodurch sie laut kreischend auf dem Boden landete. Sie wollte sein Pferd von hinten angreifen, doch Darian drehte sich im Sattel um und erledigte die Echse mit einem gezielten Schwertstich in die Kehle. Er blickte sich um, das Schwert zum Kampf erhoben, aber seine Gefährten hatten die übrigen Greifer schon niedergestreckt. Jedoch hatte auch die verteidigende Seite Verluste erlitten. Darian schüttelte betrübt den Kopf. In der Stadt würde es wieder vaterlose Kinder und Witwen geben. Er hatte sich das Leiden jeden zweiten Tag aufs Neue mit ansehen müssen, tatenlos, machtlos. Er hatte auf dem Wall gestanden und gewartet, dass er endlich mit der Verteidigung reiten durfte. Erst jetzt verstand er, warum seine Mutter dagegen gewesen war. Nach jedem Angriff der Greifer hatte es mehr Opfer zu beklagen gegeben. Er wollte sei Bells Reaktion nicht ausmalen, wenn er unter den Krallen dieser Flugechsen gestorben wäre. Sie hätte sich selbst Vorwürfe gemacht, ihn nicht aufgehalten zu haben und im schlimmsten Fall hätte sie ihn rächen wollen.
Noch während er half die gefallenen Kameraden auf ihre Pferde zu legen, schalt er sich für sein überstürztes Handeln und dafür, dass er mit Bell im Streit auseinandergegangen war. Er beschloss, so schnell wie möglich nach Hause zu reiten, wenn sie den toten Kämpfern die letzte Ehre erwiesen hatten.
Bevor Darian sich den Heimkehrenden anschloss, besah er sich die Greifer genauer. Er hatte sie bisher nur als schwarze Punkte am Himmel gesehen und nicht gedacht, dass sie so groß seien. Aufrecht stehend wäre die Echse mit ihm auf Augenhöhe gewesen und die Flügelspannweite maß gute zwei Manneslängen. Ihre Statur war ähnlich der eines Menschen, bis auf ihre Arme und Hände, die beide sehr lang waren. Der Kopf war eine Mischung aus Geist und Hund und ihre schlitzförmigen Augen und die scharfen Eckzähne waren gelb gefärbt. Das schwarze Leder, welches sich über die Knochen der Echsen spannte, war von roten Schriemen durchzogen.
„Darian! Komm endlich! Wir müssen zurück nach Berund.“
Taris, vom Blute der Nachtwesen, war stehen geblieben und rief seinen Kampfgefährten zur Eile.
Die zwei jungen Männer hatten sich in der Kämpen-Schule „Der silberne Pfeil“ kennengelernt. Seitdem waren sie gute Freunde und unternahmen fast alles gemeinsam. Da Taris jedoch älter war, hatte er sich früher zur Verteidigung melden können. Erst letzte Woche hatte er eine schwere Verletzung am Arm davongetragen und die Pfleger hätten ihn heute am liebsten noch zu Hause gelassen. Er wollte aber unbedingt dabei sein, wenn Darian das erste Mal zum Kampf ritt.
„Ich hätte nicht gedacht, dass die Greifer so groß sind.“, meinte der Eisengel gerade.
„Ja, das sind schon gewaltige Tiere. Aber du hast dich hervorragend geschlagen.“
Taris klopft seinem Freund anerkennend auf die Schulter und sie folgten ihren Gefährten.
„Sie nur, wie klar die Sicht bei der Grenze ist.“, bemerkte Taris, als sie die Verteidiger einholten.
„Morgen könnte das Wetter umschlagen.“

In Berund wurden die Straßen von Menschenmassen verstopft, wie jedes Mal, wenn die Überlebenden heimkehrten. Nachdem die Gefallenen in provisorisch ausgehobenen Gräbern beigesetzt worden waren, machten sich die Bewohner der Stadt auf den Heimweg. Seit die Angriffe häufiger geworden waren, wurden die Toten nicht mehr in großen Zeremonien der Erde übergeben.
Darian verabschiedete sich von seinen Freunden und ritt dann Richtung Blaues Gebirge. Während er dem Stillen Fluss folgte, dachte er über die Situation in Berund nach. Zu viele hatten ihr Leben schon gelassen, wegen den immer zahlreicher werdenden Attacken der Greifer. Wenn das nicht aufhörte, musste der Hohe Rat etwas unternehmen, aber was? Sie könnten eine Armee ausheben und in die Schieferebene einmarschieren, doch dann würde es Krieg geben. Außerdem wusste man zu wenig über diese Düstere Region. Keiner kannte Wege durch dieses lebensfeindliche Land, keiner wusste wie die Greifer lebten oder wie sie lebten.
Man wusste nicht einmal, ob die Greifer vor den Elfen in dieser Welt gewesen waren, oder mit den Elfen gekommen waren, oder nach den Elfen. Keiner, außer den Feuerelfen, und die hatten sich schon lange nicht mehr in Berund blicken lassen. Niemand wusste warum, aber irgendwann hatten sich die Völker auseinander gelebt. Man hatte die Feuerelfen seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie antworteten auf keinen Nachrichten seit...ja, seit wann? Darian traf die Erkenntnis wie ein Schlag. Es war, seit die Greife die Stadt attackieren. Er gab seinem Pferd die Sporen und raste auf die Berge zu. Je höher er kam, desto mehr Schnee lag auf der Straße. Sein Pferd war daran gewöhnt und scherte sich nicht um die Witterungsverhältnisse. An den Höhlen angekommen, sprang er von dem noch trabenden Tier. Seine Mutter stand schon draußen und wartete auf ihn. Als sie ihn sah, rannte sie auf ihn zu und schloss ihn in die Arme.
„Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Tu mir das nicht noch einmal an, hörst du!?“
„Mutter, ich lebe noch. Ich muss mir Feon reden, sofort!“
„Okay. Was ist denn passiert?“
„Wirst du gleich erfahren, wenn der Vorsitz auch erscheint.“
„Gut. Ich sage den anderen Mitgliedern Bescheid. Geh schon mal in die Sprecherhöhle, wir kommen dann nach."

Die Sprecherhöhle war in weiß-blaues Licht getaucht. In der Mitte stand ein runder Tisch aus Weißholz. Die Tischplatte war poliert und am Rand waren Runen eingraviert. So gelangte das Gesprochene nicht an fremde Ohren. Der Eisengel setzte sich auf die Bank, die an der Wand um den ganzen Raum verlief. Die Stühle, ebenfalls aus Weißholz, waren für die fünf Ratsmitglieder bestimmt. Die Türklinke bewegte sich und die Oberhäupter der Eisengel betraten den Raum. Feon, Bell, Ero, Emalie und Argos. Sie setzten sich an den Tisch und Feon richtete das Wort an Darian.
„Darian, vom Blute der Eisengel und Sohn der zweiten Sprecherin Bell, was ist es, dass du uns auf der Stelle sprechen musstest?“
Darian überlegte kurz, wie er sein Anliegen vorbringen sollte, dann fing er an zu erzählen:
„Heute bin ich mit der berundschen Verteidigung geritten...“
Bei diesen Worten verzog Bell wehmütig das Gesicht.
„...und auf dem Weg hierher habe ich über die Feuerelfen nachgedacht. Sie haben ewig keine Verbindung zu uns hergestellt. Das dachte man zumindest. Ich habe versucht einen Zusammenhang mit den Greifern und dem Verschwinden der Feuerelfen herzustellen...“
Er stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab und sah jeden der Reihe nach erwartungsvoll an.
„Du meinst also, dass die Greifer und die Feuerelfen zusammenarbeiten, um die Macht über unsere Welt zu erlangen?“, fragte Ero.
„Ich weiß nicht...“, darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht.
„Eigentlich hatte ich vermutet, dass die Greifer die Kontaktaufnahme der Feuerelfen kontrollieren und den Elfenstamm unterdrücken, aber...“
„Egal wie herum die Unterdrückung vonstattengeht...“, unterbrach Feon den jungen Eisengel.
„...es steht fest, dass es einen Zusammenhang geben muss. Danke Darian, dass du dich uns anvertraut hast. Wir werden der Sache nachgehen. Nun warte bitte draußen, bis wir alles Weitere besprochen haben.“

„Also ist es beschlossen. Du und Darian gehen nach Berund und berichten Aaron von dieser Vermutung. Ihr haltet uns durch Amethyst auf dem Laufenden.“, fasste Emalie die Besprechung zusammen.
„Gut. Wir machen uns sofort auf den Weg.“, entgegnete Bell und wollte aufstehen.
„Warte noch kurz. Wie ist das Treffen mit der Hüterin verlaufen?“
„Sie hat die Informationen so halbwegs gefasst aufgenommen. Ich war mit ihr in Berund, unser Gespräch wurde jedoch von dem Greifer-Angriff unterbrochen. Ich denke allerdings, dass wir ihr die meisten Fragen beantworten konnten. Übermorgen werde ich die wieder besuchen und den Rest klären, soweit mir das möglich ist.“
„Schön. Wir würden uns freuen, wenn du sie uns vorstellen könntest.“
„Wenn es sich ergibt.“
Nach dem Bell sich von jedem verabschiedet hatte, verließ sie den Raum und machte sich auf die Suche nach Darian. Sie fand ihn bei den Hippogreifen mit seinem treuen Freund Anthrazit. Das graue Tier ließ sich von dem Elf streicheln und gab ein Gurren von sich, welches nicht so ganz zu der mächtigen Adler-Pferd Erscheinung passen wollte. Die Eisengel hielten diese Geschöpfe schon seit Generationen, doch nicht in Gefangenschaft. Das Gehege war der einzige Ort, wo die Elfen das Sagen hatten-und das auch nur beschränkt, da die Tiere ja fliegen konnten. Sie konnten sich mittels Gedankensprache verständigen und so war es ein abgestimmtes Beisammensein.
„Darian, ich dachte mir schon, dass ich dich hier finden würde. Wie geht es Anthrazit?“
„Gut. Was hat die Versammlung ergeben?“
„Deshalb bin ich hier. Du und ich, wir werden nach Berund reisen. Du wirst mir sozusagen als Berater fungieren, schließlich bist du auf den Gedanken gekommen. Wir brechen sofort auf.“
„Pferde oder Hippogreife?“
„Die Sprecher wollen regelmäßig von den Ereignissen unterrichtet werden.“
„Dann Anthrazit und Amethyst. Ich mache die zwei reisefertig. Wie lange gedenkst du zu bleiben?“
„Stell dich auf zehn Tage ein.“

Eine halbe Stunde später waren sie aufbruchsbereit und verabschiedeten sich von den Sprechern. Bell lenkte Amethyst zu einem Felsvorsprung, von dem aus die Hippogreife starten konnten. Darian folgte ihr auf Anthrazit. Die Tiere breiteten ihre Schwingen aus uns stießen sich vom Boden ab. Mit einem kühlen Aufwind gewannen sie an Höhe und flogen in Richtung Osten davon.
Feon und Emalie blickten den immer kleiner werdenden Reitern nach, bis sie kaum noch zu erkennen waren.
„Das immer alles auf einmal passieren muss. Die Hüterin der Elemente taucht auf, die Vier Amulette verschwinden und wir kommen langsam hinter die Sache mit den Feuerelfen. Und was können wir ausrichten? NICHTS! Wir können nur untätig dasitzen.“
Feon schlug mit der Faust gegen einen Baum und Schnee rieselte auf die zwei Elfen nieder.
„Feon. Wir können sehr wohl etwas unternehmen. Wie wäre es, wenn wir die Vier Teilamulette suchen, oder zumindest eines davon. Komm und lass uns mit den anderen darüber ratschlagen.“

Selina und Nora saßen beim Abendessen. Es herrschte angespanntes Schweigen. Nora war entsetzt über Selinas Zustand gewesen, als sie nach Hause gekommen war. Die unzähligen Schürfwunden und der große Schnitt am Arm hatten bei ihr tausende von Fragen aufgeworfen und sie hätte ihre Nichte am liebsten sofort ins Krankenhaus gebracht, hätte diese nicht lautstarken Protest erhoben. Eine heftige Diskussion war entbrannt und schließlich war Selina in ihr Zimmer gestürmt und hatte die Tür mit einem lauten Knall zugeschlagen. Eine halbe Stunde später hatte Nora zum Abendessen gerufen und Selina war mit schlechtem Gewissen ins Esszimmer gekommen. Sie hatten noch nie so gestritten. Während dem Essen sprach keiner ein Wort und Selina hing ihren Gedanken nach. Sie dachte über den heutigen Tag nach. Sie musste Bell unbedingt von dieser Xera erzählen. Und sie wollte noch mehr über die Elfenwelt erfahren. Sie bräuchte mehr Zeit. Aber wie sollte sie Nora dazu bringen sie allein irgendwohin gehen zu lassen. Sie durfte ihrer Tante schließlich nichts von den Elfen erzählen. Wenn sie doch nur nicht gestritten hätten. Vielleicht würde Nora es ihr erlauben ein paar Nächte auf ihrer Lichtung zu übernachten; „Nur so zum Spaß“.
„Nora, ich…“-„Selina, du…“
Selina wartete bis Nora weitersprach.
„Du hast einfach so einen Schrecken eingejagt. Ich hatte dir immer gesagt, dass du nicht auf Bäume klettern sollst, weil ich genau das befürchtet habe. Ich habe unglaubliche Sorgen gemacht. Es tut mir Leid, dass ich dich angeschrien habe, aber du verstehst das doch sicher.“
„Mir tut es auch Leid. Ich…Sind wir wieder gut?“
„Meinetwegen gerne.“

Am nächsten Morgen weckte Nora ihre Nichte wie gewohnt und sie frühstückten gemeinsam. Nachdem Selina gegangen war, machte Nora sich ans aufräumen. Um acht Uhr stieg sie in ihren VW Polo und fuhr die engen Serpentinen ins Tal hinunter. Auf der Landstraße stand sie wegen der nicht enden wollenden Baustelle im Stau und eine dreiviertel Stunde später rollte der Wagen gerade rechtzeitig auf den Parkplatz „Get the Party started & co.“. Sie eilte die Stufen in den dritten Stock hinauf und zu ihrem Büro.
„Puhh. Vielleicht sollte ich mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren.“
Sie schaltete den Computer ein und machte sich an den Entwurf der neuen Halloweengirlande. Gerade als sie auf speichern klicken wollte, klopfte es.
„Nora, könntest du bitte kurz in mein Büro kommen?“
„Sicher.“
Nora folgte ihrer Chefin den Gang hinunter. Katharina war siebenundzwanzig und somit die jüngste Abteilungsleiterin. Sie hatte rotes Haar und einen ausgeprägten Sinn für Humor. Ihre Klamotten waren immer in fröhlichen Farben gehalten und sie fuhr einen bunten VW T1. Im Zimmer angekommen, bot sie Nora eine Tasse Tee an und setzte sich dann.
„Also. Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Wie du weißt, haben wir eine Filiale in London. Leider haben ist die dortige Leiterin für die Partydeko-Abteilung umgezogen und sie haben noch keinen Ersatz gefunden. Und da du sehr arrangiert an deinen Beruf gehst, wollte ich dir die Stelle anbieten. Ich habe natürlich schon mit den Leuten dort gesprochen und sie hätten nichts dagegen, zumal ihnen deine Kostümentwürfe für Halloween 2009 super gefallen haben. Was sagst du dazu? Zu dem Jobangebot natürlich.“
„Ich soll nach London versetzt werden?“
„Nicht versetzt. Es ist nur ein Angebot. Wenn du nicht willst, suchen sie jemand anderen. Du könntest auch zwei Wochen in London arbeiten und dich dann entscheiden. So etwas wie eine Geschäftsreise. Oder du bleibst einfach hier.“
„Ich denke drüber nach.“
Als sie wieder im Büro war, rief sie zu Hause an und hinterließ eine Nachricht für Selina.

Der Bus rollte langsam die engen Serpentinen hinauf. Selina hatte ihre Kopfhörer, die sie heute von Emma bekommen hatte, auf und hörte Musik. Als der Bus zum Stehen kam stieg sie aus und schlenderte den Weg zum Haus entlang. Wegen der Aufregung und den Erlebnissen der letzten Tage hatte sie komplett vergessen dass übermorgen die Herbstferien anfingen. Sie könnte mehr Zeit in der Anderswelt verbringen aber sie müsste immer wieder nach Hause. Sie hatte den ganzen Tag darüber nachgedacht, wie sie mehrere Tage am Stück verschwinden könnte, ohne das Nora Verdacht schöpft. Drinnen blinkte der Anrufbeantworter. Sie drückte auf den kleinen Lautsprecher.
„Selina. Da ist eine Wichtige Sache, die ich mit dir besprechen muss. Ruf mich bitte an, wenn du zu Hause bist.“
Überrascht wählte Selina Noras Nummer.
„Hallo?“
„Hey, ich bin’s. Ich sollte dich anrufen. Was ist los?“
„Ich habe gerade ein Angebot bekommen…“
Während Nora die Situation schilderte, reifte in Selina eine Idee heran.
„Warum nicht? Das wär eine gute Möglichkeit…Ich weiß nicht…andere Leute mit deinen Interessen zu finden, oder? Und ein Tapetenwechsel würde dir auch gut tun.“
„Meinst du? Ich lasse es mir noch einmal durch den Kopf gehen. Aber was ist mit dir? Ich kann dich doch nicht einfach allein zu Hause lassen. Du…“
„Ich bin alt genug um auf mich aufzupassen. Außerdem kann ich ja ein paar Tage bei Emma übernachten. Darum brauchst du dir keine Sorgen machen.“
Selina versuchte nach ihre Begeisterung über diesen Wandel der Dinge zu verbergen. Wenn Nora tatsächlich für zwei Wochen nach London fuhr, konnte sie so lange sie wollte in der Elfenwelt bleiben. Sie müsste sich nur etwas einfallen lassen, warum sie sich nie bei Nora meldete, oder funktionierte ihr Handy in der Elfenwelt?
„Ich glaube, ich mache es!“
„Hmh? Oh ja das ist eine gute Idee. Wie gesagt, du solltest mal andere Luft riechen und London ist eine tolle Stadt.“
„Gut ich sage meiner Chefin sofort Bescheid. Wir sehen uns dann heute Abend. Bis dann.“
„Ja, bis später.“
Sie legte auf.
Sie konnte in der Anderswelt bleiben so lange sie wollte, sie konnte das Leben der Elfen kennen lernen, sie konnte sogar eine Zeit so leben wie sie, sie konnte…aber wahrscheinlich würden ihre Pflichten als Hüterin der Elemente sie davon abhalten-welche auch immer das sein mögen. Konnte sie es wagen allein zur Höhle zu gelangen? Wenn sie sich verlief… Das schwarze Rudel kam ihr in den Sinn und ein Schaudern lief ihr über den Rücken. Unwillkürlich musste sie an ihren Traum denken. Vielleicht konnte sie den Waldläufer fragen. Er würde bestimmt wissen, wo sich die Höhle befand.

Shira saß am Boden und leckte sich mit der Zunge über die blutverschmierte Schnauze. Zwischen ihren Pranken ruhten die Überreste eines Hirsches. Die dunklen Gewänder des Waldläufers, der neben ihr hockte, wurden mit weißem Staub bedeckt, während er aus dem starken Geweih den Griff für ein neues Messer schnitzte.
„Du solltest dem Mädchen die Wahrheit über dich erzählen.“ Shira nahm den Faden ihres Gesprächs von vorhin wieder auf.
„Shira. Du weißt, dass das nicht so leicht ist. Außerdem will ich Bell keine Unannehmlichkeiten bescheren. Schließlich soll sie das Vertrauen der Kleinen gewinnen.“
„Vertrauen entsteht nicht aus Verheimlichungen und Lügen.“
„Schon, aber…“
„Shira? Waldläufer?“
Der Ruf war nicht lauter als ein Windhauch, aber die geschulten Ohren der beiden horchten sofort auf.
„Ich bin es. Selina.“
Der Waldläufer erhob sich und schüttelte sein Gewand aus.
„Sag ihr die Wahrheit, Surim.“
„Wenn du meist.“
Selina rief noch einige Male nach ihm und nach wenigen Minuten sah er eine hellgrüne Sweatjacke zwischen den Rot- und Brauntönen des Herbstes.
„Selina.“
Das Mädchen fuhr erschrocken herum. Anscheinend hatte sie nicht damit gerechnet ihn so schnell zu finden. Er warf einen fragenden Blick auf den Rucksack, den sie bei sich hatte.
„Ich wollte nächste Woche ein wenig länger in der Anderswelt bleiben und dachte mir, dass ich Bell schon mal ein paar Sachen bringe.“
„Ach so. Na dann lass uns mal zu Shira gehen. Ähm, und …da ist noch etwas, das ich dir sagen muss.“

Bell eilte durch den Wald. Sie hatte Selina rufen hören. Sie wusste nicht wer Shira war, aber bei Waldläufer hatte sie ihre Schritte beschleunigt. Konnte es sein, dass sie ihn getroffen hatte? Nein. Oder doch? Die rannte jetzt durch den Wald. Die Bäume flogen an ihr vorbei. Vor ihr tauchten zwei Gestalten auf. Abrupt blieb sie stehen. Selina hatte ihn tatsächlich gefunden, aber was sie am meisten wunderte, war, dass er noch lebte. Wie hatte er das gemacht. Plötzlich drehte sich der Mann um und sah ihr direkt in die Augen. Sie keuchte auf, als die die Augen ihres Sohnes erkannte. Darian hatte seine Augen geerbt. Dunkel wie dich Nacht und mit dem Leuchten des Feuers der Abenteuerlust. Sie standen nur da, und sahen sich an. Als Surim einen Schritt auf die zutrat, wich sie gegen einen Baum zurück. Er kam auf sie zu und als er sie erreicht hatte, nahm er ihr Gesicht zwischen seine Hände und küsste sie. Erinnerungen blitzten hinter ihren geschlossenen Augen auf. Erinnerungen an die Zeit, in der sie sich heimlich mit einem der verhassten Waldläufer traf. An eine wundervolle Zeit, bis ihre Beziehung entdeckt wurde. Surim wurde, wie alle anderen Waldläufer auch, verstoßen. Doch Bell erwartete bereits ein Kind. Ihre Eltern wollten sie nicht mehr und sie flüchtete nach Berund, wo sie von Aaron aufgenommen und adoptiert wurde. Surim hatte sie seitdem nicht mehr gesehen. Und jetzt war er da. Er lebte und sie fühlte sich fast wie damals, als sie noch jung waren. Sie lösten sich voneinander und sie sah, wie er lächelte.
„Ich habe dich vermisst.“
„Ich dich auch.“

Impressum

Texte: Text copyright by Alex Sunbird. Cover copyright by Alex Sunbird.
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2010

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