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Prolog

Die Hexe stand vor einem mit Wasser gefüllten Steinbecken. Sie machte eine kreisende Handbewegung darüber und murmelte ein paar Worte. Die Oberfläche veränderte sich; sie gefror zu Eis. Auf den einzelnen Kristallen bewegten sich Farben und Muster, bis sie zu einem klaren Bild verschmolzen. Ein Mädchen mit langen, braunen Haaren und grünen Augen. Es starrte sie aus dem Spiegel heraus an und sprach zu ihr, jedoch war kein Laut zu vernehmen. Dann entfernte sich das Gesicht des Mädchens und langsam kam ihr restlicher Körper zum Vorschein. Um ihren Hals hatte sie eine goldene Kette an der ein kleiner spitzer Kegel hing. Plötzlich erklang eine Stimme. Sie entsprang keiner Quelle, sie war um sie herum.
„Sie wird euch alle vernichten. In zweihundert Wintern wird sie kommen und euch holen, ihr müsst sie aufhalten, sonst werdet ihr untergehen…gehen…hen…en…“
Die Stimme verlor sich in der Dunkelheit. Die Hexe machte auf dem Absatz kehrt und eilte zu ihren Schwestern. Sie musste ihnen erzählen, was sie soeben gesehen hatte.




1. Kapitel

Ich saß allein in der hintersten Reihe und starrte an die Tafel. Unser Mathelehrer schrieb Formel und Zahlen auf den Grünen Hintergrund.
„Sally? Könntest du das bitte ausrechnen?“
Ich schreckte hoch. Ich? Ausrechnen? Was? Mein verdutzter Blick sagte genug.
„Amanda?“
Das Mädchen vor mir stand auf und stolzierte mit erhobenem Haupt zur Tafel. Als sie die richtige Lösung anschrieb, nickte der Lehrer zufrieden und warf mir einen mahnenden Blick zu. Von Amanda wurde ich mit einem hochnäsigen Blick bedacht. Doofe Kuh. Ich träumte weiter, bis mich die Pausenglocke aus den Gedanken riss. Jetzt musste ich nur noch zwanzig Minuten irgendwo unauffällig herumstehen und dann hatte ich Religion. Amanda war Evangelisch, und so musste ich mit ihren platinblond gefärbten Hinterkopf nicht noch länger ansehen.
Als es abermals läutete, nahm ich meine Tasche und eilte in den zweiten Stock des Schulgebäudes. Oben angekommen schlüpfte ich schnell durch die gerade zufallende Glastür, die aus dem Treppenhaus führte –das Klassenzimmer lag am anderen Ende des Gangs.
Vor dem Raum standen schon einige Schüler, darunter auch meine zwei Freundinnen Melanie –Mel-und Sabrina –Sabi-, die jedoch in meine Parallelklasse gingen und nur Reli mit mir zusammen hatten.
„Hi, wie geht’s?“
„Passt schon. Amanda hat wieder mal ihre „Intelligenz“ bewiesen“, die Mädchen kicherten.
„Macht mal Platz da, oder wollt ihr die ganze Stunde hier draußen stehen…naja wahrscheinlich schon.“
Unsere Religionslehrerin schmunzelte und wir ließen sie vorbei, damit sie die Tür aufsperren konnte. Wir setzten uns auf unsere Stühle in der zweiten Reihe.
„So. Heute machen wir weiter mit unserem Thema. Wer kann mir sagen, was das letzte Stunde war?“
Alle Hände der ersten Reihe schnellten in die Höhe. Meine Lehrerin beachtete diese jedoch nicht, sondern schaute zu Sabi.
„Ähm… Esoterik?“, kam es zögerlich von meiner linken Seite.
„Richtig. Und was genau ist Esoterik?“, sie blickte weiterhin meine Freundin an.
Ich tat so, als würde ich aus dem Fenster schauen, dann flüsterte ich:
„Überbegriff für verschiedene Praktiken und Lehren, die sich nicht direkt auf Naturwissenschaft und Religionen beziehen.“
„Ähm… Also… Ein Überbegriff für Verschiedene Praktiken, die…ähm…die sich nicht direkt auf Naturwissenschaften und…ähm Religionen beziehen?“
„Richtig. Aber ein bisschen weniger „Ähm“ und ein bisschen mehr Antwort. Was für Praktiken?“
„Okkultismus, Feng-Shui, Astrologie, Parapsychologie, Tarot…ähm.?“
„Das war alles. Jetzt such dir zwei Begriffe aus und erkläre sie bitte.“
„Also Parapsychologie ist die Forschung an übersinnlichen Erscheinungen und bei Tarot werden Karten gelegt und die Zukunft vorausgesagt.“
„Okay. Dann nehmt mal alle eure Bücher zur Hand; auf der Seite neunundvierzig. Jan, ließ doch mal den rechten Abschnitt über das Pendeln vor.“
„Ja.“
Während Jan las, stupste ich Sabi an und zeigte den Daumen hoch. Sie lächelte und murmelte ein „Danke“.
„…Das Pendel kann also nicht von jedem richtig eingesetzt werden.“
„Danke, Jan. Wer hat Lust einmal ein wenig zu Pendeln?“
Keiner meldete sich. Ich hob zögernd die Hand. Zuerst wunderte ich mich ein wenig über mich selbst, da ich mich eigentlich kaum am Unterricht beteiligte, vor allem nicht mit Pendeln, aber irgendwas in mir wollte dieses sinnlose Schnürchen-halten ausprobieren. Ich ging also nach vorn und nahm das Pendel entgegen. Dann setzte ich mich an die leere Einzelbank, sodass ich zur Klasse schaute und alle sehen konnten, was ich machte.
„Du musst erst deine Fähigkeiten im Pendeln herausfinden. Das machst du, indem du dich gerade hinsetzt -die Beine dürfen beim Pendeln nicht überschlagen sein- und das Pendel über diesen Punkt hältst. Dann darfst du dich nicht mehr bewegen und wir schauen mal was passiert.“
Ich tat, was sie sagte und hielt das Pendel mit Daumen und Zeigefinge über die kleine Karte mit Kreisen und Ziffern. Zuerst tat sich nichts, ich bewegte mich nicht, ich wagte kaum zu atmen. Dann, ganz langsam, schwang die Spitze vom Punkt in der Mitte in Richtung der Zahl sechzig.
„Wenn du pendelst, liegt die Wahrscheinlichkeit der richtigen Antwort bei sechzig Prozent. Nein bei siebzig. Achtzig.“
Das Pendel hatte sich gedreht, jetzt schwang es über der Zahl fünfundachtzig und bewegte sich langsam auf neunzig zu. Ich hatte ein merkwürdiges Kribbeln in der Hand vor allem da, wo ich die goldene Kette des Pendels berührte.
„Sally? Alles in Ordnung?“
Ich hatte mich so auf das Pendel konzentriert, dass ich nicht gemerkt hatte, wie verkrampft ich es festhielt. Ich ließ los. An meinen Fingern waren leichte abdrücke der Kette zu sehen. Dann schaute ich meine Lehrerin an.
„Ja, alles okay.“
„Gut. Ich habe hier zwei Bilder. Da deine Fähigkeit des Pendelns offenbar sehr hoch ist, müsste es laut Anweisung aus diesem Heft funktionieren. Auf dem einen ist ein männliches Strichmännchen, auf dem anderen ein weibliches.“
In der Klasse wurde leise gekichert.
„Über der Frau müsste das Pendel kreisen, über dem Mann in einer graden Linie hin und her schwingen. Ich lege die Karten verdeckt vor dich. Jetzt kannst du anfangen.“
Abermals setzte ich mich aufrecht hin und bewegte mich nicht. Ich hielt die goldene Spitze zuerst über das linke Bild. Ich wartete auf das Kribbeln in meinen Fingern, aber diesmal geschah nichts dergleichen. Trotzdem bewegte sich das Pendel von allein- im Kreis. Über der anderen Karte schwang es gerade hin und her. Als die Lehrerin die Bilder zeigte ging ein ironisches „Ohh“ durch die Reihen, dann folgte Gelächter, auch von mir und der Lehrerin. Das Pendel hatte falsch gelegen. Ich hatte nicht richtig gependelt. Aus irgendeinem Grund versetzte mir diese Erkenntnis plötzlich einen Stich. Ich hatte nicht die richtige Antwort. In mir regte sich etwas, ein Gefühl- es war Enttäuschung. Warum war ich enttäuscht? Ich verstand es nicht.
„Sally, du kannst dich wieder auf deinen Platz setzen. Bis nächste Stunde macht ihr bitte die Aufgaben eins und drei auf Seite fünfzig. Bis nächste Woche.“
Alle kramten ihre Hefte hervor und schrieben die Hausaufgabe auf. Ich hatte meine Tasche zusammengepackt und wollte das Zimmer verlassen, da rief Mel mich zurück.
„Hey, Sally! Du hast da einen Stift verloren.“
„Der gehört mir nicht.“, meinte ich mit einem Blick auf den Kugelschreiber auf dem Boden.
„Ist aber gerade aus deiner Tasche gefallen.“
„Keine Ahnung.“ Ich hob den Stift auf und steckte ihn wieder ein -auch wenn es nicht meiner war.
In der nächsten Stunde hatten wir Geschichte. Die Zeit verging wie Honig. Zäh. Ich hasste Geschichte, vor allem weil ich wieder diese wandelnde Haarfarbe Blondie vor mir hatte. Ich verzierte mein Heft also mit…Moment mal… Ich verzierte mein Heft mit Pendeln?? War ich jetzt völlig übergeschnappt? Ich knallte mein Heft zu. Etwas zu laut, denn alle drehten sich zu mir um.
„‘tschuldigung!“, murmelte ich hastig.
Die restliche Stunde verlief ereignislos. Ich malte nicht mehr sondern versuchte dem Unterricht zu folgen, was mir jedoch schwer fiel. Wen interessierte es schon, dass Napoleon mit dem Schlitten nach Russland gefahren ist und wieder rausgeschmissen wurde, aus welchem Grund auch immer. Wie gesagt, wen interessiert‘s. Als mich die Pausenglocke abermals von diesem langeiligen Gerede befreite, eilte ich nach draußen, wo mich Sabi und Mel schon erwarteten.
„Gehen wir in die Mensa oder zum Bäcker?“
„Zum Bäcker!“, antworteten Sabi und ich gleichzeitig.
Jeder von uns schnappte sich seinen Geldbeutel und seine Jacke und wir schlossen uns dem Strom herausrennender Schüler an. Unser Weg führte durch einen kleinen Park, der die Schule vom Harras trennte, wo die große EDEKA-Bäckerei lag. Ich bestellte eine Sternsemmel und einen Bienenstich, meine zwei Freundinnen teilten sich eine Pizza. Wir setzen uns auf unseren Stammplatz ganz hinten in der Ecke und sprachen über den heutigen Schultag.
„Heute in Geographie. Das war zum Brüllen.“, fing Sabi mit einem Stück Pizza im Mund an.
„Unsere Lehrerin hat die Anwesenheit gecheckt und nach der Hausaufgabe gefragt. Jan Wennig?

“, sie äffte die Stimme ihrer Lehrerin nach.
„Ja?“, antwortete Mel mit übertrieben tiefer Stimme.
Hast du die Hausaufgabe?


„Was hatten wir denn auf?“
Soll ich deine Frage als

„Nein“ werten

?“
„Nicht unbedingt.“
Wir brachen in schallendes Gelächter aus.
„Da drüben ist ja unser wandelndes Intelligenzbündel. Hey! Jaaan!!“
Sabi winkte einen Jungen, der sich gerade ein Hot Dog bestellte zu uns herüber.
„Hi, was gibt’s den so lustiges?“
„Du! In Geographie.“
„Haha.“, meinte Jan gespielt beleidigt und nahm an unserem Tisch Platz. Dann fing er an zu essen, als hätte er seit Wochen nichts mehr zwischen die Kiefer bekommen.
„Mann, kannst du nicht wie ein zivilisierter Mensch dein Mahl zu dir nehmen?“, fragte Mel leiht geekelt.
„Nöö.“, sagte Jan mit vollem Mund und frechem Grinsen im Gesicht.
Wir Mädchen tauschten vielsagende Blicke und widmeten uns wieder unserem Mittagessen.
Im Gegensatz zu mir hatten Mel und Sabi Leute in der Klasse, mit denen man ganz normal reden konnte, ohne sich in irgendeiner Weise verstellen zu müssen. Wenn man in meiner Klasse einem Jungen auch nur „Hallo“ sagte, war man gleich mit ihm zusammen, ohne davon zu wissen. Erst wenn dann die Gerüchteküche so richtig brodelte, kam einem selbst zu Ohren, mit wem man ging und mit wem nicht; man hatte ja „Hallo“ gesagt…
„Was hast du heute Nachmittag noch?“, fragte Jan, jetzt mit leerem Mund.
„Doppelstunde Sport und eine Stunde Kunst. Du?“
„Doppelstunde Englisch und dann aus.“
„Jan, hast du die Hausaufgabe gemacht?“
„Nöö.“, entgegnete er mit gleichgültigem Gesichtsausdruck.
„Na toll. Du, Mel?“
„Hab ich jemals eine Hausaufgabe vergessen?“
„Darf ich abschreiben?“
„Klar.“
Auf dem Weg zurück zur Schule war Jan nicht mehr bei uns, sondern bei seinen Freunden. Als das Schulgebäude in Sicht kam, hatte ich auf einmal das Bedürfnis mich zu beeilen.
„Kommt schon. Der Unterricht geht gleich weiter!“
„Sally, wir haben noch fünfzehn Minuten.“
„Trotzdem.“
Irgendetwas war da und ich wusste nicht was.
Vor dem Haupteingang blieben wir noch ein wenig stehen, das merkwürdige Gefühl war von mir abgefallen. Der Unterricht ging weiter und ich machte mich auf den Weg zu den Turnhallen. In Sport waren Mädchen und Jungen getrennt und meine halbe Klasse hatte mit einer anderen halben Klasse zusammen Sport. In der Umkleide traf ich Jenny ein Mädchen mit schwarzen lockigen Haaren und einem runden sympathischen Gesicht. Man musste sie einfach mögen, so lieb war sie zu einem. Außer natürlich Amanda und co hatten nichts dafür übrig-und bekamen deshalb auch nichts.
„Hi Süße.“, begrüße sie mich, und gab mir ein Bussi auf die Backe.
Wir zogen uns um und gingen in die Halle.
„So, dann laufen wir jetzt erst mal zwölf Minuten. Und Los!“
Unsere Sportlehrerin setzte sich, während wir liefen auf die Bank und kontrollierte die Anwesenheit.
Ich hasste es, zwölf Minuten im Kreis zu laufen. Nicht, dass ich es nicht könnte, ich jogge jeden zweiten Tag eine halbe Stunde im Wald; aber da liegt das Problem: im Wald- in der Halle. Wenn man ständig das gleiche sah, kamen einem zwölf Minuten wie eine Ewigkeit vor. Ein schriller Pfiff ertönte und alle blieben da stehen, wo sie waren. Dann rief uns die Lehrerin in die Mitte, und verkündete, dass wir heute Hochsprung-Noten machen würden.
Ich bekam eine zwei, Jenny schaffte eine eins. Nach Sport verabschiedete ich mich von ihr und machte mich auf den Weg zum Kunstsaal. Das Thema der heutigen Stunde war ein Comicbild vergrößert abzuzeichnen. Ich war schon fast fertig, ich musste nur noch Farbe in meinen Zeichnung bringen, dann konnte ich abgeben. Ich holte mir also Buntstifte und fing an, mein Werk zu vollenden. Nach einer halben Stunde sollten wir langsam zusammenpacken. Ich nahm mein fertiges Bild und legte es dem Lehrer aufs Pult. Erst jetzt fiel mir auf, dass etwas in der Klasse fehlte, besser gesagt jemand: Amanda. Ich erinnerte mich nicht, sie in Sport gesehen zu haben. Entweder sie musste sich nach Geschichte befreit haben lassen. Nicht das ich darüber traurig war, nur war leider nicht bewusst in den Genuss gekommen, wie schön ein Schultag ohne dieses Mädchen war.
Ich stieg mit den anderen die Treppe, die ins Erdgeschoss führte, hinunter. Mein Weg führte am Lehrerzimmer vorbei. Die Tür zu dem Raum stand offen. Eher zufällig fiel mein Blick auf den Tisch, der gleich hinter der Tür stand. Darauf lag das Pendel. Plötzlich hatte ich das dringende Bedürfnis, diese Kette mit dem kleinen goldenen Kegel in der Hand zu halten. Einer Eingebung folgend holte ich den Kuli, der nicht meiner war, hervor. Ich hatte ihn nach Dem Reli Unterricht gefunden. Zögerlich machte ich einen Schritt ins Lehrerzimmer. Es war leer, bis auf meine Relilehrerin. Sie stand mit dem Rücken zu mir, dann drehte sie sich um, ging an mir vorbei und lächelte kurz. Ohne zu wissen warum, ließ ich den Stift fallen.
„Ähm..Sie haben da was verloren.“
„Hm? Oh, den suche ich schon den ganzen Tag. Danke.“
„Keine Ursache.“
Die Frau verließ leicht zerstreut das Zimmer. Ich schaute mich noch einmal um. Niemand war zu sehen. Ich blickte auf das Pendel vor mir. Und wieder hatte ich das Gefühl ich müsste es haben. Ich streckte die Hand aus…und hielt inne. Wenn ich es nehmen würde, wäre es Diebstahl. Ich zog meine Hand zurück.
Es gehört dir…


Ich wirbelte herum und vor mir stand…niemand. Wo war die Stimme hergekommen. Ich lauschte. Nichts.
Nimm es. Du bist die rechtmäßige Besitzerin…


Wieder schaute ich mich um, nur um festzustellen, dass ich immer noch allein war. Dann kamen Schritte den Gang entlang. Ohne recht zu wissen, was ich da tat, nahm ich das Pendel und verschwand. Ich verließ das Schulgebäude und schwang mich auf mein Fahrrad.


2. Kapitel

Fünf Minuten später stand ich vor der Haustür und kramte nach meinem Schlüssel. Dann hievte ich mein Fahrrad in den Keller und lief in den dritten Stock. Das Schloss klickte und drinnen fing ein Hund an zu bellen und an der Tür zu kratzten.
„Saphir! Aus!“
Die Geräusche erstarben. Ich trat ein und der Hund saß erwartungsvoll vor mir.
„Fein hast du das gemacht“, und um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, kraulte ich ihn hinter den Ohren. Ich ging in die Küche und warf unterwegs meine Tasche in mein Zimmer. Ich setzte mich mit einer Schale Erdbeeren und einem Buch auf den Balkon und las. Saphir legte sich auf meine Füße und sein flauschiges Huskyfell kitzelte auf meiner Haut. Ich wollte ein Leckerli aus meiner Hosentasche holen, doch alles, was meine Finger fanden, war eine Kette mit einem kegelförmigen Anhänger. Das Pendel ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Warum hatte ich dieses verdammte Ding mitgenommen? Ich wusste es nicht.
Es ist dein…


Schon wieder diese Stimme.
Was soll ich damit?,

antwortete ich eher unbewusst in Gedanken.
Öffne deine Augen für dein Schicksal…


Ich konnte es nicht fassen. Zuerst stahl ich ein Pendel, jetzt redete ich schon mit Stimmen in meinem Kopf. Ich war verrückt geworden!
Einer plötzlichen Eingebung folgend, berührte ich die Spitze des Anhängers und…
Die Straße vor mir war dunkel. Ich fuhr mit dem Auto eine verlassene Landstraße entlang. Meine Hände klammerten sich an das Lenkrad. An einem Finger hatte ich einen schmalen, elegant gearbeiteten Ring und ein kleiner Diamant glitzerte in den vorbeihuschenden Lichtern der Straßenlaternen. Ein Ehering. Jetzt waren wir in einem kleinen Dorf, doch mein Ziel lag nicht in dieser Gegend.
„Mama? Ich hab Hunger.“
Ich schaute in den Rückspiegel. Ein kleines Mädchen, nicht älter als Fünf Jahre, saß da und sah mich mit großen, blauen Augen an. Ihre blonden Zöpfe wiegten unter den Erschütterungen der unebenen Straße leicht hin und her.
Draußen wurde es wieder dunkel, wir hatten das Dorf hinter uns gelassen.
Auf dem Beifahrersitz lag eine Tüte mit der Aufschrift „Backstube Wünsche“. Ich reichte sie meiner Tochter und als ich mich wieder nach vorne drehte, sah ich nur noch das grelle Licht zweier Lkw Scheinwerfer auf mich zukommen.


Ein Spitzer Aufschrei durchbrach die Stille. Es war mein Schrei. Meine Finger umklammerten das Pendel so stark, dass sie Knöchel weiß wurden. Saphir schaute mich erschrocken an.
„Alles okay, Saphir.“, sagte ich und kraulte ihn hinter den Ohren, doch meine Gedanken waren eine einzige Achterbahnfahrt. Ich war autogefahren, ich hatte einen Ehering getragen, ich hatte eine Tochter gehabt…und ich war gestorben. Hatte ich geträumt? Ich hatte das Pendel berührt. War es eine Vision gewesen? Nein, so etwas gibt es nicht.
Leugne es nicht, versuche nicht dich zu verstecken!


„Halt den Mund!“
„Was?“ Meine Mutter stand neben mir und starrte mich entgeistert an.
„Oh, du warst nicht gemeint.“
„Ach so. Ich wollte nur sagen, dass ich da bin und fragen, was du zum Abendessen willst. Ich muss später noch weg und du kannst es dann warm machen. Was hältst du von Lachsnudeln?“
„Ja. Das wäre lecker.“
„Gut, dann koche ich jetzt. Hast du Hausaufgaben schon gemacht?“
„Nein, mache ich später. Mum, du hattest doch mal ein Buch über esoterisches Zeug und so, oder?“
„Ja, das steht bei mir im Schrank.“

Ich hielt die Seite fest, da der Wind sie abermals in einer kleinen Brise erfasste. Der bunt bemalte Buchumschlag lag auf meinen Beinen und fühlte sich rau an. Er war mit einem goldenen Relief verziert und in der Mitte prangte ein Auge in einem Pentagramm.
„…und wenn sie sich berufen fühlen, wenden sie sich an einen Wahrsager-Verein. Sie können Verbündete…“
Blablabla. Alles, was mir nicht weiterhalf. Ich blätterte weiter zu einer Seite mit Anzeigen. Ich überflog die Seite und fand eine mir bekannte Adresse.
„Wahrsagerin Valentina“, stand da in verschnörkelten Lettern. „Die Magie des Mondes.“
„Magie des Mondes. Na ja, versuchen kann man es ja mal.“
Ich schrieb mir die Adresse auf und legte den Zettel in meine Brieftasche.
„Sally?“ Meine Mum klopfte an die Zimmertür.
„Ja?“ Sie trat ein.
„Ich fahre jetzt. Essen steht auf dem Tisch; und bitte mach deine Hausaufgaben.“
„Ja mach ich. Danke.“

Nach dem Essen setzte ich mich vor den Computer. Ich hörte mir ein paar Lieder auf YouTube an und zeichnete gedankenverloren auf Paint. Als ich mein Werk betrachtete, stieg leichte Wut in mir auf. Ich hatte schon wieder ein Pendel gemalt. Verärgert löschte ich das Bild.
Warum fürchtest du dich?

„Sei still! Verschwinde! Hau ab!“
Ich hielt mir die Ohren zu, ich wollte diese Stimme nicht hören, ich wollte weg von hier. Auf dem Weg nach draußen liefen mir Tränen über die Wangen.
„Komm, Saphir, wir machen einen Spaziergang.“, schluchzte ich und öffnete die Tür, da merkte ich, dass ich keine Schuhe anhatte. Egal. Mir war alles egal, solange ich diese Stimmer nicht hören musste.
Das Kopfsteinpflaster war noch warm von der Sonne und am Horizont konnte man einen orangenen Schein ausmachen. Eigentlich liebte ich es mit Saphir im Sonnenuntergang spazieren zu gehen, aber im Moment konnte ich dem bunten Spektakel aus Blau, Rot und Roser keine Beachtung schenken. Ich sah die Welt durch einen Schleier aus Tränen, während ich den Weg zum Park entlanglief. Saphir trottete neben mir her und beschnüffelte seine Umgebung. Plötzlich blieb der Husky stehen und stellte aufmerksam die Ohren auf. Seine Körperhaltung zeigte erst Neugierde, dann Wachsamkeit. Dieses Verhalten hatte ich noch nie bei ihm beobachtet. Er hatte die Augen starr auf einen Punkt gerichtet und als ich seinem Blick folgte, gefror mir das Blut in den Adern. Da stand eine gebückte Gestalt im Schatte des Hauses. Ich konnte nicht sagen, ob sie zu mir schaute, oder mir den Rücken zukehrte, da ich nur die dunklen Umrisse sah. Saphir fing an zu winseln. Ich wandte ihm den Blick zu und stellte fest, dass er zitterte. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße und stockte. Die Gestalt bewegt sich jetzt langsam auf mich zu. Mein Verstand sagte mir, ich sollte schnell das Weite suchen, doch aus irgendeinem Grund hatte ich keine Kontrolle über meine Beine.
Lauf nicht weg!


Die Gestalt, nein die Stimme…oder war es die Gestalt? Ich hörte sie deutlicher denn je. Saphir hatte sich inzwischen hinter mir auf dem Boden zusammen gekauert und jaulte kläglich.
Ich tue euch nichts.


„Was willst du?“, fragte ich und meine Stimme klang mutiger, als ich mich fühlte.
„Hab keine Angst.“
Es war tatsächlich die Gestalt, die mich nun direkt, anstatt in Gedanken ansprach, und es war eindeutig eine Frau. Sie stand jetzt nur noch drei Schritte von mir entfernt.
„Was willst du?“, wiederholte ich, inzwischen etwas sicherer, da ich sah dass ich einer Frau gegenüberstand. Sie schin dem Tod schon so nah, dass sie einen Zettel am Zeh hängen hatte. Sie lachte in sich hinein.
„Ich bin nicht so gebrechlich, wie ich aussehe.“
Was? Konnte sie meine Gedanken lesen?
„Wenn du dich anstrengst und übst, kannst du es auch lernen.“, antwortete sie auf meine unausgesprochene Frage.
„Wer…?“
Das Gesicht der Frau veränderte sich plötzlich. Ein erschrockener Ausdruck trat in ihr faltiges Gesicht. Ihre grauen Augen huschten nervös umher und ihr silbriges Haar wehte leicht im aufkommenden Wind.
„Pass gut auf dich auf, Kind.“, sagte sie noch, dann machte sei auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Dunkelheit. Ich wollte ihr folgen, doch…
Lauf mir nicht hinterher! Geh nach Hause und bring dich in Sicherheit!

Ich wusste nicht, warum ich dieser Frau vertraute, aber ich tat, wie mir geheißen. Ich machte mich auf den Heimweg, und Saphir folgte mir erleichtert darüber, dieser Person entkommen zu können.

Die Straße vor mir war dunkel…


Nicht schon wieder.
Ich hielt das Lenkrad fest und an meinem Finger glitzerte ein Ring.

Die Perspektive veränderte sich.
Ich saß auf der Rückbank eines fahrenden Wagens. Meine dünnen Ärmchen hielten einen Teddybären umklammert. Ich verspürte Hunger.
„Mama? Ich hab Hunger.“
„Hier mein Schatz.“
Meine Mum reichte mir ein Stück Breze. Auf einmal war das Auto von Licht durchflutet. Ich hörte Hupen, einen lauten Knall…


Ich lag schweißgebadet in meinem Bett. Das dünne Laken klebte an mir, wie eine zweite Haut. Ich befreite mich daraus, schlich ins Bad und duschte.
Das kalte Wasser lief mir angenehm über den Rücken und ich konnte meine Gedanken endlich ordnen. Ich hatte ein Pendel „gefunden“, eine merkwürdige Gedankenverbindung zu einer mysteriösen Frau und einen Traum, in dem eine Mutter und ihre Tochter bei einem Autounfall ums Leben kamen. Uns alles hatte mit diesem Pendel begonnen- zu dem ich auch eine seltsame Bindung habe…irgendwie…
Ich stellte das Wasser ab und stockte. Das Bad war voll weißem Dampf, obwohl ich mich kalt geduscht hatte. Wo kam auf einmal der ganze Dampf her? Ungeachtet des sonderbaren Phänomens wickelte ich mich in meinen Bademantel. Hatte der Traum überhaupt etwas mit dem Pendel oder der Frau zu tun? Der Nebel wurde dichter. Schlagartig war meine Aufmerksamkeit auf den Raum gerichtet. Ich versuchte die Quelle des Dunstes auszumachen, fand aber nichts. Langsam wurde mir mulmig zumute. Ich wollte die Tür öffnen um frische Luft hereinzulassen, aber sie bewegte sich keinen Zentimeter. Panik stieg in mir auf. Ich zerrte an der Türklinke und schrie um Hilfe, aber niemand schien mich zu hören. Als mein Hals heiser war, setzte ich mich auf den Fußboden und versuchte mich zu beruhigen. Nachdem mein Puls sich normalisiert hatte, versuchte ich noch einmal das Bad zu verlassen. Vergeblich. Aber was…? Ich schrie auf. Aus dem beschlagenen Spiegel heraus schauten mich zwei Augen an. Auf der weißen Schicht Wassertropfen bildete sich das Abbild eines Gesichtes. Ich betrachtete das Schauspiel ängstlich. Nach kurzer Zeit wurde ich jedoch neugierig und näherte mich dem Bild mit der Hand. Wenige Millimeter vom Glas entfernt verschwand es plötzlich und mit ihm auch der Nebel. Abermals erschrocken, zog ich meine Hand wieder zurück. Meine Hand zitterte leicht, während ich mich erneut der Tür näherte, doch als ich die Klinke durchdrückte, schwang sie auf und frische Luft strömte mir entgegen. Ich betrachtete den Spiegel noch kurz- das Gesicht war nicht mehr da- und kehrte zurück in mein Zimmer und legte mich ins Bett. Hatte ich mir das alles eingebildet? Ich rechnete schon mit der Stimme in meinem Kopf, aber es blieb still.
Der Mangel an Schlaf forderte langsam seinen Tribut. Ich sollte mich wirklich mal ausruhen, doch ich sah schon dir ersten Sonnenstrahlen, die sich einen Weg durch die Vorhänge bahnten. Also wartete ich auf das Klingeln meines Weckers. In dem dünnen Licht tanzten Millionen Staubkörnchen. Ich pustete in ihre Richtung und beobachtete wie sich ihre Flugbahnen veränderten. Sie sahen aus wie…
Krrrrrrrrrrrrrrrrrrr!


Halbsechs: Zeit zum Aufstehen. Ich zog blaue Jeans und ein grünes T-Shirt an und ging leise aus dem Zimmer. Meine Mum schlief noch. Saphir wartete schon und als ich ihm sein Halsband umlegte, wedelte er fröhlich mit dem Schwanz. Ich nahm noch eine Nektarine von der Anrichte in der Küche und führte Saphir ins Treppenhaus und auf die Straße hinaus. Ich machte mich wieder auf den Weg in den Park, wie gestern Abend, und diesmal schaute ich mich aufmerksam um. Auch Saphir blieb kurz stehen, als wir in die Straße einbogen, in der wir der merkwürdigen Frau begegnet waren, doch nach wenigen Sekunden lief er munter schnüffelnd weiter. Während meinem Spaziergang kam mir keine Menschenseele entgegen.
Zu Hause hatte meine Mum schon Frühstück gemacht und ich aß zwei Toast mit Honig und dazu trank ich eine große Tasse Kakao. Den Rest davon gab ich in Saphirs Wassernapf – okay im Moment wohl eher seinen Kakaonapf – und er machte sich dankbar darüber her.
Als ich im Bad stand und Zähne putzte, besah ich mir den Spiegel noch einmal genauer, aber alles was ich sah, war mein eigenes Spiegelbild – welches übrigens verdammt übermüdet aussah. „Mit viel Concealer und Wimperntusche dem müden Gesicht zum Trotz“, sagte ich mit dem Mund voll Zahnpasta und verschluckte mich fast.
In der Schule langweilte ich mich wie immer fast zu Tode. Die Pausen verbrachte ich mir Sabi und Mel auf dem Sportplatz. Die Stunden dazwischen zogen sich wieder endlos, doch in der letzten Stunde klopfte es ganz überraschend an die Tür. Meine Religionslehrerin.
„Hallo. Entschuldigen sie die Störung, aber ich hatte einen Teil dieser Klasse gestern in meinem Unterricht und ich wollte nur fragen, ob jemand das Pendel gesehen hat. Ihr wart die letzten Schüler, die im Unterricht damit gearbeitet haben. Also, wenn jemand das Teil gesehen hat, soll er doch bitte zu mir kommen.“
In diesen fünfzehn Sekunden wechselte die von mir gefühlte Zimmertemperatur von dreiundzwanzig Grad auf mindestens minus zehn. Ich duckte mich hinter Blondies Platin-Kopf und versuchte ein möglichst gleichgültiges Gesicht zu machen.
Du kleine, miese Diebin, schalt sie sich selbst, doch wie zu erwarten kam sofort ein Wiederspruch.
Hör auf, dir Vorwürfe zu machen, sie wird den Verlust schon verkraften, glaube mir…


Ich hörte die Tür zufallen.
„Sally? Bist du eingeschlafen?“
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich meine Augen geschlossen hatte.
„Nein. Verzeihung.“
Ich richtete mich wieder auf und versuchte möglichst interessiert auf das Tafelbild zu schauen, welches einen Kaufvertrag mit allen dazu nötigen Paragraphen darstellte.
Ich musste das Pendel zurückbringen. Jetzt gleich, nach dieser Stunde, würde ich zum Lehrerzimmer gehen und das Pendel zurückgeben.


3. Kapitel

Impressum

Texte: Text copyright by Alex Sunbird. Cover copyright by Alex Sunbird.
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2010

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