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5.Kapitel
Die Wölfe



Zu Hause ging Selina in ihr Zimmer. Nora war noch immer mit der Partyplanung unter freiem Himmel beschäftigt, doch das Wetter schien sich barmherzig zu geben; die Sonne lächelte hinter den weißen Wolken hervor. Also war Selina alleine und dachte über ihre Situation nach. Sie sollte die Elfen retten, wusste aber nicht einmal genau vor was oder wie. Vor den Greifern? Vor den Wölfen? Vor dunkler Magie? Mit der Macht der Elemente? So viele Fragen waren noch offen geblieben. Trotzdem hatte sie auch einiges erfahren. Sie wollte ihre Hausaufgaben machen, doch dann hörte sie durch das offene Fenster Schritte. Das musste Nora sein. Selina stand auf und blickte aus dem Fenster auf den Weg zum Haus. Aber es war niemand zu sehen. Sie könnte schwören, jemanden gehört zu haben. Sie wollte sich gerade umdrehen, da stülpe ihr jemand einen Sack über den Kopf; ein unangenehmer Geruch stieg ihr in die Nase, dann verlor sie das Bewusstsein…

Das Gras wiegte sich im Wind, wie ein grünes Meer in einer sanften Brise. Hin und wieder schoben sich kleine Wolken vor das Antlitz der Sonne, die die Welt wärmte und erhellte. Am Waldrand standen ein paar Rehen, die mit den Elfen in die Anderswelt gelangt waren. Die Wächter der Höhle ließen Tiere wie sie passieren, auch Vögel, Hasen und Mäuse waren nicht selten an der Pforte zwischen den zwei Welten. Doch es gab Lebewesen, die in der fast friedlichen Welt nicht erwünscht waren: die Wölfe. Sie waren die einzigen, die nicht willkommen waren. Und natürlich die Menschen, außer einer: der Hüterin der Elemente.
Hermes schwebte knapp unter der Decke der Höhe. Links neben ihm hing Nira in der Luft und schaute gelangweilt zum Ausgang. Zu seiner Rechten schlief Baldrian. Ja, sie hatten ihn Baldrian genannt, weil er immer Rätsel über Pflanzen stellte. Und… Moment mal…er schlief?! Hermes Rüttelte ihn wach.
„Bist du verrückt geworden?! Schlafen kannst du, wenn unsere Schicht vorbei ist! Wir sollen die Elfen beschützen und du hängst da und schläfst!“
„‘tschuldigung. Aber es ist seit Ewigkeiten keiner da gewesen, außer Bell und das Mädchen. Die genehmigten Tiere brauchen keine Rätsel und die Wölfe lassen sich auch nicht mehr blicken. Vielleicht haben sie, ohne dass wir es gemerkt haben, kapituliert…“
„Du Schwachkopf! Die Wölfe kapitulieren doch nicht, wenn die Hüterin der Elemente auftaucht. So blöd sind die nicht. Deswegen…“
„Haltet die Klappe!! Alle beide!! Ich höre etwas!“
Nira löste sich langsam von der Höhlenwand, um einen besseren Blick auf den Ausgang werfen zu können. Ein Kaninchen. Sie drehte sich in der Luft um und… Hinter einem der Büsche hatte sich etwas Schwarzes bewegt. Sie erstarrte mitten in der Bewegung und dann schaute sie ganz langsam hinter sich. Da stand er. Groß, kohlrabenschwarzes Fell, rubinrote Augen und seine Lefzen reflektierten das spärliche Sonnenlicht, welches durch die Bäume sickerte. Ein Wolf. Ein Wolf des schwarzen Rudels. Das spürte Nira. Als das Tier dann zu sprechen anhob, war ihre Vermutung bis ans Äußerste bestätigt.
„Schön dich zu sehen, Nira.“
Der Geist antwortete nicht.
„Na gut, wenn du nicht sprechen willst, dann hole doch einen deiner Kollegen.“ Sprach der Wolf mir aalglatter Stimme weiter.
„Vielleicht haben die ja Lust auf ein kleines Pläuschchen.“
„Das bezweifle ich, “ ertönte die Stimme von Baldrian hinter Nira. Die zwei anderen hatten ihren Zank anscheinend auf ein andermal verlegt und postierten sich nun neben Nira.
„Baldrian und…?“
„Hermes.“, erwiderte der Geist trocken.
„Eure Gastfreundschaft lässt wirklich zu wünschen übrig. Wollt ihr mich nicht herein bitten?“
„Auf deine Tricks sind wir noch nie reingefallen und werden es auch in Zukunft nicht.“, antwortete Nira und in ihrer Stimme schwang ein wenig Abfälligkeit mit.
„Das hatte ich mir gedacht. Wenn ich euer Rätsel löse,…“
„Wir werden dir kein Rätsel stellen! Verschwinde einfach und lass uns in Ruhe. Du wirst hier nicht reinkommen heute nicht und die folgenden Wochen, Monate und Jahre auch nicht!“
Nira hatte alles Gesagt und wandte sich endgültig von dem Wolf ab und schwebe zurück in die Tiefen der Höhle. Baldrian und Hermes warfen dem Untier noch einen feindseligen Blick zu, dann folgten die dem anderen Geist in die Dunkelheit.
„Ihr werdet euch noch wundern.“, murmelte der Wolf kaum hörbar, dann machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand leise im Wald.

Das erste, was Selina wahrnahm, war der harte, erdige Boden auf dem sie lag. Sie öffnete die Augen, doch alles was sie sah, war die schwarze Innenseite des Tuches, welches man ihr umgebunden hatte. Als sie versuchte ihre Hände und Füße zu benutzen, musste sie feststellen, dass diese mit Seilen gefesselt waren. Langsam stieg die Angst in ihr hoch. Wo war sie?? Mit den Sinnen, die ihr noch geblieben waren, versuchte sie ihre Umgebung zu bestimmen. Es roch nach Wald, sie konnte jedoch keine Vögel hören. Eigentlich war gar nichts zu hören, außer… leisen Atemgeräuschen? Ein eiskalter Schauer lief Selina über den Rücken. Sie war nicht allein, doch der Umstand, dass sie gefesselt und geknebelt auf dem Boden lag, ließ sie zu dem Schluss kommen, dass sie von dieser Person keine Hilfe erwarten brauchte. Sie lauschte auf andere Geräusche…und tatsächlich hörte sie nach wenigen Augenblicken das Tappen schwerer Pfoten über den Boden auf sie zulaufen. Als das Geräusch ganz nah war, spürte sie sogar, wie ein warmer Atemzug ich Gesicht erreichte und sanft darüber strich. Dann schüttelte sich das Tier- es klang fast wie ein Hund- und entfernte sich wieder.
„Sie ist wach, sagst du“, die brüchige Stimme einer alten Frau erklang. Es schwang jedoch ein leiser Unterton mit, der nicht genau definierbar war.
„Gut…Das ist gut…“, sinnierte die Stimme weiter.
„Nimm ihr die Augenbinde ab!“, der Tonfall war plötzlich nicht mehr gebrechlich sondern forsch.
Wieder kam das Tier zu Selina herüber, und diesmal berühre es sie mit der Schnauze an der Stirn und zog ihr den Lumpen vom Kopf. Sie hatte instinktiv die Augen geschlossen, um sie vor dem hellen Licht zu schützen, aber als sie die Augen vorsichtig öffnete, sah sie nur die spärlich beleuchtete Innenseite eines Rietdaches, welches die kleine Lehmhütte dürftig vor Regen schützte. Als sie sich umdrehte, traf sie fast der Schlag. Keine zwanzig Zentimeter vor ihr stand ein Gigantischer Wolf. Unwillkürlich war an ihre Träume erinnert. Ein großer, schwarzer, rotäugiger Wolf. Das Tier beachtete sie jedoch nicht weiterhin. Es wich in eine Ecke der Hütte zurück und legte sich auf den Boden.
„Na sie mal einer an.“, ertönte eine Stimme hinter Selina.
Wieder drehte sie sich um. Auf der anderen Seite der kleinen Behausung saß eine in einen Umhang gehüllte Gestalt.
„Endlich bist du hier, mein Kind! Wir haben schon so langen auf dich gewartet.“
„Was wollt Ihr von mir?“, fragte Selina mit festerer Stimme, als sie sich fühlte.
„Nun ja…wie soll ich das sagen…du bist etwas Besonderes, aber das weißt du natürlich schon.“, die Frau ließ ein künstliches Lachen hören.
„Du bist ein Ehrengast. Willst du etwas trinken, etwas essen, etw…“
„Ich will wissen, wo ich bin, wer Ihr seid und was Ihr von mir wollt.“, wiederholte Selina mit einer Sicherheit, die sie selbst überraschte.
„Nun gut, so soll es geschehen. Wolf!“
„Herrin?“
Selina war entsetzt; der Wolf hinter ihr hatte soeben gesprochen und er lag auch nicht mehr in der Ecke, sondern stand plötzlich neben ihr.
„Du bist entlassen. Vorerst zumindest. Geh!“
Das Tier verschwand durch die Tür und Selina konnte einen kurzen Blick auf die Umgebung draußen werfen. Es war ein Wald, mehr konnte sie nicht erkennen. Jetzt war sie allein mit dieser merkwürdigen, ein wenig gruseligen Person.
„Setzt dich doch zu mir.“
Selina zögerte, dann durchschritt sie langsam den Raum und ließ sich vor der Frau auf dem Boden nieder.
„Ich hieße Xera und ich bin die Herrscherin über die Wölfe des… von dem Rudel hier im Wald. Du bist in unserem Hauptquartier.“
„Was für ein Rudel ist das. Sind das die Guten Wölfe aus den Sagen oder…das schwarze Rudel.“ Obwohl Selina die Antwort schon wusste, hatte sie doch Angst, mir dieser Frage zu weit zu gehen. Ihr Verstand hatte ihr von Anfang an gesagt, dass sie diesem Menschen, wenn es denn einer war, nicht trauen durfte.
„Die Guten Wölfe? Diese verweichlichen Geschöpfe, die sich für das wahre Volk des Vollmondes hielten? Diese abscheulich weichherzigen Tiere, die den Menschen überall geholfen hatten, wo sie mur konnten? Diese…“, weiter kam sie mit ihrem abfälligen Redeschwall nicht. Die Tür flog so heftig auf, dass sie an der Lehmwand zersplitterte. Durch das Loch in der Wand wehte ein so wütender Sturm, dass er Xera die Kapuze vom Kopf riss. Das Gesicht der Frau war von wächserner Farbe und da keine einzige Falte zu sehen war, musste die Stimmer von vorhin gestellt gewesen sein. Die langen offenen Haare hingen ihr bis zur Hüte und wurden von Wolfszähnen geschmückt. Ihre Lippen waren blutrot geschminkt und ihre Augen schwarz umrahmt. Ihre Augen… In ihrem Blick lag so viel Verachtung, Geringschätzung und Abscheu, dass sie einen nur durch einen Blick zum Fürchten brachte.
„Was…“ In der Tür stand eine Hochgewachsene Gestalt mit Umhang und Pfeil und Bogen. Ein Pfeil lag bereits auf der Sehne und zielte auf Xera. Selina nutzte die Ablenkung und sprang einige Schritte zur Seite. Als der Bogenschütze den Raum betrat, sagte er, ohne den Blick von Xera abzuwenden.
„Verlasse den Raum und laufe immer den Weg entlang, dann wirst du ins Tal gelangen; von dort aus findest du allein nach Hause. Es wird dir keiner folgen. Vertraue mir. Schnell!“
Genau in diesem Moment blitzte etwas unter Xeras Gewand auf und ein langer gebogener Dolch kam zum Vorschein. Die Spitze zeigte drohend in Selinas Richtung.
„Noch einen Schritt, Waldläufer, und das Mädchen ist tot!“
Selina war wie erstarrt. Ich werde sterben, dachte sie. Der Gedanke war so klar in ihrem Kopf, dass es sie nicht einmal erschreckte. Die Erkenntnis zu sterben, war in diesem Moment so selbstverständlich, wie das Ein-mal-Eins. Ich werde sterben. Alles um sie herum bewegte sich wie in Zeitlupe. Der weiße Wolf, der durch das dünne Dach direkt auf Xera niederflog, der Waldläufer, der Selina nach draußen zerrte und das Blut, das aus der Wunde an ihrem Arm floss, welche ihr Xeras Dolch in letzter Sekunde zugefügt hatten.
„Ich werde die Wunde verarzten, dann kannst du nach Hause“
Der Mann der ihr wahrscheinlich das Leben gerettet hatte, schmierte eine Salbe auf den Schnitt und verband ihn dann. Mit einem Mal kehrten alle Gefühle zurück. Der stechende Schmerz in ihrem Arm und die Verwirrung über das eben geschehene. Sie roch das Blut, welches sich einen Weg zu ihrer Hand gesucht hatte und nun eine rote Kruste bildete. Dann sah sie den Mann an, der sich an dem Schnitt zu schaffen gemacht hatte.
„Wer seid Ihr, dass Ihr mir helft?“
„Ich bin ein Waldläufer und lebe mit der letzten Wölfin des Rudels des Mondes zusammen im Wald. Shira hat dir vorhin das Leben gerettet. Sie müsste bald hier sein.“
Als hätten die Worte des Waldläufers sie gerufen, trat der schneeweiße Wolf zwischen den Bäumen hervor.
„Sie sind schon wieder entwischt. Xera hat zwar eine schwere Verletzung, aber sie war nicht tödlich. Wir müssen hier verschwinden, bevor sie die anderen Wölfe ausschickt uns zu suchen.“
Selina saß völlig verdattert am Boden und blickte zu der Wölfin auf. Das weiße Fell war mit Blut verkrustet und in ihren Augen leuchtete der blanke Hass. Aber dann schaute sie das Mädchen an und ihr Blick wurde warmherzig und freundlich.
„Ich bringe dich nach Hause. Auf meinem Rücken bist du schneller.“
„Shira, du…“, wandte der Waldläufer sich an die Wölfin.
„Ist schon gut. Ich wurde nicht verletzt. Außerdem muss sie so schnell wie möglich in Sicherheit gebracht werden. Wir sehen uns in der Höhle wieder.“
„Na gut.“
Der Waldläufer machte auf dem Absatz kehrt, nahm während dem Rennen seinen Bogen vom Rücken und verschwand zwischen den Bäumen. Selina fand endlich ihre Sprache wieder.
„Du bist ein Wolf, du kannst reden, du hast mir das Leben gerettet und jetzt soll ich auf dir reiten!?“
„Ich bin dir eine Erklärung schuldig. Aber nicht hier. Ich bringe dich heim, dann könne wir ungestört reden.“
Selina stieg auf den Rücken der Wölfin und diese lief sofort los.

„Meine Tante hat schon eine Sage über die Wölfe erzählt, in der Anderswelt habe ich von Bell eine andere Geschichte erfahren. Langsam weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll.“
Selina hatte sich, als sie angekommen waren, ohne nachzudenken der weißen Wölfin anvertraut. Sie hatte ihr alles erzählt und Shira hatte zugehört. Ihre Träume, Erlebnisse und Gefühle. In ihr hatte sich einiges angestaut, und nun brach es in Form eines riesigen Wortschwalles aus ihr heraus. Nachdem sie geendet hatte, schwieg Shira eine Weile, dann hob sie zu sprechen an:
„Was deine Tante dir erzählt hat stimmt. Die Elfen haben das nur nie ganz mitbekommen, und Bells Schilderung entspricht eher einem Kindermärchen der Elfen. Die Meinungen im Rudel teilten sich immer stärker, bis es auseinander brach. Soweit ich weiß, sind der Waldläufer und ich die letzten Überlebenden aus dieser Zeit.“
„Hat er denn keinen Namen?“
„Waldläufer haben keine Namen. Sie sind ein eigenes Volk wie die Elfe. Langlebig, jedoch ohne besondere Fähigkeiten, außer ihr Talent des Bogenschießens. Auf jeden Fall versuchen wir das schwarze Rudel unschädlich zu machen, indem wir versuchen vereinzelte Tiere auf unsere Seite zu ziehen. Wir hatten bis heute leider kaum Erfolg….Deine Tante kommt. Ich muss gehen. Vielleicht sehen wir uns mal wieder.“
Mit diesen Worten drehte sich die Wölfin um und lief in den Wald. Selina beeilte sich ins Haus zu kommen um Nora nicht zu beunruhigen.

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Texte: Text copyright by Alex Sunbird.
Tag der Veröffentlichung: 17.05.2010

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