3. Kapitel
Berund
Am nächsten Tag in der Schule war Selina mit den Gedanken ganz wo anders. Sie dachte an Bell, die Elfenwelt und vor Allem an das Ereignis der letzten Nacht. Keiner versuchte ein Wort mit ihr zu wechseln, da ihr Gesicht zu einer nachdenklichen Miene erstarrt war. Nur eine machte sich die Mühe und stupste sie in der Mittagspause energisch mit dem Ellbogen.
„Selina, bist du noch unter uns? Hey!!!“
„Was? Oh… ich war gerade wo anders. Sorry, Emma.“
„Du bist mit den Gedanken schon den ganzen Tag irgendwo in der Weltgeschichte. Was ist nur los mit dir?“
„Nichts…gar nichts…“, antwortete Selina abwehrend.
„Das kannst du den Spagetti erzählen, die seit einer viertel Stunde darauf warten, gegessen zu werden.“, entgegnete Emma sarkastisch.
„Ich werde mich vom Nachmittagsunterricht befreien lassen, glaube ich.“
„Aber Englisch ist dein Lieblingsfach! Dir geht’s wirklich nicht gut, oder?“
„Nein. Kommst du mit ins Sekretariat?“, fragte Selina abwesend.
„Klar.“
Mit der Entschuldigung, sie hätte schlimme Bauchschmerzen, machte sie sich auf den Weg zur Lichtung. Dort war jedoch niemand zu sehen. Sie schaute sich um, konnte aber nichts entdecken.
„Vielleicht wurde sie aufgehalten und kommt später.“, überlegte Selina.
Sie setzte sich in die Mitte des Baumkreises und holte ihr Mathebuch hervor; sie wollte ein wenig Hausaufgaben machen. Gerade hatte sie angefangen zu lesen: Eine zweistellige Zahl ist achtmal so groß wie… doch weiter kam sie schon nicht mehr. Zweige knackten, Selina blickte auf; am Waldrand stand eine hell gekleidete Gestalt. Selina erkannte sie sofort und wollte zu ihr hinüber laufen. Sie erhob sich, doch Bell war schneller. Schon hatte die Elfe das Mädchen fest in die Arme genommen, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen.
„Ich bin so froh, dass du gekommen bist. Xenia-der Geist, der heute Wache hält-meinte, du würdest nicht auftauchen. Tut mir leid, dass ich ein wenig später gekommen bin, aber ich hatte noch eine kleine Auseinandersetzung mit meinem Sohn.“
„Du hast einen Sohn?“, fragte Selina überrascht.
„Ja, Darian heißt er. Aber warum so verwundert?“
„Du…Ich vergesse ständig, dass du eine Elfe bist, und …nun ja…du siehst so jung aus.“, entgegnete das Mädchen verlegen.
„Lass dich nicht täuschen. Wenn ich ein Mensch wäre, dann würde ich inzwischen zweiundvierzig Winter zählen. Außerdem weisen mich einige oft darauf hin, dass ich in meinem Wesen wie eine Jugendliche wirke, aber ich kann nun mal nicht anders.“
„Das ist schon okay. Du hast vorhin gesagt, du „darfst“ mir die Anderswelt zeigen. Gab es ein Problem? Ich will dir nämlich keine Schwierigkeiten machen.“
„Ach nein. Du machst doch keine Schwierigkeiten. Wir müssen jetzt aber los, wenn ich dir so viel wie möglich von meiner Welt zeigen will.“
Von den Bernsteinfarbenen Mauern spiegelten sich Mond und Sterne wieder. Es war ein gigantischer Anblick. Hinter dem massiven Wall erhob sich ein Palast, durch dessen schmale Fenster spärliches Licht leuchtete. Es war eine friedlich ruhende Stadt und ihre Bewohner löschten nach und nach die Lichter zur Nachtruhe. Doch niemand sah oder spürte die Anspannung, die hinter den Wänden des großen, behaglichen Gebäudes lag.
Nur einer wusste es. Er musste die angespannten Gesichter nicht sehen, das nervöse Pochen auf und ab laufender Schritte nicht hören. Ja, Gwin wusste, dass man unruhig auf ihn wartete, doch hätte er sich lieber noch Zeit gelassen, den hohen Ratssaal zu betreten. Er brachte keine freudige Kunde, das wusste er, aber er hatte keine andere Wahl. Aaron musste die Nachricht erhalten, wie schlecht sie auch war.
Das schwere dunkle Holzportal knarrte verräterisch in der erwartungsvollen Stille, als er den Saal mit den langen hohen Fenstern, durch die das silberne Licht der Nacht drang, betrat.
„Gwin!“
Aaron erhob sich von seinem Stuhl am Ende des Ratstisches.
„Endlich bist du zurück; aber du bringst keine guten Neuigkeiten, das sehe ich dir an.“
„Ja, Herr Aaron, die Nachricht ist wahrlich nicht gut.“
„Doch bevor du berichtest, was du am Haus der Elemente beobachtet hast, möchte ich, dass du mit mir hinauf zum höchsten Fenster gehst und mir die Sterne deutest.“
Selina und Bell liefen schweigsam durch den Wald. Selina brach die Stille:
„Warum hast du ausgerechnet mich getroffen; oder war es einfach Zufall, dass wir uns begegnet sind?“
Bell schaute nachdenklich in die Bäume. Als sie nicht antwortete, hackte Selina nach:
„Ich habe nämlich am Tag vor unserer Begegnung geträumt, dass mir einen Gestalt folgt; ich glaube, dass es eine Elfe war. Am vorherigen Tag hat meine Tante mir eine Sage von einem Wolfsrudel erzählt und in der Nacht träumte ich, dass ich von eben diesen Wölfen verfolgt werde.“
Bell sagte immer noch nichts, doch ihr Blick war leicht erschrocken.
„Was ist?“
„Dass du so viel weißt, habe ich nicht gedacht.“
„Von was weiß ich viel?“, fragte Selina nun aufgeregt.
„Das schwarze Rudel.“, antwortete die Elfe schlicht.
„Das schwarze Rudel? Das gibt es wirklich? Aber der Name klingt ja so, als wäre es böse. Ich dachte es gehört zur Seite der Guten?“
„Es war kein Zufall, dass wir uns begegnet sind“, antwortete Bell ohne auf Selina‘s Frage einzugehen. „Du hast eine besondere Gabe, eine besondere Aufgabe. Du bist die Hüterin der vier großen Elemente!“
„Ich bin was?“
„Die Hüterin der Elemente. Du musst die Anderswelt vor…nun ja, auf gewisse Weise hängt dein Schicksal mit dem der meinen Welt zusammen. Du hast, wie gesagt, eine große Aufgabe vor dir, aber genaueres muss dir Aaron erklären.
Selina saß am Küchentisch von Bell. Wie in Trance war sie der Elfe bis zur Höhle gefolgt. Sie hatte die Eindrücke der Anderswelt kaum wahrgenommen. Das weite, grasbewachsene Tal, welches im Westen von einer mit Schnee und Eis bedeckten Gebirgskette und im Osten von einer grünen Hügellandschaft eingeschlossen wurde, bot einen idyllischen Anblick. Doch im Norden erstreckte sich zwischen zwei gigantischen, rauchenden Vulkanen eine karge Schieferlandschaft. All dies war an Selina vorbeigegangen, während sie mit Bell den langen Weg zu den Engelshöhlen gelaufen war.
Jetzt saß Bell ihr gegenüber und blickte sie geduldig an. Selina wusste nicht warum ihr diese Information in Mark und Knochen gefahren war. Eigentlich konnte sie damit nichts anfangen. Sie hatte nur das eigenartige Gefühl, dass sich bald sehr viel in ihrem Leben ändern würde und das nicht zum Guten…
„Tut mir leid, dass ich das vorhin so unverblümt gesagt habe, aber…“, brach Bell das Schweigen.
„Ist schon okay…aber…das ist noch etwas, worüber ich nachdenke; ich hatte letzte Nacht ein merkwürdiges Erlebnis…“, und Selina erzählte von der unsichtbaren Kraft, welche sie in den Kissen gehalten hatte und von dem aufflammenden Licht. Doch auf die Reaktion der Elfe war sie völlig unvorbereitet.
„NEIN!“, rief Bell mit einer Mischung aus Überraschung und Entsetzten aus.
„Das kann nicht wahr sein. Es kann noch nicht passiert sein. Wir müssen sofort nach Berund.“
„Berund?“, fragte Selina, während sie von Bell nach draußen gezogen wurde.
„Die Gewitterstadt; die Heimat der Nachtwesen.“, bekam sie die knappe Antwort.
Bell lief zu den Ställen um ein Pferd zu holen. Unterdessen versuchte Selina einen Zusammenhang zwischen den Geschehnissen der letzten Tage zu finden. Sie hatte schon lang aufgegeben alles einigermaßen realistisch zu betrachten. Aber es schwirrte einfach zu viele Fragen in ihrem Kopf. Was genau war eine Hüterin der Elemente, welche Rolle spielt das geheimnisvolle Wolfsrudel oder was hatte es mit dem Ereignis der letzten Nacht auf sich??
Alles Dinge, auf die sie dringend eine Antwort finden wollte.
Gwin stand allein im obersten Turm des Palastes und schaute aus dem Fenster. Am Abend zuvor hatte er seinem Herren die Sterne gedeutet und erfahren, dass ein Mensch die Elfenwelt betreten wird. Nun wartete er auf dessen Ankunft. Aaron war über den Bericht vom Haus der Elemente nicht erfreut gewesen und machte sich nun große Sorgen. Wenn die vier Amulette letzte Nacht erwacht sind, war es höchste Zeit, dass deren Hüter eintraf.
Selina und Bell ritten den langen Zufahrtsweg entlang. Selina hatte ihre Gedanken geordnet, und wollte gerade fragen, was sie hier genau machen wollen, aber der Eisengel kam ihr zuvor.
„Du wirst jetzt einige Antworten auf deine Fragen bekommen. Wenn du etwas nicht verstehst kannst du Aaron das sagen und er erklärt es dir noch einmal. Aaron ist der Vorsitzende des Hohen Rates. Der Rat hat zwölf Mitglieder. Gwin wird auch da sein; er ist der persönliche Berater und Sternendeuter von Aaron.“
Selina hatte verstanden, Trotzdem wollte sie die Frage stellen, von der sie fast sicher war, das die Antwort keinen Ältestenrat brauchte:
„Was hat es mit dem schwarzen Rudel auf sich, von dem ich geträumt habe?“, fragte sie ohne Umschweife.
Bell beantwortete die Frage jedoch nur zögernd.
„Hmm… mir wurde einst erzählt, dass es ein Experiment des Bösen war, sich jedoch von den Bindungen löste und zur Gefahr für alle wurden. Aber ich weiß nicht, ob das der Wahrheit entspricht. Am besten frägst du das auch Aaron, er wird bestimmt mehr darüber wissen.“
Auch wenn Bell sich nicht sicher war, hatte Selina ein mulmiges Gefühl und sie beschloss, nach Einbruch der Dunkelheit keinen Fuß mehr vor die Tür zu setzten
Sie durchquerten das Stadttor und Selina konnte ihren Augen nicht trauen. Alles leuchtete golden wie die Sonne selbst. Die Wände der Häuser waren aus dünnem Marmor und mit Bernstein überzogen. Die Bewohner der Stadt waren in Gold in Schwarz gekleidet und eindeutig keine Menschen.
"Was für Wesen sind das?", fragt Selina.
"Das sind die Nachtwesen, die Bewohner der Gewitterstadt, die Bernsteinschmiede, die Herrscher über Blitz und Donner. Sie haben viele Namen."
Bell führte ihr Pferd vorsichtig durch die Massen auf der Straße in Richtung Palast. Die Flügel der Nachtwesen waren schmal und goldfarben. Zwischen den Flügelspitzen schwebte eine faustgroße Metallkugel. Beim genaueren Betrachten, fielen Selina ein Paar kleine Hörner auf, die den Wesen auf dem Kopf saßen. Als die Menge den Schimmel bemerkte, machte sie Platz. Einige hoben die Hand zum Gruß, doch dann sahen sie das Mädchen hinter dem Eisengel und ihre Mienen verzogen sich zu Argwohn. Die, die gerade noch mit ihren Einkäufen beschäftigt waren, wandten die Blicke den Vorbeireitenden zu und verstummten. Selina fühlte sich unwohl in ihrer Haut. So hatte sie sich den Empfang in Berund nicht vorgestellt.
Texte: Text copyright by Alex Sunbird.
Tag der Veröffentlichung: 24.01.2010
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