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2.Kapitel
Lichtungen und Kerzen



Auf dem Weg zur Lichtung schaute sie sich um und suchte zwischen den Bäumen nach Schatten. An der Stelle, wo sie gestern das merkwürdige Gefühl von Sicherheit verspürt hatte, suchte sie besonders gründlich ab. Ein wenig abseits des Pfades wurde sie fündig: in einer ausgetrockneten Schlammpfütze zeichneten sich die Fußabdrücke eines Menschen ab; dieser hatte allerdings keine Schuhe angehabt, dass sah Selina sofort. Wer läuft wohl barfuß…, doch sie konnte den Gedanken nicht weiterführen. Eine eiskalte Hand legte sich ihr von hinten auf den Mund, sodass sie nicht schreien konnte, und eine andere hielt ihr die Augen zu. Sie spürte den kalten Atem, als ihr jemand mit leiser Stimme ins Ohr flüsterte:
„Wenn du ganz still hältst und keinen Mucks sagst, zeige ich mich; andernfalls muss ich dir die Augen verbinden, den Mund zukleben, dich bis tausend zählen lassen und selbst verschwinden. Da das für dich wie für mich ziemlich kompliziert und umständlich ist, hoffe ich, dass du imstande bist mit dem Kopf zu nicken. Also…?“
Einen Moment stand Selina reglos da, dann nickte sie langsam.
„Großartig! Ich heiße übrigens Bell und du?“
Bell hatte die Hand von Selinas Mund genommen; ihre Augen ließ sie jedoch bedeckt.
„Ich bin Selina.“
„Ein schöner Name. Also Selina, wenn ich dir jetzt gleich meine Hand von den Augen nehme, erschrecke bitte nicht. Ich bin genauso real wie du. In deinen Augen sehe ich vielleicht aus wie von einem Faschingsumzug. Aber…Ach, siehe selbst.“
Zuerst blendete sie das Sonnenlicht, doch nein…Es war gar nicht die Sonne, die so hell leuchtete. Die Lichtquelle stand direkt vor ihr. Sie traute ihren Augen nicht; was sie da sah war unmöglich: Ein Mädchen, etwas älter als sie selbst, stand vor ihr. Ihr Haar war schulterlang, an den Spitzen stand es in kleinen Stacheln ab (es sah aus, als hätte sie es mit extrem viel Haar-Gel fixiert) und es war türkisblau. Ihre Haut war schneeweiß und ihre Augen waren von einem leuchtend hellen Blau. Pupillen waren keine zu sehen. Zwischen den Augenbrauen glitzerte eine kleine Schneeflocke, die wie eine Narbe aussah. Das Sonderbarste jedoch Waren die Flügel, die aus dem Rücken des Mädchens sprossen. Sie waren fast so lang wie sie selbst groß war. Sie waren transparentblau und glitzerten; an deren Enden saß jeweils eine kleine Schneeflocke. Das zweite Flügelpaar war hingegen nur halb so lang und bestand aus weißem Fell. Außerdem trug das Mädchen einen kurzen, weißen Rock und ein türkisfarbenes Top mit schmalen Trägern; Schuhe trug sie keine.
„Du… aber… ich muss träumen. Wo kommst du her, wenn nicht von einem Faschingsumzug?“
„Ich hatte befürchtet, dass du das sagst. Xenia-ein Geist-wollte mir nicht glauben. Ich hatte ja gesagt, dass es solche Komplikationen geben wird, aber nein wir müssen das persönlich tun, denn die Menschen haben viel zu viel Angst, sie würden sich eher selbst für verrückt erklären, als einem Geist zu folgen. Selbst wenn sie zur Höhle kämen würden sie sie nicht betreten; und wenn sie das nun auch täten, würden sie vor uns…“
„Moment mal“, unterbrach Selina den Redeschwall des sonderbaren Mädchens.
„Soll das heißen, dass es noch mehr von dir, was auch immer du bist, gibt?“
„Ich bin eine Elfe; und ja, es gibt sehr viele Elfen.“
„Eine…Eine…Eine Elfe? Warte mal. Das ist ein Scherz, oder?“
„Wir machen jetzt folgendes: Wir setzten uns irgendwo gemütlich hin und ich erzähle dir alles von Anfang an.“
„Na, wenn du meinst.“

Bell ging voraus. Selina wusste nicht, was sie von ihr halten sollte. Sie betrachtete die Ansätze der Flügel genauer. Also, die sehen nicht angeklebt aus, das steht fest. Vielleicht ist sie doch eine Elfe. Nein, das kann nicht sein; es gibt keine Elfen. Aber ihre kalte Haut und die unnatürliche Augenfarbe. Es könnten Kontaktlinsen sein, aber sie läuft barfuß… Und diese Gedanken kreisten in ihrem Kopf, sodass sie nicht einmal bemerkte, wo sie gelandet waren: auf ihrer geheimen Lichtung.
„Weißt du was? Eure Welt hat sich gar nicht so stark verändert, wie ich immer dachte.“
Die zwei Mädchen saßen im Gras. Die Sonne stand über ihnen, doch am Horizont zogen langsam Wolken auf. Selina war zu dem Schluss gekommen, dass sie einer echten Elfe gegenüber saß, auch wenn sie das einige Überwindungskraft gekostete hatte.
„Es gibt immer noch Wälder, Tiere, viele verschiedene Pflanzen, aber bei uns gibt es noch vielmehr verschiedene Arten.“
Bell hatte Selina gesagt, dass sie aus einer Höhle komme, die von Geistern bewacht wurde, und dass diese und ihre Welt gar nicht so verschieden waren, aber eigentlich doch komplett anders- irgendwie wusste sie nicht genau, wie sie es beschreiben sollte.
„Einst lebten die Menschen und die drei Elfenstämme friedlich nebeneinander. Wir halfen uns gegenseitig, denn die Menschen brauchten unsere Elfenmagie. Zum Beispiel für ein kleines Feuer in einem zu strengen Winter oder einen Regenguss in einem trockenen Sommer. Die Menschen revanchierten sich dann, indem sie uns etwas von ihrer Ernte abgaben. Doch mit der Zeit wurden die Menschen selbstständiger und brauchten unsere Hilfe nicht mehr. Die Zahl der Sterblichen, wie wir sie nennen, stieg schneller als die der Elfen, und so war in dieser Welt irgendwann kein Platz mehr für uns. Dein Volk führte Kriege gegen uns, da sie dachten, wir seien mächtiger und stärker. Doch sie täuschten sich, und so waren die Überlebenden der Stämme gezwungen sich zusammen zu tun und in Höhlen weitab der Menschheit zu leben.
Als wir eines Abends wieder eine Höhle aufsuchten, fanden wir ein Pentagramm, doch wir wussten nicht wie es benutzt werden könnte. Verschiedene Elfen probierten alle erdenklichen Formeln und Sprüche, aber nichts geschah. So versuchten wir es mit einfachen Worten und Sätzen. Plötzlich tat sich etwas. Wir wussten nicht warum, weil alle durcheinander redeten. Eigentlich war es egal. Was entscheidend war, war die Tatsache, dass aus dem Pentagramm eine silbern schimmernde Lichtsäule emporwuchs. Im Inneren schwebte eine Gestalt und es schien als sei die Säule mit Wasser gefüllt. Die Person sprach zu uns, jedoch in der uralten Elfensprache unserer Vorfahren.
Diejenigen, die sie verstanden, sprachen ihr nach. Und plötzlich ertönte aus den Tiefen der Höhle ein Poltern und dann ein Rauschen, als sei eine Quelle aufgesprungen. Die hohe Lichtsäule versank wieder im Boden. An ihrer Stelle erschien ein kleiner Geist. Mit Schlitzen als Augen; der Kopf thronte auf einer Nebelsäule. Zwei kleine Zähnchen lugten unter der Oberlippe hervor.
Der Geist entschwebte in die Höhle und wir folgten ihm. Nach hundert Längen standen wir scheinbar vor einer Sackgasse, doch der Geist flog einfach durch die Wand hindurch. Nach kurzem Zögern traten auch die ersten Elfen durch die scheinbar feste Mauer… und erblickten sagenhaftes: Ein Tal von unbeschreiblicher Schönheit. Wir standen oberhalb eines Waldes und konnten so das gesamte Tal einsehen. Am Fuß des bewaldeten Berges erstreckte sich ein immergrünes Tal; links davon ragte ein schneebedecktes Gebirge empor; und dahinter sah man das rote Leuchten zweier Vulkane, in deren Mitte eine kahle, von Asche überzogene Ebene lag.
Die drei Stämme zogen in die für sie vorgesehenen Landesteile und seitdem leben wir in einer parallelen Welt.“
Selina hatte der Erzählung des Elfenmädchens so gespannt gelauscht, dass sie zuerst gar nicht begriff, dass diese geendet hatte.
„Wie lange liegt das zurück; das muss vor Ewigkeiten passiert sein. Ich habe noch nie eine Geschichte wie diese gehört. Und es klingt so, als würdest du alles selbst erlebt haben; aber…“
„Es geschah alles vor fast tausend Jahren. Ich war damals noch ein Kind, aber ein Elfengedächtnis vergisst nichts. Wir können nur durch eine feindliche Hand sterben. Und morgen feiere ich meinen neunhundertvierundzwanzigsten Geburtstag. Aber das ist ein bisschen viel Information auf einmal, denkst du nicht?“
„Ähm…ja.“
„Du musst los. Es wird bereits dunkel. Ich begleite dich, so kannst du mir noch ein paar Fragen stellen.“

Wieder auf dem Pfad, versuchte Selina die wichtigsten Fragen aus allen, die sie hatte, heraus zu picken. Schließlich entschied sie sich für folgende:
„Was sind eigentlich die drei verschiedenen Elfenstämme?“
„Also da gibt es die Schwarzen Elfen oder auch Feuerelfen genannt. Sie leben im östlichen Vulkan in einem Schloss aus Onyx…“
„Ein ganzes Schloss aus Onyx!?... Entschuldige. Aber es ist so unvorstellbar.“
„Ist schon okay. Auf jeden Fall können sie Feuer bändigen und erzeugen. Dadurch halten sie auch Vulkanausbrüche vor dem restlichen Tal fern. Dann gibt es noch die Nachtwesen. Sie sind die gefährlichsten von uns, denn sie können einen für längere Zeit außer Gefecht setzen. Zwischen ihren unbeweglichen Flügeln sitzt eine kleine, elektrisch geladene Metallkugel, mit der sie fliegen, Dinge anziehen und Blitze erzeugen können, die dich für mehrere Stunden betäuben. Sie leben in der Mitte des Tals in einer Stadt aus Bernstein. Und zuletzt sind da noch die Eisengel. Wir bewohnen die Höhlen im Gebirge und diese sind aus reinem Malachit. Das verleiht uns die Gabe, andere zu beruhigen und in Sicherheit zu wiegen. Du bist mir gestern begegnet, weißt du noch?“
„Ja, ich erinnere mich.“
„Wir können außerdem Eis erzeugen und es schneien lassen.
Wir sind da.“
Bei dem Gespräch hatte Selina die Zeit ganz vergessen. Jetzt standen sie wieder vor dem schönen Haus, in dem Selina vor ein paar Stunden herausfinden wollte, was gestern im Wald passiert war. Und nun Stand sie da, mit einer Elfe an ihrer Seite.
„Treffen wir uns morgen wieder auf der Lichtung?“, fragte Bell. „Sicher hast du noch mehr Fragen und ich muss mit dir noch etwas besprechen.
„Etwas besprechen?“, wiederholte Selina fragend.
„Wir sehen uns Morgen.“, antwortete sie ausweichend und verschwand zwischen den Bäumen.
Selina stieg die Treppe zum Haus empor und öffnete die Tür. Nora war noch nicht zurück und Selina setzte sich auf den Balkon. Konnte das sein? Eine Elfe? In ihrer Welt? Nein… Aber sie hatte mit ihr gesprochen, sie berührt…War das ein gut geplanter Scherz?

Sie musste morgen zur Lichtung; wenn niemand auftauchen würde…sie wird da sein

, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren.
Auch später war sie noch von Zweifeln geplagt, doch umso mehr sie darüber nachdachte, umso wirklicher erschien ihr die Sache. Am Abend legte sie sich mit dem Entschluss, die Elfe morgen wieder zu sehen ins Bett und glitt in einen traumlosen Schlaf.

Der Wald war dunkel. Eine einsame Eule saß in den Bäumen und hielt anscheinend nach einer Maus Ausschau. Plötzlich raschelte es in einem nahen Busch. Die Eule schaute auf, doch was da zwischen den Zweigen hervorlugte, war nicht das, wonach sie suchte. Ein großes dunkles Paar Augen schaute sich aus dem Strauch heraus aufmerksam um. Als es die Eule entdeckte, fixierten die glasigen Augen das Tier, bis es einschlief. Gwin trat nun vollständig aus den Büschen und blickte sich noch einmal um. Nichts. Dann rannte er los, so schnell seine kurzen Beine ihn tragen konnten. Er wäre geflogen, aber die Bäume standen zu dicht, um die Flügel auszubreiten, und so legte er sie dicht an den Körper. Als er meinte, seine Beine würden unter ihm zusammenbrechen, spürte er weiches Gras unter seinen Füßen. Gwin stand vor der Rückwand einer heruntergekommenen Hütte. Unter dem Dachvorsprung hing eine Spinnwebe. An den Fenstern waren die Abdrücke einer menschlichen Hand zu sehen; aber auch die eines Wesens mit langen dürren Fingern an einer kleinen Hand. Ein anderes Fenster war fast vollständig heraus gebrochen und an dem Glas, welches noch übrig war, klebte getrocknetes Blut. Gwin jedoch wusste, dass es ein abschreckender Zauber war und sich hinter der Magie ein prächtiges Haus befand.
Sein Blick wanderte über die schäbige Fassade und blieb schließlich auf der kleinen Wiese vor sich hängen. Dort erschienen nacheinander vier entzündete Kerzen aus dem Nichts. Er beobachtete das Schauspiel eine Sekunde lang, dann verschwand er wieder im Wald.

In eben jenem Haus lag Selina in ihrem Bett und starrte an die Decke ihres Zimmers. Sie konnte nicht schlafen. Es war warm für diese Jahreszeit und sie hatte Durst. Also schlich sie barfuß und in ein dünnes Nachthemd gehüllt in die Küche und genehmigte sich einen Schluck Wasser. Wieder oben öffnete sie die Balkontür. Als sich wieder ins Bett gelegt hatte, warf sie ihre Deck auf den Boden, schloss die Augen… und plötzlich hatte sie ein Rauschen in den Ohren, welches immer lauter wurde. Sie wollte den Kopf heben, doch die konnte sich nicht rühren. Sie wurde von einer unsichtbaren Kraft in die Kissen gedrückt, und doch hatte sie das Gefühl, sich fortzubewegen. Das Rauschen wurde lauter… sie versuchte mit aller Kraft sich aufzurichten…hinter ihren Augenlidern flammte ein helles Licht auf und erlosch…und dann war es vorbei. Selina saß kerzengerade im Bett und hatte nur einen Gedanken: Was war eben geschehen…?

Impressum

Texte: Text copyright by Alex Sunbird. Cover copyright by Alex Sunbird.
Tag der Veröffentlichung: 20.11.2009

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