1. Kapitel
Eine geheimnisvolle Geschichte
Es war Nacht und Selina stand am Fenster. Ihr braunes, schulterlanges Haar wehte im kühlen Wind der Nachtluft und die Sterne spiegelten sich in ihren grünen Augen. Auf den Bergen, deren Spitzen leicht von Nebel umhüllt waren, lag Schnee. Der Mond beleuchtete die Baumwipfel des Waldes auf der anderen Seite des Tals und irgendwo schrie ein Käuzchen. Doch all das nahm Selina kaum wahr. Ihr Blick ruhte auf zwei eisblauen Punkten. Es war schwer zu erkennen, was es war, doch sie glichen einem Paar Augen, dessen Körper sie nicht sehen konnte. Selina war so gebannt von diesem Anblick, dass sie erschrak, als sie die Stimme ihrer Tante Nora hinter sich hörte: „Alles okay bei dir, Selina? Denkst du wieder an deine Eltern?“
Selinas Mutter war bei ihrer Geburt gestorben und ihr Vater war nach dem Tod seiner Frau verschwunden und kurz darauf bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. So kam es, dass Selina, die das alleinige Erbrecht hatte, von der Schwester ihrer Mutter adoptiert wurde, Tante Nora. Von dem Geld, welches Selina geerbt hatte, kaufte sie sich und ihrer Nichte dann ein Haus in den Bergen. Sie waren nicht die Ärmsten, nein, aber sie prahlten auch nie. Selina war im Dorf in den Kindergarten und in die Grundschule gegangen, und nun ging sie auch auf das Gymnasium. Sie lebte jetzt seit vierzehn Nora in dem schönen Anwesen. Alles was sie von ihren Eltern noch hatte waren Fotoalben und Erzählungen ihrer Tante. Sie fragte sich oft, warum ihr Vater sie verlassen hatte, nachdem ihre Mutter gestorben war; Nora meinte, dass er mit der Rolle des „alleinerziehenden Vaters“ überfordert gewesen wäre. Sie hatte ihrer Nichte so früh wie möglich erzählt, was mit ihrer Schwester und deren Ehemann passiert war und hatte sich bemüht Selina eine unvergessliche Kindheit zu bescheren. Sie hatten zusammen Ausflüge gemacht und in Selinas Augen war Nora ihr eine Mutter geworden. Aber heut rührte ihre Gedankenverlorenheit von etwas anderem her.
„Nein, nein, das nicht, ich überlege nur, ob das da drüben, diese blauen Punkte, Augen sind oder...“, sie stockte. Als sie wieder in die Bäume schaute, waren die Punkte verschwunden.
„Ich... aber... hää?! Da waren gerade noch zwei blaue Flecken wie Augen gewesen. Das verstehe ich nicht. Ich habe sie doch gerade eben dort gesehen, genau dort.“, sie deutete auf einen Punkt zwischen den Bäumen.
„Eisblaue Augen? Dazu fällt mir eine kleine Geschichte ein…“
Nora war eine begnadete Geschichtenerzählerin und obwohl Selina inzwischen fünfzehn Jahre alt war, hörte sie ihrer Tante liebend gern zu, wenn ihr eine Geschichte zu irgendetwas einfiel.
„Vor langer, langer Zeit lebte in diesen Wäldern ein Wolfsrudel. Es waren große Wölfe und einige von ihnen hatten eine sonderbare Färbung. Der Leitwolf, zum Beispiel, hatte ein Fell so schwarz wie die Nacht und seine Augen leuchteten rot wie Feuer. Man sagt, dass er mit seinem Blick töten konnte, wenn er wollte. Doch die Wölfe waren gutherzig und deshalb tat er dies nur, wenn er seinen schlimmsten Feinden gegenüber stand. Die adeligen Bewohner der Stadt allerdings mochten die Wölfe nicht. Sie jagten sie, stellten Fallen auf und versuchten alles Mögliche, um sie aus den Wäldern zu vertreiben.
Ganz anders waren da die Bauern und Landstreicher. Sie schlossen mit den Wölfen eine Art Vertrag. Den Vogelfreien halfen sie, sich im Verborgenen zu halten und sich vor denen zu verstecken, die sie verfolgten. Den Bauern hielten sie Diebe von deren Landgut fern und schützten das Vieh vor anderen wilden Tieren. Es war ein friedliches Zusammenleben von Mensch und Tier. Den Wölfen wurde im Gegenzug dazu auch Schutz geboten. Den Adeligen missfiel dies, und sie beschlossen alle zu töten, die mit den Wölfen zu tun hatten. Reiter mit Hunden wurden ausgeschickt, um die zu jagen und zu verfolgen, die sich gegen den Adel stellten. Es wurde viel Blut vergossen. Manche jedoch wurden gefoltert, damit sie das Versteck der Wölfe preisgaben, und manche waren so verzweifelt, dass sie sprachen. Der eine sagte, dass sie auf einem alten Bauernhof ihren Unterschlupf hätten, andere erzählten von einer Höhle nahe dem breiten Fluss. Dadurch wurden die Wölfe einer nach dem anderen gefangen und vernichtet. Drei Tieren gelang die Flucht. Nur drei konnten sich retten. Die Nachkommen der drei Überlebenden sollen heute noch durch die Wälder streifen. Manche Dorfbewohner glauben manchmal ein Heulen und Knurren, ja sogar Stimmen zu hören. Einige behaupten auch, sie hätten auf Wanderungen etwas Weißes durch die Büsche gleiten oder große hundeähnliche Schatten herum streifen gesehen.“
Selina warf einen verstohlenen Blick zum Waldrand. Das Paar blaue Augen war wieder erschienen, doch bevor sie genaueres erkennen konnte, war es wieder verschwunden. Erschrocken schaute sie ihre Tante an.
„Was ist?“
Nora hatte mit dem Rücken zum Fenster an der Wand gelehnt.
„Ach…Nichts.“
Selina schaute ein letztes Mal aus dem Fenster, aber der Wald blieb dunkel.
„Es ist spät, du solltest schlafen gehen.“
Widerwillig stieg Selina die Stufen zu ihrem Zimmer empor. Während sie sich umzog und ihre Zähne putzte, dachte sie über die Geschichte nach. Es war eine merkwürdige und unheimliche Geschichte, aber sie schien wahr zu sein. Sie wollte diesen Dingen auf den Grund gehen, doch sie wusste noch nicht, wie, und auch noch nicht, was sie eigentlich herausfinden wollte. Das musste sie sich wohl morgen überlegen. Und so glitt sie in einen traumlosen Schlaf.
„Selina! Aufstehen! Bist du schon wach? Du verpasst noch den Bus!“
Es war Montagmorgen. Wie sie Montage hasste. Sie hatte Doppelstunde Mathe. Außerdem schrieben sie heute in Physik höchstwahrscheinlich eine Stegreifaufgabe und das bewegte sie nicht gerade dazu, aufzustehen und zur Schule zu gehen.
„Weißt du, was gerade im Radio läuft? Dein Lieblingslied. Und wenn du dich nicht beeilst, ist es vorbei!“
„Jaja. Und ich werde heute Einser in Physik und Mathe haben. Hahaha.“
Aber leider hatte Nora Recht. Sie musste zur Schule und so hievte sie sich aus dem Bett, zog sich um, wusch sich mit kaltem Wasser das müde Gesicht und stieg die Treppe hinunter in die Küche. Dort lief im Radio, wie vermutet von Selina, nicht ihr Lieblingslied, sondern es wurde gerade das Wetter durchgesagt:
„Heute wird ein sonniger Tag mit Temperaturen um die 20°C. Morgen wird das Wetter kühler und am Nachmittag ist mit starkem Regen zu rechnen.“
„Na toll. Und ich muss morgen Abend die Geburtstagsfeier einer naturfreudigen Frau auf die Beine stellen, die darauf besteht, draußen zu feiern, egal wie das Wetter wird.“
„Ihr könntet ein Zelt aufstellen, in dem sich alle unterstellen können. Und die Frau kann draußen im Regen weiter feiern.“
„Ach Kindchen, wenn es so einfach wäre…“
Als Selina gerade zur Haustür hinaus wollte, wurde dann doch noch ihr Lieblingslied angespielt, und sie summte es den ganzen Weg lang, bis zu ihrer Bushaltestelle.
In der Schule schrieben sie das vermutete Physik-Ex. Selina konnte, zu ihrer eigenen Überraschung, fast alle Fragen beantworten, doch in Mathe ging es ihr dann nicht mehr ganz so gut. Sie musste an der Tafel vorrechnen und für das Ergebnis trug die Lehrerin ihr eine Vier ein.
Das Wetter war angenehm und sie beschloss zu Fuß nach Hause zu gehen. Sie schlug einen Weg ein, der sich durch den Wald bis zu ihrem Haus schlängelte. Während sie lief, überlegte sie, was sie zu Hause machen könnte, um die Zeit totzuschlagen. Als ihr nichts einfiel, entschied sie, einen Umweg zu ihrer Lichtung im Wald zu machen. Sie hatte nie irgendjemandem von dieser Lichtung erzählt; nicht einmal Nora, vor der sie sonst keine Geheimnisse hatte, wusste davon und sie konnte allein und ungestört ihren Gedanken nachhängen.
Eine halbe Stunde später stand sie am Rand der Lichtung. Sie setzte sich auf den Boden und pflückte die Gänseblümchen, die in ihrer Reichweite wuchsen. Als sie einige beisammen hatte, machte sie eine Kette daraus. Nachdem sie damit fertig war, legte sie die Kette neben sich auf die Erde, streckte sich auf dem Boden aus und suchte in den wenigen Wolken nach Bildern. Während sie in den Himmel schaute, schweiften ihre Gedanken zu dem Gespräch vom vorherigen Abend ab.
Sie lief durch einen Wald, hinter sich hörte sie schwere Pfoten über den Boden trommeln. Sie rannte, als würde ihr Leben davon abhängen. Plötzlich ertönte von hinten ein lautes, schmerzerfülltes Heulen. Sie blieb stehen und zwischen den Sträuchern erschien ein riesiger, schwarzer Wolf. Seine Augen leuchteten tiefrot, wie Rubine und von seinen langen Fangzähnen tropfte Blut. Das Untier kam langsam auf sie zu…Das Bild verschwamm… Und sie stand vor einer dunklen Höhle. Aus der Schwärze heraus starrte sie ein gelbes Paar Augen an. Sie konnte sich nicht rühren. Ihre Füße gehorchte ihr nicht mehr… Das Gelb verwandelte sich in Rot und plötzlich stand sie wieder dem riesigen Wolf gegenüber, der mit gefletschten Zähnen auf sie zuschritt…
Erschrocken fuhr Selina hoch. Es war nur ein Traum. Aber trotzdem schaute sie sich hektisch um und als ihr Blick den Himmel traf, erschrak sie: es war fast Nacht! Sie musste schleunigst heim. Nora machte sich bestimmt schon Sorgen. Doch allein durch den schon finsteren Wald? Nach dem Albtraum würde sie in jedem Schatten einen riesigen Wolf sehen und vor jedem noch so leisen Geräusch zurückschrecken. Sie kramte ihr Handy aus dem Rucksack, aber es hatte keinen Empfang. Nun komm schon, schalt sie sich, so weit ist es gar nicht; das werde ich doch überleben.
Als sie jedoch am Waldrand stand, schwand ihre Zuversicht und ein unangenehmes Kribbeln macht sich in ihrer Magengegend breit. Auf dem schmalen Pfad, der sie nach Hause führen sollte, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als im Wohnzimmer zu sitzen und eine heiße Schokolade in der Hand zu halten.
Tatsächlich sah sie in jedem Schatten die Umrisse eines Tieres; sogar vor ihren eigenen Schritten schreckte sie zurück. Plötzlich ertönte ein Knacken, wie von einem dicken, zerbrechenden Ast, und Selina sprang reflexartig einen Schritt rückwärts. Ein zweites, lautes Knacken verriet ihr allerdings, dass nicht sie der Urheber des Geräusches war. Eine Sekunde lang packe sie die blanke Panik; im nächsten Moment aber überkam sie ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit. Mit dem Gefühl nicht mehr allein zu sein, machte sie sich auf den Weg nach Hause.
Nora hatte sich wirklich Sorgen gemacht. Sie hatte die Tür aufgerissen, noch bevor Selina auch nur einen Finger rühren konnte. In ihrem Gesicht spiegelten sich Wut und Erleichterung. Am Ende siegte wohl die Erleichterung, denn sie schloss Selina in die Arme und führte sie ins Haus. Dort drückte sie ihr eine Tasse Tee in die Hand und wartete auf eine Erklärung.
„Ich...ähm...also das war so: Ich wollte zu Fuß heimgehen und hab dabei die Zeit ein bisschen vergessen. Und mein Handy hatte keinen Empfang, deshalb konnte ich dich nicht anrufen. Und...na ja...“
„Ist schon okay. Ich habe mir nur so schreckliche Sorgen gemacht. Das nächste Mal schickst du mir von der Schule aus eine SMS; dann weiß ich wenigstens, dass du zu Fuß gehst.“
„Werde ich machen.“
Nachdem Selina den Rest vom Abendessen verschlungen hatte, ging sie zu Bett. Sie lag noch lange wach, und als sie endlich eingeschlafen war, verfolgte sie das heutige Ereignis.
Sie schlich sich aus dem Haus, um einen nächtlichen Waldspaziergang zu machen. Der Mond schien hell, obwohl nur eine halbe Sichel am Himmel stand. Die Sterne glitzerten und ganz vereinzelt schwebten Wolken über das Firmament. Alles war friedlich, doch sie war nicht allein, das wusste sie. Jemand, den sie nicht sehen konnte, der sich Selina aber zeigen wollte, war in ihrer Nähe. Sie spürte deren festen Blick auf sich ruhen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass diese Person direkt hinter ihr stand. Sie spürte kalten Atem im Nacken. Sie drehte sich langsam um und...
„Krrrrrrrrrrrrrrrrrrr!!!“. Auf das Klingeln folgte ein hässlicher Krach: Selina hatte ihren Wecker auf den Boden geschmissen. Warum musste dieses blöde Ding sie ausgerechnet jetzt wecken. Eie Minute länger und sie hätte gewusst, wer gestern im Wald bei ihr gewesen war und ihr das Gefühl von Geborgenheit gegeben hatte. Sie war sich sicher, dass dort jemand gewesen war. Und deshalb beschloss sie, heute wieder zu Fuß gehen.
Der Schultag war schnell vorüber und als Selina vor dem Haupteingang des Gymnasiums stand, schickte sie Nora eine SMS.
Als Selina zu dem Abzweig kam, der zur Lichtung führte, entschied sie, zuerst ihre Sachen nach Hause zu bringen und etwas zu essen, bevor sie zur Lichtung ging.
Nach einem leckeren Mittagessen erledigte sie die Hausaufgaben, die zum Glück wenige waren, und mit einem Blick auf die Uhr, die zehn Minuten nach zwei anzeigte, schrieb sie Nora folgenden Zettel:
Nora,
Ich bin im Wald spazieren gehen. Hausaufgaben sind alle erledigt; ich bin um neunzehn Uhr wieder da.
LG Selina
Und so machte sie sich auf den Weg.
Texte: Text copyright by Alex Sunbird.
Cover copyright by Alex Sunbird.
Tag der Veröffentlichung: 22.10.2009
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