Reyhan Smith schließt die Haustür auf. Es ist niemand zu Hause. Ihre Mutter ist bei der Arbeit, ihr Vater macht Überstunden. Der Anrufbeantworter der Familie blinkt. Ohne darauf zu achten legte Reyhan die Briefe neben das Telefon. Dann lässt sie ihren Ranzen mit einem „Rums“ auf den Boden fallen.
Reyhan geht in die Küche. Die Lasagne von Gestern steht noch in der Mikrowelle. Aber Sie verspürte keinen Hunger. Der ist ihr in der Schule schon vergangen.
Reyhan sieht in den Spiegel im Hausflur. Ihre Augen sind zu groß und ihre Augenbrauen zu buschig. Ihr Busen ist zu flach, ihr Hintern zu groß. Wimperntusche läuft in zwei dicken Spuren die Wangen hinunter. Ihre Augen sind gerötet.
Im Badezimmer stellt sie sich auf den Badewannenrand auf streckt die Hand nach einem Regal aus und holt ein Döschen herunter. Sie schraubt den Verschluss ab und vergewisserte sich, dass es genug Pillen waren. Sie steckt die Dose in ihre Rocktasche. Die Tasche ist voller nasser Taschentücher, die sie in den Mülleimer wirft.
Reyhan geht ins Wohnzimmer und öffnet das Barfach des Schranks. Mit leeren Augen starrt sie hinein und betastet die kalten Flaschen. Whiskey, Brandy, Sherry, alles da. Sie streckt den Arm aus und holt von ganz hinten eine noch fast volle Flasche Wodka. Reyhan schließt das Barfach und geht zur Treppe. Sie fühlte sich wie ferngesteuert. Wie ein Roboter. Sie wusste, sie tut das Richtige.
Sie geht die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Sie schließt leise die Tür. Sie legt die Tablettendose und die Wodkaflasche auf ihr Bett. Sie holt Papier und einen spitzen Bleistift Stift aus dem Fach ihres Schreibtisches. Sie legte die Sachen auf ihren Nachttisch.
Reyhan zog ihre Schuluniform aus und faltete sie ordentlich auf ihrem Stuhl zusammen. An der Wand hinter der Tür hängt ein Spiegel, indem sie sich noch einmal betrachtet. Ihr Hintern findet sie riesig, ihr Körper sieht aus wie eine zu groß geratene Birne. Am Kopf hat Reyhan eine Beule, die sich lila- blau färbt. Sie holt ein Kleid aus dem Schrank und zog es an. Sie betrachtet ihre Arme und fährt mit dem Zeigefinger die einzelnen langen, dünnen roten Linien nach.
Reyhan setzt sich aufs Bett. Sie bürstet ihr langes, schwarzes Haar. Reyhan hebt ein Kissen vom Boden auf, stopft sich eine Ecke in den Mund und beißt zu, solange bis ihr Kiefer schmerzt und ihr Gesicht tränennass ist. Dann holt sie den spitzen Bleistift und fängt an zu schreiben.
Reyhan fehlte im Zeichenkurs. Mr. Brooklyn bemerkte den Lehren Stuhl vor seinem Lehrerpult.
>>Wo ist Reyhan?<<, fragte er.
Alle schwiegen.
>>Sie war doch heute in der Schule, oder?<<, forschte er.
>>Sie war in Mathe<<, sagte ein Junge mit roten Haaren.
Ich saß da, rührte mich keinen Zentimeter. Dann hörte ich meinen Namen.
>>Sarah?<< Mr. Smith sah mich hoffnungsvoll an.
>>Sir?<<, fragte ich.
>>Reyhan Smith? Weißt du vielleicht, wo sie ist?<<
>>Sie ist nach Hause gegangen, Sir. In der großen Pause… Sie fühlte sich nicht gut.<<
Das war noch nicht mal eine richtige Lüge. Sie ist wirklich nach Hause gegangen.
Als ich zu Hause war, rief ich Reyhan sofort an. Es ging nur der Anrufbeantworter dran. Kurz nachdem ich versucht hatte, Reyhan zu erreichen, rief Hanna Cascoe mich an.
>>Du hast sie im Stich gelassen, Sarah!<<, schimpfte sie. Ich wollte mir das nicht antuen und legte ohne etwas zu sagen einfach wieder auf.
Vielleicht sollte ich das Ganze mal erklären: Es fing damit an, dass Reyhan Smith im neunten Schuljahr neu an unsere Schule kam. Das war vor etwa zweieinhalb Jahren. Ich weiß noch, als sie zum ersten Mal vor uns stand. Sie hatte sich extra fein gemacht. Mit schwarzen Blazer und so. Es war kurz vor Weihnachten. Ich fand Reyhan wunderschön. Die schwarzen Haare und die tolle Haut. Hätte sie blonde Haare gehabt, hätte ich glatt gedacht, dass der Weihnachtsmann uns einen Engel geschickt hatte.
Doch dann platze Hanna Cascoe ins Klassenzimmer und bot an, sich um Reyhan zu kümmern. Sie zog sozusagen ihre alte Show ab, machte ihr Komplimente über ihre Haare, über ihre Haut und über ihren Blazer. Reyhan hier Reyhan da.
>>Hast du dich schon eingelebt, Reyhan?<< …>>Komm Reyhan, ich zeige dir die Cafeteria. Du magst auch keine Pommes, Reyhan?<< … >>Hier verstauen wir unsere Sachen, Reyhan, aber du kannst gerne mein Schließfach benutzen, solange du noch keinen Schlüssel für dein Eigenes hast.<< … >>Dein Vater ist Arzt, Reyhan? Was? Oberarzt? Meine Güte!<<
Am Ende der ersten Woche waren sie die besten Freundinnen. Sie harkten sich im Schulflur unter, saßen im Klassenzimmer nebeneinander, lachten zusammen, zogen sich nebeneinander im Sportunterricht um und quasselten überall und immer.
Hanna überschüttete Reyhan mit Geschenken. Sie liebte es, andere etwas zu schenken. Ihre Familie hatte ja auch Geld wie Sand am Meer. Sie schenkte Reyhan zu Weihnachten teures Parfüm, dann mal zwischendurch eine Armbanduhr, neue Zeichenstifte und alles Mögliche.
Reyhan war intelligent. Die Lehrer mochten sie wirklich gerne. Sie war sehr begabt im Zeichnen und in Sport. Am besten konnte sie Basketball und Handball. Aber auch das Turnen lag ihr. Sie hatte eine gute Kondition. Wenn wir schon schlapp machen, rennt Reyhan noch 10 Runden um den Sportplatz. Sie war ein echtes Naturtalent!
Reyhan hat Türkische Wurzeln, wird aber nicht als Türkin bezeichnet. Sie wurde sehr gut von allen aufgenommen. Damals war Reyhan sehr glücklich, ihre Augen schienen zu strahlen. Das kann man sich heute nur noch schwer vorstellen.
Mrs. Smith öffnet die Tür. Der Fleck auf ihrem Oberteil schien aus irgendeinem Grund größer geworden zu sein. Sie war froh, sich jetzt ein neues Anziehen zu können, und immer noch wütend auf ihren Kollegen. Was musste er auch Kaffee über ihre Bluse schütten?
Dann bemerkte sie die Schultasche von Reyhan. >>Reyhan? Bist du da?<<
Stille. Sie zuckt die Achseln. Sie will gerade auf die Gästetoilette gehen, als sie bemerkt, dass das Klopapier alle war. >>Verdammt<<, schimpft sie. >>Warum denkt nie einer daran, die Rolle auszuwechseln?<< Sie rennt die Treppe hoch. Die Klopapierrollen sind im Wäscheschrank. Dieser befindet sich auf dem oberen Treppenabsatz, neben dem Bad. Die Tür zum Badezimmer ist eigentlich immer offen. Als sie gerade am Bad vorbeiging, bemerkt sie, dass die Tür diesmal zu ist. Sie ruft noch einmal: >>Reyhan<<, doch sie antwortet nicht. Sie drückt die Klinke der Badezimmertür runter, doch die ist angeschlossen. Ein ziehen in Mrs. Smith Magen machte sich breit und nun hämmert sie gegen die Tür.
>>Reyhan, mach die Tür auf!<< Doch keiner sagt etwas.
Sie rennt die Treppe wieder herunter, sucht fieberhaft nach dem Garagenschlüssel. Sie schließt die Garage auf und öffnet den Werkzeugkasten. Ihre Hände zittern. Sie findet einen Schraubenzieher und rennt wieder nach oben.
>>Reyhan!<<, ruft sie. In ihrer Stimme schwingt Panik mit.
Sie fummelt mit dem Schraubenzieher im Schloss der Badezimmertür herum. Das Schloss springt auf. Sie drückt mit aller Kraft den Griff herunter und öffnet die Tür…
Hanna Cascoe wendete sich plötzlich von allen ab. Keine Ahnung warum. Vielleicht weiß sie nicht mehr, was sie ihnen schenken soll. Vielleicht langweilen sie sie einfach. Oder sie kann einfach keine Konkurrenz ertragen. Sie brauchte auch keinen Grund. Sie ließ die Leute einfach fallen. So wie Reyhan Smith.
Es fing kurz vor den Osterferien an. Hanna wechselte ihr Schließfach, ganz weit weg von dem von Reyhan. Wenn Reyhan ihr etwas erzählen wollte, drehte sich Hanna einfach weg und tat so, als wenn sie Reyhan nicht hören würde. Aber Reyhan verstand es nur ganz langsam. Sie bezeichnete Hanna immer noch als ihre beste Freundin. Hanna schien dies zu gefallen. Sie setzte sich in Mathe ganz weit weg von Reyhan, mit der Begründung, dass sie so besser die Tafel sehen konnte. Dann waren Osterferien.
In diesem Halbjahr fing Hanna an, Reyhan fertig zu machen. Doch es war hinterhältig. Manche Dinge die Hanna sagte waren so geringfügig, dass ich mich gar nicht mehr an ihre Worte erinnern kann. Es war irgendwas, aber es war nichts. Trotzdem schien gerade DAS, Reyhan so fertigzumachen. Hanna hörte zum Beispiel immer dann auf zu reden, wenn Reyhan das Zimmer betrat. Oder sie tauschte mit anderen Blicke auf und grinsten, nur im Reyhan zu verunsichern. Wenn Reyhan versuchte, sie in die Gespräche mit einzubringen, sagte Hanna: >>Sorry, Reyhan, aber das hier ist privat.<<
In Sport machte Hanna Bemerkungen über flache Busen. Reyhan´s Busen war gar nicht so klein, aber mit dem von Hanna, konnte sie sich nicht messen. Aber Reyhan war durchtrainiert, bis auf ihren Hintern.
>>Wenn man so viel Sport macht, hat man automatisch einen kleineren Busen! Und wer guckt den denn dann bitte an?<< Dann grinste sie.
Reyhan ist nicht dick. Sie hat nur etwas breitere Hüften. Einmal setzte sich Hanna sich neben sie, holte eine Modezeitschrift aus ihrer Tasche, zeigte sie Reyhan und tippte auf eine abgebildete Hose.
>>Sind das nicht hübsche Hosen, Reyhan?<<, sagte Hanna. Es waren weite Hosen, mit breiten Aufschlägen. Eine Art Hosen, die Hanna nie tragen würde.
>>Sie sind okay<<, sagte Reyhan.
>>Sie würden dir sehr gut stehen<<, sagte Hanna.
Reyhan lächelte. Dann fügte Hanna hinzu: >>Es ist ein guter Schnitt für Leute mit breitem Hintern<<
Man sah, dass Reyhan verletzt war, aber sie versuchte, über Hanna Witz zu lachen.
Nachdem Hanna Reyhan die Freundschaft gekündigt hatte, begann Reyhan, mehr mit mir zu Unternehmen. Wir waren beide in Mathe und im Zeichenkurs, mögen die gleiche Musik, sind zusammen im Sport- Team. Ich mag Reyhan wirklich. Ihre Art. Sie ist immer höflich und freundlich. Ich würde sagen, dass Reyhan am Ende des Sommerhalbjahres meine beste Freundin wurde. Und das gefiel Hanna Cascoe ganz und gar nicht.
Tag der Veröffentlichung: 09.09.2010
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