Prinzessin May und das Sanktum der Joluh
VI von Prinzessin May Saga
Summa Dornigen
Schlagwörter:
Fantasy, Science Fiction
Ein seltsames Signal ruft die Joluh auf der Station. May und ihren Freunden
bleibt keine andere Möglichkeit als nach dem Ursprung der Nachricht zu suchen.
Ohne es zu ahnen wird dieser Ruf nicht nur ihr Leben für immer verändern.
Band #6
Geschrieben von Summa Dornigen (summadornigen@geit.de)
Ein seltsames Signal ruft die Joluh auf der Station. May und ihren Freunden bleibt keine andere Möglichkeit als nach dem Ursprung der Nachricht zu suchen. Ohne es zu ahnen wird dieser Ruf nicht nur ihr Leben für immer verändern.
Das Wohnzimmer war festlich geschmückt und der Baum strahlte in dominierendem Grün. Neben den vielen Lichtern war er auch mit kinderhandgroßen Holzfiguren ausstaffiert. Thomas liebte die kleinen Figuren und hatte lange nach dem Hersteller gefahndet, um zumindest einige der Modelle zu finden, die ihn in seiner Kindheit bei seinen Großeltern so fasziniert hatten. Kleine Holzfiguren, die auf Schlitten saßen oder lagen, Pakete oder Bäume hielten und natürlich Weihnachts- und Schneemänner. Alle liebevoll handbemalt und mit kleinen Mützen, Mänteln und Schals versehen. Wäre das elektrische Licht nicht gewesen, hätte der Baum auch genauso gut vor einigen hundert Jahren in einem Herrenhaus stehen können.
Thomas hatte den Baum schon am frühen Morgen aus dem Garten geholt, wo er seit einigen Tagen vor Regen geschützt unter einer Plane auf seinen Einsatz wartete. Schnell war er eingestielt und in Position geschoben. Zusammen als Familie hatten sie erst die Lichter angebracht und ihn anschließend gemeinsam geschmückt. Neben den Kugeln und Figuren funkelten auch Strohsterne in verschiedenen Größen auftreffendes Licht matt weiter. Der Baum war wunderschön und doch nicht pompös, protzig oder gar überfüllt. Die Musikanlage spielte leise und dezent im Hintergrund Weihnachtslieder. »Das klappt nie.«, lächelte Anja, als die Kinder später am Tag geheimnisvoll in ihren Zimmern verschwunden waren.
»Doch, ich habe alles genau durchdacht und geplant.« Anja hielt sich den runden Bauch und jauchzte: »Wir reden über Kinder. Da kannst du gar nichts planen.« »Wo stecken die Beiden eigentlich? Es ist verdächtig still. Vielleicht hat Daneen ja aufgegeben?« »Wohl kaum. Die Mädchen verpacken unsere Geschenke und sind einfach nur abgelenkt. Daneen hat mich mehrfach darauf hingewiesen ihr Zimmer nicht zu betreten.« »Es ist schön zu sehen, wie schnell sie sich hier eingelebt hat.« »Damals hat sie noch so süß gefragt ob sie auch lange Haare haben dürfe wie ihre Schwester und jetzt sind die Zwillinge kaum noch zu unterscheiden.« »Sie hatte es ja auch nicht wirklich schwer und konnte sich die von uns gesteckten Grenzen ja von ihrer großen Schwester abschauen.«
»Es ist gleich 18 Uhr. Wir sollten anfangen.«, war Thomas deutlich neugieriger auf Weihnachten als seine Kinder, was nicht zuletzt an seinem Plan lag: »Das wird wohl unser erstes und vorerst letztes Weihnachtsmannweihnachten, bis unser Krümel hier soweit ist.« Sanft strich er über Anjas Bauch, gab ihm einen Kuss und rief die beiden anderen Kinder, die natürlich sofort wild die Treppe hinunter stürmten und in den übergroß wirkenden Wohnzimmersesseln Platz nahmen.
Jedes der Mädchen hatte ein kleines Geschenk in der Hand und wartete gespannt darauf, endlich mit der Bescherung anzufangen. Gerade als Thomas wieder neben seiner Frau saß und die Familie komplettierte, sprang Daniela auf, sauste erneut in den Flur und nach oben, wie man schemenhaft durch die Milchglasscheibe erkennen konnte. Thomas blickte seine Frau mit fragendem Blick an, aber sie konnte nur schulterzuckend ihre Unwissenheit vermelden. Wenig später kam das Mädchen wieder durch die Tür und hatte die Puppe dabei, die sie im letzten Jahr vom Weihnachtsmann bekommen hatte.
»Was willst du denn damit?«, fragte Thomas vorsichtig. »Der Weihnachtsmann hat gesagt, ich muss sie zurückgeben, wenn er mir eine Familie schenkt.«, erklärte die junge Dame, während ihre Mutter sich vor Rührung und Erinnerung an die damaligen Ereignisse eine Träne verdrückte. Von ihrer Schwester kam nur ein muffeliges: »Es gibt keinen Weihnachtsmann.« »Gibt es wohl.« »Nicht streiten. Wir werden es ja gleich sehen.«, versuchte Anja die bisher aufgebaute Weihnachtsstimmung zu halten: »Was habt ihr denn da?« »Geschenke! Die haben wir im Kindergarten gebastelt.«, erklärte Daneen. Beide Kinder sahen sich kurz an und überreichten, nach einem zustimmenden Nicken, feierlich jedem Elternteil einen der recht dicken und dennoch flachen Umschläge. Thomas und Anja öffneten das Papier vorsichtig und zum Vorschein kam jeweils eine grüne Karte aus fester Pappe mit einem Weihnachtsmann vorne drauf. Als sie die Karten aufklappten, entfaltete sich ein grüner Tannenbaum mit Geschenken davor, der aus der Karte empor stieg.
»Wow. Als ich im Kindergarten war, haben wir nie so etwas cooles gebastelt.«, merkte Mergy an. »Steinplatten und Meißel sind zu gefährlich für Kinder. In der Moderne und mit Papier und Kinderschere ist das leichter und sicherer.«, lachte Anja. »Wenigstens durfte ich damals mit auf die Mammutjagd.«, erklärte ihr Ehemann trotzig und erntete ein Lächeln. »Die Karten sind wirklich wunderschön. Danke sehr!« »Und zu wann habt ihr den Weihnachtsmann bestellt?«, fragte Daneen, deutlich die Wissende mimend. »Den muss man bestellen?«, war ihr Vater erschrocken und wandte sich seiner Frau zu: »Ich hatte keine Ahnung? Wann und wo hätten wir das machen müssen? Gibt es da Anmeldefristen oder ein entsprechendes Büro?« »Das höre ich jetzt zum ersten Mal. Aber es ist ja auch mein erstes Weihnachten als Mama.«, lächelte Anja die Unsichere mimend zurück. »Na, das kann ja was werden.«
Deutlich hörbar klingelte es an der Haustür. »Sollte der nicht durch den Kamin kommen?«, trötete es aus der Skeptikerin, während Thomas in den Flur und weiter zur Tür ging. Er prüfte noch schnell das Hologramm, welches er neben sich an der Haustür erscheinen ließ und verkündete dann in lautem Ton, er sollte doch gerade durch ins Wohnzimmer gehen. Daniela staunte für einen Moment starr. »Frohe Weihnachten ihr alle.«, verkündete die Gestalt in Rot. Es dauert nur einen weiteren Augenblick, dann hatte das Mädchen die Starre überwunden, stürmte auf den Gast zu und versuchte ihn zu umarmen. »Das ist Papa in einem Kostüm. Das sieht doch ein Blinder.«, erklärte ihre Schwester stolz, als unerwartet die zweite Tür zur Küche aufsprang und ihr Vater mit Milch und Keksen herein kam: »Tut mir leid. Das ist unser erstes Familienweihnachten. Ich hab die Kekse für sie komplett vergessen.« »Oh! Mit Schokolade. Damit liegt man immer richtig.«, bedankte sich der Mann in Rot.
Daneen schaute verwirrt zwischen den beiden Männern hin und her. Thomas schob die Mundwinkel hoch, was Anja nicht weniger in Verzückung fallen ließ. »Ich habe hier die Puppe für dich.« »Eine Puppe? Für mich?«, fragte der Weihnachtsmann erstaunt über die Geste. »Kennst du mich denn gar nicht mehr?«, schaute Daniela ihn leicht enttäuscht an, während Thomas versuchte mit seiner Brille aktualisierte Informationen an Jaque weiter zu geben. Er hatte zu Sabs Unmut, ganze drei Ray Team Satelliten umpositioniert und ein getarnter Manta schwebte über dem Haus, um eine garantiert fehlerfreie Funktion seines Weihnachtsplanes zu gewährleisten und dann kam seine Tochter mit dem Spielzeug, welches er schon längst vergessen hatte. Anja hatte recht. Bei Kindern kann man nicht alles planen.
»Hmm!«, der Weihnachtsmann schaute das Mädchen genau an: »Doch. Natürlich! Du bist das. Du hast dir letztes Jahr eine richtige Familie gewünscht, oder? Bei so vielen Kindern verliere ich manchmal den Überblick.« »Ja, das bin ich.«, strahlte das Mädchen: »Du hast gesagt, wenn ich eine Familie bekomme, dann muss ich sie dir wiedergeben.« Dani wirkte richtig erwachsen und verantwortungsvoll. »Habe ich das, ja?« Daniela nickte. Der Mann in rot nahm die Puppe an sich und betrachtete sie genau. Es waren deutlich die Spuren der Zeit zu sehen, die an der Puppe genagt hatten. Ein Ärmel des Kleides war wieder angenäht worden. Nicht plump, sondern mit viel Sorgfalt und Liebe. Bei vielen anderen Kindern hätte die Puppe wohl in Lumpen herum gesessen und es hätten Teile gefehlt. Auch wenn sie einige deutliche Spuren des Spielens zeigte, war sie nicht mutwillig beschädigt, sondern buchstäblich von der Liebe erdrückt worden.
»Du hast die Puppe sehr gerne, oder?«, fragte der erstaunte Weihnachtsmann. »Ja.« »Und die Familie gefällt dir auch?« Daniela strahlte und bejahte seine Frage abermals mehr als deutlich unterstützt durch ein heftiges Kopfnicken. »Ich denke du kannst die Puppe behalten. Aber nur wenn du ihr auch weiterhin ein gutes Zuhause gibst.« Er hielt ihr das Puppenmädchen hin und das Mädchen schloss das Spielzeug in die Arme, als wenn es das beste Weihnachtsgeschenk überhaupt wäre.
»Wo ist denn dein Engel?«, fragte Dani schließlich. Thomas schaute zu Anja hinüber, die von der ganzen Szene eingenommen war, wie von einem spannenden Krimi. Sie bemerkte seinen Blick nicht einmal. »Der macht Schadensbegrenzung.«, erklärte der rote Riese mit dem weißen Bart: »Die Elfen haben beim Einpacken der Geschenke nicht aufgepasst.« Der Weihnachtsmann war gespielt entrüstet: »Da waren überall Hasen drauf. Hasen und Eier! Hasen! Es war schrecklich! Jetzt müssen sie alles neu einpacken. Der Engel hilft dabei und ich habe jetzt auch mehr Arbeit.« Die Kinder kicherten. »Papa sagt zu Mama auch immer Engel.«, erklärte Daniela voller stolz, ohne den eigentlichen Zusammenhang zu erkennen. Der Weihnachtsmann blickte zu den Eltern auf dem Sofa: »Tut er das, ja? Da wird er wohl seine Gründe haben.« »Oh ja, die hat er!«, lachte Thomas und kuschelte sich noch dichter an seine Frau an. »Und Mama nennt Papa manchmal Spinner.«, kicherte Daneen. »Das ist aber nicht nett!«, schaute der Weihnachtsmann mit leicht bösem Blick zum Sofa der Eltern, während Anja nur Rot wurde.
»Der Bart ist nicht echt, oder?«, fragte Daneen, augenscheinlich den ersten Schock überstanden und zog fest an ihm. »Aua! Jetzt ist ja wohl eindeutig klar, wer das böse Kind von euch doppelten Lottchen ist.« Daneen machte einen Satz nach hinten. Sorgsam zupfte der Hausgast seinen Haarwuchs wieder zusammen und brachte ihn erneut in Form, während er der erschrockenen Daneen einen konstanten und finsteren Blick zu warf.
»Dann wollen wir mal anfangen. Wo habe ich meinen Sack gelassen? Ich bin aber auch ein Schussel.«, mokierte sich der Hausgast und drehte sich, bis Daniela auf den offensichtlich leeren Beutel deutete, der hinten auf seinem Rücken an der Kordel umher wackelte. »Ah, genau wie mit meiner Lesebrille. Wo hab ich nur wieder meinen Kopf?« »Der Beutel ist leer.«, warf Daneen schnippisch zu Daniela hinüber, die schon erwartungsvoll auf Geschenke wartete. »Natürlich ist er leer. Das ist ein Zauberbeutel. Stimmt's?« »Hah, wenigstens einer von euch Zwergen hat eine Ahnung wie Weihnachten funktioniert.« Demonstrativ wedelte er wie ein Zauberer mit der Hand und wackelte mit den Fingern, bevor sie tief im Beutel verschwanden. Momente später hatte er eine große Schachtel mit einer kleineren daran in der Hand. Wieder waren Thomas und Anja entzückt, zu sehen, wie ihre ungläubige Tochter dreinschaute, als der vermeintlich leere Beutel plötzlich Geschenke ausspuckte.
Daniela entfernte sofort das Papier vom kleinen Paket: »Ja, Tee Party! Das hab ich mir so gewünscht. Das hat Jennifer auch. Das ist toll.« Letzteres warf sie ihren Eltern zu, als hätten sie die unzähligen Wiederholungen dieses Wunsches in den vorangegangenen Wochen immer überhört. Die zugehörige Pinkfarbene Spielkonsole mit dem Rennspiel in der großen Schachtel geriet da zur Nebensache. »Mal sehen was wir für die Ungläubige haben.«, steckte der Mann mit dem ausladenden Bauch, noch einmal kurz die Augen Richtung Daneen schlitzend, wieder seine Hand in den Beutel. Wieder hatte er ein Geschenk in der Hand, welches nun Daneen öffnen durfte.
»Hah, das passt ja.«, sprudelte es aus dem Weihnachtsmann, als aus dem Papier ein großes Buch mit dem Titel »So funktioniert Weihnachten!« hervor trat. »Das ist ein Klassiker. Da erfährst du alles über Weihnachten. Bei Fragen kannst du dich ja an deine Schwester wenden. Sie scheint ja die Expertin hier im Haus zu sein.«, erklärte er, während seine Hand wieder im Beutel verschwand und eine Packung zog, die verdächtige Ähnlichkeit zu der von Daniela aufwies. Er reichte sie Thomas, der gleich neugierig und unter den Augen seiner Töchter das Papier entfernte: »Ich hab Weihnachten gewonnen! Tee Party 2! Schatz, uns wird nie langweilig werden.« »Oh, diese Elfen.«, murmelte der dickliche Typ und brüllte dann laut direkt in den Beutel: »Könnt ihr nicht wenigstens auf die Reihenfolge achten, oder ein Kärtchen dran machen. Muss ich denn wirklich alles selbst erledigen.« Seine Stimme hallte in dem Sack wieder, wie in einem Tunnel. Stille breitete sich im Zimmer aus. Dann hörte man leise und wie durch ein sehr langes Rohr aus dem Beutel: »Tut uns leid Chef. Kommt nicht wieder vor.« »Das will ich auch hoffen!«, sprach er noch einmal lautstark in den Sack und fügte ein »Ich glaube das Geschenk gehört der Bartzieherin.« an. Thomas reichte lächelnd seiner unsicher drein blickenden Tochter die noch verpackte Spielkonsole und das Spiel.
Kaum hatte er sich wieder hingesetzt, hatte der rote Mann schon wieder eine kleine Schachtel in der Hand und schüttelte sie. »Hmm, nein. Das ist für die Dame des Hauses.«, schmunzelte der jetzt leicht muffelige Mann und reichte es lächelnd Anja, die sogleich und unter den gespannten Augen der Familie das grüne Papier mit Tannenmuster entfernte und etwas Eckiges freilegte. Ein schwarzes Etui kam zum Vorschein. Schon der Anblick alleine zauberte ein wissendes Lächeln auf Anjas Gesicht. Als sie die kleine Kiste aufklappte lag darin auf einem ebenso dunklem Flies eine goldene Kette mit einem eingefassten Stein. Im Inneren des durch das Schmuckstück gebildeten Rings fanden sich dazu passende Ohrringe.
»Danke!«, brachte sie gerührt heraus und bedauerte zum ersten Mal nicht ihren Mann ansprechen und ihm direkt Danken zu können. »Gute Idee. Hätte auch von mir sein können. Ist bestimmt dazu gedacht, damit die Leute, die jetzt nur auf den Bauch sehen und später nur auf das Baby schauen, auch mal wieder Augen für meine bezaubernde und wunderschöne Frau haben.«, erklärte ihr Ehemann. »Wirklich eine wunderschöne Idee.«, lachte Anja, während auch die beiden Kinder neugierig Blicke in die Geschenkbox warfen: »Und wieder genau meine Augenfarbe.«
Der Weihnachtsmann steckte seinen Kopf in den Sack, als müsse er ganz hinten etwas entnehmen. Das laute Trompeten eines Elefanten hallte durch den Raum. »Oh, verdammt!« Der Weihnachtsmann kam schlagartig wieder zum Vorschein und drückte den Sack fest zu: »Wer hat sich einen Elefanten gewünscht?« Die Mädchen schauten sich mit großen Augen an und blickten dann erwartungsvoll zu ihren Eltern, oder besser gesagt alle Blicke im Raum waren auf ihren Vater gerichtet, der als einziger noch kein Geschenk hatte. »Ihr glaubt doch nicht ernsthaft ich hätte mir einen Elefanten gewünscht, oder?« »Bei dir ist alles möglich.«, kugelte sich Anja alleine bei der Vorstellung. »Oh, gut. Falsch zugestellte Tiere sind schrecklich. Die bekommt man nur sehr schwer wieder zurück in den Beutel. Wenn ich da nur an die Giraffe letztes Jahr denke, wird mir direkt wieder schwummrig. Der Elefant ist falsch ihr grünen Grinche!«
Wieder verschwand der komische Mann halb im Sack und murmelte etwas von »nicht eingepackt« und »unfähige Elfen«, bevor er wieder aus dem Sack kam und ein pinkes Fahrrad auf Stützrädern in den Raum zog. Eine knallig orangene Fahne schnellte, wie die kleine Version bei einem amerikanischen Postkasten, nach oben, als der lange Stab komplett aus dem Beutel befreit war. »Ist das jetzt meins?«, fragte das Familienoberhaupt spielend ungeduldig, weil immer noch ohne Geschenk. »Das ist meins!«, grinste Daniela wie ein Honigkuchenpferd. Weder der Hausgast noch Daneen widersprachen. Daneen aber wohl mehr aus dem neuerlich gewonnenen Respekt vor dem ganzen Zauber, der sich in ihrem neuen Heim abspielte. Spätestens nach dem Fahrrad war die Sache mit dem leeren Beutel nicht mehr zu erklären. »Da hinten habe ich noch eins gesehen. Aber es ist blau. Glaube ich zumindest. Die Beleuchtung im hinteren Teil des Beutels ist seit Jahren kaputt.« »Blau ist toll.«, hauchte Daneen mit einem breiten Lächeln, war es doch ihre Lieblingsfarbe, wie schon ihr Pullover deutlich zeigte.
Das zweite Fahrrad rumpelte aus der Öffnung des Sackes, ließ ebenfalls sein Fähnchen hochschnellen und wurde gleich vom zweiten Mädchen strahlend in Empfang genommen. »Das müsste das Letzte sein.«, merkte der Weihnachtsmann an und reichte Thomas eine Schachtel, die von Größe und Form verdächtig an die Geschenke für die Kinder erinnerte. Thomas entfernte das Papier und lächelte. »Das ist bestimmt, damit du den Kindern nicht immer ihr Spielzeug wegnimmst.«, grinste Anja erklärend über beide Ohren, war ihr Mann doch in der Vorweihnachtszeit immer um die Konsolen herum geschlichen und wollte wenigstens eine nur mal zur Probe bespielen.
»Das war auch eine gute Idee.«, lachte er und entfernte die Verpackung der zweiten kleineren Schachtel, in der er, wie bei den Kindern, ein weiteres Spiel vermutete. »Tee Party 2, Tee Party 2, Tee Party 2!«, flüsterte er leise, während er das Papier, sorgsamer als es den jetzt noch neugierigeren Kindern lieb war, entfernte. »Ray Team Academy?«, schaute er Anja verdutzt an. »Fliegen kannst du ja schon. Da kannst du auch gleich die komplette Ausbildung machen.«, kugelte sie sich nach Hinten in die Polster und japste vor Spaß, während die Kinder schon Bedarf an dem Spiel anmeldeten.
»Dann wünsche ich frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr.«, verkündete der Weihnachtsmann und warf sich den leeren Beutel über die Schulter. Daniela drückte sich noch einmal fest an den dicken Mann, während ihre Schwester nur unkte, er müsse doch eigentlich durch den Kamin kommen und gehen. Der Hausgast in Rot zog eine Glocke aus der Manteltasche und hielt sie an sein Ohr: »Rudolph. Wir nehmen das Dach – Ja sicher, aber hier ist ein ganz schlimmer Zweifler.« Dann drehte er sich zu Daneen um: »Steht alles auf Seite 8 in deinem Buch. Wenn die Kinder schlafen, dann nehme ich den Kamin. Ansonsten nehme ich die Haustür!« Er steckte die Glocke wieder ein, trat vor die Feuerstelle und steckte den Arm hinein. Als wäre er aus Wackelpudding verbog sich der komplette Weihnachtsmann und wurde förmlich seitlich aus dem Zimmer und in die nach oben gebogene Wandöffnung gesaugt. »Das habe ich kommen sehen.«, triumphierte Thomas leise, während beide Kinder versuchten im Kamin nach oben zu sehen. »Jetzt kommt das große Finale.«, flüsterte der Hausherr. Unbemerkt von seiner Familie gab er ein Signal und hoffte nur die Weihnachtstruppe wäre noch im Zeitplan.
Er öffnete die Terrassentür und die Kinder folgten ohne Aufforderung. Anja warf sich die Decke vom Sofa um den Körper und trat ebenfalls ins Freie. Auf dem Dach war nichts zu sehen. »Oh, er ist schon weg.«, merkte Daniela an, als das Dach keinen Schlitten mit Rentieren offenbarte. Sekunden später hörte man das lauter werdende Glockenspiel eines Weihnachtsschlittens. Dann rauschte das Gespann über ihre Köpfe hinweg. Ein lautes Ho-Ho-Ho vom Docolaus–Schlitten war zu vernehmen, während er eine Rotation um die Längsachse ausführte, die May wohl nicht gefallen würde. Schließlich schoss der Schlitten im dunklen Nachthimmel davon und hinterließ nur eine Spur von Feenstaub zurück, der langsam zur Erde rieselte, wie Daniela erklärte. Erst als der letzte Glitter verschwunden war, bequemten sich auch die Kinder wieder ins warme Haus, welches ihre Eltern bereits deutlich früher aufgesucht hatten und von wo sie ihre Kinder durch die großen Scheiben beobachtet hatten.
»Das war doch gar nicht so schlecht, oder?«, verkündete Thomas: »Sind denn alle zufrieden mit ihren Geschenken, oder gibt es Beschwerden?« Die Kinder waren sichtlich zufrieden, wie sie sowohl mit Worten, als auch mit Kopfbewegungen bekräftigten. Langsam gewannen die Geschenke über das gerade Erlebte die Oberhand. Die Spielkonsolen wurden zu Ende ausgepackt und gestartet, während Thomas seiner Frau die Halskette umlegte: »Wunderschön!« »Ja, der Weihnachtsmann hat sich wirklich eine Belohnung verdient.« »Ich meinte eigentlich die Frau selbst, aber rede ruhig weiter.« »Ist dein Geschenk wirklich gut? Verglichen mit dem Schmuck kann ich damit nicht wirklich Punkten und du kannst dir ja alles bauen lassen, was du willst. Es sollte dir Spaß bereiten.«, versuchte Anja eine Erklärung. »Die Konsole ist toll. Und das große Geschenk packen wir nächstes Jahr zusammen aus.«, erklärte Thomas: »Und Spaß hatte ich schon beim Basteln.« Er legte seinen schelmischsten Gesichtsausdruck auf und ließ seine Augenbrauen mehrmals hüpfen, während er den kugeligen Bauch von Anja sanft streichelte. »Da warst du nicht alleine.«, lachte Anja.
Der Familienvater half den Kindern die Spielkonsolen zu verbinden, damit sie gegeneinander Rennen durch die Zuckergusswelten fahren konnten. Nicht ganz uneigennützig, denn schon im zweiten Rennen ertönte laut ein »Platz da« vom hinteren Sofa und ihr Vater preschte auf seiner Konsole spielend durch die Reihen. Der Spielspaß war leider viel zu schnell zu Ende, als Anja das vorbereitete Weihnachtsessen auf den Tisch stellte und zum Essen rief. Sie musste schmunzeln, als ihr Ehemann genauso stöhnend auf die Spielunterbrechung reagierte, wie die beiden Kinder.
Die Aussicht auf ein leckeres Eis ließ die Spielkinder brav bis zum Ende der Mahlzeit auf ihren Plätzen verharren. Während das Ehepaar später die Reste des Essens im Kühlschrank verstaute und den Geschirrspüler befüllte, saßen die Zwillinge schon wieder Rücken an Rücken vor dem Baum. Die Konsolen vor sich und vom den neuen Fahrrädern umringt spielten sie friedlich. »Das war der perfekte Weihnachtsabend.« »Wir hätten Bilder machen sollen.« Thomas grinste und ließ die Augenbrauen hüpfen. »Du hast eines von diesen fliegenden Dingern hier?« »Drei um genau zu sein. Ich wollte um nichts in der Welt etwas verpassen. Wenn du nichts dagegen hast, lasse ich Daneen, also Ray Team Daneen, die Filme professionell zusammen schneiden und ein paar Abzüge machen.«
»Das wäre toll!« Anja drückte ihrem Mann einen Kuss auf die Wange: »Ich hab den tollsten Mann auf der Welt.« »Vergiss den. Der ist nicht einmal ansatzweise so toll wie meine Frau.«, lachte Thomas: »Danke für das alles hier! Das letzte Jahr war nicht immer einfach. Du hast diese Familie am Laufen und zusammen gehalten. Das ist das beste Geschenk von allen. Danke!« Liebevoll zog er seine Frau noch einmal an sich und drückte ihr sanft einen Kuss auf. »Wann sollen wir morgen bei deinen Eltern sein?«, fragte er aus der langen Umarmung heraus. »Um 15 Uhr, wieso?« »Naja, da sind noch zwei die einen ziemlich großen Anteil an dieser Familie haben. Wir sollten die Eltern der Zwerge nicht vergessen.« »Du möchtest einen Ausflug zum Grab ihrer Eltern machen?«, war Anja sichtlich erstaunt von dem Vorschlag. »Zu viel?« Anja lächelte: »Nein. Das ist eine schöne Idee. Daniela war erst einmal da und Daneen noch nie.« Ohne ihrem Mann auch nur die Gelegenheit zu geben weiter auf das Thema einzugehen, zog sie ihn zurück ins Wohnzimmer, wo beide einfach noch ein wenig von der Weihnachtsatmosphäre einsaugten und den Abend ausklingen ließen.
»Ich bin ziemlich nervös.«, erklärte Elisabeth Vanquist unsicher auf ihrem Sitz herumrutschend. May saß ihr in ihrer formellen Uniform gegenüber und versuchte sie zu beruhigen: »Wir sind nur normale Leute, die sich freuen dich an Bord zu begrüßen.« »Eure Kleidung sieht aber nicht so aus, als würde ich einfach nur so zu Besuch auf die Station kommen.« »Mergy meinte es wäre angemessen sich formell zu geben.«, warf Nim vom Pilotensitz des Transporters nach hinten.
»Dabei mag er die Klamotten selber nicht.«, lachte May. Der Transporter stoppte weit vor der Station im All. »Warum halten wir hier? Stimmt etwas nicht?« »Das wiederum war meine Idee.«, lachte May: »Ich dachte du würdest es gerne sehen.« »Was denn?«, fragte sich Elisabeth noch, als sich das große Tor in den Unterraum am offiziellen Sprungpunkt öffnete. Das Flaggschiff des Ray Teams bohrte sich in den normalen Raum und stoppte ebenfalls im All. Nim seinerseits setzte den Transporter wieder in Bewegung und steuerte auf das neuerliche Objekt zu. »Ist das?«, brachte der Gast nur unvollständig heraus. »Ja, das ist die Vanquist.« Langsam schob sich das winzig wirkende Transportschiff an dem im direkten Vergleich gigantischen Raumschiff mit den ausladenden Hangars vorbei. Andächtiges Schweigen breitete sich in dem kleinen Raum aus, während die großen Buchstaben der seitlichen Beschriftung an den Fenstern vorbeizogen.
Erst als der Transporter seinen Rundflug beendet hatte, wurde das Schweigen durch Nim unterbrochen, der Charlie mitteilte er könne den Anflug auf die Station fortsetzen. Er selbst steuerte den Transporter noch einmal zwischen den unteren Türmen der Station hindurch und setzte in Hangar 3 zur Landung an, wo schon auf den offiziellen Gast gewartet wurde. Mergy, Trish und sogar Sab und Tin waren vor Ort, was selbst May überraschte. Die junge Gastgeberin selbst bedauerte noch eine wichtige Verpflichtung zu haben und überließ ihre Freundin für den Moment den Kollegen. Noch im Lift wies sie Jaque an wie besprochen einige Dinge herzustellen, die sie gleich benötigen würde.
»Ist das für uns?«, fragte Shizuka neugierig und wunderte sich darüber, was da ohne erkennbare Anweisung wie von Geisterhand aus dem Nahrungsverteiler an der Wand kam. Das Kommandodeck war komplett unbesetzt und Jaque leitete die Flugkontrolle. »Besser nicht anfassen.«, antwortete Jiyai. »Vielleicht wollen sie uns testen.«, legte Shizuka unsicher nach, denn Tests mochte sie überhaupt nicht. Jiyai bemerkte den seltsamen Blick, den Tori auf die Schale mit dem Sand warf. »Du weißt wozu das ist?« »Ich hab da so meine Vermutung, die alles hier erklären würde. Da steht euch etwas bevor.«
»Uns?« Beide Mädchen waren erstarrt, aber noch bevor sie die Worte verarbeiten und eine weitere Frage formulieren konnten, surrte die Lifttür neben ihnen auf. Das Kommandodeck schien überfüllt zu sein. Allerdings waren es nur die drei von May bestellten Personen, die unsicher und alleine vor dem Lift herumdrucksten. »Gut, wir sind schon vollständig. Kann jemand den restlichen Kram aus dem Verteiler nehmen und mitbringen. Wir gehen in den Konferenzraum.«, erklärte der Kommander nur kurz und griff sich den Sandtopf. Der Verteiler begann erneut mit der Arbeit und stellte eine Schüssel mit Wasser her, die Shizuka sich sorgsam griff bevor sie May folgte. Da der Automat keine Anzeichen einer weiteren Produktion von Gegenständen zeigte, marschierten auch die anderen in den großen Raum mit den zum Kommandodeck durchlässigen Glasscheiben.
»Setzt euch. Stellt die beiden Schalen einfach auf den Tisch. Wir brauchen sie später.« May wartete bis alle drei am ansonsten fast nie genutzten Ende des Tisches platz genommen hatten. »Wie ihr wisst habe ich besondere Kräfte und kann Luft kontrollieren.« »Ja, das ist so cool.«, rutschte es Shizuka heraus und ließ sie selbst erstarren, war sie May doch schon nach dem ersten Satz ins Wort gefallen. »Ja, meine Kräfte sind hilfreich, aber ich nutze sie nur um Menschen zu helfen. Nicht zum Spaß.«, erklärte der Kommander weiter: »Es hat einen Sinn. Ich habe dieses Geschenk aus einem Grund erhalten. Diese Kraft ist machtvoll. Es wäre ein leichtes mir Macht über andere Menschen zu verschaffen, aber es steht mir nicht zu. Ich bin nicht besser als andere nur weil ich diese Kräfte habe. Im Gegenteil ich habe einen unfairen Vorteil.«
May legte eine kleine Pause ein und wartete bis diese Worte in den Köpfen ihrer Kollegen verarbeitet waren. »Tin hat einen Scanner gebaut, der es erlaubt meine Fähigkeit zu erkennen. So haben wir auch Tori gefunden.« Jetzt entgleisten die Gesichter der beiden Mädchen und ihr Blick wendete sich schlagartig Tori zu, dem May mit einem Nicken das Wort erteilte. »Ich kann Feuer kontrollieren.«, erklärte Tori und warf May einen fragenden Blick zu. Auf ihr Nicken hin zündete er kleine Flammen in seinen Handflächen und ließ sie wie ein Jongleur durch die Luft springen, bevor er sie wieder verschwinden ließ. »Abgefahren!«, war das einzige ausgesprochene Wort im Raum. Shizuka brach abermals die Stille, während Jiyai mit offenem Mund schwieg.
»Diese Kraft nennt sich Joluh. Die Seem haben uns damals von vier verschiedenen Typen berichtet. Luft und Feuer kennt ihr ja nun bereits. Nachdem Tori gefunden wurde, konnte Tin die Sensoren weiter kalibrieren und so haben wir euch gefunden.« Jetzt war selbst Shizuka sprachlos, dafür schien Jiyai ihre Stimme wiedergefunden zu haben: »Wir haben auch so eine Joluhkraft? Hätten wir das nicht schon bemerkt?« »Ganz die Medizinerin.«, witzelte May leicht: »Ich wusste es auch nicht und habe ohne es zu wissen damit mein Gleichgewicht gehalten. Meine Mutter hat damals versehentlich den Stationskern aus seiner Verankerung gerissen.«
»Bis May mir davon erzählt hat, hatte ich auch keine Ahnung.«, konnte auch Tori seine Erfahrungen einbringen: »Ich kann mir vorstellen wie ihr euch gerade fühlt.« »Und was können wir?«, fand Shizuka ihre Stimme wieder. »Das kann ich dir nicht sagen. Dazu fehlen uns die Messwerte, aber Luft und Feuer sind es definitiv nicht.«, erklärte May weiter: »Aber es sind auch nicht die selben Fähigkeiten.« »Also Erde und Wasser?«, deutete Jiyai fragend auf die beiden Gefäße. »Genau. Wollen wir das Geheimnis lüften?« Beide Anwärter nickten genauso einvernehmlich wie unsicher. Dieser Moment würde ihr gesamtes Leben umkrempeln. Vielleicht mehr noch als das Ray Team an sich es schon tat oder getan hatte.
»Jeder schnappt sich einen Topf und dann die Hand hineinstecken.«, wies der Kommander an und die beiden anderen Damen folgten ohne zu zögern. »Jetzt denkt an eure Hand in der Schale. Spürt das Wasser oder den Sand auf der Hand und versucht diesem Gefühl zu folgen.« »Es müsste sich anfühlen als wenn eure Hand größer wird.«, fügte Tori ein Detail hinzu. Shizuka nahm ihre Hand aus dem Gefäß und das Wasser formte immer noch eine Schüsselform, obwohl selbige noch unberührt, wenn auch leer, auf dem Tisch stand. Erstaunt blickte sie zu May hinüber und mit einem großen Platsch ergoss sich das Wasser über den Tisch, den May schon in weiser Voraussicht mit einem wasserdichten Rand aus fester Luft versehen hatte. Jiyai tat es ihr gleich und auch sie hatte nun eine sandige Schüssel als Hand.
»Gut gewählt würde ich sagen.«, lächelte May: »Es ist wichtig eure Kräfte kennenzulernen und zu erforschen. Sand und Wasser sind zwar auf den ersten Blick simpel, aber die Möglichkeiten liegen deutlich darüber.« »Können wir auch fliegen?«, war Shizuka schon beim Ausloten der Fähigkeiten. May lachte laut auf und richtete den Blick zu Tori, der als stiller Beobachter dem Geschehen folge: »Warum ist das immer die erste Frage?« »Fliegen ist cool.«, schmunzelte Tori nur und zuckte mit den Schultern. »Ja, ist es.«, musste May sich eingestehen. »Erstmal solltet ihr lernen das Zeugs auch wieder in die Schüssel zu bekommen.« Shizuka schob mit der Handfläche das Wasser zusammen, was Tori einen Lacher entgleiten ließ. Als sie aufschaute sah sie nur eine ungläubig dreinblickende May, die mit dem Kopf schüttelte. »Mit unseren Fähigkeiten.«, flüsterte Jiyai leise über den Tisch als würde May sie gleich als Moglerin hinstellen. Sie selbst hatte bereits ebenfalls einen Großteil des Sandes auf dem Tisch verteilt.
»Da ist noch etwas. Bisher wissen nur die hier Anwesenden, das Kommando und Sandra von euren Fähigkeiten.«, wurde May wieder ernster, »Ihr könnt euch gerne jemandem anvertrauen, aber Tori hat es bisher nur Suki und Nim erzählt und es ist nur fair, wenn Tori selber entscheiden kann, wann er sich anderen Menschen offenbart. Wichtiger ist es eure Fähigkeiten beherrschen zu lernen, damit nicht ungewollt jemand zu schaden kommt.« Ungläubig schaute Shizuka zu Jiyai hinüber, auf deren Tischseite sich die Sandhaufen verbanden und zur Hand hochzufliegen schienen. Schließlich strömte der Sand wie durch einen unsichtbaren Kanal wieder zurück in die Schüssel, bis auch das letzte Körnchen wieder verstaut war.
»Beeindruckend.«, entfuhr es May: »Du hast wirklich noch nie mit deinen Fähigkeiten gearbeitet?« »Nein.«, wurde Jiyai wieder unsicherer: »Ich habe einfach nur getan, was du gesagt hast und den Sand erfühlt und kontrolliert.« Für einen kurzen Augenblick war May abgelenkt, denn Sab marschierte vom Lift an ihren Platz, wo sie ihre Tasse auf dem Wärmer abstellte und gleich auf der Tastatur herum klapperte. Obwohl sie eigentlich vor Neugier platzen musste warf sie nicht einmal einen kleinen Blick in Richtung Konferenzraum. »Wenn ihr jemanden zum Reden braucht, dann könnt ihr euch jederzeit an Tori, mich oder einen der anderen Kommander wenden. Suki und Nim können sicher auch über ihre Erfahrungen mit unseren Kräften berichten.«, setzte May die Ansprache fort.
»Nim hat mir damals geraten es meiner Freundin zeitnah zu sagen.«, gab auch Tori seine Erfahrungen zu Protokoll: »Es war die richtige Entscheidung Suki davon zu erzählen. Heimlichkeiten führen nur zu Missverständnissen, Eifersucht und jede Menge Ärger.« »Ich hab es Nim damals lange verheimlicht und es hätte mich fast meine Beziehung gekostet.«, erklärte auch May, was ihr damals wiederfahren war: »Es ist vielleicht ein Risiko, aber auch wenn es keine echte Lüge ist, verschweigt man dem Partner einen wichtigen Teil von sich und das ist nicht fair.«
»Es ist zwar cool Superkräfte zu haben, aber es ist auch eine Menge Verantwortung damit verbunden.«, fügte Tori, fast schon zu Weise gesprochen, an. Shizuka konzentrierte sich wieder auf den Tisch. Die verschiedenen Inseln aus Wasser rollten über den Tisch und kollidierten zu größeren Pfützen, bevor sie als ganze gläserne Kugel aus dem Tisch empor zu steigen schien. In der Luft über der Schüssel rann das Wasser wie durch einen unsichtbaren Schlauch aus dem Wasserballon nach unten. Anscheinend wollte Shizuka mit ihren Fähigkeiten nicht hinter denen von Jiyai zurückstehen, denn sie hätte die Kugel auch einfach als ganzes in der Schüssel absetzen können. »Da hier wieder aufgeräumt ist, dürft ihr gehen, wenn es keine weiteren Fragen mehr gibt.«
»Woher kommen diese Kräfte?«, war es Jiyai die sich zu Wort meldete. »Genau weiß ich das auch nicht. Ich habe damals nichts von anderen Fähigkeiten gewusst und alles was ich finden konnte aufgesogen. Mit dem heutigen Wissen würde ich sagen, diese Elementkräfte hatten die Menschen schon immer. Fälle in denen Menschen aus einem Hochhaus stürzen und sich nicht verletzen gibt es zuhauf. Aber selbst in alten religiösen Schriften und Erzählungen finden sich Wunder, die sich mit unseren Fähigkeiten erklären lassen. Da hat zum Beispiel jemand ein Meer geteilt und einen Weg hindurch geschaffen. Meine Mutter hat, um sich zu schützen, auch mal die Station schwer beschädigt und wusste nicht einmal etwas von ihren Kräften.«, blieb May sachlich und einfach in den Formulierungen: »Selbst das Sprichwort man könne mit seinem Glauben Berge versetzen, ist nicht so weit hergeholt, wenn man vom Joluh weiß.«
Die Mädchen nickten zustimmend. »Stellt die Schüsseln bitte wieder zurück in den Verteiler. Wenn da noch Fragen sind, könnt ihr uns jederzeit aufsuchen.« Schweigend nahmen die beiden ihre durch die Gefäße beschrifteten Superkräfte und verließen zusammen mit Tori den Raum.
Ihre in Gedanken versunkenen und leicht verwirrten Kollegen nahmen zusammen einen Lift. Tori nutzte zeitgleich die zweite Tür. Entweder weil er nicht schon jetzt befragt werden wollte, oder weil er den jungen Damen erst einmal selber die Gelegenheit geben wollte sich ungestört auszutauschen. »Hey, wo befindet sich unser Gast?«, fragte May Sab, die immer noch an ihrem Terminal saß. »Trish und Nim führen sie herum. Ich glaube sie wollten die Vanquist besichtigen. Wie ist es gelaufen?« Die Frage fiel fast beiläufig und man hätte meinen können die Superkraftgeschichte würde Sab nicht im geringsten interessieren. Da sie aber eine durchaus neugierige Person war und sie darüberhinaus mit Jiyai eine Art elterliche Verbindung pflegte, erschien diese Frage dann doch nur oberflächlich betrachtet als beiläufig.
»Jiyai kann Erde und Shizuka Wasser kontrollieren.«, berichtete der Kommander. Sab schwieg. »Frag sie nicht gleich darüber aus. Sie muss erst einmal selber verstehen, was da mit ihr passiert.«, legte May gleich nach: »Darum habe ich damals auch nichts gesagt. Ich musste erst einmal herausfinden, wie ich damit umgehen soll und was diese Kräfte aus mir machen. Dafür braucht es Zeit.« »So etwas habe ich mir schon gedacht.« »Sie ist gut. Kaum hatte ich ihr gezeigt wie sie ihr Medium kontrollieren kann, hat sie den Sand nur so fliegen lassen.« »Hmm.« »Hmm?« »Als Jiyai damals zu ihren Eltern geflogen ist, habe ich sie für einige Augenblicke aus den Augen verloren. Ich hab mir damals nichts dabei gedacht. Es war als würde die Natur einen Schutzwall aus Wind, Regen und Erde um sie herum errichten, um sie vor meinen Blicken zu verbergen. Kann das sein?«
»Sie hat mir gesagt ihre Fähigkeiten nie benutzt zu haben, aber ich habe sie auch unbewusst zur Kontrolle meines Gleichgewichtes genutzt. Wenn sie die Erde aufwirbelt, dann kann sie mit Sicherheit Wind erzeugen und das Wasser in der Luft aufhalten oder mitreißen. Ich kann ja auch einen Damm aus Luft erstellen, eine Flutwelle aufhalten oder Sand zusammenfegen und in Form bringen. Diese Geschichte mit den vier Elementen ist ja nur eine vereinfachte Art und ein Oberbegriff aus vergangener Zeit.« Sab nickte ohne darauf einzugehen. May hatte ihrem Gegenüber gerade mehr von sich preis gegeben, als in den ganzen letzten Jahren zusammen. »Jiyai packt das. Sie ist schlau. Wenn sie über ihre Fähigkeiten reden will, bist du sicherlich ihre erste Wahl. Behandele sie einfach wie bisher und wenn sie soweit ist, wird sie sich dir öffnen. Wenn du nachbohrst, dann wird sie womöglich nur abblocken.« »So wie ein gewisser Kommander es immer gemacht hat?« »Ganz genau so.«, lächelte May. »Angekommen!« »Gut, dann will ich mich mal wieder um unseren Gast kümmern. Jaque transportiere mich in ihre Nähe.«
Staunend betrachtete der Ehrengast, wie May zwischen den rotierenden Markern erschien. »Tzt, als Kommander kann man sich wohl jegliches Laufen sparen.«, warf Nim ihr schnippisch entgegen. »Ich versuche nur jede freie Sekunde mit Elisabeth zu verbringen.« »Dann überlasse ich sie mal wieder meiner Kollegin.«, erklärte Trish: »Es war mir eine Freunde sie kennen zu lernen.« »Mir auch. Danke für Führung.« »Zeit für eine Kuchenpause in einem unserer Lokale?« »Ja, das wäre sehr schön.« »Steck' diesen Ring an deinen linken Arm.«, überreichte May dem unsicheren Gast einen Transportring, den sie vorher auf magische Weise auf ihrer Hand erscheinen ließ: »Jaque, es kann los gehen.«
In zwei Lichtwirbeln verschwanden die Beiden und Nim blieb alleine zurück: »Das war so klar.« May hielt Elisabeth direkt nach der Landung auf der Promenade am Arm. »Wow, das war seltsam.« »Da gewöhnt man sich dran.«, lächelte May. »Wo ist Nim?« »Der Sprücheklopfer nimmt den Lift! Komm, ich möchte dir einen sehr guten Freund von mir vorstellen.« May führte Elisabeth in Richtung Sors, dessen offizieller Verwalter gerade mit einem Tablett voller Geschirr zurück zum Tresen schritt und es dort abstellte. »Sor, ich möchte dir jemanden vorstellen. Das ist Elisabeth Vanquist. Elisabeth, das ist Sor. Er führt das Restaurant hier.« »Hallo!«, war ihr Gast sichtlich unsicher ob der seltsamen Person. »Keine Angst. Es ist mir eine Ehre sie kennen zu lernen.«, reichte die graue, mit blauer Hose und weißem T-Shirt gekleidete Gestalt freundlich die Hand, die Elisabeth zögerlich ergriff.
»Sor, eine Platte gemischten Kuchen für drei, eine Kanne Kaffee und eine Kanne Kakao bitte. Oder möchtest du lieber Tee?« »Nein, Kaffee ist perfekt. Danke.« »Drei? Oh, kommt der Kuchenspecht auch?« »Der Kuchenspecht?« »Nim!« May lachte laut auf: »Der Name ist gut. Wer hat den denn erfunden?« »Das war ich!« »Du?« »Naja, Mergy hat mir ein Update eingespielt. Es soll mich noch menschlicher machen.« »Jemand, der nur dumme Namen erfindet, bringt einem Computer bei Namen zu erfinden? Immer wieder etwas neues.«, musste May Kopf schüttelnd lachen: »Richte ihm aus, er soll bei dir Unterricht nehmen.«
May deutete auf einen Tisch am Fenster und wartete höflich bis ihr Gast sich gesetzt hat. Deutlich war zu sehen, wie sie den Bewegungen des Barmanns gebannt folgte. »Sor ist das Hologramm eines Computerprogramms. Eines ziemlich realistischen Programms, wie ich zugeben muss.« »Das hier ist alles so unglaublich.« »Für mich ist das schon lange normal. Ich kann mir aber vorstellen, wie es für dich ist. Als ich damals auf die Station kam, habe ich mich wie die Prinzessin in einem fantastischen Märchen gefühlt.« »Da kommt der Kuchenspecht.«, kicherte Elisabeth und als May ihren Kopf nach hinten drehte, sah sie Nim über die Promenade spazieren. »Wenn er dich ansieht, dann strahlt er regelrecht. Er liebt dich wirklich sehr.« May wendete sich wieder ihrem Gast zu: »Ich liebe ihn auch sehr.«
»Da hat sich jemand die zusätzlichen Kalorien schon erlaufen.«, lächelte Elisabeth als Nim an ihren Tisch trat. »Kalorien gibt es in unserem Essen so gut wie keine.«, lachte Nim und erntete einen fragenden Blick. »Der Computer der Station überwacht unsere Scans und Transportdaten und ermittelt den Energiebedarf. Es kann also sein das in einer Mahlzeit Kalorien drin sind, aber in der zweiten oder dritten nicht mehr.«, erklärte May. »Das kommt mir als Kuchenjunkie sehr entgegen.«, lachte Nim. »Der neue Begriff lautet Kuchenspecht!«, prustete May hinaus. »Auf den Namen sollte ich mir ein Patent geben lassen.«, merkte Sor an und stellte eine große Platte mit verschiedenen Torten– und Kuchenstücken auf dem Tisch ab, während Nim sich dazu setzte.
»Es ist so schön zu sehen, wie ihr euch anseht. Man erkennt sofort wie verliebt ihr beide seit.« Nim lächelte leicht verlegen und May war klar, er würde keinen Kommentar zum Thema abgeben. »Wundert mich auch. Bei dem Mist den ich immer baue.«, erklärte May. Der Blick von Elisabeth änderte sich von gerührt amüsiert zu ernst und schockiert. May setzte sofort einen fragenden Blick auf und schaute Hilfe suchend zu Nim, der laut zu lachen anfing. »Genau das hat sie mit "Mist bauen" gemeint.«, brachte er schließlich heraus: »Sie würde mich nie betrügen!« May schluckte. Ihn betrügen? Wieso dachte Elisabeth so etwas von ihr? »Oh, also–« Elisabeth war der Moment sehr peinlich. Nim verstand sofort Mays Problem »May, der Ausdruck "Mist bauen" kann in Bezug auf eine Liebesbeziehung als Fremdgehen gedeutet werden.«, erklärte er. May wurde rot. Es war ihr sichtlich unangenehm. »Ich liebe sie trotzdem oder vielleicht gerade deswegen so sehr. Vom ersten Tag an.«, fügte ihr Freund an.
Der kleine Kommander fand schnell seine Stimme wieder: »Vom ersten Tag an?« Nim hatte nie gesagt wie lange er schon in sie verknallt gewesen war. Es hatte nicht zuletzt an May selbst gelegen, die viel zu spät erkannt hatte, wie es um seine Gefühle für sie stand. Er konnte genau den Tag nennen? Nim änderte wieder die Gesichtsfarbe: »Ja!« May stutzte. Er war sich sicher. »Und wann wusstest du es genau?« Nim zögerte. »Damals als du mit Präsident Johnson auf der Station gelandet bist. Du warst so selbstsicher und kompetent. Ich denke da ist es mir zum ersten Mal bewusst geworden.« Seine Freundin spulte in ihrem Hirn zurück, wie sie es immer machte, wenn sie sich an etwas erinnern wollte. »Du hast doch nur beschäftigt auf die Konsole geschaut. Die ganze Zeit.« Nims Gesicht wurde noch eine Spur dunkler, während ihr Gast der Unterhaltung interessiert aber schweigend folgte. »Ich hab dich mit den Hangarsensoren beobachtet.«
Das Mädchen schluckte. Er hatte deshalb nicht hoch gesehen, weil sein Blick nur so immer auf ihr ruhen konnte. Sie konnte ihn gar nicht bemerken. May entfuhr ein verdrücktes Kichern, wie man es sonst nur von Ernie aus der Sesamstraße kannte: »Du Spanner.« »Stalker wäre mir lieber. Nur das eine Mal.« Plötzlich erhob sich seine Freundin und für einen kurzen Augenblick befürchtete er das schlimmste, auch wenn ihre sonstigen Reaktionen etwas anderes andeutete. Sie beugte sich vor und drückte ihm einen Kuss auf: »Schön das du auch mal Mist baust.« Nim schmunzelte erleichtert. »Und wann hast du dich verliebt?« Wieder spulte May in ihren Gedanken herum und klapperte die unzähligen Momente an, in denen sie sich begegnet waren. »Nach deinem Kuss. Als du zur Patrouille aufgebrochen bist. Ich war besorgt um dich.«, erklärte May unsicher.
Ihr Gast fand wieder Worte und versuchte das peinliche Missverständnis durch einen weiteren Themawechsel tiefer in Vergessenheit zu drängen: »Ich habe Nim vorhin nach der Sache im Londoner Hyde Park gefragt. Er war da etwas ausweichend und meinte ich solle dich direkt danach fragen.« May lächelte dankbar für die Diskretion ihres Freund: »Ich bin etwas anders als die meisten Menschen.« Der fragende, neugierige Blick ihres Gastes wandelte sich in erstaunen. »Ich bin in der Lage Luft zu kontrollieren und zu steuern. Daher konnte ich das Flugzeug abfangen und sanft auf dem Boden absetzen.« »Dann hast du also wirklich eine Superkraft, wie es in den Medien berichtet wurde?« »Sie ist ganz praktisch.«
»Fliegen ist mehr als nur ganz praktisch!«, warf Nim von der Seite ein, was wohl jeder darüber dachte. Ja, fliegen war cool! »Du hast auch diese Kräfte?«, war nun Nim Ziel von Elisabeths Fragen. »Schön wäre es.«, lachte Nim: »Aber ich kann Kuchen mit einer Gabel verschwinden lassen.« Er schob sich das letzte Stück von seinem Teller in den Mund und deutete triumphierend wie ein Zauberer auf seinen leeren Teller. »Aber ich hab euch damals beide fliegen sehen. In New York.« Nim lachte erneut laut auf: »Ja, an den Tag werde ich mich wohl immer erinnern.« Wieder wechselte der Blick der älteren Frau zurück in den Fragemodus, während sie sich eine Gabel des von May verteilten Kuchens in den Mund schob.
»An dem Tag hat er von meinen Kräften erfahren.«, berichtete May sachlich, obwohl ihr der mit dem Fliegen verbundene Fehler immer noch schuldbewusst auf der Seele brannte. »Sie hat mich geschnappt, in die Luft gezogen und auf einem der Wolkenkratzer abgesetzt. Das war ein Schock!« Nim sah seiner Freundin tief in die Augen, als wenn er etwas von ihr wollte? »Was denn?« »Du kannst nicht einfach von deinen Fähigkeiten erzählen und dann keine Demonstration geben. Ich habe meine gerade demonstriert.«, verkündete Nim oberlehrerhaft, mit erhobenem Zeigefinger und einem strahlenden Lächeln und wies mit der anderen Hand erneut auf den leeren Teller hin. May schmunzelte ob der schauspielerischen Leistung ihres Freundes. Sie ließ mit einer eigentlich unnötigen und dazu noch komplett überzogenen Armbewegung drei Kuchenstücke von der großen Platte aufsteigen und in der Luft rotieren.
»Das meinte ich mit praktisch. Fliegender Kuchen. Lecker. Kuchenkräfte sind mir die Liebsten.« Nim versuchte sein Stück in der Luft mit der Gabel zu erwischen, aber es wich seinen Angriffen aus, während die anderen beiden Stücke sanft auf die weißen Teller hinab sanken. Erst als er von dem Kuchen abließ, landete auch seins auf dem Teller. Sofort rammte Nim seine Kabel in das Stück: »Du entkommst mir nicht wieder!«
May schüttelte ungläubig den Kopf, während ihr Freund sich die erste Gabel seiner Beute durch den Kopf gehen ließ. Elisabeth verarbeitete noch die kleine Vorführung und begann dann ihrerseits mit dem neuen Kuchenstück. »Es ist interessant so viele unterschiedliche junge Menschen hier zu sehen, die alle friedlich hier zusammenleben.«, merkte sie fast beiläufig an. »Kulturen und Hautfarben sind nicht wichtig. Vom ersten Tag bestand das Ray Team aus den verschiedensten Menschen aus verschiedenen Ländern.«, erklärte May. »Hätten wir eine Flagge oder eine Verfassung, so würde das genauso dort drin stehen.«, bekräftigte Nim ihre Worte. »Und es gibt nie Probleme?« »Natürlich gab und gibt es die. Viele Menschen ergeben viele Meinungen und das führt zu Streit. Ray Team One ist eine kleine Stadt mit all den Problemen, die es da unten auch gibt.« »Nur ohne Geld und Arbeitssorgen.«
»Ich finde es traurig, weil einige Menschen auf dem Planeten diese kleine Welt einfach nicht akzeptieren und sogar bekämpfen wollen.« »Ja, einige Länder oder besser Individuen haben immer wieder versucht sich unsere Technik und unsere Leute mit Gewalt anzueignen, aber wir halten dagegen.«, erklärte May: »Die breite Masse versteht und respektiert uns.« »Ja, ich finde die Sendungen vom Ray Team immer sehr interessant, auch wenn man euch beide meistens nie zu Gesicht bekommt.« »Diese öffentliche Zurschaustellung mag ich nicht besonders. Ich mache meine Arbeit und verschwinde wieder auf die Station. Preise oder sonstige Anerkennungen brauche ich nicht.«, beschrieb May sehr grob ihren Tagesablauf: »Wenn ich Abends weiss ich habe Leben gerettet, dann ist das genug. Es gibt mir ein gutes Gefühl und zeigt mir das ich alles richtig gemacht habe.«
Nim vergass bei der Umschreibung fast seinen Kuchen. So hatte May noch nie von ihrer Arbeit geredet. Das war es also, was sie antrieb. Nicht die Danksagungen oder die Jubelschreie, sondern einfach nur das Gefühl Menschen ein Leben, eine Zukunft gegeben zu haben. Wieder machte sich in ihm dieses wohlige Gefühl breit. Er spürte es immer, wenn seine Liebste wieder einmal das richtige tat. Es war die Wärme, die seine Liebe zu ihr, wie eine gewaltige Dampfmaschine betrieb. »Und was war mit deinem Gesangsauftritt?« »Ja, der war eine Überraschung.«, platzte es aus Nim heraus.
»Du hast nichts von ihrem Auftritt gewusst? Du warst doch im Publikum!« »Naja, ich dachte sie hält eine Rede und bietet etwas zur Versteigerung an. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet.« »Ich habe mir das Lied gleich gekauft!« »Du hast mein Lied gekauft?«, war May jetzt verdattert. »Ja, es ist so wundervoll und rührend. Ich musste weinen als ich es das erste Mal gehört habe.« »So etwas in der Richtung hat Mergy auch über diverse Kommander auf dem Kommandodeck gesagt.«, lachte Nim.
Der kleine Kommander konnte sich noch gut an die Ereignisse erinnern. Es wäre eine dieser Geschichten, wo ihr Gesicht Millionen Wert ist, hatte Mergy das Ziel der Aufgabe umschrieben. Und es ging um Kinder. Ja, Kinder. Mergy wusste genau welchen Knopf er bei seiner Ziehtochter drücken musste, um sie sanft zum Mitmachen zu zwingen, war sie doch sonst immer zu mehr oder weniger glaubwürdigen Ausreden bereit. Es ging darum Kindern in benachteiligten Ländern eine Ausbildung und eine Zukunft zu geben. Das war ein Motto, dem May sowieso nichts entgegenzusetzen hatte. Das aber sagte sie Mergy nicht und ließ ihn in dem Glauben sie, auf seine mehr oder weniger subtile Art, gezwungen zu haben.
Fast zwei Wochen hatte sie sich tagsüber in ihrem Labor eingeschlossen. Erst wollte sie eine Bauchrednernummer aufführen, wie sie es damals auf dem Stein für die Besatzung gemacht hatte, aber dann wurde ihr bewusst gemacht, nicht nur zu unterhalten. Es sollten die Herzen der potentiellen Spender geöffnet werden, um an ihr Geld zu gelangen, wie Daneen es formulierte. So verband sie die Aufgabe mit ihrem Leben. Die Prinzessin von der Raumstation ist eigentlich immer noch das arme Mädchen von der Straße. Die Kleidung, die sie bei ihrer Ankunft vor vielen Jahren trug, hing noch in ihrem Schrank. Sie passte allerdings nicht mehr, wie May mit Bedauern feststellte, weil dieser Fakt auf die eine oder andere Art auch diesen Teil ihres alten Lebens abschloß, so hart er damals auch war. So lag es an Jaque die alte Kleidung in einer größeren, verschmutzt wirkenden Form replizieren.
Als sie sich damit im Spiegel sah, kamen all die verdrängten Erinnerungen wieder hoch. Die angstvollen Momente auf der Straße. Die ständige Suche nach etwas Essbarem, nach einem sicheren und trockenen Schlafplatz und das Gefühl nichts Wert zu sein und sich wie Müll zu fühlen. Jaque hatte damals vorgeschlagen ihre Kleidung zu entsorgen, aber sie hatte sich geweigert. Die Kleidung war ihr einziger Besitz gewesen. Sie hatte sie damals selbst aus dem Müll gezogen und in all ihrer Unvollkommenheit war diese Kleidung das Bindeglied zwischen Optik und Gefühlen. Sie sah wie Müll aus. Sie fühlte sich wie Müll.
Diese dunklen Gefühle, die sich nur gegen sie selbst richteten, waren längst verflogen. Sie war jemand, auch wenn sie diese Lumpen trug und genau diesen Umstand würde sie in ihrem Lied ausdrücken. Es waren ihre Gefühle und ihr Leben, welches sie da im Spiegel sah. Auch wenn sie sich jeden Tag schöne saubere Kleidung überzog, war sie innerlich noch immer das Mädchen von der Straße. Sie war keine Prinzessin, kein Superstar und kein Held. Das Mädchen im Spiegel war ihr wirkliches selbst, auch wenn sie sich schon seit Jahren nicht mehr so direkt vor Augen hatte. Der Titel, »Mein wahres Ich!«, war schnell gefunden. Für den restlichen Text und eine kleine Bühnenshow brauchte sie länger. Der Gesang war das Schwierigste. Nim meinte zwar sie könne gut singen. Aber die Male, wo er sie beim Tischdecken oder Duschen einen Popsong hatte trällern hören, waren rar. Außerdem liebte er sie und war damit nicht objektiv. May hatte 10 Minuten für die Darbietung und so beschloss sie, nach dem etwas über 3 Minuten langen Song, noch eine kleine erklärende Rede zu halten.
Sie war so aufgeregt. Das große Theater war voll und hinter den Kameras versteckten sich weitere unsichtbare Menschenmassen. Daneen hatte ihr einen Trailer gezeigt. Dort bewarben die Macher der Veranstaltung diverse berühmte Menschen, die dort singen, etwas vortragen oder einfach nur ein paar Gegenstände aus ihrem persönlichen Besitz zur Versteigerung boten. Ihr Name wurde besonders hervorgehoben. Als wäre sie etwas besseres, etwas berühmteres. May hatte selbst nicht viel, was sie anbieten konnte. Die wenigen Erinnerungen waren zu persönlich und zu wichtig, als das man sie an Fremde verkaufen würde. Der Mondstein war wahrscheinlich sowieso der einzige Gegenstand, für den die Menschen auf dem Planeten wirklich zahlen würden. Diese Erinnerung an ihre erste Mission würde sie niemals hergeben, aber warum nicht einen anderen Stein?
So besorgte sie sich einen zweiten Brocken vom Mond und stellte ihn in ihr Regal. Es war seltsam. Beide Steine waren in etwa gleich groß und schwer, aber der eine war ihr wichtig und der andere blieb nur ein Stein, wie sie ihn auf der Straße nicht einmal beachten würde. Das war es was die Leute bewegen sollte Geld dafür zu bezahlen. Weil sie es, wenn auch nur sehr vage, mit der Person May verbanden. Sie würde ihren Mondstein um jeden Preis behalten. Genauso die Fotos und Alben mit Erinnerungen an die vergangenen Jahre. Jaque hatte nach ihren Anweisungen ein Kleid entworfen und repliziert. Es war vom Stil her das einer Märchenprinzessin. Dieses Kleid würde sie bei ihrer Darbietung tragen und anschließend ebenfalls versteigern.
May wurde angekündigt und die ersten Takte ihrer Musik ertönten. Wie in einem Märchenfilm schritt May singend die lange Treppe zur Bühne hinunter. Sie sang von einem Schloss unter den Sternen und ihrem Leben darin. Dann mit einem Paukenschlag setzte der Refrain ein und May zapte sich unter raunen mit dem Transporter aus dem Kleid und stand nun in ihren alten Lumpen neben der Prinzessinnenhülle vor dem weltweiten Publikum. Sie sang von ihrem wahren selbst, nur um Sekunden später wieder im vornehmen Kleid zu stecken und von den Vorzügen im Leben einer Prinzessin zu singen.
Der Höhepunkt war ein Duett mit sich selbst. Sie brachte die Luft zum Schwingen und beide Versionen von May sangen leicht versetzt den Refrain, während das Kleid von alleine über die Bühne schwebte und mit der verlotterten May zu tanzen schien. Als die letzten Takte verstummten, brach die Menge in Jubel aus. May und auch die unsichtbare Version im Kleid verbeugten sich vor den Menschen die stehend applaudierten. Sie blickte zu Nim, ihrem Fixpunkt. Er saß in der ersten Reihe und blickte sichtbar stolz zu ihr hinauf. May konnte sich trotz aller Professionalität ein kleines Winken nicht verkneifen.
Es dauerte länger als erwartet, bis die Menge wieder auf den Sitzen saß. Der kleine Kommander erklärte noch einmal in Kurzform die Zusammenhänge zwischen dem Lied, der Kleidung und ihre jetzigen Leben. Sie konnte die Not der Kinder nachvollziehen wie wohl kaum eine andere Person in dem riesigen Saal. Dann gab sie den Mondstein und das Kleid zur Auktion frei, betonte aber es würde sich nur um ein normales Kleid handeln, welches beim zukünftigen Besitzer weder tanzen noch singen würde. Der Moderator betrat direkt nach dem Ende ihrer kleinen Ansprache die Bühne und fragte direkt, ob man den Song auch kaufen könne? May war irritiert.
Niemand hatte das Lied vorher gehört. Sie wusste nicht, ob es den Zuhörern überhaupt gefallen würde und so hatte sie daran nicht einmal gedacht. »Ich werde das mit Daneen Briel besprechen.«, erklärte May: »Aber eine Bedingung habe ich.« »Und die wäre?« »Ich möchte das alle Einnahmen zu 100 Prozent in den Spendentopf gehen.« Wieder toste der Saal. »Also von mir gibt es keinen Widerspruch.«, lächelte der Mann, den sie auf Anfang 40 schätzte. Nim hatte vor der Show erklärt, er wäre ein bekannter Filmstar, aber May kannte ihn nicht und hatte ihn nur kurz vorab hinter der Bühne einmal gesprochen.
»Trish und Sab haben geweint?«, schaute May ungläubig. »Wohl mehr Trish und Tin! Oder der Doc?« »Du musstest dir aber auch das eine oder andere Tränchen verkneifen.«, warf Elisabeth in den Raum und ließ Nim erröten, was May zum Kichern brachte. Plötzlich wurde ihr Blick abgelenkt, als Sophie leicht unsicher ins Sors lief während Sadi anscheinend am Eingang nach jemanden Ausschau hielt. »Es sind Kinder auf der Station?« »Bisher nur eins. Aber es machen bereits Gerüchte um möglichen Nachwuchs anderer Piloten die Runde.« »Ist eine Raumstation wirklich ein guter Ort für Kinder?« »Es gibt auf der Erde viele Kinder, die gar kein Zuhause haben, oder in Armut leben.« »Aber so ohne Spielplätze, Parks und Natur, meine ich.« Nim schnaufte deutlich aus, bevor er antwortete: »Also in der Stadt in der ich aufgewachsen bin, hatten wir Parks und Spielplätze. Das wären die letzten Orte an denen ich mein Kind alleine spielen lassen würde.«
May konnte zu diesem Thema nichts beitragen. Ihre spärlichen Erfahrungen und Erinnerungen an ihre eigene Kindheit bezogen sich auf ein kleines Dorf und eine karge Hütte. Damit hatte sie es schon ziemlich gut getroffen und sogar ein wenig Schulbildung abbekommen, auch wenn das meiste Wissen von ihren Eltern kam. Elisabeth wurde nachdenklich und musste den Argumenten zumindest Teilweise zustimmen. Selbst in ihrer Kleinstadt gab es diese ungeeigneten und doch für Kinder geschaffenen Plätze. »Wir haben aber auch Spielplätze, Parks und sogar einen Strand auf der Station.«, fügte das Mädchen aber dennoch an. »Wie ist das möglich?«, war ihr älterer Gast verblüfft.
»Das wird unser nächster Halt. Ein Stockwerk höher.«, erklärte ihre Tischnachbarin. »Es ist schön zu sehen, wie eine Gruppe junger Menschen hier eine eigene Gesellschaft aufbaut, die auch hohen moralischen Ansprüchen standhält.« »Ja auf der Erde denken einige Leute wohl die Station ist ein reiner Sündenpfuhl. Es ist Interessant wie diese Menschen Diskussionsrunden dazu abhalten, ohne jemals hier gewesen zu sein.« »Die Sensationslust der Medien.«, fügte Elisabeth an. »Ja! Wie gesagt, hier ist vielleicht nicht alles perfekt und frei von Sünde, aber das gehört wohl auch zum Menschsein dazu.«
»Ist Kommander Mergy heute nicht da?« »Er tritt kürzer, wie man so schön sagt.«, erklärte May: »Vormittags ist er meistens hier, aber Nachmittags verbringt er bei seiner Familie. Er hat einen zweijährigen Sohn.« May verzog keine Miene bei der für Nim offensichtlichen Lüge. Wenn man es genau nahm, war es aber auch keine Lüge. Mergy war eine alternative Identität und das Kommando hatte ihm eine eigene Hintergrundgeschichte verpasst, damit er sich von Thomas abheben, ihm aber doch ein Alibi geben konnte. Mergy war schließlich nur so oft auf dem Planeten, weil Thomas es sein wollte. Anja hatte seine dritte Tochter, Danielle, zur Welt gebracht und ihr Ehemann versuchte schon länger jede Sekunde bei seiner Familie zu sein. »Er hat auch noch eine erwachsene Tochter auf der Station.«, kicherte Nim. May boxte ihn sanft in die Seite und ihre Gesichtsfarbe wurde leicht rot.
»Mergy hat mich damals aufgelesen und mir hier auf der Station ein Zuhause gegeben. Er war viele Jahre meine Bezugsperson hier auf der Station. Ist er heute noch, obwohl ich das Glück hatte meine Eltern wieder zu finden.«, führte May erklärend aus. »Ich würde deine Eltern gerne kennenlernen, wenn das geht.«, hakte der Hausgast vorsichtig nach. »Der Wunsch basiert wohl auf Gegenseitigkeit.«, lächelte May: »Seit Tagen liegt meine Mutter mir in den Ohren mit dir bei ihr im Lokal zu Abend zu essen.« Elisabeth war irritiert. »Sie kennt mich doch gar nicht.« »Das nicht, aber sie war dabei, als mir die Erinnerung an die Stärke von Michael neue Kraft und den Mut zum Kämpfen gegeben hat.«
Nach dem kleinen Kuchenintermezzo zeigten die beiden ihrer Freundin die restliche Station. Angefangen von den Holoräumen über dem Sors bis hin zu ihren Quartieren und dem Kommandodeck. Gegen Abend waren aßen sie alle bei ihrer Mutter im Lokal, die sich für diesen Anlass wieder einmal ins Zeug legte als wären Staatsgäste anwesend. Es war eine willkommene Abwechslung für alle Anwesenden.
Nachdem sie nach einem ereignisreichen Tag wieder auf der Station gelandet und auf dem Weg zu ihrem gemeinsamen Zuhause waren, legte May ihren Kopf an Nims Schulter: »Das war schön.« »Ja, es war nett ihr das hier alles zeigen zu können. Witzig, wie sie meinte hier würde wohl traditionell auch immer der Mann fahren.« May kicherte. »Du bist nicht mehr sauer auf mich?« May hob den Kopf und blieb ruckartig stehen: »Sauer? Auf dich? Wieso?« »Wegen dem Spruch auf der Vanquist. Das Kommander zu faul sind um zu laufen. Tut mir leid.« May lachte laut auf.
»Du hast gedacht ich wäre deshalb sauer?« »Irgendwie schon. Ich meine du hast mich auf der Vanquist stehen und den Weg ins Sors laufen lassen.« May boxte ihn sanft in die Schulter: »Das war ein Spaß. Wenn ich wirklich sauer wäre, dann hättest du es bemerkt. Also so richtig.« »Und ich dachte weil ich den Spruch vor Kommander Trish und Elisabeth abgelassen habe, würde ich Ärger bekommen, sobald wir alleine sind.« May lächelte: »Das ist schön.« »Schön?« »Naja, sonst baue ich immer den Mist in unserer Beziehung und jetzt hast du mal Probleme gesehen wo keine waren.« Nim zog die Mundwinkel und die Augenbrauen hoch. »Ja, das kann man wohl so stehen lassen.«
May zog sich wieder an ihren Freund heran und legte den Kopf wieder an seine Schulter. Im Lift schloss sie leicht Müde die Augen und genoss die Stille, die aber nicht lange währte. Sors Stimme ertönte in ihrem Kopf und er entschuldigte sich für die späte Störung, aber die anderen Kommander wären schon in ihren Quartieren und sie noch unterwegs. Außerdem bekräftige er May könne wohl ehr etwas ausrichten, da die beiden Yamamotos zu ihren Freunden gehörten. »Ich komme.«, antwortete May und senkte den Arm wieder. »Ich muss noch etwas erledigen. Es gibt wohl Probleme bei Sor.« »Wird es lange dauern?« »Ich weiß nicht genau. Besser du gehst schon schlafen, ich komme dann nach.« »Zu Befehl Kommander. Bett aufwärmen! Wird erledigt!« May boxte wieder in seine Seite und ließ ihn, nicht ohne Kuss, auf dem Quartierdeck aussteigen.
Ohne seine weiche Schulter und vollständig auf ihren Beinen stehend, setzte sie ihre Reise zur Promenade fort, wo Sor sie schon ungewohnt vor dem Lokal erwartete. »Die Beiden sind seltsam. Ich habe versucht mit ihnen zu reden, aber sie rühren nur abwesend in den Getränken herum.«, erklärte der selbsternannte Lokalist. Suki und Shizuka saßen an zwei Tischen, die nicht weiter von einander entfernt hätten stehen können. Ansonsten war das Lokal komplett menschenleer. Da die jüngere Schwester am Nächsten saß und man ihr Problem bereits, nach der kleinen Konferenz vor einigen Stunden, vermuten konnte, setzte sich May einfach dazu.
Der Tee vor ihr war längst kalt und der Löffel hüpfte und rotierte unaufhörlich klimpernd in der Tasse herum. Auf May reagierte sie gar nicht. Erst als May den Löffel mit ihren Kräften im Gefäß fixierte schaute das Mädchen hoch. »Als ich meinte du könntest mit uns Reden, war das ernst gemeint.« »Das ist so typisch. Von allen Superkräften der Welt bekomme ich die Sinnloseste.«, stellte Shizuka gleich ihr Problem ohne Umschweife vor. May war bereits klar worauf das hinauslaufen würde und fasste einen Plan. Sie bestellte bei Sor einen Apfel und hakte nach: »Sinnlos?« »Ich kann freihändig den Boden wischen und meinen Tee umrühren. Klasse!« »Was habe ich gesagt, was du tun sollst?« »Meine Kräfte kennen lernen!« »Und?« »Tee umrühren geht. Zum Bodenwischen habe ich jetzt keine Lust.« May schüttelte den Kopf, während Sor wie bestellt einen Apfel auf einem kleinen Teller servierte.
»Du hast gerade einmal zwei von bestimmt hundert verschiedenen Möglichkeiten gefunden, wie du deine Kräfte einsetzen kannst.« May biss in den Apfel und Shizuka legte nach: »Ich könnte Pools reinigen und Verstopfungen in Toiletten lösen.« »Das wären dann vier Möglichkeiten!« »Das ist nicht witzig.« »Nein, ist es nicht. Wir haben dir gesagt du musst verantwortungsvoll mit deinen Kräften umgehen.« »Rühre ich meinen Tee zu schnell um? So besser?« Die Rotation des schon seit einiger Zeit wieder in der Tasse klimpernden Löffels nahm sichtlich ab. »Du bringst uns alle in Gefahr und bist gefährlich!« »Bin ich nicht.« Gerade als das Mädchen ausholen und die kurze impulsive Antwort mit weiteren Worten verlängern wollte, rammte May den Apfel mittig auf die Tasse. Der Löffel stach ins angebissene Innere und der Rand der Tasse schien mit dem Apfel eine neue Kontur zu bilden.
»Verbinde dich mit dem Wasser in dem Apfel und zieh es heraus.« Shizuka schaute erst fragend zu ihrem Gegenüber. Erst als May noch einmal ein bestimmendes Nicken zeigte, tat sie, wie ihr befohlen. Bereits wenige Sekunden später wuchs eine Kugel aus Wasser in der Luft über der Tasse, die durch einen Sog, wie durch einen Strohhalm weiter gefüllt wurde. Der Apfel wurde kleiner, dunkler und schrumpeliger und fiel nur wegen dem Löffel nicht in die Tasse. »Und jetzt?« »Jetzt wieder zurück in den Apfel damit.« Shizuka versuchte es sichtlich, aber es gelang ihr nicht. Das Einzige was sie erreichte, war die zerbrechenden Apfelreste in den Tee stürzen zu lassen. »Das geht nicht.« »Und jetzt stell dir vor das wäre kein Apfel gewesen, sondern ein Mensch!« Shizukas Augen weiteten sich. Abermals war es May, die einer etwaigen Antwort vorgriff: »Stell dir vor das wäre Neela gewesen und du hättest im Schlaf ungewollt deine Kräfte aktiviert.«
Jetzt war das Entsetzen in ihrem Gesicht komplett. »Darum sollst du lernen es zu kontrollieren. Wasser ist nicht nur in Tee. Wasser ist Leben. Du kannst Oasen in der Wüste erschaffen oder sie vernichten. Du kannst das Meer teilen um Menschen zu retten, oder es über sie hinein brechen lassen, um sie zu vernichten und jetzt erzähl mir nicht deine Kraft wäre sinnlos. Du musst über die Teetasse hinaus denken und schauen, was du für ein Mensch sein willst. Dazu musst du deine wahren Kräfte kennen.« Der Blick von Shizuka zeigte deutlich, wie die Informationen ein neues Bild der von ihr als sinnlos abgestempelten Kräfte warfen. May erhob sich und setzte sich auf der anderen Seite des Lokals an den Tisch von Suki, die ebenfalls auf eine kalte Teetasse starrte.
Ihre Freundin bemerkte May ebenfalls nicht. May schaute sie genau an. Sie wollte es ihrer Schwester gleich tun und den Löffel tanzen lassen. Der Kommander verband sich mit der Luft und gab dem Löffel einen kleinen Stups. Das Aufschnappen von Sukis Augen zeigte deutlich, worauf sie bisher vergeblich gewartet hatte. Immer wilder und wilder drehte sich der Löffel, bis Suki hoch erfreut zu May blickte und erkannte, wer hier das eigentliche Wunder verbrachte. »Man, lass das! Das ist wichtig.« »Du hast keine Superkräfte.« »Meine Schwester hat welche.« »Du aber nicht.« »Was macht dich da so sicher?« »Tins Scanner.« »Und wenn der Fehlerhaft ist?« »Das kann natürlich sein, aber es ist dennoch unwahrscheinlich.«
»Warum kann ich nicht auch einmal etwas besonderes sein?« »Du bist besonders! Und du hast besondere Kräfte.« »Was? Erde? Luft? Feuer?« »Nicht so eine Kraft.« »Du bringst Menschen zum Lachen. Du verbindest sie.« »Clownskräfte. Na toll.« »Die Menschen sehen zu dir auf. Du bist ein Vorbild.« Suki war für einen Moment starr. »Klar, Suki ist ein Vorbild. Für Unfähigkeit? Für immer knapp daneben liegen? Wem sollte ich da ein Vorbild sein. Nenne mir auch nur eine Person, für die ich jemals ein Vorbild war.« »May Chong!«, antwortete May schnell und kurz. Sukis Gesichtszüge entgleisten, wie schon lange nicht mehr: »Du?« »Ja!« »Nur damit ich das richtig verstehe. Suki Yamamoto war ein Vorbild für May Chong?« »Sie ist es immer noch.«
»Wieso?« »Du hast ein Gespür für Menschen. Du weisst wie sie ticken und kannst sie mit wenigen Worten motivieren und mitreißen. Du bist offen für andere Menschen und knüpfst schnell Freundschaften und fügst Gruppen zusammen. Ich konnte sowas noch nie. Dafür braucht es keine neue Superkraft. Nur den Normalo Suki, den alle sofort in ihr Herz schließen.« Suki dachte deutlich sichtbar über die Worte nach. »Ihr Yamamotos seit schon ein seltsames Volk. Die einen finden ihre Kräfte doof und die anderen beschweren sich, weil sie keine haben. Jetzt schnapp dir deine Schwester und dann ab ins Bett. Sor denkt schon darüber nach kaltgewordenen Tee auf die Karte zu setzen.«
»May kannst du mal herüberkommen?« Der kleine Kommander hatte mal wieder das Büro auf dem Kommandodeck besetzt und saugte Informationen in sich auf. »Was gibt es?«, richtete sie sich direkt an die Bittstellerin Sab. »Ich habe hier eine Orakelnachricht aus der ich nicht schlau werde. May + 3 und Koordinaten in Chicago.« Sab sagte nichts, aber ihre Stimmlage verriet allzu deutlich den Unmut, den die mehr oder weniger verschlüsselten Nachrichten aus der Zukunft in ihr erzeugte.
»Ist doch eindeutig.«, lächelte May. »Ist es?«, mischte nun sich auch Trish in das Gespräch ein. »Jaque stelle Manta X bereit und informiere Tori, Shizuka und Jiyai. Sie sollen sich in Hangar 3 für eine Mission melden.« »Du willst die Mädchen mit auf eine Mission nehmen?«, war Sab mehr als nur erstaunt. Erneut verbreitete sich ein Unterton im Raum, der eigentlich nur fragte »Warum Jiyai?« »Keine Sorge. Sie schafft das!« May war schneller im Lift, als Sab reagieren konnte.
»Ja, die Kleinen werden so schnell erwachsen.«, lachte Trish und Sab war länger sprachlos, als es ihr lieb war. Kaum im Hangar angekommen, bekundete Jiyai gerade sie glaube auch es wäre nur ein Test. Shizuka hatte wohl gerade mal wieder ihre Abneigung von Prüfungen geäußert. »Es ist keine Prüfung. Wir fliegen einen Einsatz. Anweisung vom Orakel. Tori fliegt. Alles einsteigen.« »Ein richtiger Einsatz?«, war nun auch Jiyai unsicher. »Keine Panik. Das Orakel hat uns vier benannt. Ihr seit sowieso bereit. Das wird keine Raumschlacht. Heute werden wir direkt Menschenleben retten. Als Team!«
Die Mädchen setzten sich zögerlich auf das untere Bett. Tori bekam von Sab die Zielkoordinaten zusammen mit einigen weiteren Informationen direkt an seine Steuerkonsole: »Es ist ein Feuer im Willis Tower.« »Ihr schluckt jetzt alle erstmal zwei Pillen aus eurem Vorrat.«, ordnete May an und nahm selbst zwei der kleinen unscheinbaren Tabletten. Der Himmel über Chicago war grau und dunkel. Die Straßen unter ihnen glitzerten und zeugten von einem Regenguss, der aber schon eine Weile vorbei war. Das Ziel lag unverkennbar vor ihnen. Dunkle Schwaden stiegen von dem Gebäude empor. Es wirkte als wäre das trübe Wetter erst durch den Brand erschaffen worden und die dunklen Wolken über der Stadt würden direkt dort oben hinter den verrauchten Fenstern hergestellt.
»Tori wir parken den Manta über dem Ziel und springen ab. Ich hoffe ihr habt fliegen geübt?« Die Mädchen nickten. »Können wir nicht die Torpedos zum Löschen nutzen?«, war Shizuka unsicher. »Nein, da sind noch vereinzelt Menschen drin. Die Druckwellen der Vakuumtorpedos würden alles im Gebäude in Geschosse verwandeln und sie verletzen.« Tori gesellte sich nach hinten und drückte den Türschalter. »Wo ist deine Tarnung?« »Ich denke es wird Zeit die Katze aus dem Sack zu lassen. Nach diesem Einsatz würde mich sowieso jeder in dem Anzug vermuten, weil ich so oft mit euch abhänge.« »Gute Entscheidung. Jiyai?«
»Meinen Eltern würde sowieso niemand glauben und einen Fernseher haben sie nicht.« »Alles klar. Bleibt konzentriert. Hier geht es um echte Menschen. Absprung.« Die Vier sprangen aus dem Heck des Mantas und stürzten in die Tiefe. Einige Presse und Rettungshubschrauber waren in der Luft und kreisten über dem Hochhaus. Etwa in der Mitte stachen heiße Flammen aus den geborstenen Fenstern. Weiter oben und unten konnte man sehen wie das Feuer weitere Stockwerke einforderte. »Tori und Shizuka halten das Feuer in Schach. Jiyai evakuiert das Dach. Ich suche das Innere des Gebäudes nach Menschen ab.« Tori und May verschwanden direkt im Gebäude, während die beiden neuen Piloten noch unsicher in 200 Metern Höhe parkten und sich erst zögerlich in Bewegung setzten.
Shizuka setzte auf dem Boden auf und schaute sich um. Feuerwehrwagen, die offensichtlich Wasser an Bord hatten, standen ungenutzt auf der Straße. »Drehen sie das Wasser auf.«, wies das Mädchen mit der Sonnenbrille an. »Die Pumpen der Wagen schaffen die Höhe nicht. Selbst wenn wir die Schläuche nach Oben bekommen. Wir müssen die Feuerlöschsysteme im Gebäude reaktivieren, aber es gab einen Rohrbruch. Das Wasser erreicht nicht einmal mehr das Stadtviertel. Ohne die externe Wasserzufuhr haben wir keine Chance.«, deutete einer der Männer an, der das Geschehen kontrollierte. »Ich bin die Pumpe. Drehen sie das Wasser auf.« Zögerlich gab er die Anweisung an seine Leute weiter. Shizuka hob ab und holte tief Luft. Das Wasser schoss mit großem Druck aus den Wagen auf die Straße. Die Neu-Joluh verband sich mit dem Wasserschwall aus den verschiedenen Quellen. Wie durch einen unsichtbaren Schlauch schoss das Wasser an dem Mädchen vorbei in dem Himmel, teilte sich wieder und drückte auf zwei Seiten durch zerstörte Fenster direkt in die Flammen.
Jiyai zählte auf den verschiedenen Ebenen der Dächer bereits über 40 Menschen, die es nicht mehr durch die Treppenhäuser nach unten geschafft hatten. Sie überlegte und konzentrierte sich. Dreck aus den schmutzigen Rauchschwaden zog auf sie zu und erschuf an der gläsernen Wand eine feste Plattform, die sie mit ebenso flüchtigen Wänden versah. »Alles in den Lift!«, rief sie laut über das oberste Dach. Unsicher betraten die ersten Menschen voller Angst vor dem Feuer die dreckige Plattform, die sich vor ihren Augen aus dem nichts gebildet hatte. Jiyai schwebte darüber und alle Blicke der Insassen waren auf sie gerichtet. Dann sauste die nun an vier Seiten geschlossene Kiste wie ein Stationsfahrstuhl in die Tiefe. Etwas über Bodenhöhe bremste der ungewöhnliche Lift ab und kam im Erdgeschoss zum Stillstand, wo er in Staubform zerfiel und nach oben abgesaugt wurde.
Tori versuchte die Flammen zu vernichten, aber das Gebäude war zu verwinkelt als das er es hätte komplett erfassen können. Er hatte viel trainiert, aber die Situation überstieg seine aktuellen Fähigkeiten deutlich. Das Gebäude in einen Eisberg zu verwandeln war keine Option. May hatte das gleiche Problem. Sie zog einige Personen aus den verrauchten Etagen, aber komplett löschen konnte sie das Feuer nicht. Dafür war die brennende Fläche zu groß und ein Abschnüren der kompletten Luft würde eventuell Menschen im Inneren in Gefahr bringen. Shizuka kämpfte mit den Wasserstrahlen gegen die Flammen und unterstützte ihre Kollegen beim Durchsuchen so gut es ging mit ihren Wasserwerfern, als der Wasserstrom plötzlich versiegte. Sie hatte das Wasser aufgebraucht und die Rohrleitungen, die eigentlich hätten Wasser direkt aus dem Boden liefern sollen, waren ohne Inhalt, wie ihr die Feuerwehrmannschaft bereits erklärt hatte.
»Was mache ich nun? Denk nach! Nicht wieder alles vermasseln.« Als die in die verspiegelte Fassade blickte sah sie die dunklen Wolken über ihrem Kopf. »Das wird interessant.« Sie schoss nach oben und streckte ihre Arme aus. Wie von May gelernt vergrößerte sie ihre Kontaktfläche, um den Berührungspunkt mit ihrem Element zu verbessern. Sie fühlte der in ihrem Element enthaltenen Feuchtigkeit entlang in den Himmel, bis sie die Wolken erreichte, die kleine Tropfen Wasser speicherten. Aus der Luftfeuchtigkeit wurde ein Rinnsal, ein Bach und schließlich ein fester Wasserstrahl, den sie teilte und nach unten lenkte. Es sah aus als hätte sie einen gigantischen fliegenden Feuerwehrwagen im Himmel angezapft.
»Hat sie gerade die Wolken angezapft?« Trish war beeindruckt von dem was sie da auf dem Fernsehsender sahen. Die Ray Team Satelliten waren durch die selben dichten Wolken verdeckt, die Shizuka jetzt nutzte, um das Feuer zu bekämpfen. So waren die Medien und Menschen, die mit ihren Kameras das Geschehen filmten ihre Augen und Ohren. »Der Lift von Jiyai war aber auch nicht schlecht.«, versuchte Sab ihren Schützling ebenfalls hervorzuheben. Trish schmunzelte. Ihre Kollegin hatte sich in den letzten Jahren mehr als deutlich verändert. Zwar versuchte sie trotz der gestiegenen Freundlichkeit immer noch ihre eigentlichen Gefühle zu verstecken, aber all zu oft sank dieser Vorhang, wenn es um Jiyai ging. Dieses Mädchen hatte eine Wand durchbrochen, die Sab nicht mehr ganz zu schließen vermochte, egal wie sehr sie sich auch anstrengte.
»Die Dächer sind frei.«, vermeldete Jiyai nachdem sie die Menschen in mehreren Durchgängen auf den Ebenen aufgesammelt und am Boden abgesetzt hatte. »Das Zeug brennt wie Teufel.«, fühlte sich auch Shizuka zu einer Meldung verpflichtet. »Durchhalten. Sobald wir alle Menschen evakuiert haben, können wir den Manta einsetzen.« »Die Feuerwehrtruppe ist wieder fast unten und hat ihre Suche abgeschlossen.«, erklärte Tori, der noch immer den Funk der Einsatzkräfte mit Hilfe des Mantas abhörte. »Wir sollten die unteren Stockwerke trotzdem noch prüfen. Oberhalb des Feuers ist alles klar.«, merkte May an und begann gleich damit weiter unten in das riesige Gebäude vorzudringen.
Direkt unter Shizuka sprang jemand schreiend aus einem der brennenden Stockwerke. Das Mädchen erschrak als sie die Flammen an seinem Körper sah, reagierte aber schnell. Der Wasserstrahl der nur wenige Meter über seinem Fenster die Flammen bekämpfte teilte sich und schoss in die Tiefe, wo er den fallenden Mann kurz komplett mit dem kalten Nass einhüllte. Wie auf einer Wasserrutsche sauste er in kleinen Spiralen in die Tiefe und landete direkt neben einem Krankenwagen in einer der abgesperrten Straßen, die von Rettungskräften und Schaulustigen überflutet war.
»May an Tori. Ruf den Manta ich bin gleich fertig mit den unteren Stockwerken.« »Verstanden.« Der Pilot aktivierte die optische Steuerung und reduzierte seine Superkräfte, um sich auf den Flug zu konzentrieren. Einzig Flammen unter seinen Füßen hielten ihn weiter in der Luft. Mit einem lauten Schrei schoss der Manta über die Stadt und begann mit dem Beschuss der Fassade. Die Torpedos drangen bis in den Kern vor, detonierten und sogen den Sauerstoff komplett ein, bevor eine Druckwelle in umgekehrter Richtung ihren Weg in die Freiheit suchte. Weitere Torpedos sogen die Trümmer wieder an und wiederholten die Prozedur mit weniger Energie, um Personenschäden und Zerstörungen an den umliegenden Stadtteilen zu verhindern.
Größere Trümmerteile, die es trotz aller Vorsicht in die Freiheit schafften, wurden von Jiyai, May und Shizuka mit ihren Elementen zurück in die gelöschten Etagen geworfen. »Shizuka an Tori. Die Sprinkleranlage im Gebäude funktioniert–« »Shizuka? May da stimmt etwas nicht.« Jiyai sah wie das Mädchen ungebremst in die Tiefe stürzte. Die Menschen in der Umgebung schrien bei dem Anblick laut auf. Mit einer riesigen, aus staubiger, vom Feuer verdreckter Luft geformten, Hand fing Jiyai ihre Freundin auf. Sie war schon länger nicht mehr nur eine Kollegin, die nur den gleichen Unterricht besuchte. Trotz ihres Altersunterschieds hatten sie schon viel private Zeit miteinander verbracht. Sanft legte die gigantische Hand das Mädchen auf dem Boden ab. Als Jiyai selbst neben ihr landete rappelte sich Shizuka bereits verwirrt in eine sitzende Position. »Du warst kurz ohnmächtig. Wie fühlst du dich?« »Etwas schlapp. Meine Kräfte. Sie sind weg!« »Jiyai an May und Tori. Es geht ihr gut.« Die junge Arztanwärterin reichte dem deutlich älteren Mädchen ihre Hand und zog sie auf die Beine.
May und Tori landeten mehr oder weniger lautlos auf der Straße. Lediglich die Flammen an Toris Extremitäten fauchten beim Verzehr des Sauerstoffs wieder wie eine Lötlampe aus dem Baumarkt. »Alles ok, aber meine Kräfte sind weg.« May schmunzelte. »Das gibt sich.« Erst jetzt bemerkten sie die Pfiffe und Jubel in den Seitenstraßen. Die vier Helden wurden von den Menschen um sie herum gefeiert. Nicht nur im Umkreis des Gebäudes, sondern auf der ganzen Welt, wo die Menschen ihre Heldentat via Fernsehen und Internet mehr oder weniger in Echtzeit verfolgen konnten, waren Begeisterungsstürme zu hören. »Fliegen wir zum Manta und verschwinden von hier.« »Ich kann nicht mehr fliegen. Es geht nicht.« »Überlass das mir. Ok?«, beruhigte May ihre Kollegin und holte gleichsam die Erlaubnis ein, sie greifen zu dürfen.
Langsam und mit ein paar letzten prüfenden Runden um das schwer beschädigte Haus, setzte sich der kleine Trupp in Bewegung, bis sie am Manta ankamen, der hoch über der Stadt in den nicht mehr ganz so dichten und dunklen Wolken parkte. Shizuka fiel gleich auf das Bett und kippte nach hinten. »Alles ok?«, fragte May nach, während Tori den Pilotensitz einnahm und Jiyai die Luke schloss. »Tut mir leid.« »Was tut dir leid?« »Ich kann einfach nichts richtig machen.« »Kannst du nicht?« Shizuka warf einen fragenden Blick zurück. »Waren wir gerade auf der gleichen Mission?« May legte eine Pause ein bevor sie ihren Monolog fortsetzte: »Du hast Wolken angezapft! Wolken! Das war unglaublich.« »Ich brauchte Wasser.«
»Genau das habe ich gemeint als ich gesagt habe ihr sollt euch mit euren Kräften vertraut machen. Das war brillant. Du hattest ein Problem und hast es perfekt gelöst.« »Schau mich doch an. Ich kann nicht einmal mehr gerade stehen.« »Und das wundert dich? So wie ich das sehe, hättest du auch aufgeben können, um dich zu schonen. Du hast dich anders entschieden. Du hast dein Leben nicht über das anderer Menschen gestellt.« »Hätte Jiyai mich nicht aufgefangen, dann wäre ich jetzt–« Sie brach den Satz ab. »Darum sind wir als Team losgezogen. Als Team ist man für einander da und gleicht die Schwächen anderer aus. Jiyai konnte das Feuer nicht wirksam löschen. Du schon. Sie war wachsam und konzentriert. Darum war sie da und konnte dich auffangen. Das war nur ein Beispiel für gute Teamarbeit. Ihr könnt alle stolz auf euch sein.«
»Wo willst du hin?« »Hangar 3« »Ah, ok. Ich sage den Chongs Bescheid und fliege nach Tokio um Shizukas Eltern zu holen.« »Wieso das denn?«, war Sab irritiert. »Elternnachmittag auf dem Hangardeck dachte ich?«, lächelte Trish. Sab drehte sich schweigend wieder um und setzte sich wieder an ihren Platz, wo sie fast schützend ihre Teetasse griff und einen großen Schluck nahm. »Du hattest heute mehr Überwachung als andere Eltern in einem ganzen Jahr. Auf der Erde gehen die Kinder morgens aus dem Haus und die Eltern können erst wieder beruhigt sein, wenn ihre Liebsten Abends im Bett liegen. Keine Schutzschilde, keine Überwachung aus dem All, durch das Fernsehen oder durch Drohnen.« »Ja, angekommen.«, grummelte Sab.
»Da wären wir! Alles aussteigen!«, vermeldete Tori und Jiyai drückte die Heckklappe wieder auf. May zog Shizuka auf die Beine, die selbst erstaunt war, nicht mehr so wackelig zu sein. »Das sind die Pillen. Ich habe vorher immer für Stunden bewusstlos in der Ecke gelegen.« Shizuka lächelte bei der Vorstellung und folgte den anderen in die Halle, in der schon Suki wartete und nicht sehr freundlich drein schaute. »Du rufst jetzt sofort Zuhause an. Mama und Papa sind krank vor Sorge.« Tori und Jiyai verschwanden schnell und unauffällig aus dem Hangar. »Das wird ungemütlich. Gut das wir da raus sind.«, warf Tori seiner deutlich jüngeren Mitstreiterin zu, als sie außer Hörweite waren.
Er kannte Suki zu gut und auch wenn er ihr Freund war, hätte er nicht die leiseste Chance sie jetzt zu besänftigen, auch wenn er keine Ahnung hatte, warum sie gerade dabei war zu explodieren. »Wieso das denn?« »Weil sie dich im Fernsehen gesehen haben, du Gurke!«, blaffte ihre Schwester zurück. »Ich hatte doch meine Brille auf. Sie konnten mich gar nicht erkennen.« Shizukas Augen waren weit aufgerissen. Sie hatte ihren Eltern Sorgen bereitet? Schon wieder? »Ich bin zwar kein Experte, aber ich glaube der Groschen ist gefallen als Mama ihr Weihnachtsgeschenk im Fernsehen gesehen hat.« Suki war sichtlich sauer über ihr Verhalten, während ihre Schwester zupfend an ihrem Pullover herunterschaute, den ihre Mutter selbst gemacht hatte. »Die schlafen doch schon. Zeitverschiebung und so.«, versuchte sich das Mädchen mit Fakten zu drücken. »Ernsthaft? Du glaubst sie können schlafen? Los jetzt! Eine sichere Leitung anfordern. Mann!«
»Hey, sei nicht so streng mit ihr. Unser Job ist nicht ungefährlich. Deine Eltern wissen das.«, versuchte May die Wogen zu glätten. »Mit dir bin ich auch noch nicht fertig. Shizuka hat ihre Ausbildung noch gar nicht einmal beendet und du nimmst sie mit auf eine Mission? Stimmt es noch da oben?« Für ihre Verhältnisse hatte Suki sich im Griff. Von den üblen Beleidigungen, die sie sonst schon gerne mal losgelassen hatte, war nichts zu spüren. Dennoch war es ihr ernst. Das zeigte neben der Lautstärke auch der Finger, mit dem sie auf Mays Oberstübchen zielte, deutlich. Sehr ernst. Sie war sauer. »Das war keine Weltraumschlacht, sondern nur eine Rettungsmission auf der Erde.« »Trotzdem.« »Sab hatte keine Probleme Jiyai ziehen zu lassen.« Auch wenn May ahnte welche Strippen Sab auf dem Kommandodeck gezogen haben dürfte, um jede Bewegung ihres Mädchens zu überwachen, hatte sie immerhin keinen Einspruch erhoben, obwohl dazu vor der Mission mehr als genug Zeit gewesen war.
»Du wirst sie nicht noch einmal verlieren.«, spekulierte May auf die wahren Gründe für diesen eigentlich seltsamen Gefühlsausbruch: »Deine Schwester hat ordentlich was auf dem Kasten. Sie kann das. Glaubst du wirklich ich würde absichtlich ihr Leben riskieren?« »Nein.«, war Suki schnell wieder kleinlaut. »Los, ich will hier nicht ewig im Hangar parken.«, lächelte May und stupste ihre Freundin an. »Du solltest stolz auf deine Schwester sein. Sie hat die Wolken angezapft wie einen Wasserspender! Wie cool ist das denn?«, setzte der Kommander noch einen drauf bevor sich die Hangartüren hinter ihnen schlossen.
»Wozu ist das Sofa?«, fragte Shizuka ihre Kolleginnen. »Keine Ahnung. Vielleicht für die Pause?« »Da passen wir aber nie alle drauf!«, warf Meena ein. Gerade als Jiyai ihre Meinung ebenfalls in den Topf werfen wollte, rauschten die Türen auf und Mergy trat mit einem länglichen Koffer durch die Tür.
»Schön, ihr seit pünktlich. Bringen wir es hinter uns.« Mergy schien dieser Unterricht mit den Kadetten anscheinend nicht zu gefallen, was aber nur Jiyai wirklich auffiel. Die Anderen waren schon viel zu aufgeregt. »Ihr habt alle die Tests zu den Handfeuerwaffen gemeistert und auch die praktische Nutzung der verschiedenen Waffen von der Erde und vom Ray Team holographisch bereits in den Simulationen kennengelernt. Heute werdet ihr mit echten Waffen schießen. Die Simulation ist gut, kann aber die Gefahr beim Hantieren mit echten Waffen nicht reproduzieren.«
»Ich hoffe es ist nicht Jiyai. Ich tippe auf Shizuka.«, merkte Sab an. »Meena ist manchmal ziemlich schluderig.«, warf Trish ein. »Ihr seit fies!« »Name!«, blieb Sab hart und forderte auch von May die Benennung eines Kadetten. »Shizuka kommt da ganz nach ihrer Schwester, denke ich.«, gab May missmutig zu Protokoll: »Es ist ja nicht einmal sicher, ob es passiert!« »Laut Programmierung steht das Sofa wieder im Holoraum und es wurde bisher jedesmal benutzt. Entweder durch eigene Schuld oder weil Mergy ein Exempel statuieren wollte. Fakt ist ein Kadett geht zu Boden.«
»Denkt immer daran. Auch wenn unsere Waffen diverse Sicherheitsvorkehrungen besitzen, sind sie weder Spielzeuge, noch ungefährlich. Wie bei den Kampfgleitern kann das Waffensystem auch versehentlich die eigenen Leute treffen und mit den falschen Einstellungen tödlich sein.« Deutlich respektvoller als die Hologramme in den Übungen zuvor, hielten die fünf ihre Waffen wie angewiesen in der Hand. Jeder durfte auf einige Ziele feuern und bekam seine Auswertung durch den Computer präsentiert. Dann ging es der Reihe nach weiter. Nach einigen Zielscheiben, wurden auch kleinere situationsbedingte Übungen abgespult, bei denen die Anwärter schnell eine Entscheidung treffen mussten. Zwischen den holographischen Pappfiguren mit Waffen, waren auch immer wieder Personen mit Baby oder Einkaufstasche.
Wie von Mergy erwartet wurde die Stimmung der Kadetten zunehmend lockerer, bis Shizuka mit einem erstaunten »Oh!«, zu Boden ging. Sie hatte beim Quasseln die Waffe in ihrer Hand komplett vergessen und während ihrer Gesten mehrfach auf ihren Fuß und ihr Bein gezielt. »Genau so etwas habe ich gemeint.«, war Mergy grimmig, obwohl er selbst, unbemerkt von den anderen, die Waffe von Sukis Schwester hatte ferngesteuert abfeuern lassen: »Legt sie auf das Sofa.« Sorgsam legten Song-Hee und Meena ihre Waffen ab, während Jiyai, ganz im Arztmodus, den Puls des Mädchens fühlte: »Sie schläft nur!«
»Ja, aber ihr hätte auch ein Bein fehlen können.«, blieb Mergy seinerseits im Lehrermodus. Er ließ die Kadetten weiter auf die Ziele feuern, was unter deutlich weniger Gerede passierte, als noch Minuten zuvor. Schließlich ließ er sich von Meena ihre Waffe geben und feuerte fast beiläufig eine weitere Metallspitze mit einem, der Betäubung entgegenwirkenden, Medikament auf das tief schlafende Mädchen im Hintergrund ab. Augenblicke später schnellte es hoch und versuchte sich zu orientieren. »Ausgeschlafen?«, blieb Mergy mürrisch, während sich das Mädchen den brummenden Kopf hielt.
Die zweite Unterrichtsstunde verlief ohne weitere Zwischenfälle. Der Schuss bei Shizuka hatte sichtlich gesessen, was schon am deutlich reduzierten Einsatz ihres Mundwerks zu hören war. Die leichten Kopfschmerzen, die als Nebenwirkung immer auftraten, taten wohl ihr übriges. »Gut. Das war es für heute. Waffen abschalten und in den Koffer zurücklegen. Jeong, du solltest noch ein wenig die holographischen Freund/Feind Übungen durchführen. Deine Zielgenauigkeit ist gut, aber wir sollten unbedingt vermeiden auf unschuldige Personen schießen.« »Ja, Kommander.« »Jiyai bleibt noch für einen Moment hier, die anderen können gehen.«
Mergy nahm sich eine der Waffen und feuerte auf die verschiedenen Ziele, die das holographische System präsentierte. Als er sich umdrehte stand nur noch Sabs Ziehtochter mit fragendem Gesichtsausdruck an der virtuellen Schießbude. »Du willst immer noch Ärztin werden?« »Ja!«, war das Mädchen schon fast hart mit ihrer schnellen Antwort und ließ keinen Zweifel daran. Eigentlich war es mehr ein vorwurfsvoller Unterton, weil Mergy, trotz all der Geschehnisse in der Vergangenheit, anscheinend immer noch nicht verstanden hatte, wie sehr sie Menschen helfen wollte.
Der Kommander lächelte: »Ich wollte nur sichergehen.« Ein Lächeln huschte über Jiyais Gesicht. »Wer hat auf der Krankenstation das Sagen, wenn Sandra und der Doc nicht da sind?«, legte er nach ein paar Sekunden stille nach. Wieder feuerte er auf die willd umherschwirrenden Zielscheiben. Jiyai überlegte. »Das Kommandodeck? Also einer der Kommander?«, war Jiyai nun wieder ziemlich unsicher. »Moep!«, ließ Mergy wieder mehr den Spaßvogel raus, als das er wie ein Lehrer wirkte: »Noch eine bessere Idee?« »Nein.« Warum stellte er ihr all die Fragen? War es ein Test? Oder wollte er einfach nur einen Spaß machen? Er war zwar oft lustig und witzig gewesen, aber nie in Bezug auf seine oder ihre Arbeit. »Du!« »Was, ich?« Mergys Mundwinkel wanderten nach oben: »Du hast dann das Kommando auf der Krankenstation.«
Jiyai verarbeitete die neuerlichen Informationen noch, als Mergy seine Ausführungen fortsetzte: »Wenn es um die Gesundheit eines Patienten geht, hat das medizinische Personal unabhängig vom Rang das Sagen.« Das Mädchen sah ihn erstaunt an. »Der Doc hat mich sogar einmal betäubt und mit einem Konferenzraumstuhl zurück auf die Krankenstation gerollt, weil ich mich seinen Anweisungen widersetzt habe. Ich glaube er hat ein Blasrohr dafür benutzt.«, übertrieb der Kommander. Davon hatte Jiyai noch nie etwas gehört. Der Doc war sonst immer so ruhig und ausgeglichen.
»Morgen geht es zum Air Race, oder?«, wechselte Mergy scheinbar erneut das Thema. »Ja, wir sind schon richtig gespannt, wie es dort ablaufen wird.« »Du vertrittst dort, stellvertretend für das Kommando, das gesamte Ray Team und ich erwarte weder Pannen noch jedwede Skandale.« »Natürlich« Das Mädchen zog ihre Augenbrauen fragend zur Nase hinunter. Wieso sagte er ihr das? Sie hatte sich nie etwas zu Schulden kommen lassen und war immer vorbildlich gewesen. Wenn dem nicht so wäre, hätte Sab bestimmt etwas gesagt.
Der bewaffnete Kommander bemerkte ihren fragenden Blick. »Warte! Der Doc hat es dir nicht gesagt?« »Was gesagt?« »So etwas! Eigentlich bin ich immer derjenige, der ein wenig vergesslich ist.«, grinste Mergy: »Du wirst die Truppe anführen. Du hast das Kommando!« »Ich?« »Ja, du musst lernen dich durchzusetzen. Egal was die Anderen in der Truppe sagen. Du warst der beste Pilot auf der Tafel und damit bist du der Anführer. Deine Kollegen hatten ihre Chance.« »Was ist mit May und dir?« Mergy konnte deutlich sehen, wie das Unbehagen in der jungen Dame aufstieg und sie nach einem Ausweg forschte. »Wir fliegen nicht mit. Ich für meinen Teil verbringe das Wochenende lieber mit meiner Familie und May macht sich sowieso nicht viel aus dem ganzen Trubel um ihre Person.« Mergy lachte als er den nachdenklich besorgten Blick seiner kleinen Kollegin sah: »Aus der Nummer kommst du nicht mehr heraus.« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter: »Wir würden dir diese Aufgabe nicht zuteilen, wenn wir nicht sicher wären, du könntest sie auch meistern.«
Mergy legte die Waffe zurück in den Koffer und verschloss ihn. Als er sich mit dem Koffer in der Hand wieder zur Anwärterin umdrehte, stand ihr blanke Angst ins Gesicht geschrieben. »Hey, so schlimm wird es nicht werden.« »Ich – Ich hab Angst.« »Jeder hat vor etwas Angst.«, lächelte Mergy sie an und legte viel Ruhe und Gefühl in seine Stimme: »Aber sich diese Angst gegenüber Anderen einzugestehen, wie du es gerade getan hast, macht dich mutiger als die meisten Menschen.« Mergy legte seine freie Hand auf ihre Schulter und machte durch sanftes Schieben deutlich, sie würden beide den großen Raum nun verlassen.
»Du sollst keinen Krieg mit Aliens anfangen, sondern nur dafür sorgen das niemand aus der Reihe tanzt. Da du an der Kommandositzung nicht teilgenommen hast, haben wir dir alle wichtigen Informationen zusammengefasst und auf deinen Terminal geschickt. Du bist doch Experte im Babysitten. Diese Babys sind nur deutlich größer und haben Kampfgleiter.«, lachte Mergy und zauberte ein leichtes Lächeln auf ihr Gesicht. »Mach ihnen vor dem Abflug klar, was Sache ist. Drohe damit sie nach Hause zu schicken, wenn sie Mist bauen. Das wird helfen.« Immer noch von der warmen Hand geführt verließen sie die Ballerbude, wie Mergy das Programm gerne nannte. Draußen warteten schon vier Piloten geduldig in Tenniskleidung und mit Schlägern ausgerüstet. Wenn der kleine Bildschirm neben der Tür nicht den Kommander als aktuellen Nutzer angezeigt hätte, wären sie wahrscheinlich dennoch lautstark in die Holositzung gestürmt und hätten ihr Recht eingefordert.
»Tut mir leid, ich hab noch ein wenig herumgeballert und die Zeit vergessen.«, kommentierte Mergy die Verzögerung im Zeitplan der Holoraumnutzung. Bereits vor dem Eingang des Sors trennten sich ihre Wege. Während Jiyai die Krankenstation schon gewohnheitsmäßig ansteuerte, machte Mergy sich auf den Weg in den oberen Teil des zentralen Turms, wo er schon freudig erwartet wurde. »Was?«, war Mergy gespielt unsicher, während er den Waffenkoffer in den Wandschrank schob. »Wer brauchte das Sofa?«, sprang nun auch May, angefixt von dem kleinen Wettspiel, auf den Zug auf. »Ihr habt schon wieder gewettet? Wie kann man nur so tief sinken. Von Sab hatte ich das erwartet, aber Trish? Du auch?« »Sag schon!«, muffelte Sab von der Seite, während Mergy bereits das Büro ansteuerte. »Schaut mal unter den Tassenwärmer!«, gab Mergy noch fast beiläufig von sich und verschwand im Büro.
Noch bevor Sab reagieren konnte, hatte May schon die Tasse in der Hand und hob die schwarze Platte mit der Anderen vom Tisch. Ein Zettel kam zum Vorschein, den May mangels freier Hände nicht greifen konnte. Sab schnappte ihn sich und faltete ihn auseinander. Auf dem Zettel stand »Shizuka«.
Mühsam schleppte May sich aus dem Bett. Obwohl sie ruhig geschlafen hatte, was ihr Nim mehrfach bestätigte, war sie immer noch müde. Das ging jetzt schon ein paar Wochen so. Sie drehte die Dusche auf kalt um ihren Geist neu zu starten. Nim hinter ihr brachte dieses plötzliche Vorgehen, und der damit verbundene Schwall kalten Wassers, ungewollt zum Aufschreien. Sie hatte diese Träume. War es überhaupt ein Traum gewesen? Sie sah eine Münze die langsam rotierte. Das war schon alles. Wenn sie dabei nicht schon schlafen würde, würde dieser langweilige Traum sie umnieten, wie eines dieser alten Kinderschlaflieder.
Mit Nim an ihrer Seite schlenderte sie ins Sors und ließ sich das Frühstück liefern. Es war ein gewöhnlicher Morgen. Nicht zum ersten Mal beneidete sie alle, die so früh schon so aktiv sein konnten. Während sie sich beim Essen umsah, bemerkte sie, es ging nicht allen so. Shizuka lag mit dem Kopf auf dem Tisch. May schmunzelte. Das kannte sie zu gut von ihrer älteren Schwester. Mehr als einmal hatten Suki die anderen Piloten dabei mit Ketchup und anderen Saucen das Gesicht verziert. Jiyai sah auch nicht wirklich fit aus, während die anderen Jünglinge das pure Leben darstellten. Dann fiel ihr Blick auf Tori, der auf das Meer der Dunkelheit vor dem Fenster sah.
Der kleine Kommander spulte gedanklich zurück und stellte fest, dass er schon seit ihrem Eintreffen dort stand. Ob es Probleme mit Suki gab? May löste sich von ihrem Freund und dem halben Bagel auf ihrem Teller und näherte sich ihm langsam. »Hey, Tori! Alles in Ordnung?« Tori reagierte nicht. May stupste ihn an, aber er starrte weiter nach draußen in die Sterne. Die Erde war auf der anderen Seite. Es gab eigentlich gar nichts zu sehen als die beiden Ringe der Station und das Schwarz des Alls mit seinen Sternen. Sorge breitete sich in May aus. War etwas mit ihrer Freundin? Eigentlich konnte das nicht sein. Das Kommando würde sie informieren, wenn dem so wäre! Oder taten sie es gerade nicht um ihre jüngere Kollegin zu schonen?
Ein kalter Schauer der Angst lief ihr den Rücken herunter. »Tori!« Als er immer noch nicht reagierte, drehte sie ihn gewaltsam zu sich. Sein Blick war starr und sein Kopf drehte sich gleich wieder zum Fenster. May schüttelte ihn jetzt wirklich von Angst erfüllt. »Was ist los? Ist etwas mit Suki?« Sie konnte nicht erkennen ob es die neuerlichen Worte oder der Name seiner Freundin war, aber jetzt taute er auf und sah sie erstmals richtig an. »Was ist mit dir los?«, fragte May ihn erneut. »Nichts, wieso?« »Weil du hier seit mindestens einer Viertelstunde regungslos aus dem Fenster siehst.« »Nein, ich bin doch erst gerade hereingekommen.« Sabs Stimme erklang über dem Lokal und rief Tori zu seiner Gleiterschicht. Die Tonlage ließ keinen Zweifel daran. Er war spät dran. Verwunderung machte sich in seinem Gesicht breit. »May an Sab. Tori ist nicht diensttauglich. Ich schickte ihn zum Doc.« Tori starrte sie an, als sie ihren Arm wieder vom Mund nahm. Erst jetzt verstand er: Sie meinte es ernst.
»Du gehst jetzt zum Doc und lässt dich ordentlich durchchecken, danach kommst du wieder her.« Tori nickte und machte sich unsicher auf den Weg. »Geht es ihm gut?«, fragte Shizuka, die zumindest wieder ein wenig munter erschien und wie schon so oft mit dem Stift auf einem Terminal malte. Zeichnen war ihr Hobby. May hatte in ihrem Quartier eine Staffelei und eine imposante Fotoausrüstung gesehen. Sie hatte keine bestimmte Richtung. Mal zeichnete sie Menschen und Mangafiguren, mal Teile der Station oder gar die Station selbst. Schmunzelnd erinnerte sich May an das zwei Meter breite Gemälde von Ray Team One. Nicht nur die Größe hatte sie beeindruckt, sondern die Details und perfekten Proportionen. Jetzt hing es in der großen Eingangshalle der NASA. Als Mergy zusammen mit einer Stiftung auf der Erde eine Auktion zugunsten behinderter Kinder veranstaltet hatte und nach Objekten suchte, hatte sie von sich aus einige ihrer Bilder hergegeben. Mergy war nicht weniger begeistert, als er das große Bild zum ersten Mal sah und hätte es am Liebsten in seinem Büro aufgehängt.
Ihr älterer Kommander–Freund hatte schon recht. Es gab auf der Erde so viele ungenutzte und unerkannte Talente, nur weil diese Menschen durch ihre Lebensumstände nie die Möglichkeit hatten sich auszuprobieren. 250000 Dollar brachte alleine dieses eine Bild ein. May hatte keine Vorstellung ob das viel war. Klar die Zahl war groß, aber ihr fehlten die Vergleichswerte. Sie spickte auf das Tablett und erstarrte. Das Bild war nicht fertig und mehr eine Strichzeichnung. Es war eine Münze. Das alleine hätte ein Zufall sein können, aber das Symbol darauf entsprach fast genau dem Bild in ihrem alten Buch. »Was ist das?« »Keine Ahnung. Davon träume ich immer.«, erklärte das Mädchen. May wich die Farbe aus dem Gesicht. Der wackelige Kommander zog sich einen freien Stuhl heran, um sich darauf fallen zu lassen. »Geht es dir nicht gut?«, fragte Jiyai, die schon wieder im Doktormodus zu sein schien.
Shizuka legte den Stift beiseite und das Tablett auf den Tisch, während sie sich jetzt selbst intensiv auf May konzentrierte. »Soll das eine Münze sein?«, fragte Meena, die jetzt das Bild zum ersten Mal sehen konnte. »Ich habe von sowas geträumt.«, sprang Jiyai auf den Zug auf: »Aber die Münze war anders.« »Sie war anders?«, fragte May erstaunt. »Ja, diese wellige Linie gab es nicht, dafür war eine gerade hinter dem Männchen.« »Erde«, schoss es May durch den Kopf. Shizuka hatte ihr Element, das Wasser, gezeichnet. Sie versuchte ihren eigenen Traum in Erinnerung zu rufen, aber mehr als eine blanke Münze war nicht zu erkennen. Als Tori zurück in den schon fast leeren Saal kam, erkundigte sich Jiyai nach dem Ergebnis. Laut dem Doc war alles in Ordnung.
Wortlos hielt der kleine Kommander ihm das Tablett mit dem Bild hin und er erstarrte: »Das hab ich schon mal gesehen. Ich weiß aber nicht wo.« »In einem Traum vielleicht?«, platzte es aus Shizuka und das erstaunte Gesicht von Tori sprach Bände: »Ja! Ja, genau ich hab davon geträumt, aber woher weist du das? Die Linie war aber anders. Ungleichmäßig gezackt oder so.« »Feuer!«, stellte May ohne Umschweife die Zackenlinie in den richtigen Kontext. »Wieso träumen wir von den selben Dingen? Wie ist so etwas überhaupt möglich?«, war auch die junge Ärztin schon wieder sehr wissenschaftlich. »Wegen diesem Joluh? Jeder träumt von seiner Kraft. Das ist doch komisch.«, war auch Shizuka nicht weniger neugierig eine Antwort zu finden. Ihr raubten die Träume schließlich auch den Schlaf.
»Es ist da draußen!« Tori stand schon wieder am Fenster und driftete davon. »Tori, was ist da draußen?«, wurde May wieder energischer. »Die Antworten.« May wollte gerade nachhaken, als Sabs Stimme unfreundlich in ihrem Kopf erklang und wissen wollte, was die Sache mit Tori auf sich hatte. Der Doc hätte jedenfalls nichts gefunden. »Tori ist nicht einsatzfähig. Es hat wohl mit seinen – mit unseren – Fähigkeiten zu tun. Setze um 10 Uhr eine Stationssitzung an. Wir haben da etwas zu klären.« Sab wollte Einwände vorbringen, aber Mays Beharrlichkeit war genauso ungewöhnlich wie die Bitte um eine außerplanmäßige Stationssitzung. Sie fügte sich den Wünschen. »Ich erwarte euch beide auch um 10 Uhr auf dem Kommandodeck. Bringt Tori mit. Er ist – naja – etwas abgelenkt.« Jiyai und Shizuka staunten nicht schlecht. Eben sollte es noch ein normaler Tag werden und jetzt mussten sie sich auf dem Kommandodeck melden.
Der junge Kommander wollte sich wieder Nim zuwenden, aber der Tisch war bereits leer. Sor hatte ihn schon gereinigt und ihr Freund war verschwunden. Sie ließ sich ihren Kampfgleiter bereitstellen und schoss damit ins All hinaus. Am Rand des Sonnensystems stellte sie den Antrieb und die Hauptschilde ab. Mit geschlossenen Augen versuchte sie zu fühlen, was Tori fühlte. Erst die eingehenden Worte von Solange rüttelten sie aus ihrem meditativen Zustand. Die Mystery hatte auf ihrem Rundflug das kleine Schiff entdeckt und erkundigte sich ob May Hilfe benötigte. May murmelte nur etwas von einem speziellen Test und winkte ab. Sie spürte rein gar nichts. War das alles nur Zufall? Warum Tori? Wieso diese Träume?
Es gab nur einen Weg das herauszufinden. Sie hatte ihren kleinen Plan schon vorbereitet. Jetzt musste sie nur ihre Kollegen von dem Ganzen überzeugen und diese Aufgabe war wohl schwieriger als die verschlafende Joluh Gruppe konzentriert und wach zu halten. Auf dem Weg zum Kommandodeck machte sie noch einen Abstecher zu ihren Eltern. Nach Schlafstörungen und sich drehenden Münzen gefragt, hatte sie ihre volle Aufmerksamkeit. Ihre Mutter hatte den gleichen Traum wie die Anderen, wie May. Allerdings konnte sie das Bild auf der Münze zeichnen. Es gab keine Linie wie bei den anderen. Einfach nur die stilisierte Figur eines Menschen. Klar, wie sollte man sonst die Luft auch bildlich darstellen? Einzelne Wellenlinien wie in Comics vielleicht, aber auch auf Nachfrage, beteuerte ihre Mutter nichts dergleichen gesehen zu haben.
Als May auf dem Kommandodeck eintraf, drucksten sich die anderen Piloten verunsichert vor dem zweiten Lift. Naja, Tori wurde eigentlich nur von Shizuka am Hosenbund zurückgehalten, damit er nicht gleich über das Deck zum großen Fenster durchstürmte. »Da rein. Setzt euch auf die Plätze auf der rechten Seite.«, merkte May an. Die anderen Kommander blickten fragend drein, aber May ignorierte sie erst einmal und gesellte sich zu ihren ebenfalls mit Superkräften ausgestatteten Kollegen in den Konferenzraum. Der Doc betrat wie so oft als letzter Teilnehmer den bisher nie so voll gewesenen Raum und setzte sich. Offensichtlich hatte Jiyai sich bei ihm für die Sitzung abgemeldet, denn ihre Anwesenheit war für ihn deutlich sichtbar keine Überraschung. Tori sah wieder abwesend über das Kommandodeck und durch zwei Schichten Glas hinweg aus dem Fenster.
Sab übernahm, wie gewohnt das Wort und reichte es dann direkt an May weiter, die von den Träumen, den Symbolen, dem Buch und Toris neuen Kompass ähnlichen Fähigkeiten, denn obwohl sich die Station schon deutlich weiter gedreht hatte, war seine Richtung immer noch auf einen bestimmten Punkt im All gerichtet. May hatte schon versucht das Ziel seiner Wünsche genauer zu lokalisieren, aber mehr als eine grobe Richtung war schon aus einem Fingerzeig nicht zu bekommen, zumal eine minimale Abweichung am Ausgangspunkt zu einer Abweichung von einigen Millionen und mehr Kilometern im All führen würde.
»Ich nehme an du willst losfliegen und herausfinden, was Tori da so fasziniert?«, nahm Mergy ihren eigentlichen Wunsch vorweg. »Ja, ich möchte mit den Dreien danach suchen.« »Deine Schlussfolgerung ist logisch und ich verstehe, warum du herausfinden willst, wieso dich die Träume schlecht schlafen lassen.« May setzte einen fragenden Blick auf. Von den Träumen hatte sie erzählt, aber von den Nebenwirkungen war ihr kein Wort über die Lippen gegangen. »Was ist? Uns ist der Morgens immer schläfrige Kommander durchaus aufgefallen.«, schmunzelte ihr väterlicher Freund und May erinnerte sich an die diversen Erkundigungen ihrer Kollegen. »Es ist nur logisch, dass ich auch mitkomme!« »Du? – Nein! – Auf keinen Fall.«, pustete May raus.
Mergy lächelte, als hätte er diese Reaktion, wenn auch in weniger harter Version, schon erwartet. Sie war für ihn wie ein offenes Buch und jetzt wurde ihr diese manchmal unschöne und unpraktische Tatsache abermals bewusst. »Das hab ich mir schon gedacht. Ich bin in diesem Fall auch nur Plan B.« »Warum soll noch jemand mitfliegen? Das Ganze geht doch nur uns etwas an.« »Nicht so ganz. Das Kommando, also auch du, trägt die Verantwortung für eine solche Mission. Was passiert, wenn ihr plötzlich alle so dreinschaut wie Tori und Draken auftauchen oder ihr auf einen Planeten, eine Sonne oder was auch immer zufliegt? Du hast deine Kollegen im Griff, soviel verstehe ich, aber wer hat dich unter Kontrolle, wenn es euch allesamt erwischt?«
Daran hatte der kleine Kommander gar nicht gedacht. Tori war wie eine Motte, die das Licht suchte und wenn ihre anderen Joluhfreunde auch von diesem Verhalten infiziert würden, dann wäre die Situation mehr als nur gefährlich. »Was ist Plan A?«, fragte sie einsichtig. »Plan C wäre dein Vater. Plan A ist Nim. Deine Entscheidung.« »Nim?« Wieso schlug er ausgerechnet Nim vor? Gab es nicht schon genug Ärger wegen angeblicher Bevorzugung? »Wieso Nim?«, stellte sie die Frage laut.
»Nim ist, neben den genannten Personen, der einzige Mensch, dem ich zutraue alles menschenmögliche zu unternehmen, um dich zu schützen. Er hat schon öfter gezeigt, wie er dich in deinem Innersten berühren kann, wo wir kläglich versagt haben. Entweder er, oder ihr bleibt auf der Station und wir sitzen es aus.« May war irritiert. So dachte er also über Nim? Aber er hatte recht.
Ihr Freund hatte sich schon gegen sie gestellt, um sie zu schützen und ohne die Konsequenzen zu scheuen, die eine derartige Aktion mit sich bringen könnte. Er würde bedingungslos sein eigenes Leben über das Ihre stellen, obwohl ihr das gar nicht recht war. »Einverstanden.« May fiel es nicht leicht einen Aufpasser mitzunehmen, aber Mergy hatte recht. Sollten alle an Bord dieses Verhalten annehmen, dann musste jemand da sein, der sie entweder zur Vernunft oder sicher nach Hause brachte.
»Nim hat die erweiterte medizinische Ausbildung genossen?«, stellte Trish eine weitere, für die Mission nicht weniger wichtige, Frage. Wenn Jiyai vom selben Effekt befallen würde wie Tori, dann hätten sie keinen echten Mediziner dabei. May hatte zwar auch die nötigen medizinischen Kenntnisse, aber eben auch die gleichen Probleme wie Jiyai, wenn ihre Träume die Kontrolle übernehmen würden. May selbst schaute nun fragend zum Doc hinüber. »Ja, er war einer der ersten Kadetten, die an den Kursen teilgenommen haben.«, bestätigte der Doc.
Davon hatte May keine Ahnung. Er hatte ihr damals auf dem Planeten der Seem den AutoDoc angelegt, aber sie hatte nie darüber nachgedacht, ob er auch eine vollständige Ausbildung gemacht hatte. Natürlich hätte sie sich jederzeit die Personaldaten von Nim einsehen können, aber damit hätte sie eine Grenze überschritten, die sie nicht gewillt war auch nur anzutasten. Es waren genau genommen die einzigen Daten, die sie nie angetastet hatte.
»Ihr solltet Manta X nehmen. Die beiden Betten und die Nasszelle sind ja noch drin. Ich denke da ist genug Platz für zwei weitere Betten. Oder was denkst du Tin?« Zum ersten Mal waren auch die anderen Kommander eingebunden und man diskutierte die kleine Mission aus. Es gab zwar Bedenken seitens Trish und Sab, aber ihnen war klar, wenn dieser Sog der Tori erfasst hatte, auch auf die anderen Missionsteilnehmer übergreifen würde, wären zwei weitere Piloten und einer der amtierenden Kommander nicht mehr einsatztauglich. Das abwesende Bild von Tori am Tischende sprach Bände. Es wurden noch einige Details geklärt, wie die geplante Reisedauer und die regelmäßigen Meldungen beim Team. Abschließend fragte Sab noch einmal in die Runde, ob es sonst noch Fragen gab und Jiyai meldete sich durch Heben der Hand.
»Wir brauchen aber noch ein zusätzliches Bett! Wir sind fünf, nicht vier.«, warf sie ein und erntete ein doch recht unhöfliches wirkendes Lachen der anderen Personen am Tisch. Mergy fand als erstes freundliche und erklärende Worte: »Ich denke May und Nim werden sich da arrangieren.« Jiyais Augen schnappten auf, als sie verstand, welches Detail sie an dem Plan übersehen hatte. »Aber es ist gut zu sehen, dass wenigstens einer von euch den Überblick behalten und aufmerksam zugehört hat.« Das junge Mädchen lächelte verlegen. Einerseits wegen dem netten Kompliment, andererseits wegen ihrem dummen kleinen Denkfehler.
Die Zusammenkunft wurde aufgelöst und alle Parteien machten sich an die Arbeit ihre Koffer zu packen. Trish zitierte Nim, Suki und Neela zurück auf die Station, während Sab sich bei ihrer Ziehtochter einfand und aufkommende Fragen beim Kofferpacken beantwortete. Suki bekam den Auftrag selbiges bei Tori zu machen, der mehr als nur konfus bei der Sache war und immer wieder in sein Wohnzimmer entschwand, um aus dem Fenster zu starren. Mergy beorderte Nim auf direktem Weg ins Kontrollzentrum. Hastig stürme er in das Büro: »Ist etwas mit May passiert?« Mergy schmunzelte. Der Pilot hätte May direkt nach seiner Ankunft oder sogar schon aus dem Kampfgleiter heraus anfunken können, aber er wollte nicht wie ein ängstliches Anhängsel auf die anderen Kommander und vor allen Dingen auf Mergy wirken. Dazu waren ihm seine Auftritte bei Mays Entführung und später bei ihrem außerplanmäßig langen Testflug mit der Vanquist im Nachhinein betrachtet doch zu peinlich gewesen.
»Mit May ist alles gut. Setz dich!«, erklärte Mergy und berichtete von den Vorgängen an diesem Morgen, von der geplanten Reise und von seiner speziellen Aufgabe. Nim war sichtlich unsicher. Er sollte sich bei Bedarf gegen seine Freundin stellen? »Es geht nur um den Notfall. Du bist ihr Anker. Egal was auch passiert, sie wird sich auf deine Seite stellen und dich verteidigen. Es wird sie wach halten. Eine Zombie-May kann ich auf so einer Mission nicht gebrauchen.« »Zombie?« »Vielleicht etwas übertrieben, aber Tori war heute in der Tat etwa so anwesend wie ein Zombie. Er hatte ein Ziel vor Augen und war zu keinem klaren Gedanken fähig. Sobald er das Weltall sieht, schaltet er einfach ab. Jemand muss die Kontrolle haben, wenn unsere Joluhfreunde einfach abschalten. Stell dir vier Menschen in einem Manta vor, die nichts anderes mehr machen als aus dem Fenster starren, während sie geradeaus weiter fliegen.«
Ohne das es von Mergy beabsichtigt worden war, bekam die Metapher »Anker« plötzlich einen bildlichen Sinn. »Ich werde die Sache auch mit May besprechen. Wenn du das Kommando übernimmst, dann muss sie sich fügen.« »Und wenn nicht?« »Wenn sie klar bei Verstand ist, wird sie es tun. Falls nicht, bist du der einzige Mensch im Manta, der sie aus der Starre holen kann. Sie respektiert dich mehr als jeden anderen Menschen und würde dir nie ein Leid zufügen. Aber wenn du diese Aufgabe nicht übernehmen willst, dann kann ich das natürlich verstehen.«
»Nein, ich mache das. Es ist wichtig für May. Ich sehe ja wie schlecht sie jeden Morgen aussieht. Eigentlich dachte ich diese Phase hätten wir ein für alle Mal hinter uns. Wann geht es los?« »Abflug ist für 15 Uhr vorgesehen, sofern nicht noch etwas dazwischen kommt.« »Gut, dann gehe ich jetzt mal packen.« Nim erhob sich und marschierte zögerlich zur Tür. »Hey.« Nim drehte sich noch einmal um, als Mergy ihn ansprach: »Passen sie gut auf meine Leute auf, Pilot!« Nim lächelte ob der distanziert professionellen Anrede: »Ja, Sir!«
Mergy setzte auch May in Kenntnis. Nim hatte nun offiziell die Befugnis dem Ganzen ein Ende zu bereiten. In Hangar Drei wurde es richtig voll, als die Uhr in Richtung 15 Uhr marschierte. Tin und Grabbler prüfen die letzten Änderungen am Fluggerät. Der kleine Tisch war verschwunden. Dafür gab es jetzt auf der linken Seite auch ein Doppelstockbett und vorne waren fünf, wie auf einem Würfel angeordnete, Sitzplätze. Mays Eltern standen, wieder einmal besorgt um ihr Mädchen, in der Menge. Reiko sah von den Schlafproblemen ebenfalls gezeichnet auch sehr Müde aus. May nahm beide Elternteile in den Arm: »Wir finden eine Lösung. Versprochen.« »Pass lieber auf dich auf.«, war ihr Vater wie immer nicht weniger besorgt um das Wohlergehen seiner Tochter. »Nim, ist ja dabei.« Jin lächelte und sah zu ihrem Freund hinüber, der eine intensive Unterhaltung mit Mergy führte.
»Bist du sicher das du mitfliegen willst?«, war auch Sab nicht wohl dabei ihre Ziehtochter ziehen zu lassen. Es wurde ihr erst jetzt schmerzlich bewusst. Beide waren bisher nie wirklich voneinander getrennt gewesen. »Es geht um unsere Kräfte. Vielleicht können wir herausfinden, wie sie funktionieren? Wie man sie ausschaltet oder bei anderen Menschen aktiviert?« Sie klang so erwachsen und voller Zuversicht, was in Sab das ungewohnte gefühlt von Stolz hervorrief. Der Doc hatte weitere Tests mit allen Vieren gemacht, aber konnte keine Ursache oder Veränderung ausmachen. Alle Argumentation war vergebens. Die Lösung lag, wie May schon vermutet hatte, da draußen im All.
Der Zustand von Tori hatte sich in den wenigen Stunden vor dem Abflug noch verschlimmert. Er verließ den Zombiemodus nun gar nicht mehr und schien jetzt auch durch Wände hindurch sein Ziel zu finden, was Suki den Abschied nur noch schwerer machte. Hilflos stand sie zusammen mit Neela und Shizuka neben ihm. Suki wollte für ihren Tori da sein, sich kümmern. Sie war schließlich seine Freundin, aber er reagierte nicht mehr auf sie. Die Bandbreite ihrer Gefühle übermannte sie. Dicke Tränen tropften auf den Boden. Mergy legte ihr eine Hand auf die Schulter: »Das wird schon wieder!« »Ich will mitfliegen! Alle anderen fliegen mit.« Mergy konnte sich vorstellen, wie sie sich fühlte. Ihr Freund, ihre Schwester und ihre beste Freundin würden sie gleich verlassen und sie mit all den Fragen und Ungewissheiten zurücklassen. »Das geht nicht.«
»Nim darf auch mit.«, schaute sie Mergy mit verträntem und zittrigem Blick an. Mergy zog seine Pilotin an sich und drückte sie fest. »Ich mache mir auch Sorgen um die Fünf.«, erklärte er: »Nims Begleitung habe ich angeordnet. Er sorgt für ihre Sicherheit.« Sanft löste er sich aus der Umarmung und rückte sie in Position: »Mir gefällt es auch nicht, aber es geht um ihre Kräfte. Vielleicht finden sie eine Antwort auf all die Fragen, die sie so lange beschäftigen. Ich denke diese Chance haben sie verdient, oder meinst du nicht?« Suki nickte stumm und schloss ihre Schwester noch einmal in die Arme. »In spätestens 72 Stunden sind sie wieder hier. Dafür wird Nim sorgen.« Zögerlich begab sich die fünf Personen starke Besatzung an Bord. Trish ermahnte vom Kommandodeck noch einmal zur Vorsicht und gab den Flug frei. Sanft hob der Manta ab und ließ ihre Freunde und Verwandte auf dem schlagartig deutlich leerer wirkenden Hangardeck zurück.
May steuerte auf die grobe Richtung zu, in die Tori gedeutet hatte und machte einen Sprung in den Unterraum, in dem sie sich langsam bewegten. Tori reagierte mehr suchend als normal. Er schien durch das wabernde Rot die Orientierung verloren zu haben. Den Zombimodus, wie Mergy ihn genannt hatte, verließ er aber trotzdem nicht. Unbemerkt von Nim und den anderen deaktivierte May alle Signalfeuer und Dataports des Mantas und der Ausrüstung. Unterraumtarnung und die optische Tarnung wurden von ihr aktiviert.
Das Raumschiff leitete jetzt nicht einmal mehr etwaige eingehende Nachrichten an die implantierten Chips der Besatzung weiter. May kannte Mergy. Er würde hinter ihnen her schnüffeln. Diese Art von Geheimnissen gefiel ihm. Da war er nicht viel anders als Nim. So jedenfalls konnte er sie nicht mehr lokalisieren. Weder mit den eingebauten Sendern, noch durch die Satelliten, die im Sonnensystem schwebten, waren sie aufzufinden. Ein kleiner Scan prüfte den Manta auf ausgehende Signale. Es gab keine mehr. Sie waren unsichtbar und unauffindbar, solange sie es wollten.
Am Rand des Sonnensystems verließ May den Unterraum und stoppte. Sofort hatte Tori wieder eine Richtung, der May folgte. Er mochte eine ungenaue Quelle sein, aber sie war die Einzige, die sie hatten. Wenn Tori von Zeit zu Zeit neue Richtungsangaben machen konnte, egal ob bewusst oder unbewusst, dann würde man das Ziel sehr einfach und schnell finden. Auf den Unterraum verzichtete May weiterhin, weil Tori darin keine Orientierung zu haben schien. So jedenfalls brachte sie jeder Meter nach vorne auch ziemlich genau einen Meter näher an das Ziel.
Nim bot an zu fliegen, damit sich die anderen Piloten hinlegen konnten. May war unsicher, als er das Angebot unterbreitete. Sie brauchte einige Momente, um es zu kapieren. Ihr Freund stand wirklich auf ihrer Seite und handelte nur als Teil der Besatzung. Er war ausgeschlafen und voll einsatzfähig, was man von keinem der anderen Missionsteilnehmer behaupten konnte. May legte sich auf ihr Bett und dachte nach. »Ich will dem Ganzen nicht im Weg stehen. Wenn mir eine Entscheidung nicht gefällt und ich plane das Kommando an mich zu reißen, dann würde ich es vorher warnend ankündigen.«, hatte ihr Freund gesagt.
Offensichtlich hatte Nim sich über seine Aufgabe mehr Gedanken gemacht, als es May selbst bewusst war. Er könnte jederzeit aktiv werden und den Manta nach Hause beordern. Was würde sie dann machen? Machte es überhaupt Sinn darüber nachzudenken? Schließlich würde sie niemals ihre Freunde in Gefahr bringen. Zumindest nicht absichtlich. Und wenn sie nicht klar im Kopf wäre, dann könnte sie wohl auch nicht mit Nim argumentieren. So gesehen war sie jetzt froh ihn dabei zu haben.
»Das ist falsch! Das ist falsch!«, hallte es durch den Manta und die drei Piloten in den Kojen schreckten auf. Tori schüttelte und hampelte in seinem Bett herum. Nim hatte seinen Sitz bereits verlassen und versuchte ihn zu beruhigen. »Flieg eine kleine Schleife, mal sehen was passiert. Aber langsam!«, kommandierte May. Nim gehorchte ohne Widerspruch und sprang zurück auf seinen Sitz, um die befohlene Wende einzuleiten. Tori wurde ruhiger, nur um wenige Augenblicke später wieder lauter zu werden. »Ich nehme an ich soll auf die Stille zufliegen?«, fragte Nim von vorne. May musste grinsen. Diese Umschreibung war sowohl passend, als auch stilvoll. »Genau!« Nim beschleunigte und May setzte sich auf den rechten Sitz und studierte die Sensoren: »Jupiter?« »Sieht auf den ersten Blick so aus, aber ich glaube wir fliegen knapp daran vorbei.« Wieder hörte man ein Lautes »Nein!« aus dem Lärmnavi. Nim passte den Kurs abermals an. »Ist das Europa?«, fragte Nim. Für einen Augenblick war May verwirrt. Dann fiel es ihr ein. Der Jupitermond! »Es ist da!«, zeigte plötzlich auch Shizuka erste Anzeichen von übernatürlichen Fähigkeiten, die über das Bändigen von Wasser hinaus gingen.
Tori blieb stumm, aber Shizuka war nun auch fast weggetreten und zeigte auf die einzuschlagende Richtung. Unter ihnen war alles voll Eis. Zerklüftete Formationen formten Berge und Täler. Sie zeugten davon das diese kugelig anmutende unwirtliche Welt im Inneren aktiv war und sich kontinuierlich verformte. »Hier!« meldete die Pilotin, gefolgt von einem »Dahinten!«, als Nim das vermeintliche Ziel überflog. Er wendete und reduzierte die Höhe. »Da ist doch nichts!«, murmelte er. May warf die aktiven Sensoren an, während Nim den Flachdrachen erneut umdrehte und ihn über dem vermeintlichen Ziel zum Stillstand brachte. Es gab nur Eis in allen Formen, Größen und Härtegraden. Ein Mosaik aus zerborstenen und wieder zu einem Stück gefrorenen Eisschollen. Das war alles was die Oberfläche des Mondes zu bieten hatte.
May startete einen Tiefenscan. Da war buchstäblich nichts. Zusammen mit Jiyai schauten sie sich die Resultate an. »Da ist nichts!« »Aber da stimmt etwas nicht.« »Was denn?«, fragte Jiyai unsicher, ob ihre Meinung überhaupt gefragt war. »Naja, es gibt nicht nichts. Entweder da ist ein Gasgemisch oder Vakuum. Aber die Sensoren zeigen nichts an. Als würde der Raum unter dem Eis gar nicht existieren. »Ich starte zwei Sonden!« Es rumpelte leicht unter der vorderen Konsole, dann schossen aus dem Rumpf vor den Pilotensitzen zwei grell gelbe Kugeln, die sofort Daten sendeten. May setzte das Bild zusammen und hob das, was fehlte hervor.
»Das sind gerade Kannten. Naja, nicht exakt gerade, aber auch nicht natürlich.« »Schieße einen Gravitationstorpedo in das Eis. Direkt neben das Nichts. Detonationsrichtung von, was auch immer das ist, weg. Versuchen wir es nicht zu beschädigen.« »Das kann ich nicht garantieren. Das Eis ist sehr dick und die Gravitationswelle wird mit Sicherheit gebrochen und in verschiedenen Richtungen zurück geworfen.«, erwiderte Nim. »Was auch immer da ist, es ist schon ziemlich lange im Eis eingeschlossen. Es wäre ein Wunder, wenn es durch den Druck nicht schon lange beschädigt ist. Die reflektierten Wellen der Torpedos dürften, verglichen mit dem konstanten Druck des massiven Eises, sowieso keinen großen zusätzlichen Schaden anrichten.«
Die frisch replizierten blauen Kugeln schossen aus den kleinen Öffnungen und rammten sich ins Eis. An der Explosion hätte wohl nur ein Crushed-Eis Fabrikant seine Freude gehabt. Der Manta wurde von der abgelenkten Schockwelle und den auf dem Schild auftreffenden Eisbrocken heftig geschüttelt. Neue Bilder von den beiden Sonden und dem Manta trafen ein. Das was oben aus dem Eis schaute war eine etwa 27 Meter breite gebogene Fläche, die an eine Senkrechte anschloss. »Nochmal!«, wies May an und wieder explodierte das Eis. »Das sieht aus wie ein Laib Käse.«, murmelte Jiyai. May drehte sich mit fragendem Blick um.
Jiyai zuckte mit den Schultern: »Ich mag Käse.« »Sie hat recht. Wenn ich die bisherigen Maße zusammenfüge und das Objekt wirklich so weitergeht, dann ist es eine nach außen gewölbte Scheibe mit einem Radius von etwa 300 Metern.« May sah sich das Objekt genauer an. Sie versuchte sich das Ganze vorzustellen und kam nur auf eine Münze, die zu weiten Teilen in einer Eisdecke steckte. »Die Sonden haben etwas am Rand gefunden.«, wurden ihre Gedanken unterbrochen. Nim legte das Bild auf den Bildschirm. Was hatte sie sich gesträubt ihn mitzunehmen und jetzt war er ihr wertvollstes Mitglied. In jeglicher Hinsicht.
Ihn hatte das Fieber der Schatzsuche auch gepackt. Sein Fieber war weniger gefährlich als das ihre, aber dennoch war er hoch motiviert und auf das gemeinsame Ziel fixiert. Es waren Quadrate mit den gleichen Symbolen wie in ihren Träumen. Etwas über einem Meter vom unteren Rand der dicken Scheibe, dessen Oben und Unten man jetzt durch die Bildchen eindeutig zuordnen konnte. In jeweils einem halben Meter Abstand waren Feuer, Wasser, Wind und Erde abgebildet. Links neben dem Feuersymbol war ein etwa drei Meter hohes und etwas breiteres Rechteck zu sehen, welches in der Mitte vertikal unterteilt war. Daneben noch ein kleines Quadrat ohne Symbol.
Der Zustand der beiden Zombies hatte sich nicht weiter verschlechtert. Tori lag ruhig im Bett und Shizuka starrte aus dem Fenster auf das Teilstück der Scheibe, wenn es denn wirklich eine war. May spürte leichte Kopfschmerzen. Sie waren während des Flugs stärker geworden und als sie sich erhob und Jiyai ansah, die sich die Stirn hielt, war es klar. Es war auch kein Zufall. »Unfair, oder? Die bekommen bunte Träume und wir müssen die Arbeit machen und bekommen als Belohnung Kopfschmerzen.« Jiyai lächelte, obwohl sie nicht genau wusste, was sie eigentlich bisher zur Mission beigetragen hatte. »Transportiere mich hinunter. Ich will mir das genau ansehen.«, kommandierte May. »Ist das klug?«, fragte Nim erstmals wieder auf seine eigentliche Mission bedacht nach, ohne sie jedoch aktiv hindern zu wollen. Er musterte sie genau. »Mit den Bildern kommen wir jedenfalls nicht weiter. Ich hab ja einen Körperschild. Senke die Flughöhe und dehne die Mantaschilde zusätzlich über das Objekt.«
Nim folgte den Anweisungen und May erschien auf dem schwarzen Material. Sie betrachtete die Symbole und erfühlte die Oberfläche. Es war nicht kalt, obwohl es im Eis gelegen hatte und auch, bevor die Schilde es mit Sauerstoff einhüllten, schutzlos der Kälte des Alls ausgeliefert war. »Es ist warm.«, merkte May über Funk an. Dann, ohne das Nim reagieren, oder May selbst sich wehren konnte, zwang sie etwas den hauchdünnen Körperschild zu senken, der sie von einer echten Berührung trennte. Wie in Trance kniete sie sich wieder hin und legte ihre ungeschützte Hand auf das Symbol für Wind. Es zuckte durch ihren Körper wie ein Blitz und die eckige Umrandung, wie auch das Symbol im Innern selbst, leuchtete mit einem technischen Surren auf. Sie wäre die etwa zwölf Meter vom Rand der Scheibe auf das massive Eis hinunter gestürzt, wenn der Schild des Mantas nicht eine unsichtbare Wand aufgespannt hätte, der sie einfing.
Der Schild leuchtete vom Berührungsimpuls auf und leitete die Überschussenergie ab. »May!«, hörte sie Nims entsetzte Stimme. »Mir geht es gut. Für einen Moment waren meine Kräfte weg.«, antwortete seine Freundin leicht verwirrt und zögerlich: »Hol´ mich rein.« Noch während sie vom Lichtkegel des Transporters umhüllt war, stand Nim bereits neben ihr. »Geht es dir wirklich gut?« »Ja, sehr gut sogar. Jiyai, prüfe meine Hand und meinen Körper. Ich will nur wissen, ob es Veränderungen gibt.« Nims Gesicht wurde bei diesen Worten nicht weniger besorgt, schließlich hatte seine Freundin gerade eine Diagnose von ihrem eigenen Körper angeordnet.
»Keine Panik. Ich glaube wir müssen nur die Symbole berühren. Meine Kopfschmerzen sind jedenfalls komplett weg.« »Ich kann nichts feststellen, aber das ist auch nur ein Handgerät.« »Warum sollte jemand auch so einen Aufwand betreiben, um uns zu verletzen?« »Ich gehe mit Shizuka wieder runter.«, sagte May und Sekunden später wirbelten sie aus dem Schiff. Der Kommander musste gar nichts machen. Wie sie selbst zuvor, kniete sich Shizuka hin, berührte das Symbol für Wasser, es leuchtete surrend auf und das Mädchen schüttelte sich erschrocken und verwirrt. »Wo bin ich?« Hastig blickte sie um sich. »Du kannst dich nichts erinnern?« »Nein, wir haben Jupiter gesehen und dann –« Sie zögerte sich weiter umschauend. »Dann stand ich hier.« »May an Nim, schick uns Tori.« Jetzt wurde es spannend. Er war derjenige, der am meisten Probleme hatte.
Auf dem Rücken liegend landete er auf der gebogenen Fläche unbekannter Herkunft. Ohne Verzögerung begann er sich zu orientieren. Erstmalig wirkte er wirklich wie ein Filmzombie. Wie an Schnüren rappelte er sich auf, wackelte ungelenk zu seinem Symbol, kniete sich unsanft hin und und ließ es durch seine Berührung aufleuchten. Benommen und verwirrt um sich schauend war er wieder er selbst. »Willkommen zurück!«, nahm May die Antwort auf die eigentliche Frage gleich vorweg. »Wo bin ich?« »Auf dem Jupitermond Europa. Da wolltest du doch hin, oder? Woran erinnerst du dich?« »Ich wollte frühstücken. Dann warst du da. Ich war beim Doc und dann auf dem Kommandodeck. Suki hab ich auch kurz gesehen. Mehr weis ich nicht.«
»Nim, schick uns Jiyai. Ich denke es ist sicher und wir können auch unsere Ärztin von ihren Schmerzen erlösen.« Jiyai tat es ihren Kollegen gleich. Die Schmerzen waren weg. Sie lächelte erleichtert, als das Pochen in ihrem Schädel mit dem Berühren des Erdsymbol verstummte. »Fliegen wir jetzt wieder zurück, wo wir alle gesund sind?«, fragte das Mädchen unsicher in den nur von den Schilden definierten Raum über dem Eis. Dieses Objekt hatte bisher nur neue Fragen aufgeworfen. Es hatte sie ins All gelockt und es war nur logisch, hier und jetzt weiter zu forschen. Zumindest ahnte der Missionsarzt May würde nicht so einfach zurückkehren ohne die grundlegenden Fragen beantwortet zu bekommen.
May zapte sich noch einmal in den Manta und teilte Ray Team One, mit verringerter Sendeleistung und über einen entfernten Satelliten, um ihre Position nicht zu verraten, die Besserung von Toris Zustand mit und das sie noch etwas untersuchen würden. Weitere oder genauere Angaben zu ihrem Fund machte sie nicht. Nim hob wissend um ihre kleine Lüge eine Augenbraue. Ja, Lügen sah ihr gar nicht ähnlich und dann noch so offensichtlich vor ihm? »Wenn ich ihnen gesagt hätte, was wir gefunden haben, dann währe in wenigen Minuten die Hope mit Tin und Mergy hier und sie würden uns keine ruhige Gelegenheit geben das Ding zu untersuchen.«, erklärte May: »Es hat uns Vier gerufen. Nur uns. Das muss einen Grund haben.«
Nim verstand zu gut, was May diese Entdeckung bedeutete. Sie hatte so oft auf ihrem Sofa das Bild betrachtet und nie eine Lösung gefunden. Jetzt nach all den Jahren gab es den Beweis. Das Symbol hatte sich niemand einfach so ausgedacht. Es war von jemandem auf der Erde gesehen worden und hier, wo außer dem Ray Team nie ein Mensch zuvor gewesen war, tauchte es wieder auf. Sein eigener Entdeckermodus war zu stark ausgeprägt, als das er ihr diesen Wunsch auch nur ansatzweise absprechen konnte. Nim nickte. May lächelte und drückte ihm einen Kuss auf. Nun war er wieder zum Beobachter degradiert.
Shizuka tastete gerade auf den Symbolfeldern herum. Sie konnte nur das Wasser zum Leuchten bringen: »Vielleicht müssen wir alle gleichzeitig drücken?« »Ist bei Videospielen auch immer so.«, stimmte Nim in seiner Kanzel zustimmend, aber wortlos ein. Ohne Hast gruppierten sich die vier an ihren Tasten und erst jetzt machte der große Abstand Sinn. Würde das Objekt nicht hier in der Eiswüste stecken, sondern flach auf seiner Unterseite liegen, so könnten vier Personen bequem davor stehen und die Tasten aktivieren, ohne sich in die Quere zu kommen.
Die Symbole aktivierten sich und erloschen wieder. Sie versuchten alle möglichen Kombinationen. Sowohl was Reihenfolge als auch Position anging. May beschloss eine Pause zu machen und ließ Nim die Truppe wieder in den Manta holen. Wie eine Gruppe Pfadfinder auf Baumstümpfen saßen sie auf ihren Stühlen und mampften die Stullen. »Es ist schon spät und einige hier sind ziemlich übermüdet.«, begann Nim einen Satz, der May schon jetzt nicht gefiel: »Wir sollten alle etwas schlafen und neue Kräfte sammeln. So kommen wir hier nicht weiter.« May sah Nim an. Der letzte Teil des Satzes war weniger schlimm als sie erwartet hatte. Wenn man es genau nahm, war er sogar sinnvoll. Selbst wenn sie die Tür oder das Objekt öffnen konnten, waren sie nur Müde, würden Fehler machen und sich in Gefahr bringen.
»Wo ist die Mystery?«, fragte May ihren Piloten. »Nicht weit. Mit dem Unterraumantrieb in ein paar Sekunden zu erreichen. Wieso?« »Setz den Kurs. Wir übernachten dort und steigen morgen wieder passend aus. Die müssten noch einige freie Kabinen haben, so das wir auch wirklich Nachtruhe bekommen und die Meute Zuhause wird auch erleichtert sein, wenn sie wissen, wo wir sind.« Nim setzte Kurs. Solange fragte unsicher von ihrem Kommandoplatz auf der Brücke des Schlachtschiffes nach, als der Prototyp Manta im All auftauchte, aber May blieb nur vage und berichtete von einer geheimen Mission und das sie einen Platz für die Nacht suchten. Klar hätten sie auch zur Erde springen können, aber dann hätten die anderen sie mit Fragen gelöchert und das neuerliche Geheimnis wäre ohne Frage ans Licht gekommen.
Mit dem Gepäck in der Hand verließen die fünf das kleine Schiff. May versiegelte den Manta. Niemand kam an Bord und niemand würde auf die Daten zugreifen können. Während Shizuka, Tori und Jiyai sich auf den Weg in die bereitgestellten Unterkünfte machten, wanderten May und Nim auf die Brücke, wo sie eine fragend dreinblickende Besatzung empfing. Die beiden Gäste setzten sich in das abgeschottete Büro und ließen sich mit Ray Team One verbinden. May erklärte die Lage und ließ durchklingen, sie würden ihre kleine Reise trotz der schon gefundenen Lösung für das ursprüngliche Problem etwas verlängern und Nim versicherte mehrmals, er habe die Situation unter Kontrolle. Ein Argument, dem selbst Mergy nicht widersprechen konnte, denn statt in dem kleinen Manta ungeschützt im All zu übernachten, hatten sie den sicheren Hafen gewählt, auch wenn diese Idee nicht auf Nims Mist gewachsen war, zeugte sie doch von dem Verantwortungsbewusstsein innerhalb der kleinen Truppe.
Als letzte an diesem Tag gingen auch Nim und seine Freundin ins Bett.
»Vielleicht muss man das andere Feld auch drücken?«, warf Jiyai beim Frühstück in der recht kleinen Kantine ein und deutete auf das kleine Quadrat abseits der anderen Symbole, die May auf dem kleinen Computer darstellte. »Da ist aber keine Superkraft drauf.«, erwiderte Tori recht unhöflich und genervt. Jiyai zuckte zusammen und Tori erntete einen bösen Blick von Shizuka, der die Reaktion nicht entgangen war. »Ich meine ja nur.«, legte er kleinlaut nach. May hatte dieses unscheinbare Element gänzlich vergessen, weil es keine Funktion zu haben schien.
»Das ist es doch!«, lächelte May und erntete vier fragende Blicke. Mergy hatte ihr ohne es zu Wissen schon so oft die Antwort auf genau diese Frage, dieses Puzzles zu Füßen gelegt. Der Kommander selbst hatte bestimmt keine Ahnung, welchen Einfluss er hier, abseits der Erde, gerade hatte. Einerseits hatte er ihm die Superkräfte der Liebe zugeschrieben, andererseits ihn als Person mitgeschickt, der sie im Notfall kontrollieren könne. »Lust dem Außenteam beizuwohnen?«, fragte May nun ihren Freund direkt mit ihrem berühmten schelmischen Grinsen. Nim verschluckte sich.
»Aber er ist keiner von uns.«, blaffte Tori heraus. May blieb gelassen. Immer wieder kam er mit dererlei abwertenden Sprüchen. Einige Sekunden sah sie ihn schweigend und nur regelmäßig zwinkernd an, was alleine schon sichtbar wirkte. Ihr Gegenüber wurde unsicher. »Er ist ein Mensch, also einer von uns.« »Du weißt was ich meine.« »Du meinst er ist kein Mädchen mit Schlitzaugen, so wie du?« May legte bewusst einen Hauch von Rassismus in die Stimme, war am Ende des Satzes aber dennoch akustisch mehr die Zuckerpuppe.
Tori schwieg. Erst jetzt nach all den Monaten, in denen er von den Kräften der Anderen wusste, wurde es ihm selbst bewusst. Er war anders. Er war die eigentliche Minderheit in der Minderheit. »Als Mitglied des Ray Teams sollte es dir eigentlich schon lange klar sein. Es ist egal welche Hautfarbe, Geschlecht, Abstammung oder auch Superkräfte jemand hat. Wer in diesen Schubladen denkt ist einfach nur zu klein, um über den Rand zu sehen.« Eine wohlige Wärme stieg in Nim auf. Da war sie wieder. Das gute Wesen, die Fee in die er sich schon vor Jahren so sehr verliebt hatte und für die er ohne zu zögern zu sterben gewillt war. »Die Schon-Turak haben Milliarden ihrer eigenen Rasse abgeschlachtet, weil sie anders waren. Nur weil sie keine Kräfte hatten mussten sie sterben. Und was hatten sie am Ende davon? Sie waren trotzdem wieder anders und haben sich gegenseitig bekriegt. Willst du das auch für die Menschen?« May formulierte den Satz direkt, hart und unterlegt mit einem gewaltigen Vorwurf.
Die vier Anderen kannten diesen dunklen Teil der Schon-Turak Geschichte nicht. Nim wusste sie kämpften nicht zusammen, seit May ihn über seinen Fehler, beim Versuch ihre Entführung und ihre Albträume zu rächen, aufklärte, aber diesen Grund für ihr Verhalten hätte er sich nie getraut auch nur zu denken. Genozid an der eigenen Rasse. Auf der Erde hatte es auch solche schrecklichen Vorfälle gegeben, aber wenn es einen Krieg der Superkräfte wie bei den Schonor geben würde, dann würden wohl mehr als 99 Prozent der Menschen einfach ausgerottet. Nur weil sie im falschen Körper geboren waren.
»Nein.« Tori war kleinlaut. Weder trotzig noch wütend. Das was den Schon-Turak passiert war, würde auch die Konsequenz für die gesamte Menschheit sein. Zu diesen Menschen gehörten auch seine Freunde und Suki. Ihn hatte ihre asiatische Herkunft nie gestört. Würde er sie mehr lieben, wenn sie Superkräfte wie ihre Schwester hätte? Es würde keinen Unterschied machen. Erst jetzt verstand er, was May ihm schon beim ersten Mal, als er von den Kräften in seinem Inneren erfahren hatte, begreiflich machen wollte. Wenn er jemanden gerne hatte, egal ob mit oder ohne Superkräfte, dann war es auch egal für den Rest der Menschen. Nim war schon so lange an Mays Seite und niemals hatte es auch nur einen Moment gegeben, wo May ihn von oben auf ihn herab sah. Selbst auf dieser Mission, wo er ihr förmlich von Mergy aufgezwungen war, wie Shizuka Tori auf seine Nachfrage hin berichtet hatte, akzeptierte sie ihn trotz des offensichtlichen Fehlens einer Superkraft. Er hatte sich damals schützend über May gelegt und hätte sein Leben gegeben, weil er sie liebte. Den Menschen. Die große Gemeinsamkeit. Den gemeinsamen Nenner. Das Menschsein.
»Versuchen wir es noch einmal?« Nach einem Nicken standen sie auf und setzten ihre Reise im Manta fort. May übernahm das Steuer, prüfte die Sensoren und stoppte noch im Unterraum. »Warum halten wir?«, fragte Nim unsicher und prüfte einige Anzeigen zum technischen Zustand des Mantas. Es gab keinen technischen Grund für den Halt. »Wir haben einen Sender an Bord!«, murrte May und fokussierte die Sensoren auf das Signal. Es kam aus dem Inneren, aber May konnte es nicht genau lokalisieren und musste einige Einstellungen verändern. Der Kommander drehte sich um: »Du!« Hätte der Stuhl keine Lehne gehabt, wäre Shizuka wohl nach hinten auf den Boden gefallen. So erschrocken war sie, als May mit ungehaltenem Blick auf sie zeigte. »Ich?«, war sie unsicher. Was hatte sie getan? May aktivierte ihre Superkräfte und tastete das Mädchen unbemerkt ab, bevor sie aufsprang und noch mehr Angst und Unsicherheit in dem jungen Piloten aufkeimen ließ.
»Ich hab nichts gemacht!«, versicherte Shizuka, während die anderen keine Ahnung hatten, was gerade passierte. May machte sich an ihrem Rollkragen zu schaffen und zupfte etwas aus der Wolle. »Was ist das?«, fragte Jiyai, als sie das pillenförmige Objekt als erstes sah. »Ein Sender.« »Jemand belauscht uns?«, fragte Nim. »Jemand ortet unsere Position.«, erklärte May. »Ich weiß nicht wo das herkommt.« »Hat Mergy dir das befohlen?«, fragte May enttäuscht über ihre fehlende Loyalität und verärgert über das nicht vorhanden sein von Mergys Vertrauen. »Nein, ich hab das noch nie gesehen.« Tränen rannen Shizuka aus den Augen, kullerten die Wangen hinunter und tropften auf ihren Pullover: »Ich weiß nicht wie das da hin kommt.« Plötzlich riss sie ihre verquollenen Augen auf.
Ein Anblick, der selbst May glauben ließ die falsche Person zu verdächtigen, machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Nibbler! Ich dachte er wäre nur freundlich, als er heute morgen meinen Kragen richten wollte. Er steht wohl auf mich.«, war Shizuka wieder etwas gefasster: »Dachte ich zumindest.« »Tut mir leid. Ich hätte erst alle Fakten prüfen sollen, bevor ich dich beschuldigt habe.« Shizuka schniefte und entfernte mit beiden Ärmeln das Wasser aus ihrem Gesicht, obwohl sie diese Reinigung mit ihren Fähigkeiten viel eleganter und unauffälliger hätte machen können.
»Dann wollen wir Mergy mal abstellen.«, war May bereit den Sender zu zerstören. »Nein, warte!«, wurde sie von Nim unterbrochen. »Bist du etwa auf seiner Seite?« »Nein, bin ich nicht! Er hat mich als Aufpasser mitgeschickt. Mit der Wanze zeigt er es doch überdeutlich: Er traut uns allen nicht. Wir sollten das Signal in die falsche Richtung schicken.« »Das geht nicht. Das ist Ray Team Technologie vom Feinsten. Selbst wenn wir den Pullover mit aus dem Fenster werfen, so tun als hätten wir nichts von der Wanze drin gewusst und Mergy damit die Schuld am Verlust der Technologie trägt, bringen wir damit alle in Gefahr.«
»Können wir den Sender nicht in Draken, Seem oder Erdtechnologie nachbauen lassen?«, beteiligte sich erstmals Tori an der Unterhaltung. May gefiel sein Ansatz. Das konnte man schon an ihrem Gesicht erkennen. Sie setzte erst einmal Kurs in die falsche Richtung und baute mehrere kleinere Stopps und Richtungsänderungen ein, damit Mergy die Entdeckung des Spionagewerkzeugs nicht bemerkte. Zwei Repligens bastelten derweil auf dem Boden zwischen den Betten einen kleinen Satelliten. Zeitgleich mit der Aktivierung, zerstörte May die Wanze und sie entließen den Fußball großen Klumpen Technologie direkt im Unterraum. Er verließ die Schilde und verschwand im Normalraum, wo er sich jetzt nur noch linear, aber sehr schnell bewegte.
Nach der ungewollten Unterbrechung dauerte nicht sehr lange und sie standen wieder auf dem schwarzen Element im Eis. »Hey, Nim.«, warf Tori seinem Kollegen zu, der sich gerade zur anderen Seite des vermeintlichen Tores begeben wollte, um seinen Schalter zu betätigen: »Tut mir leid wegen heute Morgen.« Als Zeichen der Entschuldigung reichte er ihm die Hand. Nim ergriff sie: »Geht klar Mann!« »Warum sind die Schalter nur so weit auseinander?«, fragte Jiyai. »Vielleicht soll die Person ohne Superkräfte den Schalter freiwillig drücken?«, erklärte Tori. May schmunzelte. Die neuerlichen Erkenntnisse brachten auch neue Ansichten in ihm hervor. »Möglich! Schließlich deaktivieren die Tasten auf dieser Seite auch unsere Kräfte für einige Momente.«
Die fünf Felder leuchteten auf. Nach etwa drei Sekunden erlosch das Licht wieder langsam, obwohl niemand die Hand vom Symbol genommen hatte. »Es hat nicht funktioniert.«, gab Nim aus der Ferne zu verstehen. »Doch! Etwas ist anders. Es vibriert. Ich kann es spüren.« Deutlich konnte May die Verwirbelungen und Pulse der Luft unter dem Mantaschild erfühlen. Was auch immer das für eine Maschine war, sie erwachte gerade zum Leben. Mit einem nun für alle deutlich hörbaren Rumpeln teilte sich die große Fläche zwischen den beiden Parteien und erlaubte erstmals einen Blick in das Innere. Im ersten Moment war da nur Dunkelheit, aber dann leuchtete eine Fläche als ganzes auf, als wäre sie aus einem gewalzten Glühwürmchen gefertigt, und tauchte den Eingang in warmes gedämpftes Licht.
Dieses Ding war deutlich größer, als die wenigen freigelegten Teile, die aus dem Eis empor ragten. Alleine der Tunnel machte diesen Fakt nur zu deutlich. »Ohne Kletterausrüstung kommen wir da nicht runter.«, merkte Nim an, konnte man doch kaum das Ende sehen. Es war ein langer gerader Gang, der am anderen Ende an einer Tür zu enden schien. Seitlich waren weitere Türen. Zumindest konnte man Öffnungen an den Seiten sehen, die zumindest von der Form her Türen erinnerten. Ein Objekt schien deplatziert an der Wand, die eigentlich der Fußboden sein musste, zu hängen.
Vorsichtig steckte Jiyai am Rand kniend ihre Hand mit einem Messgerät aus ihrer Tasche in die Öffnung und betrachtete die Daten auf der Anzeige. Ein »Hmm« entfuhr ihr und sie klang schon fast wie der Doc in ähnlichen Situationen. May schaute fragend zu ihr hinunter. Als hätte Jiyai ihrem Blick gespürt wendete sie sich zu ihr auf: »Die Luft ist etwas muffig, aber nicht gefährlich.« May hockte sich hin und steckte ihre Hand durch die Öffnung, um das Innere mit ihren Zuckerguss Fähigkeiten zu prüfen. Es funktionierte nicht. Kaum hatte sie ihre Hand zurück gezogen, verwandelte sich ihre Umgebung in die weiße Welt, die sie eigentlich im Innern hatte schaffen wollen. »Unsere Fähigkeiten funktionieren in dem Ding nicht.« »Also auch kein hineinfliegen.«, fügte Tori hinzu.
»Hast du etwas kleines zum Hineinwerfen dabei?«, wendete sich May diesmal direkt an Jiyai, die ihre Arzttasche seit dem Transport wie ein Rettungsring über ihrer Schulter trug. May nahm eine altmodisch wirkende, in Folie verpackte, Verbandsrolle entgegen, hielt sie eine Armlänge über die Öffnung und ließ sie fallen. Sie fiel senkrecht auf das Tor zu, durchquerte die unsichtbare Barriere, die ihre Kräfte abzuschalten schien, hüpfte drei mal an der von ihr aus linken Wand und rollte aus. Keine vier Meter vom Eingang blieb das kleine Objekt an der Seitenwand kleben. May lächelte: »Wir brauchen keine Seile.«
Noch bevor die anderen realisierten, was passierte, sprang May weit in die Öffnung und drehte sich in der Luft, damit ihre Füße in die Richtung zeigten, die laut Ausrichtung der Symbole an der Aussenwand der Boden sein müsste. Nim stockte der Atem. Ihre flachen lila Treter schlitterten einige Meter über den glatten Boden, bevor die Reibung durch ihr Körpergewicht die Überhand gewann und sie in der Hocke stoppte. May richtete sich wieder auf. Von außen sah es aus wie ein ziemlich guter Zaubertrick, bei dem sie an einer senkrechten Wand hoch lief. »Das ist genau wie bei den unteren Türmen auf der Station. Nur nicht fließend.«, erklärte May: »Nim, tarne den Manta und das Gebilde. Ich habe hier schon keinen Kontakt mehr und wir wollen nicht überrascht werden.« Jiyai setzte vorsichtig einen Fuß auf den senkrechten Boden und nahm Mays Hand dankbar an. Die Anderen folgten mehr oder weniger mutig. Schließlich standen sie alle in dem Flur und der Manta schwebte scheinbar senkrecht vor der Tür. Von Innen immer noch sichtbar, da der Tarnschirm auch das seltsame Gebäude umschloss.
Shizuka erschrak als Erste. Mit aufgerissenen Augen stand sie vor dem ursprünglich undefinierbaren Objekt auf dem Boden. Vorher konnten sie es nicht erkennen, jetzt aber war es offensichtlich. Es war ein Skelett. »Von einem Menschen.«, wie Jiyai schon fast zu routiniert bestätigte: »Eine Frau Mitte Zwanzig würde ich sagen. Sie wurde anscheinend mit Gewalt gegen die Wand geschleudert.« Sie bemerkte die Blicke der anderen, die sie erstaunt ansahen: »Was denn? Ich lerne beim Doc nicht nur Pflaster kleben!« May lächelte und klopfte ihr anerkennend auf die Schulter.
Die ersten beiden, sich gegenüberliegenden, Türen hatten Symbole wie die am großen Eingangstor. Fragend sah Tori May an. Augenscheinlich hatte sie wieder deutlich an Respekt gewonnen. May nickte. Ohne weitere Verzögerung öffnete sich die Tür direkt nach dem Drücken des Feuer Symbols. Zeitgleich aktivierte sich das Licht hinter der Pforte. Der Raum war groß und nur an einer Seite leicht gebogen. Das war scheinbar die Außenwand. Es stapelten sich Kisten und Säcke zu Bergen. Sie hatten kein Werkzeug dabei und May ärgerte sich innerlich über die mangelnde Vorbereitung. Eine Kiste ließ sich leicht öffnen, weil der Deckel nur lose aufgelegt war. »Körner?«, fragte Tori, während Nim die kleinen Elemente durch die Finger rieseln ließ. »Saatgut, würde ich sagen.« »Willkommen auf dem seltsamsten Bauernhof jenseits des Jupiters.«, witzelte Tori. May sah in einen Sack, der weitere Samen enthielt.
Dann öffneten sie die gegenüberliegende Tür, deren Schloss laut Symbol nur Jiyai zu öffnen vermochte. Der Inhalt und die Form war identisch, aber es standen noch Krüge, Vasen, Teller und Schalen auf kleinen Regalen. Daneben Werkzeuge zum Anbau. Hacken, Schaufeln und ein großer Pflug, der wohl für zwei Ochsen gedacht war. Die nächsten Türen führten beide auf einen Gang, der der dem Gebilde in Kreisform folgte, wie die Ringe der Ray Team Station. Vorsichtig traten sie an die erste Tür in diesem Gang. Dort waren wieder alle fünf Symbole vereint. Diesmal aber auf einer Seite und senkrecht angeordnet. Das Aktivieren erforderte eine gewisse Ordnung und war recht unpraktisch. Aber die Tür öffnete sich. Eine Person fiel ihnen direkt vor die Füsse, und ließ die kleine Ray Team Truppe zurückschrecken. Anders als die Frau im Flur, war dieser Mann wie aus dem Ei gepellt und sah aus als würde er schlafen. Jiyai fühlte den Puls, merkte aber sofort der Körper war kalt. Er war etwa im Alter von Nim und Tori. Die kleine Ärztin klappte nach dem Scan seine Kleidung hoch und man konnte einen abgebrochenen Holzstab in seiner Brust stecken sehen. Er war durch einen Pfeil verletzt worden und hatte sich in den Raum verzogen, wo er gestorben war.
Erst nach und nach konnten sie sich von der Leiche lösen und erstarrten sofort erneut, als sie in den noch unbekannten Raum blickten. Vor ihnen lagen Schätze. Nicht einfach nur ein paar Kisten, sondern bergeweise Münzen und Kelche, Schmuck und Edelsteine. Es saß aus wie in Ali Babas Höhle. Hatten die anderen Räume noch Bäuerlich gewirkt, so war das hier der Schatzkammer eines Königs würdig. Nim biss in eine der Münzen und zuckte zusammen: »Aus Schokolade sind die jedenfalls nicht.« Niemand traute sich auch nur eines der Objekte an sich zu nehmen. Der Ort wirkte zu Ehrfürchtig auf sie. Hier waren Menschen gestorben. Wo kamen sie her? Wie kamen sie hier her? Hatten sie auch ein Raumschiff? Oder war es der Rest einer Stadt auf dem Jupitermond? Bisher warf die neue Umgebung nur weitere Fragen auf und beantwortete keine. Weitere Räume mit Schätzen und Schriftrollen folgten. Allesamt benötigten fünf Hände um geöffnet zu werden und enthielten Dinge von Wert, die aber nicht wie Werkzeuge und Saatgut zum Überleben dienten. May beschloss zurück zum Hauptkorridor zu gehen und weiter in das Zentrum vorzustoßen.
Als sie den vorherigen Gang erneut betraten, war der Manta hinter dem Tor verschwunden. Es hatte sich wieder geschlossen. Hastig stürmten sie zur beweglichen Wand, wo sie an der Innenseite ein Symbol fanden, welches sie nicht kannten und von dem sie beim Eintreten keine Notiz genommen hatten. Es zeigte alle Symbole vereint auf einem Feld. May tippte auf die Fläche und sofort rumpelten die Türen auseinander und gaben den Blick auf den Manta frei, der immer noch über dem eckigen Loch schwebte. May tippte noch einmal und das Tor schloss sich mit leicht schabenden Geräuschen wieder. Trotz der überwältigenden Funde der letzten Stunde wurden kaum Worte gewechselt. Ehrfürchtiges Schweigen lag über der kleinen Menschenansammlung. Die große Tür am anderen Ende des langen Ganges hatte kein Symbol. Nim verstand sofort und betätigte den einerseits so futuristischen, aber andererseits so simplen Schalter. Das Tor teilte sich in der Mitte und gab den Weg in eine Halle frei.
Wie im alten Rom gab es rings herum Ränge auf denen Menschen sitzen konnten. Eigentlich war es nur eine kreisförmige Treppe mit übergroßen Stufen, die sich, durch vier Gänge im unteren Teil unterbrochen, um den großen Raum wand. In der Mitte gab es ein Pult und der Kreis im Boden deutete bereits an, was man bei einer runden Arena vermuten konnte. Es war frei drehbar. Eine weitere Universaltaste in dem zentralen Podest lud darauf zum Drücken ein. May betätigte den Knopf und aus dem Boden erhoben sich Wände aus Stein und Glas. Der Kommander war sich sicher, es war kein bekanntes Material, sondern etwas komplett anderes. Fünf kleine Kabinen bildeten sich und ohne Absprache fand jeder der Missionsteilnehmer anhand des ins Glas gravierten Symbols einen Platz in seinem persönlichen Raum, der kaum größer war als eine altmodische Telefonzelle auf der Erde. Die kleinen Zellen waren Kreisförmig um das zentrale Podest angeordnet. Der Steinsockel endete etwa auf Kniehöhe und ging fließend, ohne sichtbaren oder fühlbaren Übergang, in Glas über, welches oben geschlossen war und nur einige Schlitze in unerreichbarer Höhe enthielt. Lediglich in der Kabine von Nim befand sich ein größeres, etwa faustgroßes Loch auf Brusthöhe.
Es gab eine kleine Säule in jedem der Räume. Auf dessen Spitze residierte das Feld des jeweiligen Elements. Als hätten sie es schon immer so gemacht, berührten alle fünf die flachen Schalter. Mit einem Rums schnellte auch hinter ihnen eine identische Wand hoch. Was eben noch wie die Kanzel einer Quizsendung im Fernsehen aussah, hatte sich mit der zusätzlichen Wand in eine kleine Gefängniszelle verwandelt, aus der es kein Entrinnen gab. Das Pult im Zentrum der Arena sank in die Tiefe und ein größeres, aber flacheres, aus massiv wirkendem Stein erschien. Es hatte fünf Seiten und noch bevor ihnen das klar wurde, rumpelten ihre Zellen schon zur Raummitte und dockten an das neue Element an, als wäre es eine Raumstation.
In dem etwa tischhohen Verbindungssockel waren zwei Schalen eingearbeitet. Die eine enthielt Wasser, die andere ein Pulver. Parallel zu den beiden Töpfen war ein länglicher, etwa fünf Zentimeter breiter Spalt mit Symbolen in der Platte eingelassen. »Was soll das?«, fragte Tori unsicher. »Ein Test denke ich!«, erwiderte May. »Eine Prüfung?«, war Shizuka nicht begeistert. Diese ganze Lernerei der letzten Monate war ihr schon zu wider gewesen, zumal sie schon offiziell als Pilot anerkannt war. Bis auf May konnten alle ihre besonderen Fähigkeiten wieder nutzen und den Raum im Verbindungstisch erreichen. Jiyai konnte das Pulver durch die Luft wirbeln und Shizuka hatte die Kontrolle über das Wasser vor dem Becken. »Ich denke wir sollen das Pulver in die Mulde streuen. Dann mit dem Feuer einschmelzen und mit Wasser abschrecken.« »Klingt logisch.«, stimmte Nim ein, der sich ziemlich unsinnig vorkam. Tori stimmte ebenfalls zu und sie probierten es. Jiyai nutzte ihre Fähigkeiten und füllte die Mulde in dem Steinsockel gleichmäßig mit dem unbekannten Material. Dann ließ Tori es aufleuchten. Es verflüssigte sich und die goldgelbe Masse verteilte sich auch in den anderen Bereichen der Form. Sie warteten einen Moment, dann führte Shizuka Wasser hinzu und ließ helle weiße Schwaden laut zischend aufsteigen.
Wie durch eine aufspringende Tür spürte May plötzlich die immer noch auf die Löcher im Glas drückende Luft entweichen und schlagartig hatte sie Zugang zur Mitte, während ihren Freunden im gleichen Moment der Weg versperrt wurde. Mit der Luft der Halle umspielte sie das soeben geformte Werkstück und hob es aus der Gussform. An der Unterseite hatte es verschieden lange Stifte wie der Bart bei einem Schlüssel. Der Stab war fast Kreisrund. Lediglich die gegenüber der Stifte gelegene Seite war mehr oval, weil dort nicht die Gussform, sondern die Schwerkraft eine vorgegebene Form des Materials bestimmt hatte. »Ein Schlüssel?«, erkannte Jiyai als erstes, um was es sich handelte. Ja, Mergy hatte recht. Dieses Mädchen hatte eine ungewöhnlich gute Auffassungsgabe und vermochte in Sekunden Muster zu erkennen, wo andere auch nach Stunden nur Wirrwar sahen: »Ich sehe kein Schlüsselloch.« »Ich denke ich brauche den.«, merkte Nim an und steckte seine Finger durch das große Loch in die Mitte. May ließ es durch die Lücke schweben, merkte aber das die Scheibe ihr die Macht auf Nims Seite zu entziehen schien.
Pustend und in den Händen hin und her werfend ließ er es weiter abkühlen. Es passierte aber nichts. »So einfach war es wohl doch nicht.«, merkte Shizuka mit mulmigen Prüfungsgefühlen im Bauch an. Alle sahen sich nach einer Öffnung um, in die das neue Gerät passen könnte. Schließlich fand Nim es unter seinem Schuh. Da wo die Säule mit dem leeren Quadratschalter im Boden verschwunden war, hatte sich ein Loch aufgetan, dessen Form dem Querschnitt des Schlüssels entsprach. Nim kniete sich hin und führte langsam Schlüssel und Schloss zusammen, bis er auf ein Hindernis traf. »Links oder Rechts herum?«, fragte er unsicher nach oben, wo Tori und Jiyai auf ihn hinunter sahen, während den anderen Joluh der Blick in den unteren Teil der Kabine durch die zentrale Säule verwehrt blieb.
»Probier es einfach aus.«, gab Tori zu verstehen. Nim umschloss die Metallstange und drehte sie nach links, weil die meisten Schlösser sich nach links öffneten. Lediglich einige wenige Länder drehten anders herum. Das hatte er über seine Freundin erfahren. Es war schwerer als gedacht. Nur die flachere Seite des Schlüssels bot seiner Hand einen Griff. Die unruhigen Kanten drückten sich tief in das Fleisch seiner Hand. Mit einem Ruck hatte er die Mechanik gelockert und drehte den Stiel ohne Mühe weiter. So plötzlich wie sie gekommen waren, verschwanden die Wände und der zentrale Sockel wieder im Boden und gaben die Gruppe frei. Nur Nim, der sich nach dem Drehen sofort erhoben hatte, um zu sehen was passierte, als das Rumpeln der Wände zu hören war, blieb in seinem Glaskasten gefangen. »Vielleicht war es ja doch rechtsherum.«, merkte er an, doch als er sich hinknien wollte, war der Schlüssel samt Mechanismus ebenfalls im Boden verschwunden.
Die vier Anderen versuchten von außen einen Weg zu finden die Box zu öffnen. Superkräfte gab es nicht und das kleine Loch, durch welches er eben noch den Schlüssel bekommen hatte, war ebenfalls verschwunden. Das so fragil aussehende Bauwerk war robust. Als May mit einem Sprung und einem folgenden, im Kampftraining tausendfach geübten, Fußtritt die Scheibe bearbeitete, wurde das Licht nicht wie bei einem normalen Fenster durch die Schwingungen des Glases gebrochen. Es blieb starr und unbeeindruckt in seinem recheckförmigen Steinfundament verankert. Die Versuche der Vier wurden immer gewalttätiger, aber die Kabine blieb davon weiter unbeeindruckt. Nim saß bereits zehn Minuten in der Kiste fest, als es unter ihm knarzte. Mit einem Geräusch, welches einem japanischen Schwertkampffilm entsprungen sein konnte, bei dem zwei Schwerter mit einem klirrenden metallischem Ton aufeinander trafen, änderte sich der Boden. Wo eben noch der Steinboden, oder was dieses Material auch in Wahrheit war, unter seinen Füßen lag, war es jetzt ein durchgehendes Metallgitter.
»Das gefällt mir gar nicht.«, merkte Nim sichtlich nervös an. Es zischte unter ihm und dann klang es als wäre ein Ballon unter Wasser geplatzt. Er bemerkte die Wärme an seinen Beinen aufsteigen noch bevor das Rot unter dem Rost zu sehen war. »Ich werde hier gegrillt!«, sprach er noch aus, da züngelten kleinere Flammen am Boden, denen Nim nur durch seine Converse Sneakers geschützt, auszuweichen versuchte. Die Aktionen der hilflosen Beobachter wurden immer hastiger. Sie warfen sich gegen eine Wand und versuchten die Zelle umzukippen, aber sie bewegte sich nicht. Mit aufgerissenen Augen legte Nim seine Hand auf die Scheibe und als hätte sie es schon tausendmal so gemacht, legte May ihre auf die andere Seite. Ein Feuerball füllte schlagartig die Kabine komplett aus. Ein Mark erschütternder Schrei von Nim erfüllte von den Rängen reflektierend die große Halle. Die Hand noch auf dem Glas, starrte May auf die gleißend rote Wolke im Inneren, die sich wieder nach unten zurückzog, ohne die gläserne Außenwand auch nur leicht zu erwärmen.
Regungslos standen auch die anderen an den Seiten oder neben ihr. Die Zelle war leer. Auf dem Gitter lagen noch einige graue Aschereste, die langsam, angetrieben von der Schwerkraft, in die Tiefe rieselten. May zitterte. Blinzeln tat sie schon länger nicht mehr. Mit der Hand an der Scheibe sackte sie zusammen. Sie schrie als hätte ihr gerade jemand das Herz herausgerissen. Es war kein bisschen Luft mehr in ihren Lungen, als sie auf dem Boden ankam. Das Zittern war Zuckungen gewichen. Als hätte sie einen epileptischen Anfall kniete sie vor der Wand und starrte auf die Reste ihres Freundes, die langsam durch den Rost verschwanden. Erneut schrie sie und erfüllte die große Halle mit ihrem Schmerz, bevor sie zur Seite kippte und ihre Beine umklammerte, ohne mit den sinnlosen, in alle Richtungen gelenkten, Bewegungen aufzuhören.
Er war weg. Sie versuchte sich an ihn zu erinnern, aber alles was sie sah, war sein entsetztes Gesicht und alles was sie hörte war der nicht weniger entsetzliche Schrei. Sie hatte ihn verloren. Der Mann, den sie mehr liebte als alles auf der Welt, war einfach weg. Für immer.
Als Thomas mit seinem Koffer die lange Röhre vom Schiff zum Terminalgebäude entlang wanderte, war er sichtlich nervös. Er war nie ein Fan von Reisen gewesen und jetzt betrat er eine komplett neue Welt. Klar, er war schon in Schweden und Norwegen gewesen. Selbst das Nordkapp und die nördlichste Siedlung der Welt, Ny-Ålesund, hatte er gesehen, aber das war es auch schon. Nie hätte er es sich träumen lassen einmal hier zu landen. »Galveston!«, dachte er und schaute an den Gebäuden im Vordergrund vorbei.
Nach der obligatorischen Zollkontrolle, bei der man seinen Computer besonders unter die Lupe nahm, ging es aus dem großen Terminal. »Idioten.«, dachte er nur, als die Überprüfung abgeschlossen war. Der Speicher seines Rechners enthielt Pläne und Quellkodes eines Supercomputers, den er bald zu bauen hoffte. Eine Technologie, die man hier wohl mehr als nur gerne an sich gerissen hätte, auch wenn bisher alles mehr theoretisch als praktisch erprobt war. »Herr Merninger?«, sprach ihn direkt eine attraktive, recht dunkelhäutige und schwarzhaarige Dame in einem edlen Zwirn an. Für einen Moment war er verwirrt, denn der Akzent war ehr mexikanischer Natur. »Ja?«, erwiderte er fragend. »Ich bin Jorlanda Miller, die persönliche Assistentin von Patricia McNeil.« Wenigstens war er nicht am falschen Hafen ausgestiegen.
Es hatten ihn viele Menschen seltsam angesehen, als er mit seinem Koffer über die Gänge zur Boardingluke des Kreuzfahrtschiffes marschierte und die Reise nach nicht einmal der halben Kreuzfahrt beendete. Bekanntschaften hatte er keine geschlossen. Seit der Überfahrt von Kiel und dem späteren Wechsel auf dieses Schiff hatte er meist nur zu den Mahlzeiten einen der öffentlichen Speisesäle aufgesucht und war ansonsten in der Kabine oder in einer der unzähligen Nischen mit Meerblick gesessen und hatte an seinem Projekt gearbeitet. Mit jedem bisschen Luxus, der ihm geboten wurde, rückte das Damoklesschwert, welches seit Wochen über ihm schwebte, ein deutlich sichtbares Stück näher.
Ein schwarzer SUV wartete bereits auf ihn, wie er von seiner neuen Begleiterin erfuhr. Kaum waren sie, von einem höflichen Chauffeur hineingebeten, der auch seinen Koffer im Heck des Wagens verstaute, auf den Sitzen angekommen, setzte sich das wuchtige Auto mit seinen dunklen Scheiben auch schon in Bewegung. Thomas schaute unsicher in die fremde Stadt, die am Fenster vorbei rauschte. Galveston ließen sie schnell hinter sich. Dann wurde Thomas unruhig. Es ging zu einem Flugplatz am Stadtrand. Genauer zum Heliport. Es war klar, die herausgeputzte Dame neben ihm war wohl öfter in der Luft, als er selber Auto fahren würde, aber ihm drehte schon der Gedanke den Magen um.
Gegen die wogenden Wellen des Meeres hatte er Tabletten, aber gegen das, was das Fliegen in ihm erzeugte, gab es keine Medizin. Bestenfalls einen Hammer, den man ihm über den Schädel ziehen könnte, um den Schmerz zu lindern. Neben einem feuerroten Hubschrauber mit der offiziellen Kennung und dem Firmennamen in schwarzen Buchstaben hielt das Gefährt an. Alles hoffen war zwecklos. Der Fahrer öffnete die Tür und ließ sie aussteigen. Bevor Thomas auch nur etwas sagen konnte stand schon sein Koffer neben ihm. Genauso, wie er ihn am Hafen losgelassen hatte. Selbst der Griff war bereits wieder ausgezogen.
»Ich soll ihnen etwas ausrichten.«, ergriff Frau Assistentin nach der ansonsten schweigsamen Fahrt wieder das Wort: »Ohne Fliegen, keine Station!« »Sehr witzig.«, wusste ihr Gast anscheinend mit der seltsamen Information etwas anzufangen. Sie selbst stocherte, wie man an ihren Gesichtsausdrücken einfach ablesen konnte, offensichtlich komplett im Dunkeln. »Bringen wir es hinter uns.«, war es nun Thomas, der als erstes, den Koffer an der linken Hand hinterher ziehend, auf den Helikopter zu schritt. Wie schon der Chauffeur zuvor wies der Pilot die beiden auf die Plätze im Fond und verstaute den Rollkoffer in einer Klappe hinter der Personentür.
Jorlanda Miller reichte dem unsicheren Gast einen Kopfhörer und setzte sich selbst einen auf: »Keine Panik. Hank ist ein sehr guter Pilot.« Für einen Moment konnte der Fluggast ein deutliches Zucken in der rechten Backe des Piloten erkennen, der wohl ob des Kompliments seiner nicht unattraktiven Kollegin grinsen musste. Dann setzte auch er sich einen Kopfhörer auf und drehte sich noch einmal um, um zu prüfen ob die Fluggäste auch wie angewiesen angeschnallt waren. »Als wenn es etwas nützt, wenn wir mit 200 Sachen auf die Erde knallen oder direkt explodieren.«, dachte Thomas und krallte sich mit den Händen in die Sitze. Die Rotoren begannen sich zu drehen und der Motor jaulte lauter und lauter.
Nach einem kurzen Gespräch mit dem Tower hob die Kabine ab und nahm Geschwindigkeit auf. Gefühlte sechs Stunden später landete der Quirl wieder. Sie waren nur etwa 40 Minuten geflogen, aber es waren die Anstrengendsten auf der gesamten Reise. Selbst der überfüllte Zug nach Kiel war dagegen ein Kinderspiel gewesen. Die Maschine war auf einem hohen Gebäude gelandet. Schnell gewann Thomas etwas Abstand zwischen sich und dem Höllengefährt. »Hier hinüber!«, rief die Assistentin der Geschäftsleitung und Thomas umrundete den Kreisel.
Eine schwere Stahltür öffnete sich automatisch, als sie sich näherten und ließ sie hinein. »Brauchen sie noch etwas aus ihrem Koffer? Ansonsten lasse ich ihn schon in den Wagen bringen.« Der Koffer! Den hatte er bei all der Anspannung während der Flugreise komplett vergessen. Die Dame machte ihrer Berufsbezeichnung alle Ehre und rollte ihn die ganze Zeit assistierend neben sich her. »Meinen Computer!« Thomas öffnete den Reißverschluss und zog das weiße Plastikgehäuse aus dem Außenfach seines Gepäcks.
Mit dem Lift ging es nur kurz nach unten. Sie betraten eine Art Lobby. Groß und mit einigen Wartemöglichkeiten ausgestattet, lagen einige Sitzecken und Magazinständer in Gruppen im Raum verteilt, während zentral ein runder Tresen mit einer weiteren nicht unattraktiven Dame ihr neues Ziel war. Noch bevor die Reisenden den Tresen erreichten hörte Thomas die Dame schon den 12 Uhr Termin ankündigen. Das war anscheinend er selbst. »Sie können gleich durchgehen.«, bestätigte die junge Frau, auf deren Namensschild in goldenen Buchstaben »Jennifer Holland« prangte.
Das Büro war nicht weniger Edel als es der große Vorraum vermuten ließ. Viel schwarzes Leder kombiniert mit Chrom und Glas verzierten die Möbel und Sitzgelegenheiten. »Herr Merninger, schön sie endlich persönlich zu treffen!«, trat Patricia McNeil mit ausgestreckter Hand auf die Beiden zu und machte ein Vorstellen seitens ihrer Assistenz unnötig. »Ist der Tisch reserviert, Jorlanda?«, fragte sie gleich darauf, ohne das Thomas die Gelegenheit hatte sich für die Einladung und auch die Reise zu bedanken. »Ja, um eins. Tisch für drei Personen im Reverse.«, bestätigte durchaus attraktive Frau und machte dezent einen Abflug.
Thomas klammerte sich immer noch unsicher an seinen Laptop und schaute sich um. »Ziemlich beeindruckend.«, merkte er schließlich an. »Sie haben den Keller noch nicht gesehen.«, lachte Trish. Es klopfte an der Tür und eine zweite Version der Chefin trat durch die Tür. »Meine Schwester Tina kennen sie ja bereits.«, lachte Patricia und deutete auf den Neuankömmling. Thomas reichte ihr die Hand und die kleine Gruppe setzte sich in eine Sitzgruppe abseits des eigentlichen Schreibtischarbeitsplatzes. »Möchten sie etwas trinken?«, fragte Patricia. »Nein, danke! Mein Magen ist noch nicht ganz fertig mit dem Hubschrauber.« »Du hast ihn eingeflogen?«, war Tina sichtlich erbost. »Naja, sonst wäre er erst heute Abend hier gewesen. Außerdem muss er darüber hinwegkommen. Das Projekt ist schließlich nicht dauerhaft im Keller versteckt.« »Das tut mir so leid. Ich kann das nachvollziehen. Mir wird auch immer übel. Nicht so sehr wegen dem Fliegen, sondern dem Gewackel.« »Da kann ich ihnen ein gutes Mittel empfehlen. Hat mir bei der unruhigen See sehr geholfen.«
»Könnten wir zum Thema zurück kommen?«, war Trish sichtlich ungehalten, obwohl sie es eigentlich gut fand ihre Schwester mal im Gespräch mit anderen Personen zu sehen. Saß sie doch sonst meistens nur in ihrem Labor und blieb für sich alleine. »Ich denke sie brauchen Anschluss zum Internet?«, schwang Tina sofort um. »Das wird nicht nötig sein, ich habe alles dabei.«, klopfte Thomas auf seinen Rechner. »Ihr Rechner wurde von den Zöllnern bei der Kontrolle ordentlich gefilzt. Das wissen sie, oder?« »Wenn, dann ist alles was sie bekommen haben großer Datensalat.« Tina setzte einen fragenden Blick auf: »Verschlüsselungen kann man knacken.« Thomas schmunzelte: »Ja, wenn sie wüssten das Daten darauf sind. Wenn sie die normale Verschlüsselung knacken und wenn sie den aus der Hardware extrahierten 8K Schlüssel und mein Passwort hätten. Ziemlich viele wenns.« Er klappte den Rechner auf, der in wenigen Sekunden auf einen mit wild verteilten Piktogrammen ausgestatteten Desktop startete.
»Der Rechner hat nur 8 Kerne mit jeweils 3 Ghz und ist mit 16 GB Speicher recht Mager ausgestattet.«, begann er die Erklärung: »Da ich keine echte Hardware habe, wurden die Optocores, wie ich den optischen Prozessor nenne, rein in Software emuliert.« Nach der Eingabe eines Passwortes erschienen weitere Piktogramme auf dem Arbeitsplatz. Er startete ein Programm, welches einfach nur Demo1 hieß. Ein Schachbrett erschien. »Ich habe das System nur mit den Spielregeln vertraut gemacht. Die Gegenseite ist eine angepasste Schachsoftware.« Figuren wurden bewegt und anscheinend spielten zwei Parteien, wobei eine deutlich langsamer reagierte und den Spielfluss verzögerte. »Wie man sehen kann dauert der Ablauf recht lange, weil die Software versucht möglichst alle Schritte im Vorfeld zu ermitteln, während mein Core auf eigene Erfahrungswerte setzt. Ich habe ihn gegen ein Onlineportal für Schachfans spielen lassen und diese gebeten ihre besten Schachcomputer gegen mich zu verwenden. Erst hat mein System nur verloren, aber bereits nach etwa 30 Partien war es ausgeglichen.«
»Das klingt ja beeindruckend, aber wir brauchen keinen Schachcomputer.«, warf Patricia ein. »Ich wollte damit nur demonstrieren, wie das System nur mit Regeln arbeitet und den Rest selber herausfindet.« »Es erweitert seine Fähigkeiten?« »Im Prinzip ja. Neben einer Basisprogrammierung für die Regeln und den Zugang zu Sensoren und anderen Schnittstellen, kann das System selbst Modifikationen an sich vornehmen. Ich denke dazu ist Beispiel zwei geeigneter.« Thomas wusste, um großen Eindruck zu verbuchen, war die Schachsimulation nicht wirklich brauchbar, aber er wollte auch wissen, ob man ernsthaftes Interesse hatte oder eben nicht, ohne seine Karten komplett offen zu legen. Bisher jedenfalls zeigte man Interesse und Vertrauen in seine Arbeit.
Er beendete die Schachpartie und startete die zweite Demo. Mehr hatte er offensichtlich nicht dabei, da die anderen Piktogramme auf dem Bildschirm nur Textobjekte und Bilder waren. Es erschien nur ein kleines unscheinbar schwarz hinterlegtes Fenster: »Hallo Jaque!« »Hallo Thomas. Wo sind wir?« Eine Frequenzanzeige stellte visuell die Stimme des Computers auf der dunklen Fläche dar. »Wir sind bei Freunden. Das sind Patricia und Tina McNeil.« »Es freut mich sie kennen zu lernen.« Mehr als ein erstauntes »Hallo« brachten beide nicht heraus. Damit hatten sie nicht gerechnet. »Handelt es sich um identische Menschen?«, fragte die Stimme aus dem Laptop erkennend das die Stimmen identisch klangen. Thomas schmunzelte: »Ja, das stimmt.« Er drückte eine Taste und stellte das zur Dateneingabe genutzte Mikrofon ab. Unsicher schaute er zwischen den beiden Damen in ihren Businessoutfits hin und her. Beide waren sichtlich erstaunt von der Demonstration.
»Das ist ja unglaublich. Was kann er alles?«, fragte Tina erstaunt und hatte durch ihre Wortwahl den Computer schon als Person in der eigentlichen Maschine definiert. »Naja, das System ist klein. Die Spracherkennung klappt nur auf dem Niveau, weil die simulierten Optocores selbstlernend sind und nicht starren Algorithmen und gespeicherten Mustern folgen. Da das System Wissen in Code ablegt und nicht in Daten braucht es nicht so viel Speicher. Es wurde hier auf die Platte ausgelagert, was natürlich nur wegen der Simulation nötig ist und auf die Performance drückt. Auf meinem heimischen Rechner geht natürlich deutlich mehr, aber auch da sind meine Ressourcen begrenzt. Uhrzeit, Rechnen. Solange keine unbekannten Begriffe verwendet werden und die Maschine nachfragt.«
Fragend schaute Thomas in Richtung Trish, die nur still lauschte, aber keine weiteren Kommentare abgab. Es war zu mindestens 50% ihre Entscheidung, ob man seinem System eine Chance geben sollte oder nicht. »Also abgesehen von dem was ich von der Maschine gehört habe, habe ich nicht viel verstanden.« »Sie kennt sich mehr mit Papier und Kugelschreibern aus.«, witzelte Tina. »Ah, ein analoger Mensch!«, platzte es aus seiner Unsicherheit hinaus und er biss sich innerlich auf die Zunge. Das war immer noch ein Geschäftstermin und kein Kaffeekränzchen, bei dem man Witze über die Anwesenden machte. »Ja, eine zutreffende Beschreibung.«, gab Tina unter lautem Lachen zu verstehen. »Fragen sie etwas.« Thomas aktivierte das Mikrofon und Tina legte los: »Wie spät ist es Morgen in Zwanzig Minuten.« Thomas schmunzelte. Die recht unsichere Dame in ihrem deplatziert wirkenden Outfit wusste wie man trotz dieser wenigen Möglichkeiten eine plausible Prüfung auf Echtheit durchführte.
Die Antwort stimmte nicht, was sie Thomas auch gleich mitteilte. »Die Zeitzone stimmt nicht. Der Laptop hat kein GPS und wie sie bereits wissen aktuell keinen Internetzugang.«, erklärte Thomas und deutete auf die falsche Uhrzeit in der rechten oberen Ecke des Displays: »Das System selbst ist mit dem Konzept der Zeitzonen nicht vertraut.« »Ich nehme an, wenn man es auf das Internet loslassen würde, würde es sehr schnell mit diversen Konzepten vertraut werden.« »Das ist korrekt, aber schneller und großer Speicherplatz ist nötig.« »Außerdem eine Sicherung, die das System vor falschen Informationen schützt.«, stellte Tina gleich eine weitere Behauptung auf. Sie hatte sich offensichtlich schon mit der Thematik beschäftigt. »Das System besitzt schon eine Art von Gewissen und Skepsis. Aber es muss natürlich angepasst werden, wenn seine Möglichkeiten anwachsen. Unterschiedliche Antworten auf die selben Fragen sind natürlich ein Problem und in der Hinsicht ist das Internet ein Minenfeld.«
»Ich würde sagen, wir gehen erst einmal essen und reden weiter.«, wand sich Patricia aus der Nebenrolle und orderte über die Sprechanlage Frau Holland den Wagen vorfahren zu lassen. »Ich hoffe ich bin nicht zu unpassend gekleidet.«, war Thomas zum ersten Mal unsicher ob es eine gute Wahl war für die Reise die bequeme Kleidungsvariante zu wählen. »Nach dem was wir eben erleben durften, würden wir sie auch in Lumpen mitnehmen.«, warf Tina zurück und ihre Schwester nickte.
Das Reverse war ein seltsamer Laden. Hier war der Name Programm. Alles an den Wänden hing verkehrt herum und auch das Besteck lag mit den spitzen Enden zum Gast auf dem Tisch. Es war ein kurioser Anblick, zumal der Laden nur von Anzugträgern in edlerer Kleidung gefüllt war. Selbst der Kellner trug um längen hochwertigere Kleidung als Thomas. Er war sichtlich froh, als er im Hintergrund eine kleine Familie sitzen sah. Auch wenn der Familienvater dem gängigen Ideal hier entsprach, waren Frau und Kinder in seinen Augen normal gekleidet. Alleine die Anwesenheit von in Sachen Nahrungsmitteln deutlich wählerischen Kindern, ließ in ihn auf eine normal große Mahlzeit mit wenig Ekelfaktor durch teure Spezialitäten hoffen. Vermutete er doch schon beim Eintreten nicht mehr als nur einem Klecks Brei neben einem Daumengroßen Fleischmedaillon und einem Stück Kresse unter einer Haube, die einem Truthahn platz zum Leben bot, auf seinem Teller zu finden.
Auf der Karte wurde das Motto weiter verfolgt. Vorne waren die Desserts und hinten die Suppen. Die Küche war flexibel. Es gab edle französisch klingende Gerichte, genauso wie Hamburger und Pommes. »Dem erleichterten Blick entnehme ich, sie bevorzugen ebenfalls volle Teller?«, merkte Patricia an. Thomas nickte mit einem verlegenen Lächeln. Nach der Getränkebestellung legten sie schnell die Essensbestellung nach, die schon nach wenigen Minuten eintraf. In umgekehrter Reihenfolge mit dem Nachtisch zuerst. »Und effizienter ist es auch.«, lachte Tina ihm gegenübersitzend. »Nach dem Essen besichtigen wir ihr Labor?«, fragte Thomas zurück. »Ihr Labor. Ja!«, erwiderte Tina, aber Thomas hielt den Blick nach vorne gerichtet. »Ihr gehört es vielleicht, aber sie arbeiten darin.« Tina schaute ihn erstaunt an. Jetzt, da er die Unsicherheit in seinem Gegenüber sah, war er deutlich forscher: »Sie haben beide versucht möglichst oft meinem Blick zu entkommen, um mich zu verunsichern, mit wem ich es zu tun habe.« Jetzt sahen sich die Schwestern kurz an. Nun war es wieder Patricia die meinte es wäre so eine Marotte und es täte ihr leid.
»Ich würde sie wohl auch ohne die vielen kleinen Fehler unterscheiden können.«, lachte Thomas siegessicher. »Welche Fehler?«, fragte Tina interessiert. »Naja, sie –«, er deutete auf Patricia, »– repräsentiert ihre Kleidung. Ihnen, im Gegensatz dazu, ist die stillvolle Kombination unangenehm und ungewohnt. Sie zupfen ständig daran herum. Wahrscheinlich bevorzugen sie einen Kittel oder gar einen Blaumann. Privat sind sie mehr der Hose und Pullovertyp. Auch das Essen in der Öffentlichkeit scheint ihnen ein Gräuel zu sein.« Tina war sprachlos. Ihre Schwester merkte nur an, er sei ein guter Beobachter. Thomas lachte los.
Fast schon zu laut für das Lokal: »Das sieht die Polizei sicher anders.« Jetzt hatte er wieder die volle Aufmerksamkeit beider Damen. Noch bevor sie etwas fragen konnten, legte er nach. »Bildinformationen kann ich mir nur schlecht merken. Ja, es ist sogar so schlimm, ich könnte nicht einmal ein Phantombild meiner eigenen Mutter erstellen. Ihnen ist sicherlich die Unordnung auf meinem Desktop vorhin aufgefallen. Das ist Absicht. So muss ich die Texte nicht lesen und kann mir trotzdem recht einfach merken wo etwas liegt. Die bunten Bildchen selbst sind jedenfalls keine Hilfe für mich.«
Die Gespräche wurden intensiver und auch persönlicher. Langsam kamen sich die bis auf diverse Telefonate und Videokonferenzen noch recht fremden Personen näher. Neunzig Minuten später standen sie wieder in der Lobby des großen Büroturms der McNeil Laboratorien, wo die Mitarbeiter in hastigem Zucken ihre Bewegungen zu optimieren schienen, als die beiden Schwestern den Laden betraten. Zwei Sicherheitsbeamte und drei Personen hinter dem Tresen machte Thomas aus. Alle anderen waren entweder Gäste des Hauses oder Angestellte, die etwas arbeitstechnisches zu besprechen hatten. Er folgte den Beiden wieder zum Lift. Statt einen Knopf zu drücken, legte Patricia McNeil nur ihre Hand auf eine unscheinbare Platte, die man auf den ersten Blick für eine kleine Wartungsklappe halten konnte.
Nach dem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, rumpelte sofort die gegenüberliegende Tür auf und gab den weiteren Weg frei. Über eine kleine Treppe ging es nach unten. Unverkleideter Stahl und Beton war das zentrale Motiv des neuen Gebäudeteils. Kein Vergleich zu dem dezenten Prunk, den der Rest des Glaspalastes ausmachte. »Geräumig.«, platze es Thomas heraus. Es wirkte wie die Etage einer Tiefgarage nur eben ohne die ganzen Schilder und Autos. »Ich denke wenn wir richtig loslegen, wird es hier deutlich enger zugehen. Wir brauchen neben Lagerplatz ja auch Fläche zum Arbeiten und Testen der jeweiligen Baugruppen.«, erklärte Patricia, die schon wieder mit Tina den Platz getauscht hatte. Es machte ihnen sichtlich Spaß dieses Zwillingsding auch als Erwachsene durchzuziehen. Das war schon klar, wenn man die bis zu den keinen Ohrringen identischen Outfits betrachtete.
Thomas spielte mit und sprach Tina direkt an: »Und wo ist nun ihr aktueller Arbeitsbereich!« Tina lächelte. Obwohl sie sich bemüht hatte zu repräsentieren, wie er es nannte, hatte Thomas mühelos ihre Identität bestimmt. Als sie den zentralen Gang entlang marschierten, schaute Thomas immer mal wieder nach links und rechts. »Suchen sie etwas?«, fragte Patricia, die seinem Verhalten mehr als nur Neugier zuschrieb. »Das Bat-Mobil und den Wasserfall.«, entfleuchte es Thomas und innerlich fluchte er wieder so ehrlich gewesen zu sein. Tina lachte laut auf: »Siehst du Schwester.« Jetzt zeigte Thomas einen fragenden Blick. »Das mit dem Wasserfall hatte ich schon vor Monaten angemerkt.«
Hinten war die Parkhaus Atmosphäre schnell vorbei. Hier gab es bereits Wände und Türen. Wobei nicht alle Räume wirklich Türen hatten, sondern nur das Loch dafür. Einer dieser Räume war anscheinend das Labor. Ein Piepen zog sogleich die Aufmerksamkeit von Tina auf sich, die gleich an dem überfüllten zentralen Tisch vorbei nach hinten eilte, wo eine Art Kasten von der Größe eines Einzelbettes mit nach vorne offenem Glasdeckel stand. Sie tippte etwas auf dem damit verbundenem Computer ein und ein blauweißes Licht verblendete die Sicht auf das Geschehen im Inneren. »Obwohl es so aussieht, es ist kein Wasserschneider.«, merkte ihr Gast an: »Ein neuartiger 3D Drucker?« Tina schmunzelte. Er war technisch nicht uninteressiert und brachte ein gemischtes Wissen über vielerlei Dinge mit. Das hatte ihr schon seit den ersten Gesprächen gut gefallen: »Dicht dran. Das ist ein Repligen.« »Ein Replikator auf atomarer Ebene?«, fügte Thomas einige Vermutungen hinzu, die sich in den wenigen Sekunden, als die am Plausibelsten anfühlten. »Ja, genau.«
»Damit können wir alles herstellen, was wir brauchen, ohne es umständlich über den offiziellen Weg zu bestellen und später wieder aus dem Lager verschwinden zu lassen.« »Leider nur sehr begrenzt.«, fügte Tina hinzu. Wieder setzte Thomas innerlich Puzzleteile zusammen: »Zu hoher Energieverbrauch?« »Wir haben Serverräume, Liftsystem und die Klimaanlage angezapft. So können wir zumindest Tagsüber einiges produzieren, ohne das es auffällt.« »Ihnen gehört der Laden doch. Wenn sie die Rechnung bezahlen, wo ist das Problem?« »Die Firma da oben füttert uns, aber wir können nicht alles machen, was wir wollen. Wenn wir plötzlich die benötigte Energie um 3000% steigern würden, dann hätten wir nicht nur Umwelt– und Sicherheitsbehörden auf der Matte stehen, sondern auch den Energielieferanten, der unbequeme Fragen stellen würde. Das würden wir gerne vermeiden. Deshalb produzieren wir nur Stückchenweise und nur am Tag, weil es da nicht so auffällt.«
»Wenn das Gerät ein atomarer Replikator, also Repligen, ist, kann er dann nicht auch Energie aus dem Zerlegen von Materie gewinnen.« »Schwester, der gefällt mir.«, lachte Tina. Patricia war nicht entgangen, wie ihre kleine Schwester an seinen Lippen klebte. Sie war technisch längst nicht so bewandert und jetzt konnte Tina erstmalig mit jemandem Reden, der schnell und relativ sachlich verstand worum es ging. »Ja, das ist möglich, aber nicht sehr effizient.« »Ich hab mal einen Diamantring durchgejagt.«, erklärte Tina und zuckte zeitgleich zusammen. »Du hast damit einen Toaster hergestellt! Mit einem 78000$ Ring!« Wut lag in der Luft. »Es war nur ein Ring.« »Es war der Ring unserer Großmutter.«, breiteten die Zwillinge einen wohl schon länger geführten Streit vor ihrem Gast aus. Thomas schaute sich den Kasten genauer an und beobachtete die im Inneren wie von Geisterhand wachsenden Gebilde, während die Schwestern ihren Krach weiter steigerten und darüber ihren Gast komplett vergaßen. »Hmm.«, entfuhr es Thomas leise.
Das Geräusch ging aber in der Lautstärke des Raumes unter. Erst Minuten später besonnen sich die beiden und Tina trat neben den, immer noch auf die Maschine starrenden, Gast: »Tut mir leid. Das war kindisch und nicht sehr professionell.« Der sie um einen Kopf überragende Typ in ihrem Arbeitsbereich ging gar nicht darauf ein: »Wenn man Materie atomar zerlegt, geht das dann auch über eine größere Distanz als dort?« Er deutete auf die Maschine. Der kleine Arm bewegte sich über das von Zauberhand erscheinende Werkstück, aber der eigentliche leuchtende Punkt, der die Magie verblendete, lag etwa zwanzig Zentimeter darunter.
»Ja, diese Maschine arbeitet auf die gleiche Weise in beide Richtungen. Sieht dann nur umgekehrt aus.«, erklärte Tina. »Ich nehme an, eine Karre Sand würde nicht genug Energie liefern?« »Nein, bei weitem nicht. Der–« Sie verstummte und setzte ein leises »Ring« nach: »–hatte deutlich mehr Power als nur für einen Toaster. Das hat mit dem atomaren Aufbau zu tun.« Patricia hatte sich etwas zurück gezogen. Anscheinend war der Streit nur durch einen eingehenden Anruf unterbrochen worden. »Wenn das so einfach wäre, hätte ich den Keller hier schon vergrößert und den Sand einfach in Stahl und Beton verwandelt.« »Was ist mit Brennstäben?« Tinas Blick sprach Bände und ihre Kinnlade fiel herunter: »Sind sie wahnsinnig? Selbst wenn wir da herankommen würden, wäre das viel zu gefährlich.« Thomas schmunzelte nun seinerseits ziemlich deutlich. »Was ist daran so witzig?«, entfuhr es seiner Gastgeberin bevor er auch nur Gelegenheit hatte seine Meinung zum Thema zu nennen. »Ich finde es positiv, wie sie darüber denken.« »Sie haben mich getestet?« »Nein, eigentlich wollte ich wirklich wissen, ob man Brennstäbe nutzen könnte.«
Tina zog eine Augenbraue hoch: »Damit wären wohl alle Energieprobleme hier gelöst. Mit den Reaktoren komme ich einfach nicht weiter.« »Reaktoren?« »Fusionsreaktoren. Das ist alles sehr instabil. Es klappt im großen Maßstab in der Sonne, aber im Kleinen bekomme ich es nicht hin.« »Naja, da arbeiten viele Wissenschaftler schon seit Jahrzehnten dran. Das ist wohl kein Grund sich dafür zu schämen.« Thomas lächelte und sie erwiderte das Lächeln. »Dann bleiben also nur die Brennstäbe.« Tina war verwirrt. Hatte er ihr nicht zugehört? Doch hatte er! Er hatte sogar ihre Meinung unterstrichen und als Positiv dargestellt.
»Auf keinen Fall. Damit zu hantieren ist viel zu gefährlich.« Thomas grinste noch mehr als vorher und Tina gefiel es nicht so unwissend und unsicher in ihrem eigenen Labor zu stehen. »Wie groß kann der Abstand bei der atomaren Zerlegung sein?« »Ich denke mit einem vergrößerten Scanner ist sicherlich eine Meile drin, aber der Energiebedarf steigt natürlich deutlich an, was logischerweise die Effizienz drückt.« »Dann haben wir einen Plan.« Thomas hob eine Augenbraue, während jetzt Tina das Puzzle zusammensetzte. Dann sprangen ihre Augen auf und wurden kreisrund. »Wir sollen aus der Ferne Brennstäbe aus einem Kernreaktor klauen? Das fällt doch auf. Da vermutet man doch gleich Terroranschläge. Das kann Krisen auslösen, die wir uns nicht einmal ausmalen können.«
»Ich dachte da mehr an Tschernobyl, Fukushima, versunkene U-Boote und natürlich die Endlager. Der Plan ist doch die Welt zu verändern – zu verbessern. So fangen wir schon bei der Energiebeschaffung damit an.« Thomas sah deutlich ein Funkeln in ihren Augen. Als er sich umdrehte, weil er sich fragte was Patricia gerade machte, stand diese bereits mit fragender Miene hinter ihm. Die Schwestern blickten sich schließlich an und huschten schweigend an die Computer, während Thomas weiter dem blauen Licht folgte, das augenscheinlich viele kleine Bauteile auf dem Boden der Kiste verteilt erzeugte. Beide Geschwister murmelten etwas. Entfernungen, Faktoren und Energiewerte. »66,387%«, brachten beide fast Synchron heraus. Thomas hob eine Augenbraue: »Also Patricia hat gewonnen. Zumindest klingt es so als wenn das Ergebnis korrekt ist. Was auch immer es ist?«
»Wenn wir auf eine Meile an die Stoffe herankommen, dann könnten wir die Energie mit etwas über 66% Effizienz abbauen.«, erklärte Tina. »100% Müllentsorgung bei 66% Gewinn. Klingt doch gut. Obwohl ich mich nicht in der Müllbranche nicht so auskenne. Bin ich jetzt eigentlich dabei?« Diese Frage brachte die Schwestern beide Schlagartig auf den Boden zurück. Diesen Teil hatten sie komplett vergessen. Zu gut hatte sich Thomas in ihre kleine Zweiergruppe eingefügt. »Klar sind sie dabei, Kommander!« »Kommander?« »Naja, auch wenn das Ganze keine Armee werden soll, brauchen wir ein paar Befehlsgeber, eine kleine Kommandostruktur.«, erklärte Trish, öffnete den kleinen Kühlschrank unter einer der Arbeitsplatten und zauberte eine Flasche Sekt hervor. Thomas machte sich nicht viel aus Alkohol. Sekt, Bier und Wein standen bei ihm ganz unten auf der Liste. Wenn, dann etwas das direkt knallt, hatte er mal zu einem Freund gesagt, aber jetzt konnte er schlecht »Nein« sagen.
Sie prüfte noch die Gläser, die wohl in einem der Schränke bereit standen und schenkte ein: »Auf das Team!« Nach einem gemeinsamen Schluck, den Thomas deutlich kleiner ausfallen ließ, als den der Damen, beschlossen sie die Förmlichkeiten fallen zu lassen. Später würde man sich sowieso gezwungener Maßen näher kommen. »Woher bekommen wir Personal?« »Wir haben uns darüber schon einige Male Gedanken gemacht. Ich dachte wir schalten Anzeigen und suchen Personen, die keinerlei Verbindungen haben und alleine sind. »Da bekommen wir aber Leute, die für einen Job alles behaupten würden und genau die wollen wir ja gerade nicht.«, warf Thomas direkt zurück und zeigte erneut deutlich sich auch Gedanken gemacht zu haben. »Was schlägst du vor?« »Naja, ich dachte daran die Menschen zu nehmen, die keine Zukunft haben. Die im Sumpf stecken und nicht ohne Hilfe wieder heraus finden.« Er hielt für einige Momente inne. So recht schienen seine neuen Partner nicht zu verstehen, wie er das meinte.
Also legte er weitere Erklärungen nach. »Es gibt genug junge Menschen, die unverschuldet durch das Raster der Gesellschaft fallen, die einfach Pech haben. Menschen ohne eine Chance auf Förderung durch die Familie oder die Aussicht auf Besserung. Wir würden ihnen ein Zuhause geben, ihnen einen Weg aufzeigen. Sie würden Freunde finden, die ähnliches erlebt haben und motiviert für den Erhalt ihrer neuen Familie, ihres neuen Zuhauses kämpfen.« »Wie sollen wir solche Menschen denn finden?«, war Trish zwar von der grundsätzlichen Idee begeistert, aber hatte ihre Zweifel an der Machbarkeit. »Das kann Jaque machen. Mit Rechenpower und Zugang zum Netz kann er alle Behörden anzapfen und Daten beschaffen. Natürlich müssen wir sie selber finden, nocheinmal beurteilen und einsammeln.« »Untergräbt das nicht die Moral der Maschine? Und überhaupt, wie kommst du darauf der Computer wäre dazu im Stande?«
»Da wo du ein Update für Router, Firewalls, Computer und sonstige Software siehst, sieht die Maschine den Code. Sie kennt damit die Spezifikationen jedes Systems und kann so direkt Sicherheitslücken finden und nutzen. Was die Moral angeht, hast du natürlich Recht. Hier müssen wir ihr natürlich das höhere Ziel begreiflich machen. »Am Besten nur, wenn mindestens zwei autorisierte Personen eine derartige Verletzung anordnen.«, stimmte Patricia zu: »Aber die grundsätzliche Idee gefällt mir. Wie bei dem Atommüll, würden wir schon beim Aufbau die Welt verbessern.« »Haben wir eigentlich schon einen Namen?« »Wir dachten an etwas mit Team im Namen. World Team. Space Team oder so.«
»Das klingt alles wie eine schlechte japanische Zeichentrickserie mit Robotern.«, merkte Thomas an und war augenscheinlich mit seiner Meinung nicht alleine. »Wir brauchen etwas mit Bedeutung. Es wird ja kein Möbelstück benannt.«, erklärte Patricia, während ihre Wissenschaftsschwester jetzt außen vor war. So etwas lag ihr nicht. »Wie wäre es mit Ray Team?«, warf Thomas seine Idee in den Topf. »Wer ist Ray?« Er schmunzelte. »Nicht wer! Was! Wenn wir all die verlorenen Seelen zu einem Team zusammen stellen. Diese kleinen Lichter zusammenbringen, dann wird daraus ein Leuchtfeuer, ein Strahl der Hoffnung. Hoffnung für die Menschen auf der Erde.« »Klingt ziemlich hochgegriffen, wo wir noch nicht einmal den Ansatz einer Station haben.«, lachte Tina. »Vielleicht.«, entgegnete ihre Schwester: »Aber der Ansatz gefällt mir. Vielleicht fällt uns ja später noch etwas besseres ein.«
»Ich habe da noch einen Auftrag für Thomas, wenn er wieder in Deutschland ist.«, lachte Patricia. »Auch ohne Supercomputer habe ich eine Datenanalystin und Programmiererin ausfindig gemacht, die für unser Projekt geeignet wäre. Sie ist in ihrer Freizeit in Online Strategiespielen aktiv und erzielt dort bemerkenswerte Erfolge. Beruflich steckt sie in einer Sackgasse. Die Firma in der sie arbeitet bremst ständig ihre Ambitionen aus. Familie hat sie keine. Sie kommt aus London. Mit dem Zug zu erreichen.« Patricia lachte bei den letzten Worten. »Sehr witzig. Was soll ich tun? Ihr auf den Zahn fühlen?« »Ja, lerne sie kennen. Freunde dich mit ihr an und gewinne ihr Vertrauen. Dann sehen wir weiter.«
Jiyai hielt May im Arm, so gut es in ihrer Position eben ging. Selbst noch starr vor Schreck. Noch nie hatte sie etwas derart schreckliches gesehen. Tori und Shizuka hielten sich auch fest umarmt. Nicht nur die einige Jahre jüngere Schwester seiner Freundin, sondern auch er selbst hatte Tränen in den Augen. Von dem coolen, lässigen und selbstsicheren Typen, war nicht mehr viel übrig.
»Was machen wir den jetzt?«, fragte Shizuka unsicher, bekam aber keine Antwort. Alle waren wie versteinert und gaben sich den Gefühlen hin. Alles im Raum war verschwunden. Nur die leeren Tribünen schienen sie zu verspotten und das Mahnmal in dem Nim vor ihren Augen starb, ragte triumphierend neben ihnen in die Höhe.
May gingen so viele Dinge durch den Kopf. Klar denken konnte sie nicht. Immer wieder hörte sie seinen Schrei. Verzweifelt hatte sie versucht ihre Kräfte gegen das Objekt zu richten, welches ihren Freund fest hielt, aber sie funktionierten nicht. Sie liebte ihn so sehr und jetzt war sie mit dieser Liebe alleine. Unfähig diese durch eine Berührung abzuleiten. Wie eine Batterie, die taumelnd durch das All flog und unfähig war alleine einen Sinn im Sein zu finden, fühlte sie sich. Leer weil etwas fehlte und überfüllt weil etwas fehlte. Ein unwirklicher und unmöglicher Zustand.
Jiyai hatte die, um einige Jahre ältere, Frau derweil aufgerichtet und mit dem Rücken an den Glaskasten gelehnt. So musste sie die schreckliche Maschine nicht sehen und doch war sie nützlich. Ihre Augen waren verquollen und ihr T-Shirt feucht und schwarz gefleckt von den Tränen, deren Farbe von der Schminke um ihre Augen stammte. Sie schminkte sich selten. Meistens nur ein wenig um die Augen weil Nim es so gefiel. Ja, es betonte ihre Augen. Sie wirkte dadurch deutlich älter und erwachsener. »Man–Eater Augen.«, hatte Nim sie genannt, weil sie die Männer damit um den Verstand bringen würde. Ein neuer Schwall Tränen verließ ihre Augen. Shizuka hatte sich von Tori gelöst und kniete auf der anderen Seite des gebrochenen Kommanders, wo sie ihren Kopf an Mays anlehnte.
»Habe ich ihm Heute eigentlich gesagt wie sehr ich ihn liebe?«, schoss es May durch den Kopf. Ihr Bauch zuckte und ihre Nase sog ruckartig die Luft ein, die brauchte um zu existieren. Regelmäßiges Atmen war unmöglich. May spulte in ihrem Hirn vor und zurück. Sie war aufgestanden und hatte sich gedankenlos angezogen. Nim war auch da gewesen. Er hatte ihr eine Umarmung geschenkt und einen Kuss auf die Stirn. Schlagartig wurde die Stelle an ihrem Kopf warm, als sie sich an diese Berührung erinnerte. Nein, sie hatte es ihm nicht gesagt.
Er war an dem Tag gestorben, an dem sie es ihm nicht gesagt hatte. Sie hatte es nicht einmal gedacht. Wenn sie bisher getrennt waren, hatte sie es wenigstens seinem Bild gesagt. Ihr Freund war nur hier um auf sie aufzupassen und sie hatte nicht einmal daran gedacht, auch auf ihn aufpassen zu müssen. Gefahren hatte sie ausgeblendet. Gedanklich wünschte sie, sie hätte Mergy mitgenommen. Er hätte mit seinem Arm die Wand bestimmt einreißen können. Aber was wenn nicht? Dann würde es Anja und den Kindern genauso gehen wie ihr. Sie hätte nur ein Leid gegen viele eingetauscht. Tori kniete sich vor das kleine Paket und legte May die Hand aufs Knie. Sie hatte ihre Beine noch immer eingerollt und mit den Armen eingefasst.
Jiyai erhob sich und zog Tori beiseite: »Was machen wir jetzt? Wir können hier nicht ewig herumsitzen.« »Sie braucht ihre Zeit.« Jiyai wirkte so gar nicht wie die unsichere junge Frau, die sie noch am Morgen gewesen war. Beide betrachteten Shizuka und May, die um die Wette schniefen. Das wilde Zittern hatte aufgehört. Vielleicht waren ihre Kräfte erschöpft? »May ist nicht in der Lage Befehle zu geben und Nim–« Sie unterbrach sich selbst. Tori wusste worauf sie hinaus wollte. Er war der Einzige mit echter Einsatzerfahrung, die über das Fliegen von Kampfgleitern in einer Schlacht hinausging. Auf medizinischem Gebiet war Jiyai die Erfahrenere und sie hatte ihr Urteil bereits abgegeben. May war nicht einsatzfähig. »Ich gehe zum Manta und kontaktiere die Station. Mergy wird sie bestimmt persönlich hier abholen wollen.« Jiyai nickte. Sie war sichtlich erleichtert jemandem einen Teil der Last abgeben zu können.
Tori tippte auf die Tür mit dem Universalsymbol, aber der Schalter leuchtete nicht auf. Er probierte auch die anderen Türen, was aufgrund der Größe des Raumes einige Zeit dauerte. Keine der Türen öffnete sich. Fragend sah Jiyai ihn an. »Wir kommen hier nicht heraus.«, erklärte der neue Anführer. »Man war das dunkel. Seit ihr in Ordnung?« Jiyai und Tori erstarrten, wendeten sich einander zu und erstarrten wieder. »Habt ihr einen Geist gesehen?«, fragte Nim ohne zu ahnen, wie recht er damit hatte. Er rieb sich, vom grellen Licht in der Halle geblendet, die Augen. Jiyai stupste ihn vorsichtig an und Nim gewährte die ungewöhnliche Berührung mit fragendem Blick. »Man, Alter. Wir dachten du wärst Tod.« Schlagartig wurde ihm bewusst, was gerade passiert war. Er konnte sich an das Drehen des Schlüssels und den neuen Boden erinnern. Dann war es für ihn einfach nur dunkel geworden. Seine Freunde hatte er weder sehen noch hören können.
Er sah zu Shizuka hinüber, die an May geklammert noch gar nicht mitbekommen hatte, was gerade passierte. »Oh, Gott!«, schoss es Nim durch den Kopf, als er sich die Konsequenzen seines Todes auf May ausmalte. Hastig stürmte er auf das Bündel zu. Shizuka riss die Augen auf, als sie ihn erkannte, wurde aber gleich mit in die Umarmung gerissen. May war zu weit weg um ihn zu sehen. Obwohl sie mit offenen Augen da saß, hatte sie Bilder vergangener Tage vor den Augen, die sich immer wieder mit dem schrecklichen Erlebnis vermengten. Shizuka löste sich von May und machte ihrem liebsten Platz. Er streichelte ihr Gesicht und gab ihr wie schon am Morgen einen Kuss auf die Stirn. Mit den beiden Daumen wischte er ein wenig von der Farbe von ihren Wangen, die deutlich von den heftigen Gefühlen zeugten, die in den letzten 45 Minuten in seiner Freundin gewütet hatten.
Nim schob seine Hand zwischen Ober- und Unterschenkel und eine hinter ihrem Körper hindurch. Dann hob er sie an und wendete sich wieder den anderen zu, die immer noch ungläubig zusahen. »Bringen wir sie in den Manta.« Seine Worte waren kommandierend. Ohne Frage, er hatte jetzt das Sagen. Einwände gab es keine. Naja, fast keine. »Die Türen gehen nicht auf. Ich hab es schon probiert.« »Probiert sie noch mal zusammen durch.« Die drei Kollegen verschwanden zum Rand der Arena. »May! Mir geht es gut. Hörst du?« May reagierte nicht. Nim sackte langsam mit seinem Paket auf die Knie und positioniere May auf seinem Schoss, damit er sie ansehen konnte. Die Beine an seinem Körper vorbeigeführt konnte er sie in eine innige Umarmung bringen, ohne auf die Funktion ihrer Gelenke angewiesen zu sein.
Er rieb seine Nase an ihrer, wie er das schon tausende Male gemacht hatte. Mit einer Hand fuhr er über ihr Haar, während die Andere sie auf ihrem Rücken in der aufrechten Position fixierte. Sanft küsste er sie auf die Lippen und schlang sie erneut in eine feste Umarmung. Was hatte sie nur durchgemacht? Fast eine Stunde lang dachte sie er wäre Tod. Ihn gruselte die Vorstellung hier zu sitzen und zu denken sie sei nicht mehr da. Kopfschüttelnd kamen die drei Kollegen zurück. Die Türen waren also immer noch verschlossen. Nim ließ sich, ohne auch nur einen Finger oder gar einen Arm von seiner Freundin zu entfernen, genau berichten was nach dem Drehen des Schlüssels passiert war.
Die Blicke von Shizuka und Jiyai genügten, um sich den Horror auszumalen, dem seine Freundin ausgesetzt war. Sanft strich er ihr das Ohr und maximierte den Kontakt ihrer beiden Körper durch Druck auf ihren Rücken. Plötzlich spürte er ihre Hände auf seinem Rücken. Es war kein Streicheln, sondern mehr ein Tasten. Schlagartig drückte sie ihn von sich weg, als wolle sie nicht von ihm berührt werden. Dann trafen sich ihre Augen. Verquollen, verwirrt, unsicher und fragend war der Blick. Nim lächelte und strich ihr sanft über die Wange: »Ich bin noch da.«
Unsicher blickte sie durch die Halle, die sich schon seit über einer Stunde nicht mehr wahr genommen hatte und fand auch die anderen Drei, die mehr erleichtert als entspannt drein schauten. »Du bist noch da?«, flüsterte sie leise. »Und ich gehe nicht weg.«, fügte ihr Freund an. Wieder strömten die Tränen aus ihren Augen. Diesmal vor Freude, vor Glück. »Du musst aufhören zu weinen. Die Türen gehen nicht auf und wir wollen hier nicht ertrinken.«, versuchte Nim die Lage mit einem Witz aufzuheitern und reichte ihr sein Taschentuch, welches bereits vom vorherigen Einsatz einige schwarze Flecken zeigte.
Nachdem er seine Freundin nach Oben gedrückt hatte, wurde Nim selbst von ihr auf die Beine gezogen. Die Anderen gesellten sich sofort dazu. »Gruppenumarmung.«, rief Shizuka und obwohl es eigentlich nicht die Art von Tori war, schloss er mit seinen langen Armen das Menschenknäul von außen ab. Als sie sich lösten, schniefte May in das schon triefnasse Tuch und versuchte sich die letzte Feuchte aus den Augen zu tupfen. Da es keinen Spiegel gab, kam Nim ihr zur Hilfe und entfernte die Reste der schwarzen Tinte, so gut es eben unter diesen Umständen ging.
Ein blitzähnliches Geräusch ließ die kleine Personengruppe aufhorchen und sich hastig umsehen. Erschrocken wichen sie einige Meter zurück. Vor ihnen stand ein mindestens drei Meter großer korpulenter Typ mit Sandalen, einem weißen Umhang und einem Helm. Der weiße, buschige lange Bart verlieh ihm zusätzlich einen gewissen Respekt. Jiyai versteckte sich hinter Tori und linste vorsichtig an seinem Arm vorbei. »Willkommen im Sanktum der Joluh.«, begrüßte er die Gäste. »Hallo.«, sprudelte es aus Shizuka heraus, die selbst nicht wusste warum sie das jetzt sagte. »Das ist nur ein Hologramm.«, erklärte Tori. »Weiß ich doch.«, versuchte Shizuka sich vor weiterer Blamage zu bewahren. May hielt Nim fest. Zu sehr waren die Ereignisse der letzten Stunde in ihrem Kopf eingebrannt. Ihre Denke arbeitete auf Hochtouren und hatte keine Zeit die neuen Bilder auch noch zu verarbeiten.
»Ich bin der Hüter der Sankten. Meine Darstellung an diesem Ort ist eine Projektion, aber ich bin durchaus real.«, sprach er mit tiefer kehliger Stimme von oben herab, als müsse das Publikum auf den Rängen alles genau hören können. »Könntest du dich dann etwas kleiner Stellen. Ich finde du hast uns schon genug Schmerz für einen Tag zugefügt, als das jetzt auch noch Nackenschmerzen nötig sind.« Toris Worte waren hart und respektlos. Nim schaute ihn mit dem eindeutigen »Bist du sicher bei dem was du da tust?«–Blick an, obwohl er die Reaktion auf die Geschehnisse mehr als nur verstand und innerlich vor Wut über die Qualen, die seiner Freundin zugefügt worden waren, schäumte. Andererseits hätte er mit einer solchen Aktion aus Toris Richtung nie gerechnet. Er hatte gerne mal eine große Klappe, spielte aber eigentlich immer nach den Regeln.
Kommentarlos verkleinerte sich die Projektion. Jetzt überragte Tori den alten Mann sogar ein wenig. »Ihr seit die zweite Gruppe, die den Test besteht.«, erklärte der Typ. »Du hast das schon mit anderen gemacht?«, war Shizuka entsetzt. »Die Feuerprüfung habe ich nach dem letzten Fiasko hinzugefügt.« »Hattest du wenigstens deinen Spaß uns, und vor allem May, so zu quälen?« »Es war nicht meine Intention Spaß zu haben oder jemanden zu quälen.«, erklärte er weiter mit sanfter Stimme: »Die Prüfung diente alleine dem Wohl eurer gesamten Rasse.« »Was für ein Fiasko?« Schlagartig hatte May alle Augen auf sich gerichtet, zeugte diese Frage doch davon, wie es ihr nach der Tortur ging. Sie war offensichtlich wieder bei Sinnen.
»Vor vielen tausend eurer Jahre lenkte ich das Sanktum auf den Planeten, den ihr Erde nennt. Es sollte eure Brüder und Schwestern vereinigen und ihnen zeigen, wie man in Frieden leben kann.« Tori deutete auf die Zuschauerränge, kaum das er die ersten Worte vernommen hatte. Das würde dauern und sie standen schon zu lange in diesem Raum herum. Die Anderen folgten und auch das real wirkende Hologramm nahm seinen Platz direkt vor dem kleinen Publikum ein. »Es dauerte bis Menschen das Sanktum fanden und noch länger bis die wissenden Vier in das Innere vordrangen und die Prüfung lösten. Sie errichteten eine große Stadt auf dem Wasser in der schon bald viele tausend Menschen in Harmonie und Frieden lebten.« Er deutete bei dem Wort »Innere« mit den ausgebreiteten Armen an, er meinte eben diesen riesigen Raum, obwohl nach den letzten Geschehnissen genau das wohl allen Anwesenden mehr als nur klar war. »Habgier und der Durst nach Macht verdunkelte die Seelen einiger Joluh und schon wenige Jahre später fanden viele tausend eurer Rasse den Tod. Sogar die kleinen Mengen Joluh, die euch inne wohnen, haben die gleiche zerstörerische Kraft, die uns damals angetrieben hat.«
»Als das Universum in Trümmern lag und sich die vier Joluh sich nicht einig werden konnten, wie sie das Weltall unter sich aufteilen sollen?«, platzte es Nim heraus und verwendete fast die gleiche Formulierung wie die Seem damals. »Das ist richtig.«, zeigte sich der wie ein historischer Mix wirkende Mann erstaunt: »Woher kennst du unsere Geschichte?« »Das wird als Sage oder Märchen auf den verschiedensten Welten erzählt.«, erklärte Nim und erntete auch staunende Blicke seiner Menschenfreunde. »Im Kampf der Menschen um die Macht ging dieses Sanktum in den Tiefen des Alls verloren und ich habe mich anderen Welten zugewandt. Alle Vorherberechnungen der Zukunft ließen nur einen Schluss zu. Die Menschheit würde von den Draken vernichtet. Wie ihr diesem Schicksal entkommen konntet ist mir bis heute ein Mysterium.«
»Unter den Menschen gibt es eine Person, die den Lauf der Geschichte immer wieder zum Besseren korrigiert.«, erklärte Nim vage ohne zu viel zu verraten. »Niemand kann die Zeit kontrollieren. Den Lauf der Zeit zu ändern ist eine Macht, die nicht einmal ich mir zuschreibe.«, verstand der alte Mann sofort worauf Nim hinaus wollte. »Und doch sind wir hier, oder?«, lächelte Nim schon fast eine Spur zu stolz. »Immerhin ist dies die erste Erklärung mit denen meine falschen Berechnungen einen Sinn ergeben. Auch wenn es beunruhigend ist eine derart gefährliche Waffe in der Hand Einzelner zu wissen.« »Diese Macht ist seit vielen Jahren bei uns Menschen gut aufgehoben und in weisen Händen.«, fügte Tori an, was seine Kollegen zu mehr als nur verwunderten Blicken hinreißen ließ.
»Nun denn. Als ich von den wissenden Vier erfuhr, die zusammen mit ihrem Volk zwischen den Sternen reisten und sich zusammen mit anderen Rassen für den Frieden einsetzen, musste ich meine Pläne ändern. Eigentlich war das Sanktum für die Menschen unerreichbar im All verloren, aber eure Rasse ist stärker, als ich es erwartet hatte. Nach eingehender Prüfung eurer Situation habe ich den Ruf, dem ihr gefolgt seid, erneut ausgesandt.«
»Wir sind diese wissenden Vier?«, fragte Jiyai unsicher. »Ihr wart für längere Zeit am selben Ort und obwohl ihr euch eurer Fähigkeiten bewusst wart, hab ihr keinen Groll gehegt, keine Macht angestrebt oder euch gar gegenseitig angegriffen.« »Und wo bist du?«, fragte Jiyai erneut. Offensichtlich hatte sie die Angst und Scheu durch seine kleinere Größe und die weisen Worte bereits komplett abgelegt. »Dieser Körper dient nur um wie euresgleichen auszusehen und Vertrauen zu schaffen. Ich bin nur eine, wie ihr es ausdrücken würdet, Wolke weit draußen im All.« Shizuka kicherte: »Nimm es nicht persönlich, aber so läuft auf der Erde bestimmt seit 2000 Jahren niemand mehr herum.« »Du kontrollierst die Luft, oder?«, war wieder May an der Reihe. »Wie kommst du darauf?« »Seit ich vom Krieg der Joluh erfahren habe, frage ich mich wer wohl gewonnen hat. Naja, echte Gewinner gibt es in keinem Krieg.« »Weise gesprochen.«, bestätigte die Mischung aus Römer, Grieche und Wikinger: »Ich bin der Luft zugetan.«
Das Hologramm begann zu flackern. Vor ihnen stand nun ein älterer Herr im Anzug, Hemd und Schlips. Mit dem kurzem drei Tage Bart sah er jetzt mehr aus wie ein cooler Uniprofessor, was seine Sprechrolle in diesem Auditorium nur zu untermauern schien. Erneut kicherte Shizuka: »Viel besser. Danke!« »Und was passiert jetzt?«, fragte May unsicher nach. »Das liegt ganz bei euch. Ihr könnt das Sanktum als Forum nutzen und damit andere Joluh eurer Rasse aufzuspüren. Es kann als Zufluchtsort dienen und Schutz bieten. Aber seit gewarnt: Das Sanktum ist ein mächtiges Instrument. In den falschen Händen bringt es Vernichtung und den Tod.« »Haben andere Rassen ihr Sanktum missbraucht?«, fragte Nim zögerlich, wohl aber um die Menschheit und deren Zerstörungspotential wissend.
»Es wurde bisher erst dreimal ein Sanktum aktiviert. Euer Volk hat sich sehr positiv entwickelt. Viele andere Rassen haben sich bereits auf dem Weg dorthin zerstört und sich bekämpft. Sie haben die Möglichkeit ihr Sanktum zu aktivieren für immer verloren.« »Die Schon-Turak.«, flüsterte May unmerklich. »Ja, ganz genau. Ohne den Fünften, den Hüter des Joluh, ist es nutzlos. Andere Völker haben über die Jahre das latente Joluh abgestoßen und nie um dessen Potential erfahren.« »Die Seem?«, fragte May diesmal deutlicher und klarer. »Ja, sowohl friedliche Rassen wie die Seem, die Stri, die Wadomm, aber auch kriegerische Völker wie die Draken haben das Potential über die Jahrtausende verloren.« »Die Seem wären bestimmt würdig.«, murmelte May.
Nim hatte derweil andere Informationen gezogen, die er nicht einzuordnen vermochte: »Ich bin der Hüter des Sanktums?« »Du bist ein Einzelner und sprichst für die Meisten.« »Weil die meisten Menschen keine Kräfte haben?« »Genau. Ohne den Hüter wird das Sanktum nicht funktionieren. Es muss ein Gleichgewicht herrschen.« »Und –«, Nims Blick schwenkte kurz zu May hinüber und er hielt kurz inne, denn diese Frage würde sie hart treffen: »Und was passiert wenn mir etwas zustößt?« »Du wirst Vertreter ins Sanktum bringen. Menschen denen du vertraust. Das Sanktum wird sie beobachten und, wenn es an der Zeit ist, eigenständig wählen. Für die Vertreter der Elemente gilt das Selbe.«
Der Avatar machte einen Schritt zurück: »Ich denke ihr habt nun genug Informationen. Ihr seit eine schlaue Spezies und werdet das Sanktum zu verstehen lernen. Die Türen an allen vier Seiten öffneten sich, die letzte Box versank und in der Mitte erschien wieder die Konsole. Der alte Mann verschwand wie Sor bei einem Energieausfall. »Juhu, wir haben ein eigenes Sanktum. Ich wollte ich schon immer eins haben.«, merkte Tori mit ironischem Ton an. Shizuka boxte ihm, mit noch geschlitzteren Augen als üblich, in die Schulter. Jiyai drückte auf den Knopf auf dem Podest und bekam von allen Seiten ein »Nicht!« zugerufen. Es war zu spät. Der Schalter verschwand und es erschien eine Anzeige mit Symbolen: »Er hat gesagt wir werden es herausfinden. Kann also nicht so gefährlich sein.« Wow. May war beeindruckt von ihrer neuerlichen Selbstsicherheit. Wo war das ängstliche Küken nur geblieben?
Sie tippte auf ein Symbol und der Raum dunkelte sich ab, wurde aber sogleich von einer riesigen Sternenkarte erhellt, die sich über ihren Köpfen im Zentrum der Halle um sie herum ausbreitete. »Funktioniert genau wie Zuhause.«, lächelte Jiyai und May fiel wieder die von Mergy so hoch gelobte Auffassungsgabe ein, bemerkte aber auch, wie selbstverständlich sie das Ray Team und die Station als ihr Zuhause ansah. Anscheinend vergrößerte Jiyai die Ansicht, denn die Sterne flogen nur so auseinander. Vier leuchtende Punkte im Zentrum erhaschten ihre Aufmerksamkeit. »Sind wir das?« Jiyai bestätigte die Annahme und verschob den Bildausschnitt. Wieder sausten die Himmelskörper an ihnen vorbei und die blaue Erde wurde sichtbar.
Es waren diverse Punkte auf der Erde zu sehen und einer im Weltall. »Ob das wohl auch Joluh sind?«, fragte Shizuka unsicher. »Ich denke schon.«, erklärte May und deutete auf den Punkt im All: »Das müsste meine Mutter sein.« Als hätte May ein Kommando gegeben steuerte Jiyai den Punkt an und vergrößerte. Die Station war nicht zu sehen, aber ein Symbol mit vielen Figuren leuchtete neben dem Punkt auf. Ohne zu zögern tippte Jiyai darauf. Plötzlich rückte die Sternprojektion um zwei Meter nach Oben. Reiko stand im Raum und schaute sich unsicher um. »Mama?«, war May unsicher ob das nun echt oder nur ein Bild war. »May? Geht es dir gut? Wo sind wir?« May lächelte und schloss ihre Mutter in die Arme. Sie war nur froh das Nim ihre Augen gesäubert hatte. Wie hätte sie ihr das alles sonst erklären sollen? »Du bist noch auf der Station. Denke ich jedenfalls.«, erklärte May. »Ein Holophon hat es auch. Cool!«, war Tori wieder deutlich positiver gestimmt. »Sag den anderen, uns geht es gut. Wir kommen bald zurück. Einen Tag werden wir aber mindestens noch benötigen.« Reiko schaute sich noch einmal um und May gab Jiyai ein Zeichen. Sie verstand und tippte auf das gleiche Feld, dessen Symbol jetzt mit einem geschwungenen, fast handschriftlich wirkenden, X versehen war. Reiko verschwand.
»Langsam verstehe ich warum Mergy so ein Fan von dir ist.«, lachte May. Die komplett in die Konsole vertiefte Jiyai blickte auf. May sah wirklich sie an. »Von mir?« »Patienten behandeln, Erde kontrollieren und Kampfgleiter fliegen sind anscheinend nicht deine einzigen herausragenden Fähigkeiten.«, lächelte der Kommander: »Es ist schon spät. Gehen wir zurück zum Manta. Wir machen hier morgen weiter.« May beobachtete wie Jiyai ihren kleinen Mediterminal über die Säule hielt. »Was machst du?«, fragte sie erstaunt nach. »Ich dachte wir könnten eine Karte vom Sanktum gebrauchen, um zu planen.«, erklärte die kleine Asiatin an dem Pult, welches sie gerade mal überblicken konnte. May zog die Mundwinkel hoch: »Genau das habe ich eben gemeint.«
Im Pulk machten sich die fünf auf den Rückweg. Direkt vor der Hallen Eingangstür hielt May Nim zurück. Das Tor schloss sich hinter den anderen. Sie waren alleine. »Was ist los?«, fragte Nim. »Ich hätte dich heute beinahe verloren, ohne dir zu sagen, wie sehr ich dich liebe.« Ihre Augen waren kreisrund und die Worte zitterten bei dem Gedanken an das Geschehene. Nim legte ihr beide Hände an die Schläfen und umfuhr ihr Gesicht. »Ich weiß doch das du mich liebst. Du hast es heute einmal mehr gezeigt.« »Ich liebe dich.«, ließ May sich nicht davon abbringen die Worte laut auszusprechen. »Und ich liebe dich.« Nim lächelte zurück und küsste sie. »Dann kann ich jetzt ja abnippeln. Wo ist die Box?«
Demonstrativ schaute sich Nim um. May boxte ihn gegen die Schulter. Der pochende Schmerz verriet ihm das Überschreiten der unsichtbaren Linie, die Humor von Ernst trennte. Er war zu weit gegangen. Die Härte des Hiebes ging weit über die sonst üblichen Neckereien hinaus. »Du Idiot. Ich wäre am Liebsten gleich mit gestorben und du machst Witze.« Ihr Blick war ernst. Noch so ein Spruch und er würde wirklich schmerzhafte Prügel beziehen, soviel war klar. »Tut mir leid. War doch nur Spaß.« »Das war nicht lustig. Nichts von alledem war lustig.« »Hey, vergessen wir diesen dämlichen "Was passiert wohl wenn der normale Mensch stirbt"–Test, ok?« »Du bist nicht normal.« »Stimmt, manchmal bin ich ein Idiot.« »Ein großer.« May lächelte und drückte ihn noch einmal fest an sich.
Nim öffnete die Tür und die anderen Piloten standen mit sorgenvoller Miene auf der anderen Seite. Naja, alle bis auf Tori: »Seht ihr. Sie haben geknutscht. Wie unprofessionell.« May setzte ein verlegenes Lächeln auf, während Shizuka verständnisvoll mit den Augen funkelte. Im Manta setzte May noch eine zusätzliche Meldung ab, die, zumindest vom groben Inhalt her, mit der Information, die sie ihrer Mutter gegeben hatte, identisch war. Nach einer kleinen Mahlzeit ging es in die Kojen. Nim drückte sich dicht an seine Freundin. Für einen Raum voller Menschen war der Kontakt dann doch eine Spur zu dicht. May aktivierte ihre Kräfte und flüsterte ihm sanft ins Ohr: »Lass das! Zucht und Anstand sind diesmal mit von der Partie.« Sie konnte sein schelmisches Lächeln hinter sich förmlich spüren.
»Wie kommst du mit der Tarnung voran?« Patricia war ungewohnt schroff bei der Frage. Als wenn sie etwas unausgesprochenes auf der Seele hatte. Tina kannte ihr Ebenbild nur zu gut. Sie bemerkte es sofort, ging aber dennoch nicht weiter darauf ein. »Dahinten läuft ein Dauertest.«, deutete ihr Zwilling in eine Ecke in der gestern noch ein Schrank stand: »Ich habe derweil bereits mit der Verkleinerung begonnen.« »Du hältst auch eine Tarnung der kompletten Station für machbar?« »Ja, wenngleich sie etwas anders konzipiert werden muss, da sie die Station ja nicht einschließen kann. Das würde auf Dauer zu viel Energie benötigen. Etwa 5-6 Meilen vor der Station platziert dürfte das Tarnfeld genug abschirmen, um zumindest von der Erde aus nicht sichtbar zu sein. Mit einem Sensorarray auf der anderen Seite der Station müssten wir alles dazwischen verschwinden lassen können.« Patricia trat auf die vermeintlich leere Ecke des ansonsten vollgestopften Raumes und klopfte in die Luft. Verschwommen und untermalt vom metallenen Hall der Tür erschien der dort ansässige Schrank und verschwand sogleich wieder hinter seiner Tarnung.
»Ich habe gerade die Tiniumvorräte geprüft. Es fehlen diverse Würfel. Was ist damit passiert?« Tina war erstaunt: »Also ich habe in den letzten Tagen nur zwei gebraucht. Aber unser neuer Freund dahinten war bis tief in die Nacht aktiv. Die letzten Nächte um genau zu sein.« Patricia schaute in die Richtung des anderen Labors und machte sich auf den Weg. Thomas lag oder besser hing in seinem Stuhl, den Kopf nach hinten gelehnt. Die Füße auf dem Schreibtisch quer durch den schmalen Gang gehängt. Ohne den zentralen Arbeitsbereich hinter ihm wäre der Stuhl wohl nach hinten weggerollt. So bot er einen stabilen Platz, der ihn in der eigentlich ziemlich unbequemen Position hielt.
In den großen Bereich hinter seinem Arbeitsbereich, mit einer u-förmigen Arbeitsumrandung und einem zentralen Tisch, genau wie Tina ihn nutzte, stand ein fast raumhoher Frachtcontainer, der schon Aufgrund seiner Dimension nicht durch eine der Türen passte und offensichtlich mit den vermissten Würfeln direkt im Labor hergestellt worden war. »Ein Frachtcontainer?«, brachte die anscheinend genau Buch führende Schwester erbost zum Ausdruck und gab dem Drehstuhl mit Thomas einen Schubs zur Seite. Seine Beine rauschten zu Boden und beförderten durch die Hebelwirkung den schlafenden Oberkörper wie ein Katapult in die Höhe. Thomas schaute einige Momente unsicher und verwirrt umher. »Ein Frachtcontainer?«, wiederholte sie ihre Frage. »Ein Sofa wäre mir auch lieber gewesen.« »Das ist nicht witzig!«
Thomas streckte sich und versuchte sein verbogenes Kreuz wieder hinzubiegen: »Ist auch nicht witzig gemeint. Der Stuhl ist nicht wirklich gut zum Schlafen geeignet. Ich hab auch nur einen 20 Fuß Container gebaut. Mit Rücksicht auf die limitierte Raumgröße und den Energiebedarf.« Thomas schmunzelte, während er seine noch recht neue Kollegin beim Verarbeiten der Informationen beobachtete. »Ist da wenigstens etwas sinnvolles drin?« »Nein, der ist Massiv. 67,3 Tonnen. Abzüglich der normalen 2,3 Tonnen Eigengewicht.« »Massiv? Ernsthaft, ich erwarte eine plausible Erklärung.« Tina gesellte sich zu den Beiden und lehnte sich neugierig an einem der betonummantelten Träger.
»Wusstest du davon?« »Nein, ich hab nur gesehen, wie er gebaut wurde.« »Und du hast ihn nicht davon abgehalten.« »Nein, ich hab mir gedacht er wird schon wissen, was er da tut.« »Anscheinend nicht.« »Nur zur Information: Ich kann euch hören. Aber um die Frage zu beantworten. Er dient einem sinnvollen Zweck.« Jetzt hatte er die fragend dreinblickende Aufmerksamkeit beider Damen. »Ich denke ich habe eines unserer derzeit größten Probleme gelöst.«, verkündete er mit sichtlichem Stolz, während Patricia nur fragend eine Augenbraue hob. »Jaque, aktiviere die Positionsfixierung und fahre das System hoch.«
»Und? Was sagt ihr?« »Wozu?« Thomas deutete mit einem breiten Grinsen an den Schwestern vorbei. Der Container schwebte in etwa einem Meter Höhe im Raum. Beide Frauen umschwirrten den riesigen Block. Es war offensichtlich. Es gab keine Drähte und andere Möglichkeiten ihn so fixiert zu halten und gleichzeitig die Befestigung verschwinden zu lassen. Tina schwenkte ihren Arm unter dem Kasten her. »Das würde ich lassen. Das System ist noch nicht ausreichend getestet. Knapp 70 Tonnen können sehr schmerzhaft sein. Wir wollen doch keinen Arm verlieren!« Er beobachtete die beiden weiterhin bei dem Bestaunen des kleinen Wunders. »Anders als einige hier annehmen, habe ich mich, mit der Hilfe von Jaque, der Forschung gewidmet. Theorien und Experimente anderer Wissenschaftler wurden aufgegriffen und vereint. Ist nicht alles auf meinen Mist gewachsen und das atomare Basteln hat definitiv seine Vorteile.«
»Drück mal dagegen.« Tina tat wie angewiesen, aber der Klotz bewegte sich nicht. »Jaque, die Positionsfixierung auf 50% senken.« »Versuch es nochmal, aber vorsichtig.« Wieder drückte Tina dagegen und er ließ sich mit einer Hand führen. Hätte sie wie vorher mit voller Kraft dagegen gedrückt hätte sie ihn wohl gegen die Außenwand geschmettert. »Unglaublich.«, entfuhr es ihrer Schwester. Thomas wies Jaque an das System wieder langsam herunter zu fahren: »Wenn 70 Tonnen auf den Boden aufschlagen, dürften wir wohl ein Problem bekommen und ich hab noch keine Ahnung wie lange so ein Energiewürfel das Teil in der Luft hält.«, erklärte Thomas und fügte noch hinzu: »Darf ich mir jetzt als Belohnung ein Sofa replizieren, Frau Finanz- und Energiewächterin?« Patricia lachte auf. Trotz ihrer doch recht schroffen Art nahm er ihre Reaktion auf den Container nicht wirklich krumm, obwohl er bei diesem Resultat doch jedes Recht dazu hatte.
»Aber auch sonst war ich nicht untätig. Die Verkleinerung von Jaques Systemen läuft besser als erwartet.« Er zog eine Pinzette aus dem Stifthalter und knipste die Metallenden über der Tischoberfläche zusammen. »Hand aufhalten. Ganz vorsichtig.« Über der Hand von Patricia öffnete er die Pinzette, während sich Tina fragte, was das jetzt solle? »Krass oder?« Patricia versuchte den Computer in ihrer Hand zu sehen, während Tina augenscheinlich den Spaß verstand. »Hier, mit der Lupe geht es einfacher. Beeindruckend, oder?« »Ich sehe immer noch nichts.« »Doch der ist da. Ich hab ihn direkt neben der horizontalen Linie dort abgesetzt.« Er richtete die Hand von Patricia neu aus und blickte selbst durch die Lupe, während Tina sich im Hintergrund die Hand vor den Mund hielt und vorbeugte, um den Lachanfall zu verbergen. »Oh, mein Gott. Er ist weg. Du hast doch nicht etwa ausgeatmet. Keiner bewegt sich!« Patricias Blick erschrak und Tina prustete laut los.
Erst jetzt schaltete auch ihre Schwester: »Oh, ja. Sehr witzig.« »Tina findet es witzig.« »Ja, er hat dich kalt erwischt.« Tina konnte noch nicht wieder klar sprechen und hatte Mühe die wenigen Worte herauszubringen, während sie immer noch die Reaktionen ihrer Schwester vor dem inneren Auge sah. Thomas stellte einen schwarzen Würfel mit etwa 40 Zentimeter Kantenlänge auf den Tisch. Seitlich waren klappbare Haltegriffe wie bei einer Schwerlastkiste angebracht. »Kannst du ihn sehen oder soll ich eine größere Lupe holen?«, lachte Thomas und riss Tina gleich wieder von den Füßen. Um weiterer Peinlichkeit zu entgehen, erkundigte sich Trish nach weiteren Möglichkeiten der Verkleinerung. Thomas vermutete man könnte vielleicht noch etwa 20 Zentimeter herausholen, ohne die Funktionen einzuschränken. Eventuell sogar ein klein wenig mehr.
»Haben wir die Inquisition überstanden?«, fragte nun Tina laut. »Ich glaube das heißt Inspektion.«, lachte Thomas in ihre Richtung zurück. »Wie sieht es mit Frau Walters aus?« »Ich denke sehr gut. Wir treffen uns nächste Woche auf ein Bier.« »Du magst doch kein Bier.« »Ich fliege auch nicht gerne und bin dennoch hier, oder?« Patricia schmunzelte. »Und was ist mit dem Arzt?« »Bis letzte Woche hatte ich noch zwei potentielle Kandidaten auf dem Schirm, aber einer hat sich selbst abgeschossen. Mein Favorit war sowieso Trend Ingrim. Er war Chefarzt in einer größeren Klinik bis er von einer Patientin der sexuellen Belästigung angezeigt wurde. Sie hat die Anzeige nach einigen Monaten zurückgezogen und zugegeben, sich die ganze Geschichte nur ausgedacht zu haben. Seinen Posten hat er durch die Sache dennoch verloren und sein Ruf war ebenfalls unwiederbringlich ruiniert. Er arbeitet derzeit in einem Labor und kümmert sich in seiner Freizeit um Bedürftige in einer freien Klinik. Da er ebenfalls in England wohnt, wollte ich ihn mir nächste Woche mal aus der Nähe ansehen und dann ersten Kontakt aufnehmen.«
»Sehr gut.« »Ich habe mir übrigens einen Namen ausgedacht.« »Nein, nicht schon wieder.« »Für meine Identität!«, fügte Thomas fast schützend hinzu: »Kommander Merninger geht nicht, wegen meiner Familie und meinen Bekannten. Kommander Tom klingt wie eine billige Kopie eines Pop Songs der 80er.« Er machte eine kleine Pause. Mehr aus Unsicherheit, als um die Spannung zu erhöhen. »Kommander Cool!«, brachte er mit stolz geschwellter Brust heraus. »Wir hatten es doch besprochen. Du sollst keine Dinge mehr benennen.«, brachte Tina unter schallendem Lachen heraus, während ihre Schwester, kaum verständlich, nach der Farbe für seinen Superheldenanzug und sein Cape fragte.
»Das war ein Spaß!«, lachte Thomas: »Da ich, wenn auch mit Jaques Hilfe, das Personal zusammen bringen soll, dachte ich an Mergy. Abgeleitet vom Englischen "to merge". Nur eben mit weichem Ypsilon am Ende, damit es nicht so schroff klingt und ein wenig Merninger steckt auch drin.« »Kommander Mergy.«, ließ Tina den Namen laut über ihre Lippen gleiten: »Das klingt gut. Aber ich hätte gerne gesehen, wie du als Kommander Cool verkleidet durch die Straßen springst.« Tina klopfte sich erneut auf die Jeans, die unter ihrem weißen und an vielen Stellen beschädigten und verschmutzten Kittel hervorlugte. »Wir werden unsere Vornamen wie gehabt nur abkürzen. Trish und Tin.« Mergy lächelte.
»Dann wäre das ja auch geklärt, Kommander Trish.« »Ja, heute hat Projekt TRT einen ziemlich großen Sprung nach Vorne gemacht.« »Ich würde gerne dieses Verschwindix von Tin an meinem Container probieren, um zu prüfen ob es Nebenwirkungen in Verbindung mit dem Antrieb gibt. Ein schwebendes Objekt dürfte auch nicht uninteressant sein um die Tarnung vollständig zu testen.« »Verschwindix? Ernsthaft?« »Das ist seine Art seinen Unmut auszudrücken, weil ich das Teil Tarnvorrichtung nennen darf, er aber das zu entwickelnde Schiff nicht Enterprise.« »Andromeda, Voyager, Moya, Defiant, Great Fox oder Serenity?« »Das entscheiden wir wenn es soweit ist.« Trish war sichtlich amüsiert über die vielen Namen aus Fernsehserien und sonstigen Quellen, die er ohne Mühe aus dem Hut zauberte und wie bescheuert seine eigenen Einfälle oft waren.
Erben der Geschichte
Als May ihre Augen öffnete saß Jiyai bereits angezogen auf dem oberen gegenüberliegenden Bett und tippte auf ihrem flachen Computer herum. Ihre Augenpaare trafen sich und Jiyai wurde rot und wendete den Blick hastig ab. Offensichtlich hatte sie May und Nim schon länger von oben herab beim Schlafen beobachtet. Nim hatte seine Hand immer noch um sie geschlungen und schlief fest. May liebte diesen Schutzwall, den er mit dieser beschützenden Geste für sie errichtete. Doch die neuerliche Wohnsituation in dieser kleinen, wenn auch temporären, Wohngemeinschaft brachte noch eine zweite Möglichkeit der Deutung hervor: »Meins!« Auch wenn ihr Freund es schon angesichts ihrer Vergangenheit niemals so direkt formulieren würde, zeigte er den anderen Anwesenden mit seinem Arm und trotz des tiefen Schlafes eindeutig seinen Besitzanspruch. May schlang ihre Arme um seinen Unterarm und kuschelte sich vorsichtig an ihn heran, um seine schützende Wärme im Rücken zu spüren. Ja, Nim war auch ihr wertvollster Besitz und sie würde ihn niemals teilen wollen.
Ihr Freund trug seinen blauen Videospielschlafanzug, wie er ihn nannte. Dieses Kleidungsstück trug er gerne, wenn er auf der Couch herum lümmelte und wieder einmal Prinzessinnen aus den Schlössern finsterer Oberlords rettete. Es war schon witzig, weil er in seiner Freizeit genau das tat, was er bei der Arbeit auch machte. Naja, es waren keine Prinzessinnen und er war auch nie mit einem Schwert bewaffnet zu Pferd aufgebrochen, um in dunklen Höhlen gegen Trolle und anderen Monster zu kämpfen, aber technisch war es genau das selbe.
Viele kleine Cartoonfiguren waren auf seinem Schlafgewand abgebildet und erweckten mehr den Eindruck es handele sich um Kleidung für Kinder und nicht um die eines Erwachsenen. May selbst trug einen lila Anzug mit bunten geometrischen Applikationen. Nim war sichtlich enttäuscht gewesen, als May ihn gestern aus ihrem Koffer zog. Er hätte sein Mädchen wohl lieber im Nachthemd mit Hasenmuster gesehen. Tori war anscheinend im Bad, denn sein Bett gegenüber war leer und einen anderen Platz zum Verstecken gab es in dem kleinen Manta ja nicht. May streckte sich noch einmal ein wenig und sackte dann wieder in den Armen ihres Liebsten zusammen.
Tori und Shizuka kicherten, als Nim und May später das winzige Bad verließen. Offensichtlich hatte Tori wieder eine spitze Bemerkung abgelassen und bildlich umschrieben, was die Beiden seiner Meinung nach in dem an sich schon kleinen Bad getrieben hatten. May schlitzte ihre Augen und brachte das Kichern augenblicklich zum Verstummen. Jiyai saß mit dem Teller auf dem Boden und aß ein Brötchen. Sie wollte wohl nicht ihr Bett vollkrümeln, war aber auch nicht gewillt die Pilotensitze dafür zu nutzen. Das Pärchen zog sich ein üppiges Frühstückstablett aus dem Automaten und setzte sich ebenfalls vor ihr Bett, während Tori und Shizuka wohl schon gegessen hatten und nur schweigend zusahen.
»Jeder nimmt einen Terminal mit, damit wir getrennt von einander Aufzeichnungen machen können.«, merkte May an, während sie ihren letzten Happen Wurstbrot vertilgte. Shizuka verstand und kramte aus dem Fach links oberhalb des Pilotensitz zwei Geräte heraus. Tori tat selbiges auf der anderen Seite. Es dauerte nicht lange und alle standen wieder in der großen Halle, die sie alle noch immer an das Schlimmste erinnerte. »Wir teilen uns auf.«, erklärte May: »Tori und Shizuka prüfen die Räume auf der Seite.« May deutete auf die Tür links von ihrem Eingang. »Nim und ich nehmen die rechte Seite.« Ihre Kollegen hörten den Anweisungen aufmerksam zu. Dieser Raum und die Hilflosigkeit des Vortages hatten offensichtlich deutliche Spuren hinterlassen. »Jiyai wird sich mit dem Computersystem hier befassen. Wir brauchen einen Kommunikationsweg. Das hat höchste Priorität. Wenn ein Bereich fertig ist, dann gleichen wir die Daten hier mit Jiyai ab.« Das Mädchen schaute sie unsicher an, als May ihr die wichtige Aufgabe zuteilte.
»Es sei denn du traust dir das nicht zu.«, kam May einer Frage zuvor: »Ich denke niemand hier ist besser für diese Aufgabe geeignet als du.« Jiyai lächelte. »Auf geht es.« Es vergingen Stunden, bis das erste Team fertig war, obwohl sie nur einige wenige Türen öffnen konnten, weil der Schalter daneben ein Luftsymbol enthielt. Nim und May trudelten durch diesen Umstand als erste wieder in die Halle und Jiyai war unsicher, ob May sauer sein würde, weil sie noch nichts wirklich brauchbares gefunden hatte. »Nette Einrichtung.«, merkte May an, weil Jiyai nicht mehr an einem, für ihre Person zu großem, Podest stand, sondern an einem massiv wirkendem Schreibtisch saß. »Der Raum ist wie ein Holoraum, nur mit Replikaten.«, erklärte die junge Arztanwärterin. Sie tippte auf einige der Felder in dem nun schräg in den Tisch eingelassenen Bedienfeld. Vier gepolsterte Stühle schienen vor dem Tisch aus dem Boden zu springen. »Gefällt mir.«, lachte Nim und setzte sich.
Voller Sorge teilte Jiyai ihr schließlich das wenige mit, was sie bisher erfahren hatte. Die vordere Tür führe zu einem Hauptkontrollraum, berichtete sie. Davor sei eigentlich eine Art mehrstöckiger Lagerraum mit einem Tor nach draußen an der Decke, aber die Daten zeigten an, die Türen wären versperrt, weil große Bereiche beschädigt und voll Eis und Wasser seien. »Das Sanktum ist hier eingeschlagen. Es musste dabei ja Schaden genommen haben.«, merkte May nachdenklich an. »Dieser Terminal hat nur Zugriff auf die Datenbanken und das Joluhscope.«, erklärte Jiyai ihre Erkenntnisse: »Ich kann ansonsten nur den Raum hier kontrollieren und die technischen Daten des Systems einsehen.«
»Sonst noch etwas?«, fragte May nach. »Ich glaube ich habe eine Art Logbuch gefunden, kann aber ohne den Hüter nicht darauf zugreifen.« Sie sah Nim an, der gleich neben sie sprang, als wäre dieser Titel schon immer seiner gewesen. Jiyai tippte auf ein paar Symbole und Nim musste ein weißes Quadrat antippen. Sofort erschien die Aufnahme zentral über dem rechteckigen Tisch. Es zeigte den Flug durch den Unterraum. Jiyai spulte vor und an einem Punkt trat das Schiff in den Normalraum ein und man konnte die Erde sehen, die immer größer wurde. Ungeduldig spulte der junge Datenoffizier weiter. Das Schiff landete auf dem Meer. Dann passierte nichts. Wellen und der Tag und Nachtwechsel. Ab und zu ein Sturm, der das Sanktum aber in keinster Weise zu bewegen vermochte. Dann Boote. Kleine primitive Boote und später größere Jollen. Es wurden Stege errichtet und viele Menschen, die wie der junge Mann im ersten Lager gekleidet waren, verrichteten ihre Arbeit in langsamer Vorspulgeschwindigkeit.
»Sie müssen das Sanktum aktiviert haben.«, merkte Nim an und May nickte. Tori und Shizuka stießen zu den anderen und Tori muffelte davon, sie hätten mit dem Filmabend ruhig warten können. Dann, ohne Vorwarnung, standen die hölzernen Stege in Flammen. Feuerbälle flogen auf das Sanktum zu. Wassermassen ergossen sich über die Holzwege und die Menschen darauf. Jiyai fror das Bild ein. Ein Mann stand dort und hielt Feuerkugeln in den Händen. Bild für Bild konnte man sehen wie er sie warf. An einer Stelle traf er eine Frau, die ihm eine dunkle Wolke entgegen zu stellen versuchte. Aber es war zu spät die Kugel durchstieß die noch dünne Wolkenschicht und die Frau zerfiel schreiend zu Staub.
»Das war es, was der alte Mann gemeint hatte. Sie haben um das Sanktum gekämpft.«, merkte Shizuka an, während May die Hand ihres Freundes zusehend fester hielt. Zu frisch waren die Erinnerungen an seinen Tod, die dem soeben gesehenen nicht unähnlich waren. »Gibt es nur diese Perspektive?«, fragte May. »Nein, es gibt hunderte. Jede Datei scheint eine eigene Aufzeichnung aus einer anderen Kamera zu sein.« Jiyai drückte auf ein anderes Dokument. Es war der Lagerraum mit dem Gold, den sich schon aufgesucht hatten. Langsam schaltete sie sich durch die Dateien. Nach etwa 15 Versuchen entdeckten sie die langen Gang, durch den sie ins Innere vorgedrungen waren. »Das muss die Frau sein, die dort noch immer liegt.« Deutlich konnte man an der Frau vorbei nach draußen sehen, wo die Feuer wüteten. Dann hob die junge Frau ihre Arme und eine Wand aus Wasser versperrte das Tor. Sie musste hart kämpfen um sie aufrecht zu erhalten. Das deutete das Stöhnen mehr als klar an.
Zwei Feuerkugeln schossen durch die feuchte Mauer. Der ersten konnte sie ausweichen, aber die zweite bekam sie mit der linken Körperhälfte ab. Mit lauten Schreien des Schmerzes sackte sie im Gang zusammen. Zwei Männer traten durch den jetzt nur noch von Wasser befeuchteten Eingang. Einer hob die Frau mit seinen Kräften in die Luft und schmetterte sie gegen die Wand. Genau in der Lage, in der sie die kleine Entdeckergruppe sie am Vortag gefunden hatte. Hastig tippte Jiyai weiter, als würde sie etwas verpassen, wenn sie nicht unverzüglich den nächsten Ort des Geschehens finden würde.
Ein junges Mädchen sprang kreischend in einen Raum. Ein älterer Mann verschloss die Tür von Innen. Kurz konnte man im Gang hinter der Tür noch ein Flammeninferno erkennen, dessen Vorhut noch ein wenig in den Raum vordringen konnte. »Sie können ihre Kräfte im Inneren benutzen!«, bemerkte zuerst Jiyai, was den anderen bisher noch gar nicht aufgefallen war. »Vielleicht kann man das abschalten? Wir konnten in der Halle ja auch unsere Kräfte nutzen.« »Nach dem Video sollten wir es besser eingeschaltet lassen.«, merkte Shizuka mit ängstlichem Blick an. May stimmte zu und Tori war still. Es war das Feuer, sein Feuer, welches all die gerade gesehenen Qualen verursacht hatte. Seines Gleichen. May hatte in allem recht gehabt. So würde es aussehen, wenn man sich nicht akzeptieren würde.
Der Mann, der selbst eine klaffende Wunde am Oberkörper hatte, half dem Mädchen auf die Beine. Ihr Arm war schwarz verbrannt und sie schrie vor Schmerzen. Sie musste der Ohnmacht nahe sein. Dann bewegten sie sich aus dem Türbereich und der neuerliche Datenoffizier suchte wieder nach einer passenden Aufnahme und wurde gleich in der nächsten fündig. Der Raum war länglich und es gab fünf Stühle, die in einem leichten Bogen angeordnet waren. Der Mann setzte die verletzte Frau auf den zweiten Sitz, während er selbst in der Mitte Platz nahm. Die gesprochenen Worte vermochte ihr Übersetzer nicht zu übersetzen. Erschrocken blickte das Mädchen nach rechts, wo im nicht von der Kamera einsehbaren Bereich die Tür war. Jiyai wechselte wieder kurz auf die andere Ansicht. Die Tür des Raumes glühte bereits. Die junge Frau nickte und setzte unter Schmerzen ihren verkohlten Finger auf eine Anzeige an ihrem Stuhl. Bildschirme erschienen vor allen Sesseln und sie wählte darauf einige Symbole an. Ihr Retter machte das selbe und dann wurde der Raum in gleissendem Rot erhellt.
Jiyai wechselte wieder durch die bekannten Kameras. Die Erste zeigte wie das Sanktum über das Wasser glitt. Steine, Bretter und Menschen fielen neben allerlei Kleinkram hinten vom Sanktum hinunter. »Stopp!«, war es Nim, der Jiyai anwies das Abspielen der Aufzeichnungen zu pausieren: »Wir haben es gefunden!« »Was gefunden?«, fragte May und auch die anderen schauten ihn fragend an. Ungläubig blickte Nim in die Runde: »Echt jetzt?« Die anderen Joluh schwiegen. »Eine hoch entwickelte Stadt wird vom Meer verschlungen und verschwindet für immer. Jetzt?« Wieder bekam er keine Antwort. »Wir haben Atlantis gefunden. Zumindest das Fundament oder den Keller. Darum haben die Forscher nie herausgefunden, wo die Stadt genau war. Die meisten Trümmer sind über hunderte Kilometer oder mehr im Meer gelandet, als sich das Sanktum in Bewegung gesetzt hat.« »Das Atlantis?«, fragte Tori unsicher. »Ich bin mir sicher. Es passt einfach alles zusammen.«
May lächelte. Nim und sein Entdeckertrieb. Jetzt hatte er wirklich etwas bedeutendes gefunden. Gleichsam wichtig für die Geschichte, als auch für die Zukunft. »Spiele weiter ab.« Der rote Unterraum wurde sichtbar. Nach kurzer Zeit wieder ein Wechsel zurück in den Normalraum. Das Sanktum wurde geschüttelt und dann fiel die Kamera aus. Bildweise fuhr Jiyai das Bild zurück. Etwa 15 Bilder vor dem Einschlag konnte man die eisige Oberfläche von Europa sehen. Schweigend sahen die fünf die Momentaufnahme an, die sich auf zwei Meter Höhe vor ihnen auftürmte.
»Das Feuer hat sich gegen die Anderen gestellt?«, fragte Jiyai. »Sieht wohl so aus. Aber wir sollten erst alle Daten sichern.« »Das ist doch wohl eindeutig.«, war Tori seiner Sache sicher. Deutlich war in seiner Stimme die Spur von Scham zu hören. »Vielleicht wollten die anderen Joluh auch nur das Sanktum für sich und haben das Feuer ausgeschlossen. Wir müssen alle Fakten kennen, bevor wir ein Urteil fällen können.« Tori nickte. Es stimmte ihn deutlich positiver, weil May nicht gleich das Schlimmste annahm, aber auch die Tatsache ihn nicht mit den Killern aus dem Video auf eine Stufe zu stellen, trug dazu bei. »Das ist alles bereits geschehen. Es ist Geschichte. Wir können es nicht mehr ändern.«, merkte Nim an: »Alles was wir damit machen können, ist daraus zu lernen und es in Zukunft besser machen. Es darf sich nicht wiederholen.«
Ungläubig schaute May in die Augen ihres Freundes. Hatte er das gerade wirklich gesagt? »Was ist?«, fragte Nim, als er den nachdenklich verwunderten Blick seiner Liebsten sah. »Ich bin über die weisen Worte meines Freundes mehr als nur ein wenig verwirrt.«, lachte May. »Passiert nur ein oder zweimal im Jahr. Damit musst du klar kommen.«, verkündete Nim mit einem gespielt strengen Tonfall. Jiyai spulte weiter und zapte durch die Kanäle. Lediglich der Zerfall der Leichen in den klimatisierten Räumen war zu sehen. Dann traten die fünf Ray Team Mitglieder in die große Halle. Erst als die großen Boxen erschienen, stoppte Jiyai hastig und blickte mit entschuldigendem Blick zu May hinüber. Aber es war Nim, der als nächstes etwas sagte. »Ich würde es gerne sehen.«, sagte er sanft bittend mit Blick auf Jiyai, die, sichtlich in der Zwickmühle sitzend, unsicher zu May hinüber blickte. Jetzt sah auch Nim seiner Freundin tief in die Augen: »Ich weiss es ist viel verlangt, aber mir fehlt fast eine Stunde.« May holte tief Luft und nickte ihrem Gegenüber auf der anderen Tischseite zu. Jiyai ließ die Aufnahme weiterlaufen und May griff fest nach Nims Hand, der den Druck erwiderte und mit dem Daumen ihren Handrücken streichelte.
Auch wenn ihm eigentlich etwa 45 Minuten fehlten, dauerte das Abspielen nur ein paar Minuten. Nachdem May sich zitternd auf dem Boden zusammengekauert hatte, ließ er Jiyai abbrechen. Erst jetzt begriff er das ganze Ausmaß ihres Erlebnisses. Obwohl er nun seine Wissenslücke geschlossen hatte, vermochte er sich nicht einmal vorzustellen, was in dem Schlaukopf seiner Freundin in diesen Sekunden und Minuten vorgegangen war und welche Gefühle dort gewütet hatten. May hatte erneut ein paar Tränen im Gesicht. Sie hatte nicht hingesehen, aber die lauten Schreie fanden dennoch den Weg in ihren Kopf und brachten die schmerzlichen Erinnerungen ans Licht. »Das ist nie passiert.«, beruhigte er sie und tupfte mit dem Daumen das salzige Wasser von ihrer Wange.
»Lasst uns diesen Kommandoraum suchen, den wir in den Aufzeichnungen gesehen haben. Vielleicht ist da ja noch etwas funktionsfähig.«, merkte May an und sprang auf, als wollte sie die aufgewühlte Erinnerung gleich wieder abschütteln. Bis auf Jiyai folgten ihr alle wortlos. »Jiyai, du auch. Wir brauchen deinen Sachverstand.« Wie an einer Schnur gezogen schloss das Mädchen mit leicht rotem Kopf auf. Der Gang war deutlich kürzer als der auf der gegenüberliegenden Seite, wo der Manta parkte. »Die Tür am Ende ist wegen der Schäden blockiert. Ich glaube wir können hier außen lang.«, erklärte Jiyai und verwies auf ein aktualisiertes Bild auf ihrem Terminal. Einige Räume links und rechts waren Schlafräume. Ganz wie die, die vom anderen Team gefunden worden waren, wie Tori berichtete. Es gab wie im Eingangsflur keinerlei sichtbare Spuren des Feuerkampfes. Waren die alle über die Jahrtausende verschwunden? Ein paar Lager mit Wagen, Werkzeugen, Möbeln und Stoffen, mehr war nicht zu finden.
Jiyai navigierte die kleine Gruppe mit ihrer Karte durch das recht große Labyrinth aus Gängen. Schließlich standen sie vor einer Tür, die laut Navigator die andere Zugangstür zum Kontrollraum war. Nim drückte das Feld auf der Tür, welches sich auch von jedem anderen Begleiter hätte aktivieren lassen. Die Tür schob sich in die Wand und gab den Blick ins Innere frei. Es war der Raum aus den Aufzeichnungen. Er sah nicht nur einfach genau so aus, sondern auch die beiden Personen, oder das was von ihnen übrig war, saßen immer noch in ihren Sitzen.
Es waren nur noch brüchige Knochen übrig. Die Sitze hatten in ihren Lehnen die schon bekannten Symbole. Jedes Element und der Hüter hatten einen vorgegebenen Platz. Der Mann im Video war der Hüter. Er hatte in der Mitte gesessen und die junge Frau neben ihm hatte den Sitz des Wassers besetzt. »Was machen wir jetzt? Wir können sie nicht einfach vom Sitz in eine Ecke werfen? Das waren Menschen. Richtige Helden!«, fragte Tori in den Raum. May musste ihm zustimmen. Diese Fremden hatten das Schicksal der Menschheit in eine neue Richtung gelenkt. Ohne diese beiden wäre die Erde wohl einem düsteren Pfad gefolgt. Wie die Schon-Turak. Nein, viel schlimmer. Ohne die Technologie für eine Reise ins All gab es keinen Ausweg. Es hätte einen erbitterten Kampf um den Planeten gegeben, der am Ende wohl für alle die Vernichtung bedeutet hätte. Fast wie es die Seem und der Joluh berichtet hatten, wäre die Schlacht in einer Katastrophe geendet.
Die beiden Personen im Kommandoraum des Sanktums und die Frau im Eingangsbereich waren wahre Helden, die ihr Leben für die Sache gegeben hatten und verdienten neben Respekt auch eine anständige Beerdigung. »Wir replizieren Särge und bringen sie zurück zur Erde«, erklärte May. »Und die anderen?«, fragte Shizuka unsicher. Es war klar, sie meinte die Angreifer, die sich auch noch im Schiff befanden. »Die bekommen etwas weniger Prunkvolles.«, erklärte May: »Gehen wir zurück zum Schiff und bereiten alles vor. Dann können wir Morgen hier weitermachen.« Die anderen stimmten zu. Nachdem sie einen programmierten Repligen in den Gang entlassen hatten, wurden die Ereignisse noch einmal Gedanklich durchgespielt. Selbst nach der Mahlzeit konnte keiner sofort schlafen. Zu bewegend waren die Ereignisse der letzten Tage gewesen. In dieser Nacht wirkten die Fünf mehr wie eine Gruppe Camper im Wald, die sich mit Gesprächen und Geschichten bis tief in die Nacht die Zeit vertrieben.
Als sich das Tor zum Sanktum öffnete lag der Repligen eingerollt im Gang. Hinter ihm die produzierten Särge. May hatte Shizuka gebeten eine Vorlage zu Zeichnen, die sie direkt übernahm. Die Kisten hatten die klassische Sargform, waren aber reichlich mit Schnitzereien verziert. Am Kopfteil prangte genau in der Mitte ein leeres Feld, in das der Repligen später das Symbol des jeweiligen Joluh einfügen sollte. Für die Angreifer gab es keine Verzierungen, sondern nur das Feuersymbol auf dem Deckel.
May wollte die Kisten eigentlich mit ihren Fähigkeiten bewegen, hatte aber deren Nichtfunktion komplett verdrängt. So mussten zwei kleine Grablings und eine Krankentrage als Transportvehikel dienen. Zwei gestapelte Särge trugen die Vier selbst, während Jiyai die Türen für die kleine Prozession öffnete und den Weg frei machte. Der erste Sarg konnte schon im Gang belegt werden. Jiyai und Tori hatten keine Berührungsängste, während ihnen die anderen die Arbeit, die sterblichen Überreste in die Holzkisten umzubetten, nur zu gerne überließen.
Durch die Aufzeichnungen von der ersten Erkundung des Sanktums konnten sie die Toten schnell finden und Jiyai ordnete sie anhand der Videoaufzeichnung der jeweiligen Joluh-Art zu. 14 Särge hatten sie am Ende gefüllt und am ursprünglichen Eingang abgestellt. Jiyai ließ den Repligen die Fundstellen säubern, um Infektionen vorzubeugen, wie sie sagte, aber May war sich sicher sie wollte die Situation für ihre Kollegen nur etwas angenehmer machen. Schließlich würde man sich später in einen Stuhl setzen müssen, in dem zuvor über viele hundert Jahre hinweg eine Leiche zerfallen war. Insgeheim war sie froh über Jiyais diskretes und professionelles Verhalten.
Es war bereits Mittag als sie den letzten Kasten im Gang abstellten und zum Essen wieder in den Manta umstiegen, wo sich alle noch eine ordentliche Dusche und neue Kleidung gönnten, um auch den kleinsten Rest des staubigen Todes vom eigenen Körper abzuwaschen. Nach einer Stärkung ging es zurück in die Schaltzentrale des Sanktums, wo sich jeder auf den durch das Symbol vorbestimmten Platz setzte. »Wie hätten die Seem sich hier hinsetzen sollen?«, fragte Shizuka neugierig. »Ich denke das Sanktum hätte sich ihnen angepasst. So wie Jiyai die Möbel in der großen Halle geschaffen hat.«, erklärte Nim seine Vermutung und bekam keinerlei Widerspruch.
Wie in der alten Aufzeichnung gesehen, legten alle ihre Arme auf die Lehnen. Es war beeindruckend, wie die Menschen vor so vielen Jahren mit der Technik umgingen, die, zumindest teilweise, heute noch als futuristisch anzusehen war. Sogleich erschienen vor jedem der fünf Sitze holographische Bildschirme. »Ist ja wie Zuhause!«, lachte Tori. »Sogar die Sprache ist angepasst.«, merkte May an. »Die war schon auf der anderen Konsole so. Ich denke weil das Sanktum uns beobachtet hat.«, erklärte Jiyai. »Das macht Sinn!«, stimmte Nim zu, während May schmunzelte. Alientechnologie, Raumschiffe, fremde Welten, mystische Geschichten und Superkräfte. Diese Story hatte alles was ihren Freund schon ewig faszinierte.
»Ich glaube ich habe die Steuerung von dem Ding.«, erklärte Shizuka. »Klingt logisch. Das Mädchen hat das Sanktum ja auch gestartet.«, mischte sich nun auch Tori in die Unterhaltung ein: »Ich habe wohl die Sensoren und die Kommunikation.« »Das hier sind die Waffen.«, setzte May die Auflistung fort. »Ich habe wohl die Technik. Zumindest sehe ich alle Systeme mit den gleichen Statusmeldungen, die ich schon in der Halle einsehen konnte.« Die Blicke wandten sich zur Mitte, wo Nim im Sessel seinen Schirm betrachtete, der eine kleine Version der Umgebung im All zeigte. Es dauerte, bis er die Blicke der anderen bemerkte. »Ich denke ich bin der Kapitän.«, gab er unsicher zurück, als würde er gerade seine eigene Beförderung veranlassen.
»Also, Kapitän Nim, was machen wir nun?«, fragte May mit einem Lächeln, um ihn in seiner neuen Position zu bekräftigen. »Ich denke wir ziehen das Schwert aus dem Stein.« »Welches Schwert?«, war Shizuka unsicher und glaubte wie so oft etwas verpasst zu haben. Tori schmunzelte: »Ich denke er meint damit: "Sanktum aus dem Eis ziehen." Das mit den klaren Befehlen müssen wir wohl noch üben, Kapitän.« Unsicher blickte Shizuka zu Nim hinüber und er nickte. Sie schluckte. Er meinte es ernst. Sie sollte das Sanktum steuern und musste nun auch noch den Rückwärtsgang finden. »Keine Eile. Schön langsam.«, gab Nim seinem unausgesprochenen Wunsch einige neue Attribute der Ausführung.
Shizuka wollte gerade den Antrieb einschalten, als ihr der Manta einfiel. »Der bleibt immer genau hinter dem Tor, solange du nicht in den Unterraum oder zu schnell für ihn fliegst.«, blieb Nim gelassen und professionell. Das Sanktum schüttelte sich, als die Pilotin die Bewegung einleitete. Tori fand die Steuerung für den Hauptschirm und ein großes Fenster schien sich vor den Sesseln zu öffnen. Zu sehen gab es aber nichts. Es war dunkel und nur einige kurze Lichtreflexe drangen in den Raum. Dann wurde es heller und man konnte Eisbrocken in die Tiefe stürzen sehen, während sich die schwarze Scheibe weiter befreite. Schließlich war vor ihnen der gewaltige Schnitt zu erkennen, den die dunkle Münze im Eis hinterlassen hatte. »Ich bekomme neue Meldungen. Die beschädigten Teile beginnen sich zu reparieren.«, erklärte Jiyai. »Können wir eine dieser oberen Luken öffnen und den Manta hineinfliegen?«, fragte Nim weiter. »Die komplette Sektion ist noch beschädigt. Das kann einen Moment dauern.«
»Die Mantasignale werden vom Schiff blockiert, aber ich denke ich kann die Blockade aufheben.«, erklärte Tori und tippte auf der leuchtenden Wand herum. Wenige Sekunden später erschienen die Anzeigen des Mantas wieder in ihren Kontaktlinsen. »Die Schäden am Lagerraum sind beseitigt. Den Anzeigen nach ist er fast leer.« »May kannst du ihn hineinfliegen?«, gab Nim seiner Freundin eine Aufgabe, die bisher nur Untätig in ihrem Sessel beobachtete. May aktivierte die Linsensteuerung und parkte den Ray Team Flieger in dem Lagerraum, in dem sie einige größere Wagen und Boote vorfand. »Manta gelandet!« »Luke wieder schließen und die Signalblockierung wieder aktivieren.« Tori sah fragend zu Nim hinüber. »Wir wissen nicht was für Signale wir sonst noch ausstrahlen und solange wir das Sanktum nicht vollständig verstehen, geht unsere Sicherheit vor!«
»Wir haben ein eigenes Raumschiff.«, lachte Nim zufrieden: »Aber es braucht einen Namen!« »Es hat doch aber schon einen Namen.«, erklärte Jiyai. Die Vier anderen blickten fragend zu ihr hinüber. »Naja, Atlantis.« »Finde ich gut. Und es erinnert uns daran nicht die selben Fehler noch einmal zu machen.«, musste May die gute Namenswahl anerkennen. »Dann gib Atlantis mal die Sporen und dreh ein paar Runden um den Jupiter, damit du dich mit der Steuerung vertraut machen kannst.«, orderte Nim und Shizuka folgte seinen Anweisungen wortlos. »Alle Systeme wieder vollständig hergestellt und funktionsbereit. Die Systeme beginnen damit die Außenhülle und Innenwände zu reparieren.«, vermeldete Jiyai den Systemstatus nach weiteren Minuten in denen die Anwesenden nur schweigend ihre jeweiligen Systeme erforschten. »Das ging ja schnell.« »Die Steuerung ist verdreht, aber langsam hab ich den Bogen raus.«, war das Mädchen nach einigen Runden stolz auf ihre Leistung im Umgang mit der fremden Technologie.
»Da sind multiple Unterraumsignaturen.«, wurde Tori plötzlich ernst. »Wo?« »Im Inneren des Schiffes. Ich glaube wir werden geentert.« »Durch den Unterraum?«, war May skeptisch. »Ich gleiche die Koordinaten ab. Der Bereich ist hier als Energieverteilung markiert. Will man uns sabotieren?«, brachte Jiyai ihr weniges Wissen über die neue Technologie mit ein. »Gibt es schon einen Vortex?« »Einen winzig kleinen Trichter. Die Größe bleibt konstant. Da kommt nicht einmal eine Ameise durch.« May lachte laut auf als sie die Zusammenhänge verstand: »Das ist keine Invasion. Das sind Unterraumreaktoren.« »Unterraumreaktoren?« »Tin hat mit der Technologie zumindest gedanklich experimentiert. Es ging darum dem Unterraum Energie durch einen Mikrovortex zu entziehen, um die Station oder auch Gleiter zu versorgen.« »Sie hat es nicht geschafft?«
»Es war ihr zu gefährlich. Der Vortex, der damals fast die Erde und unser Sonnensystem verschluckt hätte, ist wohl dem Resultat einer von Tin befürchteten Reaktorfehlfunktion sehr ähnlich gewesen.« »Kann man die Energie nicht direkt im Unterraum abzapfen?«, mischte sich auch Shizuka in die Unterhaltung ein. »Clevere Frage!", lächelte May zurück: »Die habe ich Tin auch gestellt. Ein Segelboot kann man auch nicht mit einem Ventilator antreiben, welcher in die Segel pustet. Ist hier wohl ähnlich.« »Und wir haben vier dieser gefährlichen Unterraumreaktoren an Bord?«, zeigte sich Tori nun noch besorgter. »Sieht wohl so aus. Sie laufen aber schon so lange. Die Technologie des Sanktums ist deutlich fortschrittlicher. Außerdem kann sich das Schiff selbst reparieren und warten. Ich denke wir und alle da draußen sind sicher.« »Und um unseren Energievorrat brauchen wir uns auch keine Sorge machen.«, lächelte Jiyai wieder zuversichtlich: »Wir müssen aber in regelmäßigen Abständen in den Normalraum zurückkehren. Die Energiespeicher sind laut den Anzeigen momentan allerdings randvoll.«
»Es kommen hier schon wieder einige Signale rein. Orte Position. Diesmal weit draußen im All.« Das Bild auf dem großen Schirm wurde durch ein Sensorbild ersetzt. »Ein Seemschiff wird angegriffen, wenn ich das richtig deute. Ein Schon-Turak Schiff laut den Datenbanken des Sanktums.« May blickte Nim schon fast flehend an. Er wusste zu genau, welche Bedeutung die Seem für seine Freundin hatten und er selbst hatte schon viele Erlebnisse mit und bei diesen gleichermaßen freundlichen, wie auch seltsamen Wesen gehabt. Nicht zuletzt hatten die Seem bei der Suche nach May geholfen und zusammen mit den Stri die Erde verteidigt. Auch wenn es hier im Sanktum um die Gleichberechtigung zwischen den Mächten ging, so hätte sie doch als Kommander jedes Recht gehabt ihren Wunsch einzufordern. Er wusste nicht, was sie nun dazu bewegte es nicht zu tun. Seine Rolle als Hüter, sein Platz als ihr Freund oder die ihm von Mergy auferlegte Pflicht auf seine kleine Mannschaft aufzupassen?
»Shizuka, Kurs auf die Seem setzen. Wollen wir mal sehen, was diese Kiste so drauf hat.« Das Mädchen war immer noch unsicher, ließ sich aber nichts anmerken. Bruchteile von Sekunden später war das dunkle Rot des Unterraums auf dem Schirmen zu sehen. »Mehr geht nicht?«, war Nim enttäuscht nur das, beim Ray Team schon als veraltet geltende, Rot zu sehen. »Ich wüsste nicht wie.«, bestätigte die Pilotin am Steuer. »Das Schiff ist alt und Geschwindigkeit war für die ursprüngliche Mission nicht relevant.«, erklärte May. Mehr als 20 Minuten dauerte es, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Sie konnten nur hilflos zusehen, wie die Seem um ihr Leben kämpften und das einzig Positive war, sie noch kämpfen zu sehen. Kämpfen war übertrieben. Es war mehr ein hastiges Ausweichen. Die Schiffe wollten die Seem anscheinend nicht vernichten. Dazu hätten sie mit ihrer Übermacht keine 2 Minuten gebraucht. »Verlasse Unterraum.«, bestätigte Shizuka. Das Schiff der Joluh bohrte sich in den Normalraum und zog sofort die Aufmerksamkeit auf sich. »Kannst du eine Verbindung ohne Bild herstellen?«, war Tori gefragt. »Ich denke schon.« »Gut. Aktivieren. Wir sind die Joluh. Das Volk der Seem steht unter unserem Schutz. Stellen sie das Feuer ein, oder sie werden vernichtet.«
»Die feuern gleich auf uns.«, merkte Tori, besorgt auf die Sensorenwerte der Kriegsschiffe blickend, an. »May, wie steht es um die Waffen?« »Die Hauptkanone kann nur gerade nach hinten feuern. Ich finde keine Möglichkeit damit zu zielen.« »Nach Hinten? Das macht überhaupt keinen Sinn.« »Oh.«, hörte man Shizuka kurz Erschrockenheit ausstoßen. »Oh?«, wiederholte Nim den Ausspruch seiner deutlich unerfahreneren Pilotin. »Naja, ich hab angenommen, die Seite mit der das Sanktum ins Eis gekracht ist, wäre die Vorderseite. Der Bildschirm war auch so eingestellt. Das erklärt auch die verkorkste Steuerung.« »Wir sind die ganze Zeit Rückwärts geflogen?« »Ja, tut mir leid.« »Dann dreh uns jetzt in Position und beim nächsten Mal etwas mehr mitdenken, ja?«, blieb Nim bestimmt aber höflich.
Unmerklich drehte sich die Scheibe um die eigene Achse, während die ersten Waffenstöße einschlugen. »May, Zeit für unsere Hauptwaffe.« »Ej, Kapitän!« May aktivierte das Waffensystem. Ein großer rechteckiger Rahmen fuhr aus dem Inneren nach oben und wurde durch Lichtblitze erhellt, als hätte jemand einen riesigen Bildschirm eingeschaltet und würde rot funkelndes Plasma darauf darstellen. Dann sauste die Fläche als Strahl auf das erste Schon-Turak Schiff zu und hindurch. Die gewaltige Explosion ließ durch die herumfliegenden Trümmer auch die beiden anderen Schiffe erzittern und beschädigte sie schwer. May deaktivierte das Waffensystem und es verschwand wieder in der Scheibe. »Das Ding hat ja ordentlich Bumms.«, merkte Tori anerkennend an, die restlichen Angreifer teilten offensichtlich seine Meinung und verschwanden hastig im Unterraum. »Können wir sie orten?« »Ja, sie ziehen sich mit Maximalgeschwindigkeit zurück. Nehme ich zumindest an.« »Gut! Schäden?« »Kleinere Schäden an der Hülle. Werden bereits repariert. Ausgehend von der letzten Reparatur sind wir in 20 Sekunden wieder wie neu.« »Oh, das gefällt mir.«, grinste Nim.
»Die Seem rufen uns.« »Wir sollten bei der Joluh Nummer bleiben und ohne Bild kommunizieren. Dieses Schiff ist nicht nur eine wichtige Waffe, sondern auch ein lohnendes Ziel.«, erklärte Nim sein Vorgehen, obwohl niemand gefragt oder Zweifel an seinen Befehlen hatte. »Wir sind die Joluh.« »Wir sind die Seem.«, erschienen einige Momente nach dem Ton auch das Bild der Seem auf dem Schirm. Die Systeme des Sanktums mussten sich auf die Signale der Seem einstellen, wie Tori bestätigte. »Die Menschen sind in Gefahr. Es sind auch Joluh unter ihnen. Wir wollten sie warnen, aber unser Schiff ist beschädigt.« »In was für einer Gefahr?«, fiel Nim fast aus seiner Rolle.
»Die verschiedenen Gruppen der Schon-Turak haben sich zu einer riesigen Flotte verbunden und fliegen zu ihrer Heimatwelt. Die Menschen nennen sie Erde. Sie müssen ihnen helfen.« »Wir werden tun was uns möglich ist und ihnen Hilfe schicken.« Tori kappte die Kommunikation auf Nims Handzeichen hin. »Shizuka Kurs auf die Erde setzen. So schnell die Kiste es zulässt. Tori Sensoren auf die Erde richten.« »Die Schiffe sind fast am äußeren Sensorgürtel unseres Systems.« »Konnte Tin die Waffen verbessern? Beim letzten Mal hatten wir ja wohl nur Glück.«, erkundigte sich Nim bei May. »Ich fürchte nein! Selbst wenn sie eine Lösung gefunden hat unsere Waffen oder auch die Schilde zu verbessern, dürfte die Station noch nicht komplett aktualisiert worden sein.«
»Was ist los?« »Multiple Unterraumsignaturen. Mit größter Wahrscheinlichkeit Schon-Or, Schon-Tar oder ihre Kollegen. Planetarer Verteidigungsschild ist in Bereitschaft.«, berichtete Mergy der eintreffenden Sab: »Tin, Raumverbieger konfigurieren und laden.« »Ein Spacebender-Torpedo sollte aber unsere letzte Option sein!« »Schon klar, aber so wie es um unsere Waffen steht, sehe ich nicht wie wir lange Stand halten sollen. Das sind über 40 Schiffe. Möglicherweise deutlich mehr.« »Sie kommen!« »Aktiviere Satellitenschild, auch wenn der nicht viel ausrichten wird.« Die Station wurde direkt nach dem Eintreffen der ersten Schiffe hart getroffen. »Freundlich sind die uns jedenfalls nicht gesinnt.«
»Wie lange noch?« »Zwei Minuten!« »Geht es nicht schneller?« »Ich wüsste nicht wie!«, war Shizuka mehr als nur besorgt etwas falsch zu machen. Der gesamte Planet war in Gefahr und sie machte sich innerlich Sorgen sie könnte vielleicht eine angezogene Handbremse übersehen haben. »Kanal zu den Schon-Turak öffnen.« »Hier spricht das Joluh-Schiff Atlantis. Der Planet der Menschen steht unter unserem Schutz. Brechen sie sofort den Angriff ab, oder wir werden sie vernichten.«
»Sie haben aufgehört zu feuern.«, merkte Tin als erstes die Veränderung. »Sicherheitsevakuierung. Nutzen wir die Gelegenheit und bringen die Zivilpersonen von Bord.« »Läuft. Krankenstation verlässt Perimeter. Die ersten Transporter sind im All.« »Warum feuern die nicht mehr?« »Da war ein Kommunikationssignal. Ich konnte es nicht erfassen, weil unsere Unterraumübertrager beschädigt wurden.« Wieder wurde die Station heftig unter dem Waffenfeuer geschüttelt. »Das hat aber nicht lange vorgehalten.« »Schwere Schäden in beiden Ringen in Sektor 3. Schäden bei den Schon-Turak durch unsere Waffen sind minimal. Energie auf die Schilde umleiten. In den Waffen nutzt sie uns nichts.«
»Mindestens ein weiterer Vortex öffnet sich. Was zur Hölle?« Ein gewaltiger, langgezogener Vortex mit nach außen gebeulten kurzen Kanten machte den Weg für den Laib Käse frei. »Ich dachte ein Vortex wäre immer rund?«, war Trish trotz der angespannten Lage erstaunt über diesen wissenschaftlichen Fakt. »Ich wüsste nicht wie man die Form ändern könnte?« »Was auch immer da durchkommt ist kein Schiff der Schon-Turak. Die drehen ab und richten ihre Waffen auf den Vortex.« »Sobald wir durch sind, Ausweichmanöver.« »Verstanden.« Das Sanktum wurde von multiplen Hauptwaffen der Schon-Turak getroffen noch bevor Shizuka die Möglichkeit hatte dem gegnerischen Waffenfeuer auszuweichen. »Leichte Schäden in den vorderen Sektionen. Reparatur läuft.«, berichtete Jiyai bereits routiniert als würde sie seit Jahren nicht anderes machen als diese Konsole zu bedienen und ihrem Kapitän zu berichten.
»Was ist das für ein Ding?«, war Mergy sichtlich erstaunt von dem unbekannten schwarzen Raumschiff im Erdsektor. »Kann ich nicht sagen. Alle Scans sind negativ. Als würde der Raum dort nicht existieren.«, erwiderte Tin von ihrer Konsole. »May, Waffen bereit halten. Shizuka bring uns in Schussposition. Es wird Zeit mal klar zu stellen, wer hier das Sagen hat.« »Habt ihr diese Wende gesehen?« Mergy war leicht euphorisch. »Und?« »Das ist May!« »May? Das ist ja wohl mehr Wunschdenken.« »Diese unsinnige Rotationswende macht nur sie!« So ganz richtig lag Mergy da zwar nicht, denn auch ihre Schülerin hatte dieses neue, die zukünftige Flugrichtung bis zu Letzt maskierende, Manöver verinnerlicht und richtete nach einer wilden Rotation die Front des Käseschiffes direkt auf das Zentrum der feindlichen Flotte aus. »Feuer!« Der wabernde Kasten an der vorderen Schiffskante entlud seinen flächigen Strahl, der gleich ein Dutzend Feinde durchbohrte und diverse weitere deutlich sichtbar striff und mit Trümmern bombardierte. »So etwas will ich auch.«, feixte Mergy siegessicher.
Der Rahmen des Waffensystems wurde vom gegnerischen Waffenfeuer der anderen Kreuzer getroffen und barst in Stücke. »Hauptwaffe ausgefallen. Reparatur läuft.« »Was kommt jetzt? Jäger!« »May, das kann doch nicht unsere einzige Waffe gewesen sein.« »Da sind kleinere Waffensysteme, aber ich verstehe noch nicht, wie ich die aktivieren kann.« May tippte mehrfach auf einen feindlichen Jäger im Sensorbild. Ein Geschoss trat aus dem Rumpf aus vernichtete ihn. »Soll ich etwa jedes einzeln antippen?«, murmelte May noch während sie verschiedene Schiffe mit mehrfachem Tippen auf dem Schirm ausschaltete. »Moment mal.«, murmelte May und tippte nur noch verschiedene Schiffe jeweils einmal an und erzeugte eine Art Zielrahmen um jedes der angewählten Schiffe. Kaum hatte sie das Dritte angewählt, da wurden in schneller Folge alle im Umkreis befindlichen, baugleichen Objekte markiert und begannen zu blinken. Als sie einen der blinkenden Rahmen antippte schossen hunderte kleiner Kugeln aus dem Rumpf des Sanktums und suchten sich jeweils ein Ziel. Binnen Sekunden waren die kleinen Jäger ausradiert. »Und so etwas will ich auch!«, war Mergy der einzige Kommander auf dem Kommandodeck, der noch zu Worten fähig war, während die Anderen nur teilnahmslos staunend beobachteten.
»Hauptwaffe wieder einsatzfähig.« »Ziele neu anfliegen und Feuer frei.« Shizuka flog eine erneute Rotationswende, um dem Waffenfeuer der großen Schiffe auszuweichen und May entlud die Kanone in Richtung des Feindes, wo wieder unzählige Schiffe zerstört wurden und viele schwere Schäden davon trugen. »Sie drehen ab.« »Neu ausrichten und feuern.« Ein drittes Mal zerschlug der eckige Strahl die gegnerische Flotte. Von der vorher stattlichen Anzahl waren nur noch wenige übrig, die in den Unterraum entkamen. »Tori, verfolge die Schiffe mit den Sensoren. Wenn die nicht aus dem System fliegen, will ich es wissen.«, war Nim in seinem Element. »Verstanden.« Shizuka hatte das Schiff bereits nach einer großen Schleife in Richtung Station gestoppt.
»Ich hoffe Mergy hat recht, sonst sind wir gleich definitiv erledigt.«, musste Sab die Übermacht, die von dieser bedrohlich dunklen Scheibe ausging, neidlos anerkennen. »Da ist eine Sache, die wir noch klären müssen.«, wandte sich Nim an seine kleine Besatzung: »Das Sanktum verfügt über Technologie, die das Ray Team genauso gerne hätte, wie jede andere Zivilisation im All. Wir sollten es dabei belassen und niemandem Zugriff gewähren.« »Du willst es behalten?«, war Tori erstaunt ausgerechnet von Nim einen derartigen Vorschlag zu hören. Ohne es abgesprochen zu haben, richteten sich alle Augen auf May aus, die über diesen Fakt noch gar nicht nachgedacht hatte.
»Ich denke er hat recht. Das Sanktum hat Sicherungen, die es nur Joluh und bisher auch nur uns fünf Zugriff erlaubt. Eine derartige Macht sollte nicht in der Hand von einzelnen Personen liegen. Wenn die Technologie in weitere Hände gerät, dann haben wir jegliche Kontrolle verloren. Nicht umsonst ist auch das Ray Team auf diesem Gebiet so streng.« »Das wird Sab nicht gefallen.«, war auch Tori sich über die Konsequenzen klar. »Den anderen Kommandern ebenfalls nicht, aber es ist nicht ihre Entscheidung. Dieses Sanktum wurde uns hinterlassen, um den Joluh einen friedlichen Weg zum Zusammenleben mit den restlichen Menschen aufzuzeigen.« »Es wird ihnen trotzdem nicht gefallen.« »Da müssen sie durch.«
»Kannst du eine Verbindung mit der Station herstellen?«, fragte Nim seinen Kommunikations Offizier. »Ja, es gibt sogar schon ein Profil namens Ray Team. Das ist seltsam.«, merkte Tori an. »Kanal öffnen, Atlantis an Ray Team One.«, war Nim schon wieder ganz der Kapitän, der er schon immer sein wollte. Mergy, Sab, Tin und Trish erschienen auf der großen holographischen Leinwand vor den fünf Sesseln. »Mir war so als wäre eurer Schiff bei der Abreise ein wenig kleiner gewesen. Nicht das ich mich beschweren will.«, grinste Mergy: »Einen geschichtsträchtigen Namen habt ihr euch da ausgesucht.« »Es ja auch ist ein geschichtsträchtiges Schiff.«, erklärte Nim. »Tin kribbelt es schon in den Fingern.«, lachte Trish. »Tut mir leid, aber wir können keinen Zugriff auf die Technik dieses Schiffes gewähren. Es steht jederzeit zur Verteidigung der Erde, des Ray Teams oder Verbündeter zur Verfügung, aber davon abgesehen ist es nur für Joluh gedacht und zugänglich.« »Habe ich schon wieder etwas verpasst? Du hast doch selbst keine Kräfte, oder?«, warf Mergy verwirrt zurück. »Sagen wir einfach ich habe vom eigentlichen Besitzer diverse Rechte und Pflichten für den Umgang mit seinem Eigentum auferlegt bekommen, Kommander.«, blieb Nim sowohl sachlich als auch mit Worten distanziert: »Willkommen auf der anderen Seite des Zaunes!«
»Ich verstehe.«, gab Mergy zurück und erntete fragende Blicke seiner Kommanderkollegen: »Was habt ihr jetzt vor?« »Wir haben noch etwas zu erledigen. Dann brauchen wir ein paar Archäologen von der Erde.« »Das mit Atlantis war ernst gemeint?« »Ja, war es. Nim Ende.« »Was haben wir denn noch vor?«, fragte May unsicher. »Ich dachte daran die Särge in die Sonne zu schicken. Auf der Erde würde man sie nur ausbuddeln, analysieren, erforschen und womöglich auch noch ausstellen. Das haben sie, egal ob gut oder böse, nicht verdient.«
Niemand hegte einen Einwand und so setzten sie Kurs auf die Sonne. »Habt ihr alle eure Linsen drin?«, fragte May zur Sicherheit noch einmal nach und öffnete erst danach das große Tor. Draußen feuerte die heiße Kugel massive Strahlung und Hitze ins All. Langsam hoben sie einen Sarg nach dem anderen durch den Schild aus dem Schiff und setzten ihn in der Schwerelosigkeit wieder aus. Mit einem kräftigen Schubs war der Kurs der Kisten gesetzt. Die Anziehung der Sonne tat ihr übriges und beschleunigte die kleinen Holzkisten deutlich sichtbar, hätten sie in der Ferne doch eigentlich langsamer wirken müssen.
Jiyai verdrückte unauffällig eine Träne. »Hey, sie sind schon lange tot. Wir sollten aus ihren Fehlern lernen und es besser machen. Das hätten sie so gewollt.« »Wenn wir das Sanktum auf dem Mond abstellen, dann kann da jeder ran.«, merkte Tori direkt neben der Tür stehend an. »Und das Ray Team kann uns einfach abschneiden, indem man uns kein Transportmittel gibt.«, war auch Shizuka nicht ganz sicher, ob der gefasste Plan so sinnvoll und durchführbar wäre. »Zugriff hätten sie keinen und abschneiden könnten sie uns auch, wenn wir es auf dem Planeten oder an der Station parken.«, erklärte May. »Das Sanktum konnte mit Reiko Kontakt aufnehmen. Vielleicht geht das auch umgekehrt?«, hatte Nim eine Idee. »Meinst du?«, war May sichtlich erstaunt über diese Aussage, während sie mit dem Rücken an der Wand lehnte und einen Fuß dagegen stemmte, während die Glut und der Lichtschein der Sonne die Unterhaltung fast wie ein gemütliches Beisammensein um ein Lagerfeuer wirken ließ.
»Ich hab da eine Idee!« Mit den Händen stieß Nim sich von der Wand ab und lief auf seine Freundin zu, die Gegenüber fragend dreinblickte. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr und stellte sich wieder zurück an die Wand. Mit einem Lichtblitz verschwanden beide nacheinander und ließen ihre Kollegen mit einem ziemlich verwirrten Gesichtsausdruck zurück. »Funktioniert.«, lächelte Nim. May sah sich unsicher um, aber der Mondstein und die anderen Erinnerungsstücke in ihrem Regal waren der Beweis. Sie waren nicht nur auf der Station, sondern zielgenau in ihrem Quartier gelandet. Nim drückte ihr einen innigen Kuss auf, der schon viel zu lange fällig war, aber in Anbetracht der Situation und ihrer Freunde bisher nicht angebracht war. »Denken wir uns wieder zurück.« Schlagartig standen sie wieder im Gang bei den anderen Joluh.
»Mein cleverer Freund hatte wohl recht. Wir können zumindest einige Funktionen des Sanktums mit unseren Gedanken steuern.« »Wir können das Ding mit unserer Denke regeln?«, versuchte Shizuka das Berichtete zu verarbeiten, als die große Luke sich in Bewegung setzte und sich mit leichtem Rumpeln schloss. Tori sprang erschrocken zur Seite. Kaum war sie verschlossen, da öffnete sie sich auch schon wieder. Jiyai lächelte: »Funktioniert tatsächlich.«
Keine zweite Chance
»Immer schön langsam.«, wippte Trish hin und her. »Das mache ich nun zum vierzehnten Mal, schon vergessen?«, erwiderte Mergy leicht missmutig. »Wenn wir hier Mist bauen, dann sind wir schon aufgeflogen bevor wir abgeflogen sind.«, sprang auch Tin auf den Zug auf. »Ja, es ist nun einmal nicht leicht ein unsichtbares Transportschiff durch ein unsichtbares Loch in ein geheimes Versteck zu fliegen, aber es klappt um so besser, je weniger ihr mich ablenkt.«
Schweigend beobachten die beiden Damen nun den Monitor, der nicht viel anzeigte, außer Koordinaten und das Bild des immer größer werdenden Parkplatzes. »Ich bin im oberen Tarnfeld. Deaktiviere die Tarnung des Transporters. Dach öffnen.« Patricia legte den wuchtigen Hebel um und unter lautem Knirschen und Scheppern schob sich die Decke auseinander. Sand und kleinere Kiesel rutschten von der ehemaligen Nahtstelle in die Tiefe und schlugen klappernd auf dem kargen Betonboden der Bathöhle, wie Mergy sie gerne nannte, auf. Einige Male korrigiert der Kommander die Position des über dem eckigen Loch wartenden Schiffs und setzte dann den Sinkflug fort, bis das schwere Metall knirschend die Steine und den Sand unter sich zermiehl und zum Stillstand kam.
Trish schloss das Dach und weiterer Dreck klimperte von oben auf den großen Metallkörper, bis die Öffnung sich endgültig verschlossen hatte. »Parkplatztarnung abgeschaltet.«, schloss Tin die Mission ab. »Verladen wir die schon gefüllten Kisten.«, begann ihre Schwester direkt mit der Nächsten. »Wenn ihr noch Sachen habt, meine Kiste ist fast leer und ich brauche den übrigen Platz nicht. Ihr habt also noch Platz für zwei weitere.« »Du hängst wohl nicht an den irdischen Gütern, was?« »Im Gegensatz zu euch plane ich mein Leben auf der Erde noch nicht komplett hinter mir zu lassen. Ich kann später immer noch Dinge holen. Momentan ist der sicherste Platz für meine Sachen sowieso auf der Erde.« »Gut dann kann ich die restlichen CDs auch einpacken.« »Es gibt da diese technische Neuerung, bei der man Millionen von Musikstücken in der Tasche herumtragen kann.«, feixte Sab zu Trish hinüber. »Ja, aber es ist nicht das selbe. Man hastet von Track zu Track, von Interpret zu Interpret und missachtet das eigentliche Gesamtkunstwerk und dessen Reihenfolge.«, verteidigte Trish ihre Art Musik zu genießen. »Ist ja gut. Ich wollte nur darauf hinweisen.«
»Wie sieht es oben aus.«, war nun wieder Tin gefragt. »Der Satellit ist in Position, sollte etwas aus dem Tarnfeld schweben, werden wir es sofort erfahren.« »Seht noch mal in allen Ecken nach, nicht das wir etwas wichtiges zurücklassen.« »Woher stammen eigentlich diese Räumlichkeiten?«, drückte sich Mergy von der Tonlage her so aus, als würde er die Bathöhle meinen. »Die haben unsere Eltern nach der Firmengründung angelegt. Es sollte damals für Forschungen genutzt werden. Die größeren Aufträge blieben aus und so wurde das bereits fertig gestellte Kellergewölbe einfach zugeschüttet und geriet in Vergessenheit. Tin hat es vor einigen Jahren in alten Plänen gefunden, als wir die anderen Bürogebäude erweitert haben. Wir haben dann den VIP Parkplatz so umgeplant, damit Niemand auf die Idee kommt hier zu graben und das Untergeschoss wurde als Anbau eingeplant und vergrößert.«
»Also haben wir es dem ursprünglichen Zweck zugeführt.« »Ja, auch wenn mein Vater wohl nie an private Raumfahrt im großen Stil gedacht hatte.« »Ich denke eure Eltern wären sehr stolz auf ihre Töchter und wenn wir nicht ganz versagen, dann wird die ganze Welt eines Tages von euren Taten erfahren.« Trish lächelte verlegen. Darüber hatte sie noch nie nachgedacht. »Erstmal müssen wir unsere Hintern vom Planeten bekommen, sonst wird das nichts mit der bemannten Raumfahrt.«, sprang Tin ein.
Sab hatte sich schon während des Gesprächs ausgeklinkt, weil ein Telefonat ihre Aufmerksamkeit forderte: »Das war der Doc, er verspätet sich um eine Stunde, weil es am Flughafen einen Bombenalarm gab.« »Das geht ja gut los.« »Trish! Ein wenig mehr Optimismus, bitte. Ist ja nicht so als würden wir ein intergalaktisches Kreuzfahrtschiff verpassen. Fliegen wir eben sechzig Minuten später ab. Wir haben hier noch genug zu tun.«
Es dauerte wie vermutet einige Stunden bis alles demontiert und eingepackt worden war. Das Eintreffen des Docs wurde so zur Nebensache und der eigentliche Start verzögerte sich abermals. Der Morgen graute bereits leicht am Horizont, als man für den finalen Start bereit war. »Der Hebel schnappt in drei Minuten zurück und die Luke schließt sich wieder, Abflug«, erklärte Tin. Mergy setzte sich ans Steuer und verschloss die kleine Flugkiste, die durch die vielen Boxen und Kartons im Gang zusammen mit den fünf Personen noch kleiner wirkte, als sie vorher schon aussah.
Unsichtbar für etwaige Außenstehende schwebte das Raumschiff über dem Parkplatz. »Letzte Gelegenheit es sich anders zu überlegen.«, rief Mergy nach hinten, wo der Rest auf den unteren Betten saß und seine Worte kommentarlos verhallen ließ. Erst ein Piepen aus Richtung Tin zog die Aufmerksamkeit aller auf sich: »Der Sprengsatz ist scharf, die Luke ist wieder zu. Es wird nicht brauchbares überbleiben, sollte jemand die Höhle finden.« »Es ist also doch eine Höhle.«, feigste Mergy nach hinten, während er auf das Weltall zusteuerte, welches den Planeten mit seinem kalten Vakuum umgab. Von außen unsichtbar sprengte sich die letzte Technologie in der alten Basis in die Luft. Die bereits abgeschaltete Tarnung des Parkplatzportals.
Schweigen lag in dem kleinen fliegenden Raum. Das Abenteuer war gestartet. Keine Nation, keine Firma und keine Armee von Wissenschaftlern hatte den Sprung ins All vorgenommen, sondern eine kleine Gruppe von Bastlern und Tüftlern, die etwas verbessern wollte. Es war zwar nicht die erste private Raumfahrt, aber es war schon jetzt die erfolgreichste, hatte man doch bereits, wenn auch unbemannt, mehr als ein Dutzend Flüge ins All durchgeführt und das in nur einer Nacht. Auch der vorerst letzte Flug verließ ohne jegliches Geräusch die Atmosphäre. »Oh, Nein! Wir müssen nochmal zurück! Ich glaube ich habe den Herd angelassen.«, versuchte Mergy die kleine stille Gruppe etwas aufzulockern, aber die blieb schweigend sitzen, auch wenn Trish, trotz der Anspannung, ein wenig schmunzelte.
»Jetzt alle die Gurte anlegen, gleich setzt die Schwerkraft aus.« »Ich dachte wir hätten im All normale Schwerkraft?«, war der Doc gleichzeitig erstaunt und besorgt. »Haben wir auch. Ich würde den Antrieb lieber alleine laufen lassen. Wenn es mit der Schwerkraft Probleme gibt, ist es nicht schlimm, aber ohne den Antrieb machen ein ziemlich großes Loch in den Planeten. Es gab keine Zeit die Auswirkung der externen Gondeln mit der internen Gravitation zu testen.«, blieb Mergy sachlich: »Wenn wir an der Baustelle sind, können wir uns notfalls mit den Navigationsdüsen bewegen und den Komfort wieder erhöhen.«
Die Gondeln fanden keinen großen Anklang bei den Zwillingen. Erst vermutete man, Mergy wolle damit nur ein Zeichen setzen, weil man seine Fernsehwünsche nicht respektierte. Obwohl sie fast komplett eingezogen werden konnten, wirkten sie klobig und machten das Einparken in ihr geheimes Versteck nur schwerer. Bisher hatte man mit den Schwebetricks einfach nur Glück gehabt, wie Mergy in kleinerem Maßstab nachweisen konnte. Etwas mehr Leistung auf die Gravitationsemitter hätten das Raumschiff wie einen Würfel im Kasino unkontrolliert in Rotation versetzt und wohl ihr komplettes Labor zerstört, bis ihm die Energie ausgegangen wäre, was erst nach einigen Wochen der Fall gewesen wäre, wie Tin nach eingehender Prüfung feststellte.
Die ausfahrbaren Flügel, die zu Mergys Unmut Stabilisatoren getauft wurden, liefen mit kleiner Leistung und richteten das Schiff dank der Hebelwirkung in jeder Fluglage und Geschwindigkeit stabil aus. Einen Preis für Design konnte man mit diesen Bojen am Stiel sicherlich nicht gewinnen, aber für eine schnelle Lösung brauchten sie nicht mehr. Offenlegen wollten sie das kleine Schiff ja sowieso nicht.
»Wäre gut, wenn man das Tarnfeld direkt durchfliegen könnte. Ist ein ziemlicher Umweg es jedesmal zu umschiffen.«, war es Sab, die als erste der anwesenden Raumfahrer wieder etwas Stimme bekam. »Ja, ich habe auch schon eine Idee wie es Technisch funktionieren könnte. Das hat aber noch keine Priorität. Es müsste möglich sein zwei getarnte Objekte zu verschmelzen. Im Inneren würde man das übliche Wabern sehen, aber nach außen hin bliebe das Feld stabil, weil sich die Tarnung ergänzt.« »Da ist unsere Baustelle.«, war Trish schneller als Mergy und schaute aus dem einzigen mehrteiligen Fenster in der Front. Große Bündel von Metallkisten schwebten durch dünne Seile verbunden im All. Mergy hatte sie nach dem ersten Flug mit dem Tarnmodul bei weiteren Lieferungen hinter selbigem einfach abgeworfen und daran fixiert. Keine der Kisten durfte den vom Modul verborgenen Bereich verlassen, oder ihr Aufenthalt würde bemerkt.
Was in dem Fall passieren würde, wusste niemand, aber die Wahrscheinlichkeit von einer Rakete weggepustet zu werden, war jedenfalls sehr hoch. Die Länder würden sich gegenseitig beschuldigen eine geheime Basis im All zu betreiben und sogar das Heraufbeschwören eines Weltkrieges war nicht unmöglich. Erst musste das Ray Team sich durch Taten qualifizieren, bevor es als eigene Organisation oder gar als eigenes Land Stellung beziehen konnte. Davon war man jetzt jedenfalls schon alleine personell noch weit entfernt. Neben der Fracht und einem unbewaffneten Containerraumschiff hatten sie buchstäblich gar nichts.
»Wow, wie viele Repligen sind es denn schon?« »Ich habe 2000 eingestellt. Damit sollten wir vorerst zurande kommen. Sie sind vor einer Stunde mit der Vervielfältigung fertig geworden. Die Energiekerne wurden bereits eingesetzt. Ich starte den Bau des Hangars.« Sofort wuselten die ersten kleinen Maschinen im All umher und strahlten ihr blaues Licht in das Dunkel. »Fertigstellung in 23 Stunden. Dann kommt einiges an Technik dazu.« »Da hätten wir auch noch unten bleiben können.«, merkte der Doc an, der sich bisher mit keiner Silbe an der bisherigen Unterhaltung beteiligt hatte und für den wohl die Raumfahrt an sich keinerlei Bedeutung hatte. »Das hätten wir, aber wenn etwas außer Kontrolle gerät, dann bekämen wir auf der Erde nichts mit, oder könnten nicht zeitnah reagieren.«, erklärte Trish: »Jede Nacht ins All zu fliegen ist zu risikoreich. Dazu bräuchte es bloß eine Fehlfunktion zu geben, oder jemanden, der sich zufällig in der Nähe des Parkplatz aufhält.«
»Doc, das hier ist das Weltall. Nicht ein ordinärer Campingplatz in Wales.«, lachte Mergy: »Du bist jetzt offiziell ein britischer Astronaut. Wir sind alle Astronauten! Ein wenig mehr stolz und etwas weniger Zweifel bitte.« Die nächsten Tage waren mehr als langweilig zu beschreiben. Tin beobachtete und steuerte die Fortschritte im All, während Mergy am Laptop arbeitete und dem zukünftigen Stationscomputer half die einfachsten Dinge zu verstehen. Sab, Trish und Doc verbrachten die meiste Zeit mit Lesen. Ab und zu schauten sie gemeinsam einen Film, aber das war es auch schon.
Sab brachte es einmal auf den Punkt: »Ein Raumschiff, fünf Leute, vier Betten und ein Klo.« Der Hangar mit dem ausladenden Tunnel wurde als erstes gebaut. Da er eigentlich eine leere Kiste war, war er recht schnell repliziert, aber die Technik darüber und darunter war aufwändiger und ein Risiko damit Probleme zu bekommen, konnte man sich nicht leisten. Nach einigen Dauertests ließ Tin das große Tor zum ersten Mal öffnen und Mergy landete in dem Bereich, der einmal genau zu diesem Zweck eingesetzt werden sollte.
Trish betrat zögerlich, begleitet durch einem verbalen Tusch von Mergy, als erste das unvollständige Gebilde, welches einmal ihr Zuhause werden sollte, obwohl die eigentliche Gefahr schon im Öffnen der schützenden Transportertür bestand. Wie Fische, die dem Beutel aus der Zoohandlung entfleucht waren, verteilte sich die kleine Gruppe schnell in der Halle. Tin ließ gleich ein paar Betten und portable Trennwände bauen, damit ihre Nachtruhe nicht mehr von Mergy und dem Doc gestört wurde, die anscheinend um die Wette ganze Regenwälder abholzten.
So schliefen die Damen im Hangar und die Männer im Transporter, oder dem Isolierzimmer, wie Sab ihn jetzt schnippisch nannte. Die Arbeiten an der Station gingen ohne Pause weiter, auch wenn Tin jedes noch so kleine Teil mehrfach testete, um Problemen vorzubeugen. Der Hangarträger wuchs weiter Richtung Stationskern, der aber erst viele Monate nach ihrer Ankunft erstellt wurde. Tin war darauf bedacht die Statik möglichst stabil zu halten. Vom Hangarring wurde ein Stück nach links gebaut und dann vom Quartierring ein Stück nach rechts. Es wirkten hier zwar keine großen Kräfte, aber Tin wollte trotzdem sicher gehen. Im Falle eines Problems sollte die unfertige Station nicht gleich wieder komplett in ihre Einzelteile zerfallen, weil für die optimale Statik noch Dinge fehlten.
Mit dem ersten kleinen Teilstück des Quartierrings zog auch weiterer Komfort auf der Station ein. Endlich hatte jeder sein eigenes Reich und man konnte sich aus dem Weg gehen, was bisher nur möglich war, wenn man sich in ein Zwischendeck oder einen Lagerraum zurückzog. »Dem Lagerkoller wurde Einhalt geboten.«, kommentierte der Doc die neue Wohnsituation, auch wenn die Technik darin bis auf die Beleuchtung, Lebenserhaltung und Türen noch nicht aktiviert worden war, hob sich die Stimmung sichtbar. Wirklich schlecht war sie vorher allerdings auch nie. Man verstand sich gut und die persönlichen Aufgabenbereiche gaben Trennung und Fokussierung in verschiedene Richtungen, sodass man sich nicht auf den Füßen stand.
Auf dem Weg zur Dusche kam Sab eines Tages in den Hangar und da stand doch tatsächlich ein Kampfgleiter. Zumindest sah er den Plänen eines Kampfgleiters, den Tin entworfen hatte, sehr ähnlich. Vergessen war das eigentliche Vorhaben eine erfrischende Dusche im Transporter zu nehmen. Die Tür stand offen und so setzte sie sich in das kleine Raumschiff. Es gab nur zwei Sitze. Hinter ihr war nur der blanke Bodenbelag, der sich bis vorne durchzog. Der blinkende Startknopf ließ keinen Zweifel an dessen Funktion. Sab drückte ihn. Ganz kurz, nur um zu sehen wie das Interface, welches sie entwickelt hatte, in dem Kampfgleiter so wirkte. Die Scheibe zeigte die von ihr erdachten Bedienelemente und bot weitere Optionen. Schlagartig erschien eine Warnmeldung. Das Tiniummodul überhitze. Sab versuchte den Gleiter wieder abzuschalten, aber er ließ es nicht zu. Plötzlich wurde sie aus dem Gleiter gerissen. Es war Tin, die sie am Handgelenk Richtung Tor zog. Ohne ein Wort verriegelte sie das gewaltige Schott und warf sich zu Boden. Erst jetzt erkannte Sab wie ernst die Lage war. Noch bevor sie selbst auf dem Boden landete, gab es einen gewaltigen Schlag, der vom massiven Metallboden unter ihr ausging.
Weitere seitliche Stöße trafen die Station, dann wurde es still. »Willst du uns alle umbringen?« »Ich wollte doch nur das Interface testen. Es in Aktion sehen.« »War der Gleiter etwa fertig?« Tin war mehr als sauer über die eigenmächtige Aktion. »Bevor du auf die Idee kommst auch noch die Hangartür öffnen: Der Hangar ist weg.« Tin verschwand in einer der beiden Türen, die am Quartierring vorbei zum Kern hoch führte. Sab blieb schweigend auf dem Boden sitzen. »Was war das?«, fragte Trish als ihre Schwester im provisorischen Kommandodeck ankam, welches später mal die Funktion der Promenade übernehmen würde. »Sab hat den Hangar gesprengt. Sie hatte Glück. Ohne mich hätten wir sie auch verloren.« »Wir müssen nach den anderen sehen.« Gerade als Tin die Tür zum Treppenhaus aufzog, stieg der Doc die letzte Stufe nach oben und wollte ebenfalls wissen, was gerade geschehen war und die Erschütterung ausgelöst hatte. Zusammen begaben sie sich auf die Suche nach Mergy. Viele Möglichkeiten gab es ja nicht mehr. Wenn er nicht in seinem Quartier, weilte, dann musste er in einem der Lager im Hangarring sein, aber das war recht unwahrscheinlich, da er sich wohl direkt gemeldet hätte, als Tin und Sab noch vor der Tür saßen, oder besser lagen.
Der kleine Suchtrupp öffnete die Tür und der Doc trat als erstes in den Raum. Er war in diesem Fall mehr als nur der passende Mitarbeiter für den Job. Nicht nur wegen seiner Tätigkeit als Arzt, sondern auch durch den Fakt ein Mann zu sein. Im Wohnraum fanden sie ihn nicht vor. Seine Transportkiste stand noch ungeöffnet mitten im Zimmer. Der Raum selbst war nach all den Wochen immer noch genauso karg und leer wie direkt nach dem Bau. Das einzige Möbel neben dem Sofa war der Teppich, auch wenn er genau genommen der Definition eines Möbelstücks nicht wirklich entsprach. Der Doc marschierte rufend weiter und fand seinen Kollegen im Bad vor. Etwas irritiert saß Mergy im Bademantel auf dem Stuhl. Er hatte deutlich sichtbar einige Wunden am Kopf und auch die Nase blutete. Der neuerliche Stationsarzt beorderte ihn, von ihm selbst gestützt, in den Wohnbereich, wo seine Kollegen sichtlich geschockt von seinem blutigen Anblick waren. Auf dem Sofa platziert versorgte das medizinische Personal die Wunden mit dem Standard Notfallset aus einer der Schubladen in der Wand.
»Sag bitte etwas.«, war Trish die erste, die besorgt mit ihm sprach, auch wenn der Doc eigentlich gerade mit einigen diagnostischen Fragen beginnen wollte. »Aua!«, vermeldete Mergy knapp. »Die Reflexe sind normal. Er hat eine Gehirnerschütterung und einige starke Prellungen. Hoffen wir mal es bleibt dabei. Keine Arbeit mehr heute.«, stellte er die mit den beschränkten Mitteln mögliche Diagnose. »Duschwände in einer Raumstation sind böse.«, erklärte Mergy und verzog sein Gesicht, weil die Schwellungen begannen die Beweglichkeit seiner Gesichtsmuskeln zu beeinflussen: »Was ist passiert?« »Der Hangar ist explodiert.«, erklärte Tin. Mergy verzog abermals sein Gesicht, sagte aber nichts mehr, nachdem die Schmerzen sich pochend in seinem Kopf verbreiteten.
»Ich bleibe bei ihm.«, erklärte der Doc, hatte er doch bisher die wenigsten Aufgaben auf der Station zu erfüllen. »Gut, dann sehen wir uns mal den Schaden an.« Da sie an der Tür zum ehemaligen Hangar nichts verrichten konnten, ging es direkt auf die Promenade, wo das Computerwirrwar mitten im mehrstöckigen kreisrunden Raum das Einzige war, was der Beschreibung Rohbau entgegen wirkte. Tin aktivierte die Sensoren eines der Repligens und steuerte ihn fern. Der Hangar sah aus sie eine Schrotflinte, die der Hase mit der Möhre blockiert und der Jäger abgefeuert hatte. Ausgefranst und umgebogen war der Lauf aufgeplatzt. »Gut das der Hangar nicht in die andere Richtung explodiert ist.« »Das war im Design so vorgesehen. Das Hangator hatte einige Falze, die als Sollbruchstelle von Innen dienen sollten. Damit wird eine etwaige, durch eine Explosion ausgelöste, Druckwelle aus der Station, und viel wichtiger vom Kern weg, geleitet.« »Das hat offensichtlich gut funktioniert. Dann können wir wenigstens etwas Positives aus der Situation ziehen.«
Langsam öffnete sich die Tür zum Treppenhaus und eine ziemlich zerknirscht dreinblickende Sab betrat die Halle. »Es tut mir so leid. Ich wollte das nicht. Eigentlich wollte ich Duschen und als da dieser Kampfgleiter stand.« »Warum hast du nicht im Quartier geduscht?« »Das Badezimmer geht?« »Ja, hatte ich doch gestern gesagt. Mergy hat es jedenfalls gewusst, ist aber wohl nicht sehr glücklich mit dem Ergebnis.« Sab setzte einen fragenden Blick auf, weil Tin ziemlich vage blieb. »Er war beim Duschen, als du den Hangar gesprengt hast und ist wie ein Flummi zwischen den Wänden hin und her geknallt. Der Doc ist bei ihm.«, erklärte die Zwillingsschwester: »So wie ich das sehe, haben wir ein Sicherheits- und ein Kommunikationsproblem. Tin ab jetzt werden Dinge wie Waffen, Gleiter und so weiter nur noch durch biometrische Komponenten zugänglich gemacht. Eigentlich dachte ich es wäre erst später notwendig, wenn hier Kadetten rumlaufen, aber dieses Ereignis zeigt: Es kann schon jetzt nicht schaden. Des weiteren halten wir bis auf weiteres jeden Morgen um 10 Uhr eine Sitzung, damit jeder über aktuelle Fortschritte informieren und selbst informiert werden kann.«
»Gut. Es sollte kein Problem sein. Ich werde die Arbeiten der Repligen an der Krankenstation beschleunigen und dafür einige von anderen Bereichen abziehen, damit wir wieder eine Fluchtmöglichkeit haben. Außerdem kommt sich der Doc dann nicht mehr ganz so nutzlos vor, auch wenn er heute mal Einsatz zeigen durfte.« Sab verdrückte sich stillschweigend wieder ins Treppenhaus. All die gerade besprochenen Dinge waren von ihr verursacht worden. Durch einen unbedachten Knopfdruck hatte sie ihr Leben und das der anderen in Gefahr gebracht. Bis gerade hatte sie selbst nicht einmal daran gedacht mit dem Hangar nicht nur die Dusche, sondern auch ihren einzigen Fluchtweg vernichtet zu haben. Gäbe es jetzt ein technisches Problem, würden sie hilflos und ohne Aussicht auf Rettung im All treiben.
Zögerlich drückte sie die Platte an der Tür zu Mergys Quartier. Es passierte nichts. Sie wartete noch einmal und versuchte es erneut. Anscheinend war die Klingel noch nicht aktiviert. Also klopfte sie fest an die mechanische Tür. Auf der anderen Seite der Pforte empfing sie der Doc. »Nur kurz, er braucht noch Ruhe.« »Hey, es tut mir so leid.« »Ich hab bisher nicht viel erfahren, aber wenn ich aus dem Fenster sehe, fehlt da ein Hangar. Der einzige den wir hatten, wenn ich richtig gezählt habe.«, merkte Mergy schon fast wieder schnippisch an, obwohl er sichtlich an den Folgen seines Unfalls litt. »Ja, ich habe richtig Mist gebaut.«, war Sab sichtlich zerknirscht. »Jeder macht mal einen Fehler.«
»Meiner hätte uns alle fast umgebracht.« »Wichtig ist das niemandem ernsthaft etwas passiert ist und du daraus gelernt hast.« »Das kann ich dir versprechen.« »Dann ist ja alles klar. Ich für meinen Teil würde mich jetzt gerne etwas hinlegen.«, hielt Mergy seinen pochenden Kopf. »Du liegst doch schon!«, war Sab irritiert, sah sie ihren Freund bereits auf dem Sofa liegend vor sich. Mergy rang sich ein Lächeln ab: »Ich meinte mit geschlossenen Augen und ohne Lärm der in meinem Kopf hämmert.« »Es tut mir leid.«, flüsterte Sab und zog sich langsam zur Tür zurück.
In den nächsten Tagen hielt sich Sab sichtlich zurück und arbeitete wann immer möglich alleine in ihrem Quartier. Die von den Zwillingen angesetzten täglichen Meetings musste sie zwangsläufig über sich ergehen lassen, obwohl niemand weiter auf die von ihr verursachten Probleme anspielte oder sie deshalb anders behandelte. Mergy setzte Jaque in die Station ein und so bekam er erstmals weitere Sensoren und Steuerungsmöglichkeiten. Aus Sicherheitsgründen nur einfache Systeme wie Kameras, Temperatursensoren, interne Türen, Licht und Wasserversorgung. Seine Nutzung war am Anfang noch reichlich hölzern, da er immer wieder Bedeutungen hinterfragte und einfachste Sätze falsch interpretierte, aber wie von Mergy vorhergesagt lernte er schnell und wurde innerhalb von wenigen Wochen zu einem neuen Besatzungsmitglied.
»Die Feuerlöschsysteme sind in Betrieb und bis auf die Nahrungsverteiler sollten alle anderen Systeme in den Quartieren jetzt vollständig funktionieren und können auch via Jaque über Stimmenkontrolle bedient werden können. Türsensoren und die neusten biometrischen Sensoren zur Zugangskontrolle sind aktiv. Wenn wir keinerlei Probleme in den bestehenden Systemen finden, sehe ich kein Problem darin die Station wieder zu erweitern.«, erklärte Tin in der mittlerweile zehnten offiziellen Stationssitzung. Abgesehen vom Neubau des Hangars und dem daraus resultierenden bevorzugten Bau der Krankenstation als Notfallraumschiff war die Station seit Monaten nicht erweitert worden. Die unbenutzten Repligen hatten während dieser Zeit eine Dauerprüfung des gesamten Stationsgebildes durchgeführt, um Schäden durch die Explosion, aber auch durch den normalen Widrigkeiten im All aufzuspüren. Lediglich einige Technikkomponenten in den Zwischendecks wurden von Tin schrittweise fertiggestellt und aktiviert.
Verglichen mit der bisherigen Raumfahrt der Menschheit, hatte die kleine Gruppe mit der noch ziemlich unvollständigen Station bereits ein Weltwunder geschaffen. Sie hatten jeden Komfort und konnten ohne Einschränkungen im All leben, während die unwissenden Kollegen auf der erdnahen Raumstation regelmäßig auf den Planeten zurückkehren mussten und nach Langzeitaufenthalt im All mit Muskelschwund zu kämpfen hatten. Das Ray Team mit seinen fünf Astronauten hatte keinerlei Probleme. Die Gravitation wurde zwar ab und zu abgeschaltet, um es den Repligen zu erleichtern etwas zu bauen, aber diese Maßnahme war immer nur auf bestimmte Bereiche ihres neuen Zuhauses beschränkt und auf ein paar Stunden limitiert. Generell war selbst diese kleine Einschränkung doch ein großer Spaß, für den man auf der Erde via Parabelflug viel Geld bezahlen müsste.
»Ich hab die überarbeitete Nutzeroberfläche in den Gleiter gespielt. Er wäre damit einsatzbereit.«, erklärte Sab. »Das ist wohl mein Stichwort.« Mergy lächelte und konnte das Verlangen dieses neuartige Fluggerät auszuprobieren nicht verbergen. Tin selbst wollte keine Testflüge machen wollte. Nicht aus Angst, aber wegen ihrer Übelkeit. Trish und Sab hätten diesen Part übernehmen können, ließen Mergy aber den Vortritt. »Wird dir davon nicht schlecht? Da war doch was mit Flugzeugen und Hubschraubern?«, zog Trish einen Mundwinkel hoch. »Ein Kampfgleiter fliegt aber nicht mit einem Antrieb, der nur durch Explosionen im Inneren funktioniert.«, merkte Mergy an: »Und man sitzt nicht auf Tonnen von Treibstoff. Da ich die AG Elemente gebaut habe, weiß ich zumindest wie es funktioniert und herunterfallen kann ich hier sowieso nicht.« Er hatte sich, für alle deutlich erkennbar, Gedanken um das Fliegen gemacht. Den Transporter hatte er schließlich damals auch als Pilot bedient.
»Wir können ihn nachher testen.«, merkte Tin an und Mergy nickte voller Vorfreude. »Doc wie sieht es mit der Krankenstation aus?« »Der Innenausbau läuft gut. Ich hoffe es gibt keine Probleme, weil ich einige Dinge abgeändert habe.« »Du musst nachher darin arbeiten und es soll optimal für die Behandlung von Patienten sein. Da bist du der Fachmann und bestimmst den Aufbau und das Equipment.«, erklärte Trish. »Wo du es gerade ansprichst: Ich habe einige Richtlinien und Regeln aufgestellt und darin dem Doc volle Handlungsbefugnis eingeräumt, wenn es um medizinische Belange geht. Die Krankenstation ist somit eine eigene Abteilung innerhalb des Ray Teams und er ist dort der Boss.«, erklärte Mergy. »Klingt sinnvoll. Die Dokumente können wir später als Lernmaterial aufbereiten.«, befand auch Sab den Vorschlag für gut.
»Wie sieht es mit der Kommunikation aus? Wir sollten nicht zu viel Aufmerksamkeit erzeugen. Nicht das SETI und Konsorten unsere Signale für außerirdischen Ursprungs halten.« »Ich denke das ist kein Problem. Man wird die Signale für Reflexionen halten. Wenn ich die verschlüssele, dann sorgt das nur für mehr Aufmerksamkeit und Neugier. Wir sollten einfach nur offensichtlich verräterische Worte in unserer Kommunikation vermeiden.«, erklärte Mergy. »Da ist etwas dran. Bereit unseren ersten Vogel zu probieren?« »Klar, aber es ist genaugenommen der Zweite. Den ersten Gleiter hat jemand kaputt gemacht.«, grinste Mergy zu Sab hinüber, die gleich rot anlief und unsicherer wurde. »Das ist abgehakt. Lass die Sticheleien.«, ermahnte Trish. Tin und Mergy verzogen sich in den Hangar, während die anderen in der provisorischen Zentrale blieben. »Sei nicht sauer auf ihn. Er liebt solche Sticheleien. Wenn er mal Mist baut, kannst du den Spieß ja umdrehen.«
»Das ist Kampfgleiter Eins«, baute sich Tin stolz vor dem Gefährt auf, als hätte Mergy die vorherigen Diskussionen um die Bauform und die Benennung verpasst. Man hatte beschlossen die Station Ray Team One zu nennen, auch wenn nicht ganz klar wäre, ob man eine Zahl im Namen bräuchte. Mergy war der Meinung man müsste die Ziele erkennen können und wissen wo man steht. Die Eins würde den Anfang symbolisieren und gleichzeitig andeuten, man hätte große Dinge vor. Auf eine namensgebende Taufe wurde verzichtet. Trish hatte sich zwar dagegen ausgesprochen, aber die anderen meinten es sollte nicht nur ein kleines Stück getauft werden, sondern das ganze Baby. Den Kampfgleiter hatte Tin selbst getauft. Es war die erste Maschine und es würden viele weitere folgen. Namen würden keinen Sinn machen. Außerdem gab es keine Helden nach denen man die Station oder die Schiffe benennen konnte. »Die würden sich mit der Zeit offenbaren.«, erklärte Sab damals und hatte damit wohl recht.
»Mausgrau? Soll das so bleiben?« »Nein, ich denke Schwarz wird die zentrale Farbe.« »Die Station in strahlendem weiß und die Gleiter in schwarz? Wie passt das zusammen?« »Naja, falls es Probleme mit der Tarnung gibt fällt ein schwarzer Gleiter im All nicht auf. Auf der Erde sind wir vorerst sowieso unsichtbar. Da ist die Lackierung egal. Später können wir uns ja noch was überlegen.« »Klingt logisch. Keine Rückbank?« »Nein, ich dachte daran diesen Gleiter als eine Art Prototyp zu nutzen. Wir könnten dort die neuste Technik einbauen. Wenn sie später ausgereift und brauchbar ist, übernehmen wir sie einfach in die regulären Gleiter ohne Piloten in Gefahr zu bringen.« »Nett. Eine Bedingung habe ich da allerdings.« Tin war irritiert. Das war jetzt doch gar keine Verhandlung gewesen? Fragend schaute sie ihrem Kollegen in die Augen, der, wie die anderen im Team, schon lange ein guter Freund geworden war. Mergy erkannte ihre Verwirrung: »Das ist mein Kampfgleiter! Ich mag Technikspielereien.« Tin musste lachen: »Einverstanden.« »Dahinten kommen also die Experimente rein?« »Ja, so habe ich Platz und kann mich später mit Verkleinerungen beschäftigen. Es macht keinen Sinn Zeit mit Verkleinerungen zu verbringen, wenn man es später gar nicht brauchen kann.« »Das leuchtet ein.«
»Wo sind die Gondeln? Ich würde nur ungern zu einem rotierenden Flummi werden, wenn die AG Elemente unter Last instabil werden.« »Die liegen unten im Gleiter und werden seitlich ausgefahren. Ich experimentiere noch mit einer dynamischeren Lösung, bei der die Flügel beim Ausfahren repliziert und beim Einfahren vernichtet werden. Das ist aber alles noch zu wackelig und sie dürfen ja bei extremen Manövern nicht abbrechen und müssen einiges aushalten.« »Klingt vernünftig. Tarnung?« »Tarnung ist eingebaut. Ich konnte das damals im Transporter verwendete Modul noch deutlich verkleinern. Die angesprochene Verschmelzung von der Tarnwand mit dem Gleiter habe ich zwar implementiert, aber sie ist noch nicht perfekt. Der Algorithmus ist noch fehlerhaft.« »Das kann ich mir heute Abend mal mit Jaque ansehen. Dann wollen wir mal. Ist hier alles festgezurrt? Nicht das etwas wichtiges herausgesaugt wird, wenn wir das Tor öffnen.«
»Das wird nicht passieren. Am Ende des Tunnels ist ein Schild, der die Luft drin und das Vakuum draußen hält.« »Und wie komme ich dann nach draußen?« »Es ist ein Klasse 2 Schild. Naja, so habe ich das mal definiert. Eine Art weicher Schild, der auf Druck nachgibt. Beim Durchflug geht nur minimal Luft verloren.« »Und wenn er ausfällt?« Tin lächelte. Mergy war jemand mit dem man über solche Dinge sehr einfach reden konnte. Er durchdachte Projekte immer bis zum Ende und wusste direkt auf mögliche Probleme hinzuweisen. Sein Wissensdurst gab ihr auch die Möglichkeit zu verifizieren, ob sie vielleicht etwas übersehen hatte, was ihr Leben und das der anderen in Gefahr bringen könnte. »Es sind eigentlich vier Schilde auf den letzten zehn Metern des Tunnels. In der Mitte gibt es noch ein paar. Falls der Tunnelausgang, wie bei der Gleiterexplosion letztens, beschädigt wird. Die sind alle unabhängig, können nicht abgeschaltet werden und jedes System ist anders verbaut. Eine Beschädigung betrifft also immer nur ein oder zwei Schilde.
»Ich bin beeindruckt. Das ist alles gut durchdacht.« »Danke. Du bist aber auch recht schnell mit dem Finden der möglichen Problemstellen.«, lachte Tin. »Dann bin ich startklar.« »Gut, ich gehe zu den anderen. Sei vorsichtig. Das ist immer noch nur ein Prototyp.« »Zu Befehl.«, salutierte Mergy und Tin verschwand durch die mächtige Tür. Mergy schloss den Gleiter und aktivierte ihn. Die Bedienelemente im Fenster leuchteten auf und zeigten Statusinformationen. Mergy aktivierte den Funk: »Könnt ihr mich hören?« »Klar und deutlich.«, erwiderte Trish. »Aktiviere die Gondeln.«, erklärte Mergy. »Das sind Stabilisatoren.«, merkte Tin an, die anscheinend schon im zentralen Bauabschnitt angekommen war. Seitlich schoben sich mit deutlich hörbarem Surren die Stangen nach außen. An deren Enden befand sich jeweils eine kleine Version des Gravitationsantriebs. Damit sollte ein Ausbrechen des deutlich größeren Hauptantriebs entgegengewirkt werden. »Wie Gondeln sehen die Dinger wirklich nicht mehr aus.«, musste Mergy zugeben.
Sanft zog er am Steuerhorn und das kleine Schiff hob ab. Der Kommander machte einige kleinere Flugbewegungen, um ein Gefühl für das neue Transportmittel zu bekommen, während Tin die Signale analysierte. »Ich fliege nach draußen, wenn es keine Einwände gibt.« »Bleib im Stationsbereich, falls es Probleme gibt.« »Wenn es Probleme gibt, dann könnt ihr mir auch nicht helfen.« Schweigend nahmen die vier Kollegen auf dem Kommandodeck seine Antwort entgegen. Er hatte recht. Wenn er im All treiben würde, könnten sie ihn weder hereinziehen noch, mit einem anderen Schiff holen. Einzig die noch komplett ungetestete und teilweise unfertige Krankenstation wäre vielleicht dazu in der Lage.
Mergy sauste mit seinem neuen Fluggerät aus der Stationsbaustelle. »Fliegt sich gut. Nicht so träge wie der Transporter.« »Er hat vier AG-Systeme, die alle unabhängig arbeiten. Das erhöht die Wendigkeit und die Sicherheit. Es gibt auch noch Navigationsdüsen. Die werde ich später weglassen.« »Nein, die würde ich drin lassen. Bei einem Ausfall der Technik kann man durch das Ablassen von etwas Luft wenigstens noch minimal navigieren. So groß sind die ja nicht.« Nach einer Kurve flog er wieder auf die Station zu. Auch wenn diese bisher nur aus einem Hangar, dem Stationsträger, der Promenade, der Krankenstation und zwei unvollständigen Ringstummeln bestand, war sie beeindruckend groß. Die gewaltigen Ausmaße, die ihr Zuhause einmal erreichen würde, waren mehr als offensichtlich. Schon jetzt war die Station deutlich größer als alle anderen von Menschen gebauten Objekte im All. »Die Station wirkt von außen viel größer.« »Weil du die Zwischendecks im Inneren nicht siehst. Die Quartiere sind ja auch nur oben angebracht. Die können wir später nach unten hin verdoppeln.«
»Die wären aber kleiner und von der Form nicht so schön.«, malte sich Trish so ein Quartier bereits im Kopf aus. »Schwesterchen. Die wären identisch.« »Identisch? Das geht doch gar nicht. Jetzt laufen die Außenwände oben zusammen und der Raum wird an der Decke kleiner. Unten im Ring würden die durch die runde Form einen kleineren Boden ergeben.« »Da hast du zwar recht, aber ich würde die Räume auf dem Kopf einbauen.« »Auf dem Kopf?«, Trish war etwas irritiert. Dann schaltete sie: »Du willst die unteren Decks mit negativer Gravitation nutzen?« »Naja, Oben und Unten ist im Weltall irrelevant und die Lifte können wir entsprechend rotieren.«, erklärte Tin weiter. »Irre.« »Naja, alleine oben bringen wir fürs Erste genug Leute unter. Das hat wohl noch einige Jahre Zeit.«
»Wow, der Antrieb holpert ganz schön.« »Wo bist du?« »Direkt über der Station, wieso?« »Das sind die Gravitationswellen der Station. Die kann ich zwar noch ein wenig justieren, aber die Auswirkungen werden immer auch außen zu spüren sein, speziell wenn später noch die Türme dazu kommen.« »Sollten wir in die Regeln aufnehmen. Perimeterflug nur für erfahrene Piloten und nur mit spezieller Erlaubnis.« »Ist notiert.«, fügte sich Sab aus dem Hintergrund in die offene Funkübertragung ein. »Wooooooohhooooooo«, tönte es plötzlich aus dem Lautsprecher. »Was ist da los? Hat er Schmerzen?«, war der Doc irritiert. »Das klingt mehr nach zu viel Adrenalin. Kaum zu glauben. Zweimal hat er uns in den Hubschrauber gekotzt und jetzt das.«
»Er ist von den Sensoren verschwunden.«, wurde Sab unruhig. »Das Teil ist der Wahnsinn!«, kam es aus der Sprechanlage und zauberte einen erleichterten Blick in die Gesichter der Anwesenden: »Spricht etwas gegen den Flug in die Atmosphäre?« »Eigentlich nicht, aber wir sollten die Systeme vorher nochmal durchchecken.« »Registriere einen Feuerball. Er fliegt zur Erde.«, merkte Trish abgeklärt und trocken an. »Ich sagte wir müssen den Gleiter vorher noch testen!«, war Tin leicht sauer über die eigenmächtige Handlung. »Das hier ist ein Testflug, oder nicht?«, erwiderte Mergy: »Jaque, hast du was für mich?« »Vier potentielle Ziele. Ich übermittle die Daten.« »Funktionieren die Waffen?« »Nur die kleinen Maschinenkanonen.«, erklärte Tin. »Das Betäubungszeug funktioniert, Doc?« »Das ist ein lange bekanntes Nervengift. Es sollte innerhalb von Sekunden jede Person für mindestens 30 Minuten ausschalten.«
Der Kommander in seinem Kampfgleiter setzte Kurs auf die von seinem Computer ermittelten Koordinaten. »Was ist mit dem Transporter?« »Auf keinen Fall! Alles was ich bisher zerlegt habe, kam kaputt wieder raus. Eine Nutzung wäre tödlich.« »Dann habe ich einen Plan!« Auf dem Schirm sah er die Live-Bilder eines Nachrichtensenders. Ein Elite Internat in England war von Terroristen eingenommen worden, die mit der Tötung von Kindern drohten, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt würden. Mergy schwebte direkt vor dem Gebäude und konnte sich auf den Fernsehaufnahmen nicht sehen. »Die Tarnung funktioniert. Was passiert wenn ich feuere? Wabert sie dann wie die Tarnwand?« »Nein, die Projektile sind zu klein und zu schnell, um einen Effekt auf die restliche Matrix zu haben.«, erklärte Tin, während jetzt auch die Ray Team Mitglieder auf der Station gebannt auf die Fernsehbilder schauten.
Mergy führte einen Scan durch und machte sechs Personen mit Waffen ausfindig. Im Fernsehen war von nur vier Tätern die Rede. Er ließ die Kugeln aus den Waffen transportieren. »Der Transporter braucht wirklich noch etwas Liebe. Hier ist eine Art Brei angekommen.« »Was hat du transportiert?«, quiekte Tin angespannt. Mergy hatte durch seine Aktion weit mehr als nur den geplanten Flugtest durchgeführt. Er wollte Leben retten und setzte dabei mehr ungetestete Technologie ein, als ihr lieb war. Durch ein seitliches Fenster hatte er Sicht auf alle Geiselnehmer. Die etwa zwanzig Kinder saßen an einer Wand und zitterten um ihr Leben. »Keine Panik. Nur die Munition aus ihren Waffen!«
Mergy markierte die Ziele mit der dafür vorgesehenen Zielvorrichtung und drückte ab. Das Glas zersprang nicht. Die kleinen Stifte waren zu winzig und zu schnell um größeren Schaden anzurichten. Die Geiselnehmer fasten sich an Hals und Schulter und fielen dann um wie Steine. Über den Polizeifunk konnte man deutlich hören, wie einige Scharfschützen meldeten die Täter, die sie im Blick gehabt hatten, wären aus unbekanntem Grund zu Boden gegangen. Es fielen keinerlei Schüsse und es gab keinerlei gewalttätige Gegenmaßnahmen. So schickte man die zum Sturm bereitstehende Spezialeinsatztruppe in das Gebäude. Nur Minuten später strömten die Kinder auf den Hof und wurden erst von Polizisten, dann von ihren glücklichen Eltern in Empfang genommen.
»Wir brauchen eine Signatur!«, merkte Mergy an. »Eine was?« »Naja, einen Signaturschrei. Den könnte ich jetzt loslassen und spätestens nach ein paar weiteren Einsätzen, würden die Menschen wissen, wenn sie den Schrei hören kommt Hilfe. Die bösen Jungs würden Panik schieben oder gar gleich die Flucht antreten.« »Eine gute Idee, aber erst einmal solltest du deinen Arsch wieder auf die Station begeben.«, erklärte Tin. Mergy setzte Kurs auf seine neue Heimat und nicht nur in ihm kam das Gefühl auf bereits etwas bewirkt zu haben. Schweigend sahen sich auch die restlichen Mitglieder die sich immer wiederholenden Bilder des Fernsehsenders an. Immer wieder wurden Eltern gezeigt die ihre Kinder in die Arme schlossen und man war gespannt wie die Ereignisse auf der Erde plausibel erklärt würden. Vielleicht hatten sie diese Kinder gerettet. Vielleicht hätten die Männer auch selbst nach einigen Stunden aufgegeben, oder man wäre ihren Forderungen nachgekommen und die Geiseln wären freigelassen worden.
Vielleicht wäre es aber auch anders gekommen und man hatte ein blutiges Ende verhindert. Niemand würde je erfahren, was wirklich an diesem frühen Nachmittag in England passiert war, aber dennoch erfüllte es die kleine Truppe mit Stolz. Zum ersten Mal hatten sie nicht nur unauffällig Umweltprobleme gelöst, sondern direkt das Leben von Menschen zum Besseren verändert. Langsamer und andächtiger als zuvor steuerte Mergy den Kampfgleiter wieder zurück ins All. Als wäre es das Normalste der Welt forderte er die Erlaubnis zur Landung ein und das große Tor öffnete sich der von Lauflichtern gesäumte Weg ins Innere.
Surrend aktivierten sich die kleinen Landefüße und rasteten deutlich hörbar ein. Das Fluggerät setzte sanft im Innern der Station auf. Ein Piepsgeräusch vermeldete die vollständige Abschaltung der Maschine. Die Anzeigen auf der vormals bunt beschrifteten Scheibe erloschen. Langsam und ohne Hast stieg der Kommander aus seinem Raumschiff und drehte sich noch einmal zum Flieger um. Andächtig betrachtete er den tristen einfarbigen Gleiter. Mit einem Schmunzeln klopfte er zweimal auf das Dach, als würde er sich bei der Maschine für die Erfahrung bedanken wollen und setzte den Rest des Weges zu Fuß fort.
Auf dem provisorischen Kommandodeck wurde der Kommander selbst dann aber gleich unsanft begrüßt. Er wäre ein zu großes Risiko eingegangen. Der Gleiter wäre noch gar nicht ausreichend getestet worden. Mergy ignorierte die Ansagen seiner Kollegen und lief direkt auf den kleinen Kühlschrank zu, aus dem er die Flasche Sekt nahm, die schon seit Wochen auf einen Einsatz wartete, den noch niemand definiert hatte. Aus der kleinen Kiste obendrauf fischte er fünf passende Gläser, befüllte sie und stellte sie auf den hölzernen Deckel, den er sogleich als Tablett missbrauchte.
»Ja, ich bin vielleicht ein Risiko eingegangen, aber es war nötig.«, erwiderte er erst die Aussagen seiner Kollegen, als er mit den Getränken bewaffnet vor ihnen stand. Schlagartig war es still im übergroßen Raum. »Es war wichtig! Wichtig für die Moral, die Motivation und die Stimmung. Wir haben uns zusammengetan um etwas zu verändern. Heute war es nur ein Kampfgleiter. Bald sind es Hunderte. Heute waren es ein paar Kinder denen wir geholfen haben. Bald sind es Tausende.« Er legte eine kleine Pause ein und verteilte die Sektgläser. »Es war vielleicht ein Wagnis, aber jetzt ist es klar: Wir können unser Ziel erreichen. Jeder hier hat sein Bestes gegeben und seinen Teil zur Rettung dieser Kinder beigetragen. Wir sind hier um etwas zu verändern! Heute haben wir damit angefangen. Es funktioniert! Wir funktionieren! Auf das Ray Team!«
»Da kommt Nibbler.« »Wenn er es diesmal nicht schnallt, dann bekommt er einen deutlicheren Hinweis. Es wird langsam langweilig.«, erklärte Shizuka mit unfreundlicher Tonlage.
Seit der Geschichte mit dem Positionstracker wartete das Mädchen auf eine Entschuldigung. Sie war mehr als nur überrascht zu hören von wem der Sender stammte. Er kam nicht von Mergy, wie May vermutet hatte, sondern von Sab. Jiyai selbst war ziemlich sauer gewesen. Sie hatte über Wochen nicht mit Sab gesprochen. Von der persönlichen Laune aus bewertet, war diese Trennung für beide nicht besonders gut. Für Jiyai schien diese Strafe selbst eine Qual zu sein, aber sie zog es durch, um Sabs Kontrollzwang ein für allemal in die Schranken zu weisen. Shizuka hatte einen anderen Weg gewählt und ging die Sache direkter an. Sie wartete auf eine Entschuldigung. Zwar erwartete sie die von Beiden, aber Sab war kein Gegner mit dem sie sich anlegen wollte und konnte. Sie war nicht in der Position Sab auch nur ansatzweise Paroli bieten zu können, während der Kommander alle Möglichkeiten hatte, ihr das Leben auf der Station zur Hölle zu machen.
Also beschränkte sie sich auf Nibbler. Jeden Morgen, jeden Mittag und jeden Abend, wenn sie ihn im Sors ausmachte nutzte sie ihre Kräfte, um seine Mahlzeit zu ruinieren. Morgens kippte der Kaffee auf seinem Tablett um und wurde von seinem Toast oder Bagel aufgesaugt. Mittags schwammen seine geliebten Schnitzel in Orangensaft und Abends wiederholte sich das Spiel. Egal was er zu essen beliebte, sein Getränk war bereits nach kurzer Zeit darüber verschüttet. Shizuka ließ es aussehen, als wäre er nur ungeschickt, aber es wurde immer schwerer, da er sich sehr darauf konzentrierte nichts zu verschütten. So mussten mittlerweile auch Dritte für einen Unfall herhalten.
Diesmal hatte er gar kein Getränk auf seinem Tablett. Er wollte wohl auf Nummer sicher gehen. Zusammen mit Stiff und Sonny setzte er sich an den Tisch am anderen Ende des Lokals. Er hatte noch nicht einmal die leiseste Ahnung woher sein plötzliches Pech kam. Außer ihren Freunden am Tisch hatte niemand eine Ahnung von dem kleinen Rachefeldzug. Ohne das Nibbler es bemerkte war auch an diesem Morgen bereits die große feuchte Hand des Pechs ausgeflogen und schwebte über seinem Tisch. Er war sichtlich zuversichtlich. Die drei Piloten setzten sich und Shizuka ließ die Tabletts von Nibbler und Stiff zusammenstoßen. Dabei kippte das große Glas Cola von Stiffs Tablett um und schwappte im Bogen direkt auf den Teller von Nibbler. Das große Sandwich saugte den dunklen klebrigen Saft in sich auf. »Das kann doch jetzt nicht wahr sein.«, hörte man seinen verzweifelten Aufschrei durch das Lokal.
Am Tisch der Jünglinge wurde laut gelacht, aber Nibbler hatte nicht einmal den Verdacht einer von ihnen könnte dahinterstecken. Außerdem schaute die komplette Mannschaft im Sor nun zu ihm hinüber. Einzig May an einem der hinteren Tische genoss den sich wiederholenden Spaß. Sie war dank ihrer Kräfte schon seit Tagen dahinter gekommen, wer sich hier einen Spaß erlaubte. Eingegriffen hatte sie allerdings nicht. Shizuka war erwachsen und wenn das ihr Weg war, dann hatte sie kein Problem damit, auch wenn sie ihre Kräfte damit nicht für das Wohl anderer Menschen einsetzte. Es war ihre Entscheidung. Mehr als Anregungen zur Nutzung konnte sie nicht geben und sie selbst hatte auch schon ihre Kräfte für etwas Spaß genutzt, auch wenn es nie so ausgeufert war, wie bei ihrer jungen Kollegin.
»Zeit für die Rache des Sandwichmonsters.«, merkte Shizuka an und hatte sich wohl schon länger überlegt, was sie machen würde. Das zu zwei Dreiecken geschnittene Brot sprang plötzlich auf. Die dunkle Cola vom Teller und aus dem Brot selber wurde zu Armen, Beinen und Kopf des kleinen Monsters. Nibbler und die anderen an seinem Tisch machten einen großen Satz nach hinten, als sich das Brot erhob. »Jetzt ist Schluss mit Lustig.«, gab das Cola-Brot-Monster in tiefer Stimme von sich. May war beeindruckt. Wenn sie auch nicht unbedingt einer Meinung mit der Nutzung der Fähigkeiten war, so hatte das Mädchen innerhalb der kurzen Zeit doch nicht nur gelernt mit ihnen zu leben, sondern auch sie zu meistern. Sie selbst hatte unzählige Wochen benötigt um mit der Luft Sprache zu erzeugen. Es erfüllte sie auch ein wenig mit Stolz. Das Mädchen hatte sich ihren Rat zu Herzen genommen, geübt und ihre Fähigkeiten weiter erkundet, dabei hätte sie sich auch einfach auf ihren vorherigen Erfolgen ausruhen können.
»Was bist du denn?«, brachte Nibbler mit erstaunen heraus. »Dein Frühstück du Nase!«, erwiderte das Monster mit den Colaextremitäten. »Ist da nicht eine Schuld, die du begleichen solltest?« »Was? Keine Ahnung!« »Falsche Antwort!« Die Hände des Wesens verformten sich und eine dunkle Waffe wurde eins mit den Händen. Mit lauten »Plop« Geräuschen ratterte die Waffe Colakugeln auf Nibbler. Beim Zurückweichen und Abwehren stolperte er über den umgekippten Stuhl hinter ihm und landete unsanf auf seinem Hintern. Der kleine Feind auf dem Teller stellte das Feuer ein. Im Sor war es still. Selbst Sor, der sonst immer gleich auf Streitereien oder Gewalt in seinem Lokal reagierte, stand nur stumm da und schien zu beobachten. Anscheinend sah seine Programmierung keine Frühstücksmonster vor. Er hatte offensichtlich keine Ahnung wie er auf diese neue Art der Störung reagieren sollte.
Nibbler rappelte sich langsam hoch und schaute in den Saal. Alle Blicke waren auf seinen Tisch gerichtet. Abgesehen von ein wenig Gemurmel war es still. Das Saftmonster fiel in sich zusammen und eine Blase aus Cola klatsche Nibbler direkt an den Hals, wo sie sich wie ein Kragen um seinen Hals legte. Er konnte den Ring fühlen, aber nicht durchdringen. Er war massiv wie Stein. Einige Sekunden verharrte der klebrige Saft dort, dann siegte die Schwerkraft und sein T-Shirt saugte die herabfallende Flüssigkeit wie ein Schwamm auf. Regungslos stand Nibbler da und starrte auf sein Sandwich.
»Fertig!«, verkündete Shizuka lautstark. »Das war irre!«, jubelte Neela und die anderen Mädchen am Tisch stimmten sich ein. Ungewollt zogen sie mit dem Durchbrechen der Stille die Aufmerksamkeit auf ihren Tisch. Auch Nibbler blickte nun hinüber. Shizuka, die parallel zu seinem Sitzplatz saß, beachtete ihn gar nicht. Ihre Sinne nahmen allerdings genau wahr wohin er schaute. Er griff sich an den Hals und es schien Klick zu machen. Die Zusammenhänge wurden ihm schlagartig bewusst. Unter den Augen der schweigenden Gäste im Sors trat er an ihren Tisch. »Shizuka. Das mit dem Sender tut mir leid.«
»Ich dachte du wolltest nett sein, aber du hast mich nur benutzt.« »Sab hat mir befohlen jemandem den Tracker anzuheften. Mir war auch nicht Wohl dabei.« »Du hast es aber trotzdem getan.« »Sie ist Kommander.« »Du hättest jedes Recht gehabt deine Zweifel einem der anderen Kommander vorzutragen und die Richtigkeit dieser Aufgabe zu hinterfragen.«, warf Shizuka barsch zurück. May hörte gebannt zu. Das Mädchen hatte also verstanden, wer den eigentlichen übergeordneten Fehler gemacht hatte. »Ich weiß. Ich hätte mich von Sab nicht einschüchtern lassen sollen. Und ich hätte früher zu dir kommen sollen.« »Ja, das hättest du!« »Es tut mir leid. Wirklich!«
Nibbler stand ziemlich unsicher und verzweifelt vor dem Tisch. Shizuka blickte zum ersten Mal auf und sah ihn an. Er stand verklebt, schluderig und tropfend vor ihr. Das war der Moment auf den sie gewartet hatte, aber jetzt fühlte er sich gar nicht mehr wie ein Triumph an. Er tat ihr leid, wie er da so vor ihr stand und schon fast um Verzeihung bettelte. »Entschuldigung angenommen.« »Kein Kaffee mehr im Müsli?« »Wenn du nicht mittlerweile gefallen daran gefunden hast?«, schmunzelte das Mädchen nach oben. »Ich denke ich kann darauf verzichten. Danke!«
Langsam kehrte wieder Normalität in den Laden. Sor nahm seine Arbeit wieder auf und auch die Mädchen besannen sich wieder auf das Frühstück die kommenden Aufgaben des Tages. May griff sich ihr leer gefuttertes Tablett und machte einen kleinen Umweg zu Shizuka an den Tisch: »Gut gemacht.« Als der Kommander auf dem Kommandodeck eintraf war Sab schon gespannt. »Was hast du zu ihr gesagt?« »Zu wem?« »Shizuka!« »Sie hat es gut gemacht und das habe ich ihr gesagt.« »Du heißt diese Sache gut? Sie hat Chaos gestiftet und den Stationsbetrieb gestört.« »Nein. Sie wollte nur wie ein Mensch behandelt werden und nicht wie eine Puppe, der man eine NannyCam einbaut.«, gab May sichtlich wütend zurück.
»Sie kann die Regeln nicht einfach in die eigene Hand nehmen.« May stutzte. Sab schien es wirklich nicht zu begreifen. Hatte sie die letzten Wochen vergessen, als Jiyai ihr die kalte Schulter gezeigt hatte? »Du bist ja wohl die Letzte die hier urteilen oder eine Strafe bestimmen sollte. Du hast deine Kompetenzen mehr als nur ein wenig überschritten und Nibbler förmlich zu dieser Aufgabe gezwungen, obwohl du genau wusstest, wie falsch und demütigend die Aktion für alle Beteiligten ist.« Sab schluckte. Trish im hinteren Teil des Kommandodecks blickte nur auf ihren Bildschirm und tat beschäftigt. Sie wollte sich nicht in die Sache hineinziehen lassen, war aber dennoch ganz auf Mays Seite. »Hast du dich bei Nibbler entschuldigt? Oder bei Shizuka? Du bist nur froh das Jiyai wieder mit dir redet, dabei hast du andere Personen in deine Überwachungsfantasien hineingezogen. Du hast den Stationsbetrieb gestört. Ganz alleine du!«
Trish, immer noch hinter ihrer Konsole versteckend, musste leicht schmunzeln. Noch nie hatte es jemand gewagt Sab so direkt und so hart anzugehen. Klar gab es hier und da mal Reibereien, aber diese wortstarke Ansprache von May zeugte von einer Qualität, die man so noch nicht erlebt hatte. Sie bedauerte innerlich die Abwesenheit von Mergy. Er wäre sicherlich ziemlich Stolz darauf, wie seine Ziehtochter mit der ungewöhnlichen Situation umging. Mit lauten und persönlichen Worten pflanzte sie ein schlechtes Gewissen in den Kommander. May verschwand ohne weitere Worte im Büro. Sab sagte nichts. Sie drehte sich auch nicht zu Trish um, obwohl sie ihre Position im Raum genau kannte. Das alleine zeugte von der Peinlichkeit, die sie in diesem Moment verspürte.
Stunden später in der Stationssitzung schien der aufbrausende Auftritt von May schon verflogen zu sein. »Ich finde immer noch das wir Anspruch auf die Technologie haben.«, muffelte Sab. »May hat recht.«, war das Gewissen erneut auf der gegnerischen Seite: »Wir können nicht mit zweierlei Maß messen.« »Wir haben auch Technologie von anderen Welten in unsere einfließen lassen.« »Ja, weil diese Rassen uns angegriffen haben. Wenn wir anfangen uns alles zu nehmen, was wir wollen, dann sind wir nicht besser als die Draken.« Die Diskussionen um den Umgang mit dem Sanktum waren mittlerweile in jeder Stationssitzung zu finden. Sab versuchte eine Lösung zu finden. Aber es gab keine die beide Seiten zufrieden stellte. Das auf dem Mond geparkte Sanktum war keine Bedrohung für den Planeten und wenn die vier Joluh und der Hüter ehrlich waren hatten sie noch keine großen Ideen, was man damit machen könnte.
Nur eins war ihnen klar. Die Technologie war nicht für die Menschheit bestimmt, sondern nur für die Joluh. Diesen Punkt hatte May schon vor Wochen klargestellt, aber Sab setzte immer wieder einen Diskussionspunkt auf die Karte, obwohl selbst Tin, als einzige Verbündete bei diesem Thema, schon lange keinerlei Einwände mehr hatte. Heute waren die angeführten Argumente mehr halbherzig. Vielleicht die Nachwehen des lauten Vormittags. Die restlichen Punkte der Liste waren schnell abgearbeitet. Nach der Sitzung überließ sie ihren Kollegen das Kommandodeck. »Sie hätte etwas zu erledigen.« Trish schmunzelte und konnte sich vorstellen, was das war.
Als Sab gegen Abend vor dem Quartier von Shizuka stand, war es bereits 20 Uhr. Das Mädchen war tagsüber in den verschiedenen Unterrichten gewesen und dazwischen immer wieder im Sor, aber nie in ihrem Quartier. Anders als Nibbler bei dem sie sich direkt nach der Stationssitzung entschuldigt hatte. In der Öffentlichkeit wollte sie diesen Schritt auf keinen Fall gehen. Das wäre zu viel des Guten. Sie konnte das Mädchen aber auch nicht einfach ins Büro bestellen. Das wäre der falsche Weg. Es musste ein gewisser Ruf gewahrt werden, auch wenn sie sich eingestehen musste, diesmal mit ihrer Aktion wieder der dunklen Seite verfallen zu sein. Shizuka erschrak als die Tür den Blick auf den Kommander freigab. Nichts neues für Sab, trotz aller bisherigen Versuche nicht mehr wie die böse Hexe vom Schloss zu wirken.
»Hallo Shizuka. Darf ich kurz hereinkommen.« Das Mädchen nickte fast schon ehrfürchtig, während Sab direkt in Staunen verfiel. Neela war schon vom Sofa aufgesprungen, auf dem wohl beide zusammengekuschelt einen Film sahen. Dampfende Tassen, die übergroße Decke auf dem zum großen Bildschirm ausgerichteten Sofa und das gedämpfte Licht fügten nahtlos sich in das Bild. Neela zog sich direkt nach einer kurzen Begrüßung ins gemeinsame Schlafzimmer zurück, um den beiden die offensichtlich gewünschte Privatsphäre zu geben. Shizuka änderte die Beleuchtung auf normal und bot Sab einen Platz auf dem Sofa an, dessen nun halb über Lehne und Sitzfläche geworfene Decke sie gekonnt griff und mit wenigen Bewegungen zu einem handlichen Rechteck faltete.
Sab hörte sie gar nicht. Ihre Augen konzentrierten sich auf die unzähligen Gesichter, Gebäude und Landschaften, die auf noch mehr Leinwänden an den Wänden hingen oder sich vor ihnen an stehend stapelten. Ein Kampfgleiter zwischen den Gebäuden einer Großstadt. Der Sonnenuntergang vom Meer aus über eine Insel hinweg betrachtet. Ein Manta als Radierung auf einer großen Pappkarte. Viergeteilt. Von Vorne, Hinten, der Seite und eine Innenansicht durch die Luke. Einige Bilder von Neela zeugten von der tiefen Zuneigung, die die Malerin für ihr Modell empfand. »Darf ich?«, fragte der Kommander als er die obere Schicht aller Bilder eingesogen hatte. Shizuka nickte. Wie am Posterstand eines Kaufhauses blätterte Sab durch die Zeichnungen und Gemälde. Es war kein Bild dabei, welches sie auch nur ansatzweise als Misslungen betiteln würde. Anders als in den Galerien, wo schon ein umgefallener Farbeimer Kunst darstellt, steckte hier in jedem Bild viel Liebe und stundenlange Arbeit.
»Die sind wunderschön.«, entfuhr es Sab leise und fast schon ungewollt. Sie kannte das große Bild von der Raumstation, welches damals zur Versteigerung gegeben wurde. Gemessen an dem Preis dieses einzelnen, mit einem Preisschild versehenden Bildes, standen hier Millionenwerte im Raum. Naja, vielleicht war der Preis auch nur so hoch gegangen, weil das Bild vom Ray Team kam, oder weil die Raumstation darauf war. Radierungen im stetigen Wechsel mit gepinselten Werken, die sich auch hinter den großen Meistern nicht zu verstecken brauchten. Hätte Shizuka nicht dieses Schicksal ereilt, wäre sie auf der Erde bestimmt eine große Künstlerin geworden. »Danke.«, blieb Shizuka unsicher, was diese Inspektion zu bedeuten hatte.
Plötzlich stoppte Sab ihre Flohmarkt ähnliche Begutachtung der Ware mit einem deutlichen Ruck. Sorgsam zog sie eins der Meisterwerke nach oben. Es war ein schwarzweiß Portrait. Von Jiyai. Das Mädchen stand in langem weißem Kittel und mit Stethoskop um den Hals in frecher grinsender Pose im Vordergrund. In der rechten Hand eine große Spritze aus der ein wenig Flüssigkeit spritzte. Hinten, nur mit leichten Linien angedeutet, die Krankenstation. »Gefällt es ihnen?«, versuchte Shizuka das Schweigen im Raum zu durchbrechen. »Es ist wundervoll.«
»Nehmen sie es mit. Hier steht es sowieso nur im Weg.« »Wirklich?« Das junge Mädchen in Shorts und übergroßem T-Shirt nickte. »Das klang fast schon zu menschlich.«, schoss es Shizuka durch den Kopf. Schnell verwarf sie diesen unfeinen Gedanken, konnte aber eine Errötung ihres Kopfes nicht vermeiden. »Ich bin eigentlich hier um mich bei dir zu entschuldigen.«, nannte Sab erstmals den eigentlichen Grund für ihr erscheinen: »Ich hab gesehen, was du heute mit Nibbler gemacht hast und mir ist klar geworden, ich hätte eigentlich genauso bestraft werden müssen. Nur mein Rang hat mich davor geschützt.« Die Augen von Shizuka wurden kreisrund. Die Zehen in ihren geringelten Söckchen gruben sich verlegen in den Teppich. »Es tut mir leid. Ich habe meinen Rang missbraucht. Das mache ich so oft und regelrecht gewohnheitsmäßig. Ich hoffe du kannst mir verzeihen.« Shizuka lächelte. »Entschuldigung angenommen.« Auch Sab rang sich ein Lächeln ab, obwohl es mehr die Erleichterung war diese Aufgabe hinter sich gebracht zu haben, als das die junge Pilotin ihr verzieh.
»Dann werde ich mal verschwinden und euch nicht weiter den verdienten Feierabend ruinieren.«, merkte Sab an. Sie stellte das Bild mit Jiyai wieder zu den anderen und drückte den Taster für die Wohnungstür. »Wollen sie das Bild nicht?«, war Shizuka unsicher. Der Kommander fand es toll, durfte es behalten und doch ließ er es zurück. »Du hast es mir geschenkt, weil du den übel launigen Kommander in deinen eigenen vier Wänden besänftigen wolltest. Missbrauch meines Ranges.« Die Tür schloss sich wieder zwischen ihnen noch bevor Shizuka etwas sagen konnte. Sie schüttelte den Kopf als wenn sie ihn von verwirrenden Gedanken befreien müsste. Um ihrer Freundin die wiedergewonnene Privatsphäre zu signalisieren, drückte dann die Tür zum Schlafzimmer mit dem Taster auf. »Was wollte sie?«
»Sie hat sich bei mir entschuldigt.« »Und? Warum machst du dann so ein Gesicht? Das wolltest du doch!« »Ja. Schon.« »Aber?« »Ich glaube sie ist oft sehr einsam.« »Meinst du? Naja, viele Freunde hat sie sicherlich nicht.« »Jaque welche Quartiernummer hat Sab?« »Nummer 3!«, schallte es von der Decke. »Und wo ist Sab jetzt?« »Sie befindet sich im Lift zum Kommandodeck.« »Was hast du vor?« Shizuka nahm einen Zettel von ihrem Schreibtisch und notierte: »Für den netten Menschen Sab! (ohne Rang) Shizuka.« Anschließend wickelte sie das Gemälde mit der jungen Ärztin mehrfach in breites, dunkles Papier von der Rolle ein, welches meist als Unterlage beim Malen auf dem Tisch diente, und heftete die Notiz an. Neela schaute nur stumm zu, während sich ihre Freundin die Schuhe aus dem Regal nahm und über die Füße zog. Sab hatte das Regal wohl gar nicht bemerkt und war einfach mit ihren Schuhen ins Quartier getreten. »Ich bin in einer Minute wieder da. Nicht heimlich weiterschauen.«, kicherte sie.
Neela wartete bereits eingewickelt und mit frischem Tee auf dem Sofa, als Shizuka sich die Schuhe von den Füßen zupfte. »Das war ziemlich nett von dir.« »Ich bin zwar manchmal ziemlich verplant, aber im groben Ganzen bin ich immer nett.«, lächelte Shizuka und kuschelte sich mit unter die Decke. Nach einem kurzen Kuss merkte Neela nur an, die Nettigkeit sei ihr durchaus aufgefallen und setzte den Film fort.
»Ich wünschte du würdest Jiyai nicht so einspannen. Neben ihrem Unterricht und der Ausbildung beim Doc hat sie kaum noch Zeit für mich.« May lächelte von ihrer Konsole hinüber. »Schön das ich dich amüsiere. Ich finde es jedenfalls nicht lustig. Shizuka macht auch mehr Flugübungen mit eurem Sanktum als mit einem unserer Kampfgleiter.« Sab legte viel Gewicht in die Besitz zuordnenden Worte. »Du bist nur sauer weil sie im Sanktum ein und ausgeht, während du nicht einmal in die Nähe kommst.« »Vielleicht sollte ich mich als Archäologe verkleiden. Scheint ja eine gängige Methode zu sein.« May schnappte leicht Luft ein: »Da kommst du zu spät. Die sind fertig.« »Schon?« »Naja, sie mussten ja nur die Dinge an Bord sichern. Das Schiff selbst ist ja nicht von Menschen gebaut. Wir haben ihnen noch einige Außenaufnahmen überspielt. Die haben die Archäologen noch mehr begeistert als der eigentliche Inhalt der Lager.«
»Kann ich mir vorstellen. Was war den so alles in dem Ding?« »Möbel, Kleidung, Werkzeuge, Pflüge, Wagen, Baumaterial, Saatgut, Gold, Juwelen und Schmuck.« Sab spuckte ihren Tee wieder in die Tasse: »Wie war das?« »Möbel, Kleidung–« »Das Letzte mit dem Gold.« »Gold, Juwelen und Schmuck.« »Gold, Juwelen und Schmuck?« »Das sagte ich.« »Und was habt ihr damit gemacht?« »Es an die Museen auf der Erde gegeben. Was sonst?« »Euch ist nicht in den Sinn gekommen dafür einen Gegenwert zu verlangen?« May grinste: »Ich denke Nim hat da was ausgehandelt.« »Verstehe, ihr macht jetzt ganz auf eigene Zivilisation.« »Nein. Wir sind Menschen. Genau wie das Ray Team und der Planet gehören wir auch dazu. Genau wie vorher. Wir machen nur genau das, was dir am Ray Team so gefällt. Wie kontrollieren unsere Werte.«
Wirklich widersprechen konnte Sab da nicht. Über die Jahre hatte sie so oft darauf bestanden die Technologie des Ray Teams nicht den Menschen auf der Erde und anderen Welten zu zuspielen. Jetzt saß sie selbst, wie Nim gesagt hatte, auf der anderen Seite des Zauns und beklagte sich genauso wie die regierenden Fraktionen auf der Erde all die Jahre zuvor. »Gibt es schon Pläne, wie es mit dem Teil weitergeht?« »Wir lernen erst einmal die Möglichkeiten des Sanktums vollständig kennen und sehen dann weiter. Aber es ist ein guter Sammelpunkt, um Trägern des Joluh die Fähigkeiten gefahrlos näher zu bringen. Dieses Holzfloß war ziemlich unprofessionell.« Sab nickte zustimmend.
»Hier sind die Werte normal.«, meldete May wunschgemäß an Tin, die einen Fehler in der neuen Sensorverdrahtung suchte und im Zwischendeck über der Kommandozentrale alle Verbindungen kontrollierte. »Morgen.«, begrüßte Trish ihre Kollegen und setzte sich an ihren Platz: »Gibt es was besonderes?« »Tin putzt das Zwischendeck.« »Das habe ich gehört.«, ertönte es aus der Wand über ihnen. Trish kicherte und erschrak. »Jaque innere Verteidigung aktivieren. Station auf weitere Eindringlinge scannen.« »Jaque, Kommando zurück.«, deaktivierte May die Anweisung sogleich, sprang auf wieder und erntete fragende Blicke: »Hallo. Willkommen auf Ray Team One!« »Ich wollte hier keine Besorgnis verbreiten. Im Sanktum habe ich niemanden angetroffen.« Dem Kommander kam es vor als müsse sie ihr Handeln vor ihrem Gast verteidigen. »Ja, wir haben ja immer noch unsere normale Arbeit.« Der Anzugträger schaute sich genau um, während die Blicke von Trish und Sab zwischen May und dem vermeintlichen Eindringling hin und her wanderten.
»Darf ich vorstellen, der Hüter der Sankten. Das sind meine Kollegen Sab und Trish.« Es rumpelte im Schacht über der Tür und mit einem weiteren dumpferen Rumms landete Tin mit den Füßen auf dem Boden des Kommandodecks. Ihre Neugier war mehr als erweckt, den Erschaffer der Sankten persönlich zu begegnen. »Und das ist Tin. Die Hüterin der Ray Team Station, könnte man sagen.«, legte May nach. Mehr als ein zurückhaltendes »Hallo« brachte niemand heraus. »Es ist beeindruckend zu sehen, welche Fähigkeiten die Menschheit bereits zu meistern gelernt hat.« »Wir geben uns Mühe.« »Und versuchen uns, trotz all des Fortschritts, nicht selbst zu vernichten.«, fügte Trish von hinten an. »Ja, ich habe viele Zivilisationen gesehen, die an ihrer eigenen Technologie zu Grunde gegangen sind. Leider liegt genau hier der Grund für meinen Besuch. Können wir ungestört reden?«
May deutete auf den Konferenzraum und der Hüter folgte ihr schweigend. Obwohl der Kommander auf einen Sitzplatz verwieß, blieb die virtuelle Darstellung, die wohl nicht wirklich ein Hologramm war, einfach stehen. Der kleine Kommander setzte sich und erst jetzt erkannte ihr Gast ihr anliegen. Es wirkte als hätte er nie in seinem Leben gesessen. »Du bist nicht oft in humanoider Form unterwegs, oder?« »Ich habe nur wenige Lebewesen persönlich aufgesucht und diese waren alle anders.« »Anders?« »Die Menschen scheinen sich ihren Lebensraum anzupassen, während auf den anderen Welten die Lebensformen sich an die Umwelt angepasst haben.« »Die natürliche Evolution dauert uns zu lange.«, lächelte May: »Und während wir warten, sitzen wir lieber.«
»Warum bist du hier? Nach deiner Rede im Sanktum hatte ich nicht den Eindruck wir würden dich jemals wiedersehen.« »Eigentlich war es nie mein Plan mich nach der Übergabe eines Sanktums in die weitere Entwicklung einer Welt einzumischen, aber es gibt ein Problem, bei dem nur ihr helfen könnt.« »Du brauchst unsere Hilfe?«, entfuhr es May eine Spur zu erstaunt. »Ja, ich bin mir der Ironie dieser Situation durchaus bewusst.« »Wir helfen gerne, wenn wir können.« »Ihr habt leider keine Wahl. Es geht um eure Existenz. Um die Existenz vieler Welten. Die Schon-Turak haben ihr Sanktum gefunden. Eigentlich sollte es sich damals, als die Kriege ihre Welt erschütterten, zerstören, aber ich habe eindeutige Signale entdeckt. Es gab offensichtlich eine Fehlfunktion. Ich konnte alle Informationen in den Datenbanken des Sanktums löschen und habe versucht ihr Vorgehen zu ergründen und sie aufzuhalten.« Der Hüter legte eine Pause ein. »Ich habe versagt. Die Schon-Turak sind ein intelligentes Volk und haben das Sanktum schneller verstanden als ich es erwartet hatte.«
»Ist es voll einsatzfähig?« »Die Baupläne wurden vernichtet. Das Sanktum kann sich selbst nicht mehr vollständig selbst reparieren, aber die Schon-Turak können eigene Pläne einbringen. Die Energiesysteme wurden unwiederbringlich zerstört. Sie müssen eigene Energiesysteme eingebaut haben. Meine derzeitige Hoffnung liegt einzig darin, diese Quellen könnten nicht genug und ausdauernd Energie liefern.« »Und sie könnten die im Sanktum verbaute Technologie für ihre eigenen Schiffe nutzen.« »Das ist eine meiner größten Sorgen. So eine Situation war nie vorgesehen. Ich wollte mit den Sankten den Joluh einem besseren Weg aufzeigen und nicht einer Fraktion zur Allmächtigkeit verhelfen. Sie werden ihresgleichen und fremde Welten ausrotten.« »Auf ihrer Liste dürften wir ziemlich weit oben stehen. Wo befindet sich ihr Sanktum?« »Auf ihrer ursprünglichen Heimatwelt. Es wurde vor Jahrhunderten bei einem Beben unter einer dicken Gesteinsschicht begraben. Darum wurde es nie gefunden. Durch den Krieg wurde ihre ursprüngliche Heimatwelt komplett verwüstet und unbewohnbar worden. Ich kann mir nicht erklären wie sie es nach all den Jahren aufgespürt haben.«
»Ich denke das ist unsere Schuld.«, fügte May eigene Erklärungen hinzu: »Wir haben das Sanktum genutzt um uns gegen die Schon-Turak zu verteidigen, als sie die Erde angegriffen haben. Sie werden versucht haben es zu orten und haben offensichtlich dabei ihr eigenes gefunden.« »Klingt plausibel.« »Könnten sie weitere Sankten finden? Sankten auf anderen Welten da draußen?« »Die Sankten sind fast inaktiv und verschleiern ihre Position im Raum aktiv.« »Ja, das haben wir bei unserer Suche bemerkt.« »Das Sanktum der Schon-Turak hat sich damals aktiviert, um die Selbstzerstörung einzuleiten. Durch die Fehlfunktion müssen kleinere Systeme aktiv geblieben sein.« »Gut. Wir können keine Flotte von Sankten gebrauchen.« »In diesem Teil des Universums gibt es nur Zwei. Daher kann ich nicht selbst eingreifen.«, berichtete er über einige Details zur Verteilung der Sankten, die May selbst noch nicht bekannt waren und wohl auch unter normalen Bedingungen nie für ihre Ohren bestimmt gewesen wären. Das alleine zeugte vom Ernst der Lage.
»Ihr habt damals im Sanktum davon gesprochen die Zeit zu manipulieren. Vielleicht könnte man auf diese Weise den Schon-Turak das Sanktum in der Vergangenheit entziehen?« »So funktioniert das nicht. Wir können nicht jeden Fehler einfach ungeschehen machen.«, begann May eine schon oft gehaltene Rede: »Schon gar nicht können wir über Taten richten, die noch gar nicht begangen wurden. Das würde uns in der Tat allmächtig machen und diese Macht steht niemandem zu.« »Weise gesprochen. Ich habe mir die Daten eures Planeten erneut angesehen. Du bist die Hüterin der Zeit, oder liege ich da falsch? Alle historisch verschwommenen Fakten fallen auf deine Person zurück, auch wenn ich nicht verstehe wie es funktioniert.« »Hüterin der Zeit? Das gefällt mir deutlich besser als Orakel.«, lachte May laut auf ohne die eigentliche Frage direkt zu beantworten: »Wir werden das Problem auf die altmodische Art lösen müssen.« »Erneut Weise gesprochen. Die Macht ist in der Tat, wie ihr mir damals versichert habt, in guten Händen.«
»Wenn sie in das Sanktum eingedrungen sind, dann haben sie wohl auch eine Waffe, um unseres vernichten.«, murmelte May nach eine kleinen Pause des Schweigens. »Nein, ich glaube nicht. Sie haben Zugang durch ein Loch gefunden, welches durch die fehlerhafte Selbstzerstörung entstanden ist. Aber wenn sie das Sanktum und dessen Waffensysteme aktiviert bekommen, dann könnten sie das Erdsanktum zerstören.« »Könntest du nicht unser Sanktum selbst nutzen? Das wäre doch der ursprüngliche Plan?« »Das Sanktum gehört euch. Ich könnte es zwar wieder an mich nehmen, aber wenn etwas schief geht, dann wäre die Lage noch bedrohlicher als vorher. Die Systeme und Waffen der Sankten waren nie dafür konzipiert, Kämpfe aus der Ferne zu bestreiten, sondern dienten nur zur automatischen Verteidigung, auf ihrer langen Reise zu den verschiedenen Welten. Die wahre Macht wird durch die Joluh, die es direkt kontrollieren, entfesselt.« »Ich verstehe. Wir werden uns um das Problem kümmern.«, nahm May eine Entscheidung der anderen Joluh und Kommander vorweg. Eine wirkliche Wahl hatten sie ja auch nicht. Mit jeder Stunde stieg die Bedrohung der Erde und aller Welten im Umkreis der Schon-Turak an.
»Danke. Es tut mir leid euch in eine derartige Situation gebracht zu haben.« Der Mann im Anzug verschwand und May saß alleine im Konferenzraum. In Gedanken spielte sie die Lage durch, entwickelte Szenarien und Möglichkeiten. Erst Mergy, der seinen Kopf durch die Tür steckte und fragte ob der Besucher wirklich der Hüter der Sankten – das höhere Wesen – gewesen war, holte sie aus der Denkmühle. May rief die Kommander anderen dazu und berichtete von der sich am Horizont aufbauenden Gefahr. Erstaunlicherweise war selbst Sab gewillt zu helfen. Dieses mächtige Schiff in den Händen einer so rücksichtslosen Rasse wie der Schon-Turak zu wissen, machte selbst ihr Angst, auch wenn sie es nicht zeigte. Die Mystery wurde ausgesendet, um einige kleine Sonden um die Heimatwelt der Schon-Turak zu verteilen. Keine Ray Team Technologie natürlich, aber auch weiter entwickelt als die Technik der Menschen auf dem Planeten.
Unauffällig machten die kleinen Kisten Bilder und versendeten sie auf eine ziemlich umständliche Weise im Unterraum, um keine offensichtliche Signatur zu hinterlassen und die Schon-Turak zu warnen. In Anbetracht der Situation eigentlich aussichtslos, denn sobald die Sensoren des Sanktums genutzt würden, wären die Satelliten für die im Raum befindlichen Schiffe der Schon-Turak ein leichtes Ziel. Abgehoben war das Sanktum jedenfalls noch nicht. May hatte einen Plan. Sie wollte nicht alles auf einen Kampf setzen, wie es der Hüter vorgeschlagen hatte. Die Feinde würden auch genau das erwarten. Ihr Plan sah vor das Sanktum von Innen heraus zu sprengen. Diese Aufgabe barg ein gewisses Risiko, würde aber im Erfolg die Mission deutlich schneller beenden als bei einem Kampf in dem auch noch die Schiffe der Schon-Turak gegen sie standen.
Bisher war unbekannt welche der vier Fraktionen sich an dem Sanktum zu schaffen machte. Man ging von den Schon-Or oder den Schon-Tar aus. Die anderen Abteilungen der einst vereinigten Rasse hatten sich bisher nie in Kämpfe eingelassen oder negativ gegenüber anderen Völkern gezeigt. Das ging zumindest aus den Datenbanken, der in den letzten Jahren aufgebrachten Schiffe, hervor. Shizuka, Jiyai und Tori bekamen Dienstfrei, um auf dem Sanktum ihre Systeme zu studieren. Es war ein Wettlauf. Ein Wettlauf ums Überleben, den sie für ihre Freunde und den gesamten Planeten gewinnen mussten. May musste jedesmal lachen, wenn sie an Sabs Gesicht dachte. May hatte ihren Plan erläutert und wollte mit Sprengsätzen von der Erde einen Tiniumwürfel im Inneren des Sanktums sprengen. Das Risiko mehrere zu nehmen und entdeckt zu werden, verwarf sie aber wieder. Es würde nur ein Würfel gesprengt. Tin merkte an, ein Würfel würde, bei einer Konstruktion wie dem Sanktum, vielleicht nicht genug Schaden anrichten.
May hatte gefragt ob ein Klotz von vier mal drei Metern Kantenlänge ausreichen würde. Tin bejahte die Annahme, auch wenn sie nicht sicher war, ob das Ray Team noch soviel Tinium hätte oder in dem kleinen Zeitfenster besorgen konnte. Das war der Moment als May die wortspielmäßige Bombe platzen ließ und erklärte sie hätten bereits mehr als genug und bräuchten keine der Ray Team Reserven. Sab fiel, wie erwartet, die Kinnlade herunter: »Ihr habt Tinium?« »Ja!« »Wieviel?« »Soviel wir wollen!« »Dann könntet ihr?« »Dem Ray Team etwas abgeben? – Natürlich.« »Du würdest uns Tinium liefern?« »Wir«, legte May deutliche Tiefe in die Bedeutung: »würden euch Tinium liefern. Vorausgesetzt ihr haltet euch in Zukunft aus unseren Angelegenheiten heraus.« »Wieso war das vorher nie ein Punkt?«, war Sab irritiert ob der plötzlichen Wendung. »Du hast nie gefragt, sondern immer nur gefordert.«
Sie hatten in den letzten Tagen zwangsweise viel über das Sanktum gelernt, aber es war immer noch nur die Oberfläche. Es gab noch so viele Fragen, die niemand beantworten konnte. May ließ einen großen Tiniumbrocken mit zwei Grablingen oben aus dem Sanktum aufsteigen und als Zeichen des guten Willens an das Ray Team übergeben. Damit alleine war man in der Lage weitere Schiffe zu bauen und über Monate zu versorgen. Dank der Energie aus dem Unterraum konnte das Sanktum alles herstellen, was nötig war. Jiyai und Tori arbeiteten als Team an einer Lösung für den Antrieb. Im direkten Kampf waren beide Sankten gleich schnell, aber mit Ray Team Ausrüstung könnten sie im Unterraum einen Vorteil erlangen. Sie hatten Manta X, den Jiyai bereits als Scan im Computer des Sanktums gefunden hatte, auf die Antriebstechnik reduziert, in Relation zum neuen Schiff vergrößert und optimiert. Das Gebilde wurde auf dem Boden des großen Frachtdecks erzeugt. Der für den Umbau vorgesehene Lagerraum wurde so zu einem zweiten Maschinenraum. Ihr Plan sah vor die Bodenplatte nach dem Öffnen der oberen Luke anzuheben und im Unterraum zu aktivieren, wo es für eine neue Maximalgeschwindigkeit des Sanktums sorgen sollte. Wenn der neue Antrieb denn überhaupt funktionierte. Einen Testflug hatte man noch nicht gemacht.
Krieg der Sankten
»Ray Team One an May. Wir bekommen hier beunruhigende Bilder rein. Ich leite sie an euch weiter.« »Verstanden. Tori, Datenstrom umwandeln und Anzeigen.« Auf dem Schirm konnte man die vergrößerten Aufzeichnungen einer der Sonden sehen. Sie zeigte die durch den Krieg der Joluh unbewohnbare Heimatwelt der Schon-Turak. Die Zahl der Schiffe am Planeten hatte sich stark erhöht. Es waren nun mehrere tausend Kriegsschiffe in dem System. »Das müssen einige, wenn nicht alle der anderen Schon-Turak Fraktionen sein. Sie werden Buchstäblich dort weitermachen, wo sie damals aufgehört haben, um in den Besitz des Sanktums zu kommen.«
»Dieser Meinung sind wir auch. Was zur – es bewegt sich. Das Sanktum startet.«, vertonte Sab, was auch auf dem Datenschirm des Sanktums zu sehen war. »Sieht so aus, als würde es jetzt ernst. Wir starten ebenfalls!«, war May wie so oft schon einen Schritt weiter. »Passt auf euch auf.« Trish hatte einen schon fast beängstigenden Unterton in ihrer Stimme. Die Augen von Sab sprachen Bände und ihr Schweigen untermauerte den Anblick nur noch zusätzlich. »Wir bringen das in Ordnung und sind Ruckzuck wieder da. Es gibt keine andere Lösung. Sie machen genau da weiter, wo sie vor Jahren aufgehört haben. Mit dem Sanktum in ihren Händen ist der Frieden auf allen Welten in Gefahr. Sendet eine verschlüsselte Nachricht an die Stri und die Seem. Sie sollen nach Möglichkeit alle Schiffe nach Hause holen, sich still verhalten und Verbündete warnen.« »Machen wir. Viel Glück.« May nickte Nim zu, der Shizuka den Befehl zum Start gab. Jetzt hatte er das Kommando über das Sanktum, genau wie es der Wächter es damals vorgesehen hatte.
»Zusatzantrieb ausfahren und in den Unterraum springen.« Das Sanktum verschwand im ovalen Vortex. Nim ließ den neuen Antrieb aktivieren. Er war, abgesehen von der Version im echten Manta X, nie getestet worden. Sie hatten keine Wahl. Ohne den neuen Antrieb würde ihre Reise Stunden dauern. Stunden, in denen die Schon-Turak wüten konnten. Das Schlimmste was jetzt passieren könnte wäre, der Ausfall der neuen Systeme. Der langsame Antrieb würde übernehmen und die Reise würde einfach wieder länger dauern. Das Blau des Unterraums strahlte so hell wie nie. »Es sieht anders aus.« »Ich denke wir sind sogar schneller als die Vanquist. Unsere Energiequelle hat mehr Bums und die Kühlung ist effektiver.«, erklärte Tori, der zusammen mit Jiyai und Nim an den letzten Feinheiten des Umbaus gewerkelt hatte. Das Sanktum war mit seinen Datenbanken und seiner künstlichen Intelligenz eine große Hilfe gewesen. Zwar hatte man keinen direkten Kontakt, wie mit Sor oder Jaque, aber immer wenn man versuchte Probleme zu lösen, schien eine unsichtbare Macht im Hintergrund Vorschläge zu machen und auf Fehler hinzuweisen.
Nim hatte diese Intelligenz den stillen Teilhaber genannt, weil er zwar Vorschläge und Tipps gab, aber nie etwas forderte oder eigenmächtig in die Hand nahm. »Sobald wir den Unterraum verlassen die Nase hoch und den Zusatzantrieb wieder in den Frachtraum absenken. Die offene Luke ist unsere größte Schwachstelle.« May musste über ihren Freund schmunzeln. Er hatte, mal von seinen Auftritten als Holokapitän, nie ein echtes Kommando geführt und doch war er in seinem Element. So seltsam es klang, aber die vielen Missionen aus dem Fernsehen hatten ihm eine Art Weitsicht gegeben, die selbst ihr fehlte. Er hatte gesehen wie tausende Probleme gelöst worden waren. Auch wenn keines davon wirklich real war und viele schon wegen der fiktiven Technik nicht ins Weltbild von Ray Team und Sanktum passten, so konnte er auf die Moral, den Lösungsansatz und die oft kuriosen Lösungen der Serienschreiber zurückgreifen.
Das Sanktum bremste noch im Unterraum und ging wie angewiesen in den Normalraum über. Sogleich prallten Berge von Trümmern auf das schwarze Schiff. Die erste Schlacht war schon geschlagen und wie befürchtet fanden sich keine Trümmer des Sanktums, aber unzählige Schiffe der sich bekämpfenden Fraktionen. Tori war nicht weniger bewandert als Nim. Er hatte zwar mehr die Comicerfahrung, aber einige Weltraumabenteuer hatte auch er als Zuschauer bestritten, was ihm die Zusammenarbeit, speziell mit Nim, deutlich erleichterte. Sie dachten gleich. So brauchte Nim nicht nach einer ausgeweiteten Suche fragen und bekam direkt die Antwort. Das Sanktum befand sich mit einer beachtlichen Begleitflotte im Unterraum. »Sie fliegen zum Planet der Seem!« »Shizuka bring uns aus dem Trümmerfeld und reaktiviere unseren Antrieb.«, kommandierte Nim: »Wir müssen vor ihnen da sein.« Das Mädchen bestätigte. May hatte auf ihrem Platz mehr freie Zeit als ihr lieb war. Sie dachte die Situation durch und malte sich die schlimmsten Dinge aus. Die Seem waren schon mehrfach auf die Schon-Turak getroffen und hatten bereits beim letzten Mal mit ihrer Information über den bevorstehenden Angriff indirekt die Erde gerettet.
Ein Volk, welches so der dunklen Seite verfallen war, wie Nim es ausgedrückt hatte, kannte nur ein Ziel: Rache. Dank des schnelleren Antriebs waren die Erdlinge in ihrem mächtigen Schiff vor der Flotte am Planeten der Seem. Es waren einige Schiffe im Orbit, obwohl sie bereits eine Nachricht der Erde erhalten haben mussten. Nim machte schnell klar, welche Gefahr drohte. Jedes Seemschiff im All würde in Sekunden zerstört. Nicht zuletzt die Anwesenheit von May brachte die friedlichen Fische dazu sich auf dem Planet zu verstecken, auch wenn dieser bei Beschuss wohl keine echte Sicherheit bot. Neben dem gegnerischen Sanktum verließen laut Toris Sensoren 347 Kreuzer den Unterraum, eröffneten das Feuer und starteten ihre Jäger.
Wie von Nim erwartet ignorierten sie den friedlich wirkenden Planeten und konzentrierten ihren Beschuss auf das feindliche Sanktum. Shizuka hatte Mühe auszuweichen. Die Zahl der Waffen, die auf einen Punkt ihres Sanktums gerichtet waren, machte sie deutlich gefährlicher als eine wild um sich ballernde Horde Angreifer. Nebenbei musste sie auch dem Hauptstrahl des Sanktums ausweichen, der sich immer wieder in ihre Richtung entlud. May feuerte so viele der kleinen Zielsuchkugeln ab, wie sie konnte. Viele wurden vom gegnerischen Sanktum mit der gleichen Waffe vernichtet. Mehr Erfolg hatte da die Hauptwaffe, die nicht nur unaufhaltbar war, sondern auch mehr potentielle Ziele zur Verfügung hatte, als die gegnerische Flotte.
Das Feuergefecht ging fast eine Viertelstunde und an dessen Ende blieben nur die beiden Sankten und einige kleine Jäger übrig. Genau dieses Ende war es was May so fürchtete. Egal welche Zivilisation zwischen die Fronten geriet, würde aufgerieben und gleich den ersten Kampf im System ihrer Freunde auszutragen, ließ sie nur noch härter an einem Sieg arbeiten. Die massive Waffe ihrer Gegner traf das Sanktum hart. Die Piloten wären aus ihren Sitzen geschleudert worden, hätte Tori nicht vorgeschlagen Gurte nachzurüsten. Sein Misstrauen in die doch sehr alte Technologie hatte sich schon jetzt ausgezahlt. Ohne die simplen Riemen hätte es sicherlich Verletzte gegeben und das Sanktum wäre für kurze Zeit zu einer unbeweglichen Zielscheibe geworden. Die Gravitationssysteme waren nicht in der Lage derartig harte und unvorhersehbare Schläge zu kompensieren und leiteten sie nur leicht abgeschwächt ins Innere weiter. »Schwere Schäden in Sektor 3. Hüllenbruch durch alle Decks. Reparatur läuft.«, erklärte Jiyai, die schon seit Kampfbeginn die Reparaturen koordinierte: »Wir hatten Glück. Der Strahl hätte auch den Tiniumwürfel oder unsere Reaktoren treffen können.« Der Laib Käse hatte ein ziemlich großes Stück verloren.
»Shizuka bring uns hier weg. Normaler Unterraumantrieb.« May war fassungslos. Nim ließ ihre Freunde zurück und flüchtete. Er war so konzentriert auf seine Anzeigen, dass er den entsetzen Blick seiner Freundin nicht einmal bemerkte. »Sie folgen uns.«, gab Tori seine Statusmeldung zum Besten, während May nur erleichtert war dieses wirklich böse Schiff nicht mehr im Raum der Seem zu wissen. »Das war der Plan. Shizuka ich übermittele Koordinaten für den Sprung.« May war irritiert. Ihr Freund hatte die Seem gar nicht im Stich gelassen, sondern auf die Verfolgung spekuliert. Erst jetzt blickte Nim kurz zu May hinüber, die immer noch perplex drein schaute. »Wir können den Tiniumblock nicht in einem bewohnten System einsetzen. Tin meinte die entstehende Energiewelle wäre enorm.« May nickte und war abermals dankbar für seine Weitsicht.
»Sobald wir in den Normalraum gesprungen sind – 180 Grad Wende und die Hauptkanone ausfahren. Aus allen Rohren feuern sobald das Schiff den Unterraum verlässt. Dann um Längsachse rotieren und zur Geschenkübergabe abbremsen. Ich gehe in den Lagerraum und bereite den Transport und den Zeitzünder vor. May übernimmt.« Der Kapitän verließ die Brücke. Tori überwachte die Sensoren und gab neue Positionsmeldungen an Shizuka, die das Schiff neu Ausrichtete. »Ich bin so weit. Der Timer steht auf 5 Sekunden.«, ertönte Nim aus einer der Konsolen. »Wir haben nur einen Versuch. Wenn wir das Paket nicht einwerfen können, dann legen wir es in ihre Flugbahn.«, erwiderte May.
Das Portal öffnete sich und der Schiffszwilling trat in den Normalraum über. May eröffnete das Feuer und verursachte einen leichten Schaden, der sich von Vorne bis Hinten über das gegnerische Schiff zog. Der in der Front aufsteigende Rahmen deutete das bevorstehende Waffenfeuer bereits an. Shizuka beschleunigte und rotierte das Sanktum. Rücken an Rücken flogen die beiden Schiffe aufeinander zu. »Jetzt!« Die riesige Tiniumbombe, ein massiver raumhoher Würfel von etwa drei mal sechs Meter Kantenlänge, wurde in einen der Lagerräume transportiert, um eine sofortige Entdeckung zu vermeiden.
Es hatte die fünf Menschen einiges an Arbeit gekostet diesen Plan durchführbar zu machen. Zum einen musste der Transporter destruktiv arbeiten. Egal ob der Lagerraum leer, mit Waren oder gar mit Lebewesen gefüllt war, der Würfel musste dort ohne auf die Sicherheit zu achten platziert werden können. Außerdem musste man sicherstellen, dass der Transporter ihrer Feinde nicht als Waffe verwendet werden konnte. Genau da lag die Schwachstelle in ihrem Plan. Das Sanktum der Schon-Turak konnte ihren Transport genauso blockieren wie umgekehrt. Sie hatten zwar den Transportblocker so modifiziert, damit er auch die Transportsignale der Schon-Turak eigenen Transporter zerstreute, aber der Plan sah vor den Ray Team Transporter von Manta X für den eigentlichen blinden Transport zu nutzen.
Das Sanktum hätte diesen normalerweise automatisch blockiert, aber das Sanktum der Aliens war beschädigt, die künstliche Intelligenz war gelöscht und es lief, so hofften sie, nicht mit voller Energie. Nim hatte gemeint, wenn die Turak so voller Hass wären, dann würden sie wegen der immensen Feuerkraft des Sanktums zu siegessicher. Überstürzte kriegerische Handlungen würden sie unvorsichtig machen. Das wäre ihre Schwachstelle, die man für einen Sieg ausnutzen müsse. Die andere Schon-Turak Flotte kam ihnen da sehr gelegen. Die erlebte überlegende Feuerkraft hatte bestimmt alle Zweifel weichen lassen. Der verheerende Treffer im Erdsanktum und dessen panische Flucht in den Unterraum dürfte sie förmlich vor Kampflust erblinden lassen haben.
Nach der Paketübergabe beschleunigte Shizuka, um der Detonationswelle, die Tin vorhergesehen hatte zu entgehen. Eine gigantische Explosion verbarg die eigentliche Zerstörung des Sanktums, aus dessen Zentrum eine Energiewelle trat, die sich Kugelförmig im All ausbreitete. »Shizuka in den Unterraum, sofort.«, wies May an. Das Mädchen aktivierte den Vortex und beschleunigte noch im Normalraum weiter, um der deutlichen Gefahr zu entkommen. Noch bevor das Sanktum ganz im Vortex verschwunden war, wurden sie heftig getroffen und in ihren Gurten umhergeschleudert. Das Licht und die Anzeigen flackerten. Die Verriegelungen der Türen lösten sich und die beweglichen Portale rumpelten hin und her. Dann wurde es dunkel.
»Eingehende Nachricht von den Seem.«, meldete Sab und legte das Kommunikationssignal auf den großen Bildschirm. »Wir sind die Seem.«, begrüßten sie die Menschen wie schon bei ihrer ersten Begegnung. »Was können wir für sie tun?«, war Sab recht schroff und unfreundlich, gab es doch noch immer keine Meldung von Jiyai und den anderen. »Wir bedanken uns bei Kommander May und ihrem Schwarm für die Rettung. Die Seem stehen abermals in der Schuld der Menschen. Wir senden unseren Dank.« Schlagartig war Sab voll da und der Ruf der Seem mehr als nur willkommen. »Wir haben den Kontakt zu unserem Schiff verloren. Haben sie nähere Informationen darüber was passiert ist und wo es sich aufhält?« »Das Joluh-Schiff und die Flotte, vor der sie uns gewarnt haben, waren hier und wurden bekämpft. Wir senden ihnen alle Informationen die wir haben und werden Schiffe zur Suche aussenden.« »Danke.«, war Sab wie ausgewechselt. Die sonst so nervigen Fische mit ihrer seltsamen Wortwahl hatten nicht nur neue Informationen, sondern starteten auch ohne darum gebeten worden zu sein, einen Suchtrupp.
Immer wieder sahen sich die Kommander das Gemetzel an, welches sich vor der Haustür der Seem abgespielt hatte. Sab bedauerte es, Mergy auf der Erde zu wissen. Er hätte schon längst alles für eine Suche ihrer Freunde mobilisiert. Oder er würde es nicht tun. Wenn der schlimmste Fall eingetreten war, dann war die Erde in Gefahr und jedes Schiff und jeder Pilot würde hier gebraucht, auch wenn man dem feindlichen Sanktum, außer einem großen Tiniumwürfel, nichts entgegen zu setzen hätte. Den einzigen Trost den sie fand, war das Entkommen ansich. Schwer beschädigt, aber entkommen.
May spürte wie sie geschüttelt wurde. Es war Tori der an ihrer Schulter rüttelte. »Bist du ok?« »Ja. Ist es dunkel oder bin ich blind?« »Es ist dunkel. Aber unsere Kräfte funktionieren wieder. Das Sanktum ist anscheinend komplett ausgefallen.« »Diese Welle hat uns voll erwischt.«, erklärte May, obwohl Tori es selbst auf den Sensoranzeigen gesehen haben musste und schaltete ihren Rundumblick ein. Jiyai rappelte sich gerade hoch. Shizuka hing in ihrem Sitz und bewegte sich nicht. »Hey, Shizuka.«, rüttelte May nun ihrerseits an Sukis Schwester. »Hmm.« »Shizuka.« »Noch fünf Minuten, Neela, ja?« »Shizuka!« »Was? – Wo? – Wieso ist es dunkel?« »Rundumblick einschalten. Das Sanktum ist komplett ausgefallen. Gehen wir Nim suchen.«
Dank ihrer Kräfte bewegten sich die Vier als wäre die Beleuchtung voll aktiviert. Die Tür zum nächsten Korridor ließ sich einfach aufschieben. Wohl eine Sicherheitsvorkehrung, damit man nicht eingesperrt auf Hilfe warten musste. May entdeckte ihren Freund als erstes. Er lag am anderen Ende des Ganges auf dem Boden und rührte sich nicht. »Nicht anfassen! Er darf auf keinen Fall bewegt werden. Wir brauchen einen Autodoc aus dem Manta.«, erklärte die Ärztin und fühlte den Puls, während Tori losstürmte, um die gewünschte Ausrüstung zu holen. »Er lebt, aber sein Puls ist unregelmäßig und schwach. Jiyai an Tori. Bring die Rettungstrage mit.« »Habe ich schon.«, stand Tori schon schnaufend hinter ihr in der Tür zum Korridor. Er reichte Jiyai den Autodoc. Das Mädchen legte ihn an und führte einen kompletten Scan mit dem Handgerät durch. May konnte nur ängstlich zuschauen und strich ihrem Freund sanft über das Haar, musste aber kurz loslassen, damit Jiyai auch korrekte Daten vom Kopf ihres Freundes bekam.
»Gehirnerschütterung, mehrere Rippenbrüche, zweifacher Bruch des linken Arms und ein Bruch des linken Oberschenkels. Er hat diverse innere Blutungen und ein Lungenflügel ist kollabiert. Die Wirbelsäule ist soweit ich sehen kann in Ordnung.«, listete die kleine Ärztin die Verletzungen ihres Hüters auf und zoomte in einige Stellen der holographischen Anzeigen, die jetzt ein wenig Licht in den länglichen Raum brachten, hinein. »May kannst du ihn mit deinen Fähigkeiten auf die Trage heben? Auf den Rücken, aber versuche nicht auf seine Rippen zu drücken.« May nickte unsicher. Schon so oft hatten ihre Kräfte über Leben und Tod entschieden und jetzt war eine eigentlich so einfache Sache wie einen Menschen auf eine Trage zu heben, beängstigend. Es war nicht irgend ein Mensch. Er war ihr Mensch. Der Einzige.
Langsam hob Nim vom Boden ab und Tori schob die Trage unter ihn. May senkte ihren Freund langsam ab. Ein Stöhnen durchdrang die Dunkelheit. »Nicht bewegen.«, wies May an und streichelte sanft den Kopf, der immer noch von dem Hologramm seines Körpers, der einzigen Lichtquelle im Raum, beleuchtet wurde. Helle weiße Kreise markierten die Verletzungen. »Ich sehe gar nicht gut aus.«, röchelte Nim das holographische Sensorbild über sich sehend. »Nicht reden! Du wirst wieder.« »Wir müssen ihn einfrieren und nach Hause bringen. Er muss operiert werden, oder er wird sterben.«, warf Jiyai ihre Diagnose in den Raum. Nim stöhnte und röchelte. May drückte den Knopf, um ihn von seinem Leiden zu befreien. »War das jetzt eine gute Idee?« »Er würde verbluten, ersticken oder an seinem eigenen Blut ertrinken.«, spezifizierte Jiyai die bittere Wahrheit. »Ja, aber was macht das Sanktum, wenn der Hüter nicht da ist? Können wir ihn überhaupt wieder auftauen? Der Code?« Daran hatte May in ihrer Sorge nicht gedacht. Ohne den Zugangscode der medizinischen Abteilung war ein Auftauen nicht möglich. Nur Sandra, der Doc und Jaque kannten die sechs stellige Zahl.
»Ich kenne den Code.«, merkte Jiyai an. »Woher?«, fragte May erstaunt. Nur die Kommander kannten den Zahlencode und nur die medizinische Abteilung würde ihn einsetzen. »Ich war schon oft dabei, wenn jemand aufgetaut wurde und habe ihn mir gemerkt. Bisher war es immer der Selbe.«, zuckte die Medizinerin leicht mit den Schultern. May war erleichtert. Sie mussten nicht auf die Rettung durch ein zufällig vorbeifliegendes Seem oder Stri Schiff warten oder das Sanktum zurücklassen, sondern hatten immer noch die Chance es selbst wieder flott zu machen. Jiyai schob die Trage in den zweitgrößten Lagerraum, in dem der Manta parkte und ihn ziemlich gut ausfüllte. Sie hatten bereits Ideen für eine Umgestaltung der Räume. Hauptsächlich das Verschieben und Entfernen einiger Wände, was laut der Schiffssysteme eine Sache von Minuten war, wenn das Sanktum denn überhaupt funktionierte. May folgte ihrem Freund. Shizuka und Tori versuchten die beschädigten Teile zu finden und vielleicht die Maschine neu zu starten.
Die Luft würde bald knapp werden, das Schiff würde im kalten Raum auskühlen und wie lange man noch auf dem Boden stehen konnte, war sowieso unklar. Es blieb nur zu hoffen das jetzt niemand kam und sie angriff. May aktivierte den Manta und sendete eine Nachricht an die Seem und die Erde. Ohne die aktive Technik war das Sanktum nur eine feste Hülle und alle Geheimnisse lagen für jeden Scanner offen. Ein Geheimnis konnte May allerdings nicht lüften. Egal was sie auch versuchte, ihre Position im All konnte sie nicht bestimmen.
Sab reagierte schon fast euphorisch, als die Seem zum zweiten Mal innerhalb von vier Stunden einen Kontakt herstellten. Es gab keine Spur mehr von der ursprünglichen Abneigung gegenüber den oft so umständlich und langsam wirkenden Aliens. Die Suchtruppe hatte ein Stri Schiff gefunden. Es war laut ihrer Alienfreunde von einer gewaltigen Energiewelle getroffen und schwer beschädigt worden. Ihre Sensoraufzeichnungen wären für die Menschen von Interesse. Sab bedankte sich noch höflicher als beim letzten Mal und ließ selbst Trish und Tin schmunzeln, die sich natürlich ebenfalls Informationen zum Verbleib ihrer Kollegen und Freunde erhofften.
Trish und Sab sahen sich die Aufnahme immer und immer wieder an. Deutlich konnte man die Zerstörung des Sanktums sehen. War es das Richtige? Oder hatten die Aliens gewonnen? Beide Schiffe waren identisch und zumindest äußerlich, soweit es die Informationen aus dem Video hergaben, wieder repariert. Erst das wilde Tastaturgeklapper von Tin, die keinerlei Interesse mehr an dem Material zu haben schien, zog die Aufmerksamkeit von den Bildern auf den Kommander. »Was ist los?« Tin stoppte und blickte starr auf ihren Bildschirm. »Was – ist – los?«, wiederholte nun auch Sab die Worte von Trish, wenngleich sie härter und dringlicher klang. »Die Energiewelle hat das Schiff vor dem Durchqueren des Vortex erreicht und es massiv beschleunigt.« »Sie sind halt schneller hinein geflogen, und?« »Nicht nur schneller. Viel schneller. Wenn ich die Daten nehme und von der geringsten Energiemenge ausgehe, die ich noch als Plausibel werten kann, dann wurde das Schiff für etwa ein bis zwei Sekunden massiv beschleunigt, bevor es in den Vortex getaucht ist.«
Tin legte eine Pause sein: »Wir können ihnen nicht helfen.« »Was soll das heißen? Natürlich helfen wir ihnen!« Sab war aufgebracht. Die Gefühle für ihr Mädchen traten ungewollt an die Oberfläche. »Sie haben eine gigantische Strecke zurückgelegt. Selbst wenn sie ihren Manta nutzen, würden sie mehr als 100 Jahre brauchen um wieder zurückzukehren.« Schweigen breitete sich aus. »Sicher?«, fragte Trish vorsichtig nach. »Und 100 Jahre sind schon verdammt optimistisch gerechnet.« »Sie könnten doch noch eine Explosion erzeugen und genauso schnell zurückfliegen.«, versuchte Sab alles um dieser Annahme den Wind aus den Segeln zu nehmen. »Das könnten sie, aber mit nur etwas zu viel Energie oder einem minimal falschen Kurs würden sie sich noch weiter entfernen. Von der Gefahr zerstört zu werden oder in einen Stern zu rasen ganz zu schweigen. Wir können ja noch nicht einmal genau sagen ob sie überhaupt in einem Stück an ihrem Ziel angekommen sind.«, erklärte Tin, selber nach einem Ausweg forschend, den sie aber niemals an die kleine Gruppe übermitteln könnte.
»Wir finden keine Schäden. Es sieht so aus als hätte sich das Sanktum einfach nur abgeschaltet.«, meldete Shizuka. »Ja, vielleicht eine Art Notabschaltung, damit die Reaktoren keine alles fressenden Löcher produzieren.«, fügte Tori wenig technisch und ein wenig wie Mergy hinzu. »Können wir das Sanktum wieder hochfahren?« »Dazu brauchen wir alle fünf Elemente. Zumindest scheint eine Schalttafel im Maschinenraum genau dafür da zu sein. Genau wissen wir es ohne Zugriff auf die Datenbanken aber nicht.« May war zu besorgt um es zu erkennen, aber Tori hatte ihrem Freund gerade auch eine Superkraft zugeschrieben. »Können wir ihn dafür auftauen?«, fragte May die Ärztin, die sich immer noch intensiv und ohne Pause mit den Aufnahmen des Autodocs beschäftigte. Jiyai war klar was hier auf dem Spiel stand, musste aber eine Entscheidung für ihren Patienten treffen. So hatte es ihr der Doc erklärt. »Er würde ein nochmaliges Einfrieren nicht überleben.« Mays Gesichtszüge entgleisten. Sie könnten sich mit dem Manta ins All sprengen und nach Hause fliegen, aber dieses Sanktum würde dann genau so eine Gefahr für alle Welten, wie das gerade zerstörte.
Wenn sie es aktivieren würde, würden sie Nim und ohne den Hüter wohl auch sofort wieder die Kontrolle über das Sanktum verlieren. Der Manta piepte. Die Sensoren hatten die Position im All mit allen Karten und Bildern abgeglichen, die zu finden waren. Vielleicht war das ein Ausweg. May setzte sich wieder an die Konsole und berechnete einen Kurs nach Hause. Sie erstarrte. Die Reise würde selbst mit der verbesserten Maximalgeschwindigkeit des Sanktums 317 Jahre dauern.
»Oh!« »Was?« »Mergy ist im Anflug.« »Wir sollten ihn auf dem Laufenden halten.« Trish lachte laut auf. »Du wolltest ihn auf dem Laufenden halten.« »Ja, ich habe es vor Anspannung vergessen. Rufen wir die Chongs, Suki und Neela auf das Kommandodeck, dann brauchen wir die Lage nicht immer und immer wieder durchkauen. »Gute Idee.«, auch wenn ich lieber in Anbetracht der Lage nicht dabei wäre.
»Was ist los?«, fragte Shizuka weil May sich nicht mehr bewegte und nur auf den Bildschirm starrte. May drehte den Sitz nach hinten, wo sie die drei gespannt ansahen. »Wir sind ziemlich weit von Zuhause weg.« »Sprengen wir das Sanktum und verschwinden mit dem Manta. Der ist fast genauso schnell.«, merkte Tori an. Angesichts der Tatsache das Nim eingefroren war und ohne ihn ein Aktivieren des Schiffe nicht mehr möglich war, gab es nur diese Lösung: »Die Ausrüstung vom letzten Mal ist noch installiert. Das ist perfekt. Ein paar Tage halten wir es schon aus.«
»Es sind mehr als nur ein paar Tage.« »Ein paar Tage oder Wochen bringen uns nicht um.« May war klar, sie musste die Bombe jetzt platzen lassen: »Es sind 317 Jahre.« »Jahre? – 317 Jahre?«, war Tori immer noch die einzige Person, die sich aktiv an der Unterhaltung beteiligte: »Wir brauchen 317 Jahre nach Hause?« »So sieht es aus.« »Das geht nicht. In 300 Jahren sind alle tot die wir kennen.«, platzte Shizuka erstmals ins Gespräch. Tori klatschte sich mit einer unhöflichen Geste direkt auf die Stirn und gab einen verächtlichen Stöhner von sich. Shizuka hatte das offensichtliche nicht erkannt.
»Wir leben auch keine 300 Jahre.«, brachte es Jiyai leise flüsternd auf den Punkt. »Wie ist das überhaupt passiert? Wir könnten doch genauso zurückfliegen.«, versuchte Tori sich bereits an einer Lösung. »Dazu müssten wir wohl ein Sanktum sprengen, um ein anderes genau im richtigen Moment in den Unterraum zu fliegen. Selbst wenn wir ein Zweites hätten, wäre die Gefahr zu groß. Es gibt nur einen Versuch und schon eine minimale Abweichung von Kurs oder Stärke der Energiewelle und wir landen überall, nur nicht Zuhause. Wenn wir nicht schon vorher explodieren. Das Sanktum hat sich ja nicht ohne Grund abgeschaltet.«
May hatte in den wenigen Minuten die Lage bereits in allen Varianten analysiert, die man auch auf der Ray Team Station schon behandelt hatte. »Wir müssen das Sanktum wieder aktivieren.« »Aber Nim!«, führte Jiyai ihre schon ausgesprochene Sorge erneut an, ohne erneut ins Detail zu gehen. »Wir haben keine Wahl. In dieser kleinen Nussschale haben wir hier keine Chance. Wir wissen nicht welche Gefahren da draußen lauern und der Manta ist auch nicht für Dauerbetrieb ausgelegt.« »Du willst ihn sterben lassen?«, war Shizuka erschrocken. »Nein. Natürlich nicht.«, blieb May sachlich, obwohl ihr zum Heulen zumute war. Sie musste stark bleiben. Sie war der Anführer, der Kommander.
»Jiyai wird ihn operieren.« Die Augen der kleinen Ärztin sprangen auf: »Ich kann das nicht.« »Wir tauen ihn im Energiekern auf, starten das Sanktum und bringen ihn in den Manta, um ihn hier zu operieren.« »Wir haben nicht die Ausrüstung für eine Operation. Bisher habe ich auch nur Holo-Simulationen von kleineren Eingriffen gemacht.«, wand sich Jiyai unwohl ob der bevorstehenden Aufgabe. »Und wie sind die Simulationen gelaufen?«, fragte May in normalem Ton nach. Dieses Mädchen würde über das Leben oder Sterben ihres Freundes bestimmen. Es machte keinen Sinn hier noch mehr Druck aufzubauen, als ohnehin schon im Raum lag. »Nicht so gut.«, war Jiyai sichtlich angeschlagen und wurde noch blasser als in den Minuten zuvor. »Wir brauchen das Sanktum um zu überleben. Nim würde es genauso wollen.«
Sab erläuterte die Lage im Konferenzraum auf dem Kommandodeck. Bisher hatte kein Sanktum einen Angriff auf fremde Welten gestartet. Das war ein gutes Zeichen. Ihre Kollegen, Freunde und Familienmitglieder lebten wahrscheinlich noch. Mehr Trost war aus der Situation nicht zu ziehen. Mergy blieb erstaunlich ruhig. Trish hatte schon nach den ersten Sätzen fantasievolle Lösungsvorschläge oder technische Fragen erwartet, aber er schwieg. Neela und Suki lagen sich mit Tränen in den Augen in den Armen. Erst als Sab auch einen fragenden Blick an Mergy richtete, wurde er aktiv.
»Ich glaube sie werden nicht lange verschollen bleiben. Die Truppe findet einen Weg.« »Was macht dich da so sicher?« »Wenn May stirbt oder nicht hier ist, dann geht das Universum in eine Zeitschleife über oder diese Realität wird neu geschrieben. Die alte May muss ihre Geschichte als Orakel senden. Ist sie nicht da, dann stimmt die Vergangenheit nicht und May fliegt nicht mit dem Sanktum ins All.« »Wir sollen gar nichts tun?«, war Tin erstaunt über seine abgeklärte Haltung. »Was willst denn machen? Die Entfernung ist von hier genauso groß und das Problem ist identisch.«, führte Mergy weiter aus: »Die Fünf sind ein brillantes Team. Sie sind jung, haben die nötige Ausrüstung und ein ganzes Sanktum voller mächtiger Technologie. Ihnen fällt schon etwas ein.«
Mit der Schwebetrage standen die vier Joluh im Energiekern des Sanktums. Er sah weniger beeindruckend aus, als er dem Namen nach klang. Die vier runden Reaktorsäulen, ein paar Konsolen an der Wand und Rohrleitungen war alles was es hier gab. Die Wände waren deutlich dicker und auch die Decke wirkte durch die zusätzliche Verstärkung deutlich niedriger. Details konnte man wegen der spärlichen Beleuchtung durch die Arbeitslampen, die der Manta hergestellt hatte, sowieso nicht sehen. Jiyai setzte noch einmal einen »Bist du dir wirklich sicher?« Blick auf. May nickte, obwohl sie sich in keinster Weise sicher war. Das Mädchen tippte die Zahlenkombination in den Autodoc und zögerte bei der letzten Ziffer, holte tief Luft und tippte sie an.
Der Block löste sich auf und gab Nim frei. May nahm seine Hand und führte sie auf das Bedienfeld ohne Symbol. Die Anderen legten ihre Hand auf die Felder ihres Joluh. Es passierte nichts. »Es funktioniert nicht.« »Vielleicht weil er nicht wach ist? Er muss es selbst machen. Er muss es wollen.« »Ich soll ihn auch noch aufwecken?«, war Jiyai geschockt. May nickte. Der innere Schmerz brachte sie selbst fast um. Nims Blut wurden durch die Maschine einige Medikamente beigemengt. Nach dem Adrenalin folgten noch zwei Komponenten. Nim öffnete die Augen, stöhnte vor Schmerz und röchelte weil seine Lunge nicht mehr richtig arbeitete. »Du musst uns helfen das Sanktum einzuschalten.«, flehte May ihn an und legte seine Hand wieder auf die Konsole.
»Es funktioniert. Die Systeme starten wieder.« »Ihr kümmert euch um das Sanktum. Jiyai und ich kümmern uns um Nim.« Vorsichtig legte sie die Hand wieder auf die Trage. Mit hastigen Schritten schoben sie den Schlitten durch die Gänge des Schiffes. Das Labyrinth der Wände kannten sie längst auswendig. Jiyai bestimmte die Richtung und May konzentrierte sich darauf nicht zu stürzen, während ihre Augen mit denen ihres Freundes verbunden waren. »Jiyai muss dich operieren. Es ist der einzige Weg.«, erklärte May. Nim schien zu lächeln. Es war schwer zu erkennen. Er war so schwach und hilflos. »Ich liebe dich!« Mit dem schwebenden Nim ging es in den Manta, wo Jiyai bereits Ausrüstung und Medikamente bereitgelegt hatte. Mit einer Schere teilte sie sein beiges Shirt mit den schwarzen Ärmeln und einem Bandnamen darauf, den May nicht kannte.
Nim bekam extra Sauerstoff durch eine Maske. Der Autodoc tat selbiges mit seinem Blut und versetzte Nim zusätzlich wieder in Schlaf. Die Hand von Jiyai zitterte als sie das Skalpell ansetzte. May griff ihr an den Oberarm und sah ihr in die ängstlichen Augen: »Du kannst das. Nim glaubt auch an dich. Das habe ich in seinen Augen gesehen.« Sanft ließ sie die Hand wieder los. Jiyai begann zu schneiden. Blut trat aus der Wunde und floss in Bächen an seinem Körper herunter. »Absaugen.« May hatte von ihr einige Anweisungen bekommen und wusste was zu tun war. Jiyai schnitt tiefer. Dann legte sie ein Gerät auf den Körper ihres Patienten. Kontrollierte Mays Position und Nim zuckte. Sein Herz stand still. »Etwas tiefer.«, wies Jiyai und schien ihre Anspannung vergessen zu haben. Sie zog die gebrochene Rippe aus seiner Arterie.
Ohne den Herzschlag floss der rote Lebenssaft gleichmäßig aus dem Gefäß in seinen aufgeschnittenen und abgeschalteten Körper, wie aus einem leicht geöffneten Wasserhahn. Der Autodoc füllte über seinen unverletzten Arm immer wieder neues, mit Sauerstoff angereichertes, Blut nach, baute aber eben keinen ruckartigen, pulsierenden Druck auf, wie es der echte Herzschlag tun würde. Jiyai nahm den Wundschließer und reparierte das eingerissene Gefäß. Mit einem zweiten Saugstück reinigte sie ihr Werk und prüfte es mit einem Scan. Dann flickte sie die Lunge auf ähnliche weise. Mit ihrem Finger auf dem eigentlich nicht vorhandenen Bildschirm über ihrem Patienten tippend, gab sie weitere Anweisungen an die Maschine oder änderte die Ansicht auf das Hologramm oder die Wunden ihres Patienten.
Jetzt war es soweit. Sein Herz musste wieder zu schlagen beginnen. Nim zuckte nach dem Stromstoß, aber die Linie auf dem Schirm blieb nach einem kurzen Aufbäumen flach. »Komm schon!«, feuerte Jiyai ihn an und wiederholte die Prozedur mit einer etwas höheren Einstellung. Wieder zuckte Mays Freund wie bei einem schlimmen Albtraum. Ein Albtraum den May gerade aktiv durchlebte. Ihr Freund lag auf der Schwelle des Todes und sie konnte nichts machen. Sie war hilflos. Wieder ebbten die Wellen ab, aber es gab kleine Nachwellen, die vorher nicht da waren. War das gut? Jiyai zündete den Schock ein drittes Mal. Nach einem kurzen durcheinander begannen die Wellen sich zu stabilisieren. Sein Herz arbeitete wieder und die größen Blutungen waren gestoppt. Jiyai brauchte noch eine halbe Stunde, um die anderen kleinen und großen Verletzungen an und in seinem Körper mit den medizinischen Geräten zu reparieren.
Der hilflose kleine Kommander sagte nichts. Er wollte die gerade in Jiyai aktivierten medizinischen Superkräfte nicht durch ein unbedachtes Wort oder eine unbedachte Handlung zerstören. Von Tori und Shizuka war nichts zu sehen. Die Beiden konnten sich den Horror vorstellen und blieben sicherlich auch aktiv fern, um nicht zu stören. Wie die Operation auch immer verlaufen würde, eingreifen und helfen konnten sie sowieso nicht. Der Manta war wie ein Operationssaal auf der Erde geschlossen. Die kleine Doktorandin war sorgfältig. Obwohl sie jede Wunde mehrfach desinfiziert und nach dem Verschließen geprüft hatte, ging sie noch einmal über jede Stelle und sah sich die Aufnahmen auf dem holographischen Schirm von allen Seiten an.
Mit einem metallischen Klackern legte das Mädchen schließlich den kleinen Handscanner des Autodocs auf die Metallplatte des winzig wirkenden, mit Blutspritzern übersähten Tisches, der extra für die Operation mit einem langen Arm am Bett befestigt worden war. »Ich bin fertig.« Erst jetzt war May fähig sie sich genauer anzusehen. Der weiße Kittel war voller Blut. Ihre Hände, ihr Gesicht, die Werkzeuge und selbst die Betten hinter Jiyai hatten Blut abbekommen. May sah ihre eigenen Hände an. Sie waren, wie ihr Kittel und Teile der restlichen Kleidung ebenfalls mit dem Blut ihres Freundes bedeckt.
»Und?«, fragte May, die bisher nur wusste das er noch lebte. Das zeigten zumindest die gleichmäßigen Wellen auf dem Bildschirm an. »Ich denke er wird wieder ganz gesund.« May lächelte. »Ich –« Jiyai hob ihre Blut verschmierten Hände, die eben noch Wunder bewirkt hatten. May nickte verständnisvoll mit einem Lächeln. Das jüngere Ärztin verschwand im Bad. Obwohl das Wasser des Waschbeckens deutlich hörbar rauschte, konnte man durch die Tür hören, wie sich das Mädchen in die Toilette übergab.
Zehn Minuten später kam Jiyai kreidebleich wieder aus dem kleinen Raum. Sie prüfte direkt wieder die Werte des Autodocs. »Kann ich ihn waschen?«, fragte May, die den Anblick des blutverschmierten Körpers ihres Freundes nicht mehr ertragen konnte. Seine Wunden waren geheilt, aber die Flecken auf Kleidung und Körper waren ein Spiegelbild der letzten zwei Stunden. »Ja, wenn die Werte sich ändern, dann ruf mich sofort. Ich schnappe vor dem Manta nach frischer Luft.« May nickte. Als sich die Tür hinter Jiyai wieder verschlossen hatte, begann der kleine Kommander mit der Reinigung. Die zwei Repligen, die Stunden vorher noch die für die Operation notwendige Ausrüstung erschaffen hatten, durften die Reinigung des Raumes vornehmen. May kümmerte sich derweil selbst um Nim. Nichts konnte sie jetzt noch davon abhalten. Das war ihre Aufgabe. Als Freundin war sie für ihn da, auch wenn es die einzige Sache war, die sie jetzt überhaupt für ihn tun konnte.
Nach etwa 30 Minuten lag Nim, nur noch mit seiner Unterhose bekleidet, unter einer Decke auf der schwebenden Trage. Der Raum war wieder wie neu und auch May hatte, nach einer knappen Reinigung ihres eigenen Körpers, ihre Kleidung entsorgt und neue angezogen. Die blutigen, an die letzten Stunden erinnernden, Mahnmale waren verschwunden. Als die Mantaluke sich in Bewegung setzte konnte May sehen wie Jiyai hastig aufsprang. »Alles gut.«, beruhigte May ihre jüngere Kollegin. Tori und Shizuka hatten auf einer Kiste gesessen und waren ebenfalls aufgesprungen. May zog das Mädchen an sich heran: »Danke. Ich weis nicht ob ich mich je dafür bei dir revanchieren kann.« Jiyai konnte sich vorstellen unter welchem Druck auch May gestanden haben musste. »Du hast mich zuerst gerettet. Schon vergessen?«, lächelte Jiyai. May erwiderte den Blick trotzdem dankbar.
»Wie sieht es mit dem Sanktum aus?« »Wir haben wieder Energie. Alle vier Reaktoren sind aktiv und voll einsatzfähig.« May schaute in den fast dunklen Raum und auf die tragbaren Leuchten, die jetzt hier vor dem Manta standen. »Wir dachten es wäre besser zu warten. Wegen eventuellen Erschütterungen und so.«, fügte Shizuka an. »Gut mitgedacht!«, lächelte May: »Kann ich Nim ins Bett packen? Dann können wir uns zumindest etwas zu essen holen und nachher schlafen, ohne mit der Trage alles zu blockieren.« »Ja, aber wir sollten das Operationsbesteck nur Beiseite legen, falls es doch noch zu Komplikationen kommen sollte, brauchen wir es schnell.« May nickte. Sorgsam Umschlung sie ihren Freund mit der Luft und ließ ihn in das weiche Bett sinken. »Wie lange wird er noch schlafen?« »Es kann nicht mehr lange dauern. Der Autodoc versorgt ihn nur noch mit Schmerzmitteln und hemmt damit auch die Phantomschmerzen.«
Während sich ihre Freunde nur Essen aus dem Automaten zogen und sich dann wieder diskret in die dämmrige Halle setzten, blieb May an der Seite ihres Freundes. Sie hatte sich bei seiner Reinigung Mühe gegeben, aber es waren immer noch kleinere Blutflecken zu finden. Ohne den AutoDoc, der den Blutkreislauf ihres Freundes immer noch überwachte, hätte er die Operation nicht überstanden. Schon öfter hatte diese kleine Maschine Leben gerettet. Das Leben von Nim nun schon zum zweiten Mal. Ihr Blick wurde auf die Front des Mantas gezogen.
Durch die Fenster konnte man jetzt die nur ein paar Meter entfernten Wände des Lagerraums sehen, die in den letzten Stunden in Dunkelheit gehüllt waren. Tori und Shizuka hatten nicht übertrieben. Das Sanktum war wieder in Funktion. Das Licht baute unmerklich Hoffnung in ihr auf. Egal wie ihre Zukunft so fern der Heimat auch aussehen würde, mit dem Sanktum wurde sie erst möglich. Und mit Nim natürlich, der friedlich neben ihr lag, sich erholte und ohne den sie sich selbst diese unsichere Zukunft nicht vorstellen konnte.
May vernahm ein leises Stöhnen. Sie hatte sich hinter ihren Freund ins Bett gelegt. Vollständig bekleidet lag sie auf der schützend über ihren Freund ausgebreiteten Decke, mit einem Arm um ihn geschlungen, wie er es sonst immer bei ihr machte. Sofort war sie hellwach. Um das Bett nicht zu erschüttern, wollte sie über ihren Freund hinweg wieder in den Gang zwischen den Doppelbettreihen schweben, aber das Sanktum verhinderte abermals die Nutzung ihrer Kräfte. Schwerfälliger als ursprünglich geplant, bewegte sie sich dennoch kletternd aus dem Bett. Seine Augen waren geöffnet und es war der schönste Anblick, den sie sich vorstellen konnte.
»Da bist du ja wieder.«, lächelte sie erleichtert. »Was ist passiert?«, fragte Nim unsicher und auch sein Körper begann wieder damit die Umgebung zu erfühlen. Deutlich konnte man seine Arme und Beine unter der eng anliegenden Decke arbeiten sehen. »Wir mussten dich auftauen, damit wir das Sanktum neu starten konnten.«, erklärte May. »Daran kann ich mich dunkel erinnern.«, gab ihr Freund mit trockenem Mund zurück. May hastete zum Nahrungsverteiler und bestellte ein Glas Wasser, welches Nim, selbst schon wieder in einer sitzenden Position, dankend annahm. »Du warst zu schwach, um dich noch einmal einzufrieren. Jiyai musste dich operieren.« »Sie hat mich aufgeschnitten?« May nickte und Nim schaute instinktiv an sich herunter. »Ich hab dich gewaschen. Hier war alles voller Blut.« »Hat es funktioniert?« Seine Freundin schaute verwirrt drein. Er war noch am Leben. Was sollte jetzt diese dumme Frage? Nim lachte: »Sorry, ich meinte das Sprengen des anderen Sanktums.«
»Ja, es wurde vernichtet. Unser Sanktum wurde dabei massiv beschädigt. Die anderen sehen sich unser Schiff gerade an. Jiyai druckst bestimmt noch besorgt vor der Tür herum.« Der kleine Kommander drückte die große Taste neben der Heckklappe und hob die Privatsphäre, die diese zweiteilige Wand erschuf, wieder auf. Jiyai stand sofort wieder angespannt vor dem Manta. Erleichtert atmete sie deutlich sichtbar aus, als sie May strahlen und ihren Patienten im Bett trinken sah. »Wie fühlst du dich?«, war der offizielle Schiffsarzt aber trotzdem schon wieder im Diagnosemodus. »Fast mein ganzer Körper fühlt sich etwas dumpf an und es pocht seltsam.« »Das sind die Phantomschmerzhemmer.«, erklärte Jiyai: »Dir fehlt momentan ein großes Spektrum deiner Sinne. Das Pochen ist das, durch deine Adern pumpende, Blut.« Nim nickte verstehend und nahm noch einen Schluck Wasser.
»Ich verdanke dir mein Leben.«, wurde Nim stimmlich ernst und aufrichtig: »Danke.« »May hat dabei assistiert.« Nim drehte den Kopf erstaunt zu seiner Freundin. »Ich habe mehr von deinem Innersten gesehen, als ich je sehen wollte.« May presste die Lippen zu einer Linie zusammen und hob die Augenbrauen. »Das haben wir wohl beide.«, lachte Jiyai, wohl langsam die Sorgen der letzten Stunden abschüttelnd. »Kann ich aufstehen?« Der Blick von May war eindeutig. Er sagte wortlos: »Auf keinen Fall.« »Du kannst dich im Bad frisch machen, aber keine weiteren Ausflüge. Die Wunden sind zwar verschlossen, aber die Zellverbindungen sind noch nicht so stabil wie vor dem Unfall. Die müssen erst komplett ausheilen.«
»Ich lege mich nachher in unserem Quartier ins Bett und stehe eine Woche lang nicht mehr auf. Versprochen!«, lächelte Nim. Jiyai schaute zu May hinüber. Nim schaltete zuerst: »Was sollte ich wissen?« »Wir wurden offensichtlich durch die Explosion in den Unterraum geschleudert und sind weit draußen im All. Bei maximaler Geschwindigkeit brauchen wir über 300 Jahre nach Hause. Darum war es so wichtig das Sanktum zu retten.«, erklärte May. Nim erfasste die Situation sofort. Er hatte von allen an Bord am wenigsten verloren. Seine Liebe war hier, während für die Anderen auf dem Sanktum Freunde, Familie und eben auch Partner unerreichbar weit weg waren.
»Wir sind also auf uns alleine gestellt.«, zog Nim sein Fazit. »Ja, darum brauchen wir das Sanktum so dringend. Sonst hätte ich doch niemals dein Leben riskiert. Niemals!« Seine Freundin legte so viel Gefühl in diese Aussage, wie sie nur konnte. Nim lächelte. Er zog sie sanft zu sich auf das Bett und küsste sie zärtlich: »Auch wenn es für mich nicht gut ausgegangen wäre, hättest du – hättet ihr – das Richtige getan.« Es dauerte nicht lange und der Rest der Mannschaft blickte neugierig in den Manta. Beide waren erleichtert ihren Freund mehr oder weniger Gesund zu sehen.
Der Tag war lang, aber trotzdem dauerte es noch einige Stunden, bis die fünf in ihren Betten den so dringend benötigten Schlaf fanden.
»Atlantis ist wieder voll einsatzfähig. Alle Schäden wurden repariert und auch unser verbesserter Unterraumantrieb ist wieder voll einsatzbereit.«, berichtete Jiyai. »Ich habe mir noch einmal die Daten des Sanktums angesehen.«, glaubte auch Shizuka eine Meldung abgeben zu müssen, um nicht als der bisher nur faule Pilot zu gelten: »Die Karten sind zwar umfangreicher, aber dieser Teil des Raums ist nicht sehr detailliert. Es gibt zwar alle Sternenkonstellationen, aber keinerlei Informationen über die Planeten und deren Lebewesen.
»Hast du einen Kurs berechnet?«, stellte Tori eine Frage, die man eigentlich von May oder Nim erwartet hätte. »Die Angaben aus dem Manta Computer sind korrekt. Der Antrieb des Sanktums ist zwar schneller als der des Mantas, aber die Reise würde immer noch 232 Jahre dauern.«, gab sie erneut zu Protokoll. Schweigen breitete sich im kleinen Manta aus. »Gut. Wir setzen Kurs auf die Erde und dann fangen wir an uns Quartiere und einen Besprechungsraum in der Nähe des Kommandoraums einzurichten.«, übernahm Nim wieder die Rolle des Entdeckers und des Kapitäns: »Egal wie lange es dauert, ich möchte nicht auf ewig im Manta wohnen.« Sein Vorschlag traf auf offene Ohren. Jiyai brachte vor ihn noch einmal Untersuchen zu wollen und ermahnte schon im Vorfeld dazu sich, wegen seiner immer noch angeschlagenen Verfassung, nicht zu sehr einzubringen.
»Bevor wir uns auf die Heimreise machen, müssen wir noch etwas klären.«, füllte Nim die Rolle des Kapitäns wieder aus. Die anderen saßen bereits in ihren Sesseln, während Nim sich vor ihnen aufgebaut hatte. »Was machen wir, wenn wir auf Lebensformen treffen, die Hilfe brauchen? Helfen wir ihnen auch wenn es Zeit kostet und Gefahr birgt, oder ignorieren wir die Probleme und konzentrieren uns auf die Heimkehr?« »Auch wenn wir in einem Joluh Schiff fliegen sind wir immer noch Mitglieder des Ray Teams und sollten helfen.«, war es Tori, der als erstes seine Meinung in den Topf warf. »Ob nun ein paar Stunden mehr oder weniger macht den Kohl ja wohl nicht fett.«, erklärte Shizuka ihre Sicht der Dinge schon fast zu distanziert. Es musste sie innerlich zerreißen, weil sie Suki, ihre Eltern und besonders Neela wohl nie mehr wiedersehen würde.
Jiyai ging es ähnlich. Sie schien Heimweh zu verspüren. Nicht nach der Erde, sondern nach der Station und natürlich fehlte ihr Sab. Was in Tori vorging konnte man nicht sagen. Er war verschlossen und zeigte keine offensichtliche Schwäche. Aber auch ihm würde Suki mehr als nur ein wenig fehlen. »Jiyai?«, weckte May die jüngste im Team aus ihren Gedanken. »Die anderen würden es tun.« »Dann sind wir uns einig.«, fasste May zusammen und gab den Ball an Nim zurück: »Es ist zwar ein Risiko, aber vielleicht ermöglicht es uns ein Signal zu setzen.«
»Ein Signal?«, war Nim unsicher was seine Freundin meinte. »Worte reisen schneller als Menschen. Wenn wir helfen und sich die Geschichten unserer Taten verbreiten, dann finden sie vielleicht ihren Weg nach Hause.«, erklärte May: »Ein Schiff, alleine in den Weiten des Universum, bringt Licht in die Dunkelheit. Naja, vielleicht weniger poetisch.« Sie musste selbst bei ihren leicht überzogenen Worten schmunzeln. »Vielleicht sollten wir Atlantis Lila einfärben und einen Mangakopf draufmachen, damit es sich besser einprägt.«, prustete Tori heraus. »Die Außenhülle kann man farblich ändern. Die Möglichkeit dazu habe ich bereits gefunden.«, unterstrich Jiyai die eigentlich als Witz formulierten Worte mit einer fetten grünen Linie. »Und die asiatischen Mädels sind ja auch in der Überzahl.«, fügte Shizuka hinzu.
»Eigentlich ist die Idee nicht schlecht.«, musste auch Nim zustimmen: »Vielleicht könnte man fünf Figuren drauf machen und die Farbe etwas Geschlechtsneutraler halten. Shizuka, du hast offiziell die Aufgabe eine neue Schiffslackierung zu erstellen. Aber vorher fliegen wir los.« Das Mädchen nickte und ließ den Antrieb aus dem Hangar wieder ins All hochfahren, aktivieren und nur Momente später strahlte das Blau der Hoffnung über die Projektionen ins Innere. »Tori, stelle die Sensoren auf Automatik, damit wir gewarnt werden, wenn etwas bedrohliches auftaucht. Wir können hier ja nicht den ganzen Tag herumsitzen.«
Als Sab das Sor betrat fiel ihr Blick sofort auf einen der Tische am Fenster. Neela und Suki saßen schweigend vor ihren Tellern. »Guten Morgen, Kommander. Was darf es sein?«, begrüßte Sor sie. Normalerweise war es nicht Sabs Art ihr Tablett selbst zu tragen. Sie ließ sich lieber am Tisch bedienen. »Frühstück, Nummer 2«, murmelte sie ohne auch nur den Blick von den beiden Piloten zu entfernen oder der Maschine ebenfalls einen guten Tag zu wünschen. Erst das Klappern des Tabletts auf dem Tresen von Sor zwang sie zum Handeln. »Danke Sor.«, übte sie sich dennoch in Höflichkeit, nahm es auf und bewegte sich auf ihr neues Ziel zu.
»Guten Morgen. Darf ich mich setzen?« Suki zuckte nach oben. Saß sie eben noch rund und schlaff in ihrem Stuhl, so konnte man sie jetzt als Bild in einem Ratgeber für korrekte Körperhaltung veröffentlichen. Bei Neela verhielt es sich ähnlich, aber bei weitem nicht so ruckartig. Zu keinem Wort fähig nickte Suki. Sab merkte schnell, sie musste selbst die Initiative ergreifen oder die Mädchen würden den Tisch, wohl schneller als Ratten ein sinkendes Schiff, verlassen. »Das ist also der Tisch der Zurückgelassenen und Wartenden, ja?« Es dauerte einen Moment bis Suki es erkannte. Es ging dem Kommander genauso wie ihr. Sab hatte zwar nicht ihre Liebe verloren, vermisste aber Jiyai auf die gleiche Weise wie sie selbst ihre Freundin und ihre Schwester vermisste. Neela war schneller. »Ja, so kann man es ausdrücken. Gibt es Neuigkeiten?« »Leider, nein.« Sab nahm einen Schluck Tee.
»Glauben sie wirklich an ihre Rückkehr?«, war Suki gleichermaßen vorsichtig wie höflich bei ihrer Fragestellung: »Wenn die Annahme von Tin stimmt, dann sind sie wirklich ziemlich weit weg.« »Wollen wir die Formalitäten nicht einfach fallen lassen?«, machte Sab einen Schritt auf den weder Neela noch Suki gefasst waren: »Wir kennen uns doch nun schon so lange. Ich werde mich auch bemühen meine Stimme im Zaum zu halten, auch wenn es manchmal nicht ganz einfach ist.« Suki war sichtlich erstaunt über so viel Offenheit. Sie nickte. »Das wäre schön.«, gab Neela noch vor ihr zurück.
»Ich denke Mergy hat recht. Nicht wegen dem Orakelparadox, sondern weil ich an die Fünf glaube. May ist nicht zum ersten Mal in so einer Situation.«, begann sie die eigentliche Frage zu beantworten: »Sie haben Superkräfte, ein mächtiges Schiff und jede Menge Gründe wieder nach Hause zu kommen. Was sollte sie da aufhalten?« Zum ersten Mal an diesem Tag verzeichnete sich ein kleines Lächeln auf Sukis Gesicht.
Seit über vier Wochen ging die Reise nun schon Richtung Erde. Das Blau des Unterraums, welches nur durch die Sensoren erfasst und als Darstellung im Inneren erstrahlte, war längst Gewohnheit. Der Zeitvertreib war ein anderes Problem. Das Sanktum weiter zu erforschen war zwar interessant, aber auf Dauer langweilig und eintönig. Für einen kurzen Zeitraum hatten sie Zeit damit verbracht ihre Räume einzurichten und alles so wohnlich zu gestalten, damit es sich wie ein Zuhause anfühlt. Aber es war eben kein echtes Zuhause. Es war nur eine Scheibe im Unterraum. Die Gestaltung der Quartiere war dank der Sanktumtechnologie ähnlich wie auf der Ray Team Station.
Abgesehen von der Übertragung in den Computer waren die gewünschten Objekte allerdings deutlich schneller erschaffen. Es war sogar einfacher sie verschwinden und neu herstellen zu lassen, als sie mit Körperkraft zu verschieben. Highlight waren die Fenster. Obwohl ihre schon recht ansehnlichen Kabinen im vorderen Zentrum der Raumschiffscheibe lagen, hatten sie alle einen Blick ins All. Jiyai hatte die Idee einfach die Signale der verschiedenen Sensoren auf die Wand zu projizieren. Da es fast nie Objekte in unmittelbarer Nähe des Sanktums gab, reichte ein Rahmen um die Täuschung auch ohne echte Bildtiefe perfekt zu machen.
Shizuka hatte nicht sehr lange gebraucht einige Designs für die Schiffshülle zu entwerfen. Das Sanktum erstrahlte nun in Weiß. Auf Ober- und Unterseite hatte sie die fünf Figuren angeordnet, die schon auf den ersten Blick die Besatzung repräsentierten. Alle Besatzungsmitglieder standen in heroischer Pose und Kampfbereit mit gehobenen Händen da, als müssten sie mit dem Joluh gleich eine Invasion abwehren. Tori meinte es wäre der »Heldenshot«, eine Pose die es in jedem guten Film geben würde, wenn die Hauptfiguren noch sauber und ordentlich gekleidet wären. Der »Wir sind bereit für den Kampf!« Moment. Die Symbole des Sanktums zu ihren Füßen und hinter jeder Figur blauer Himmel mit dem jeweiligen Element als Highlight. Hinter Shizuka schwebten Wasserkugeln und hinter Tori züngelten Flammen. Eine sandige Wand schien sich hinter Jiyai empor zu heben, während bei May die Haare und das Lila Kleid im Wind flattern zu schienen. Große schwarze Buchstaben mit dem Schiffsnamen auf der Seite rundeten die Lackierung ab, die Jiyai mit Hilfe der AI auf der Außenhaut erzeugt hatte.
Victor! Nach einigen Wochen hatte May nur beiläufig angemerkt sie würde es besser finden, wenn jeder direkt mit der AI interagieren könnte, wie man es Zuhause mit Jaque und Sor konnte. Auch wenn der Körper von Jaque nie wirklich genutzt wurde, was wohl dem Ray Team Computer selbst geschuldet war, war er doch vorhanden. Jiyai hatte den Wunsch einfach in einer Konsole eingegeben und da stand er. Er sah aus wie der Hüter der Sankten und benutzte anscheinend seine letzte Projektion. Nach ein wenig Überredung hatte er sich ein anderes Gesicht ausgewählt und seine Statur leicht angepasst. May meinte er solle sich aus den Datenbanken einen Namen aussuchen. Nach einiger Diskussion über den Sinn und Zweck fügte sich die Maschine und wählte Victor.
Der visualisierte Computer wurde schnell das sechste Mitglied der Besatzung. Anders als Jaque stand er aber nur außerhalb der Quartiere zur Verfügung. Nachdem Tori die Sensoren in diesen Bereichen eingeschränkt hatte, um ein privates Umfeld zu schaffen, hatte Victor keinen Zugriff mehr. Ansonsten erschien und verschwand er dynamisch wie Sor es auch immer machte. »Ich habe da etwas. Eine ungewöhnliche Anzahl von Objekten im All. Der betroffene Bereich liegt fast auf unserem Kurs.«, meldete Victor wie angewiesen über ein unsichtbares Lautsprechersystem im ganzen Schiff.
»Dann wollen wir uns das mal ansehen. Alle auf die Brücke.«, verkündete Nim. Innerhalb von wenigen Sekunden war die Besatzung komplett und saß auf ihren Sitzen. »Shizuka, Kurs setzen.« Das Mädchen folgte den Anweisungen und May bewunderte einmal mehr die Kommandofähigkeiten ihres Freundes. »Ich empfange keinerlei Signale.«, merkte Tori an, während sie sich dem Ziel näherten. Shizuka leitete einen Sprung in den Normalraum ein und konnte gerade noch die strahlend weiße Scheibe vorne hochziehen, sonst hätten Trümmer den vom Rumpf abstehenden Turboantrieb beschädigt. Er passte generell nicht so recht in die neue Lackierung des Sanktums, da er unter allen Figuren auf dem Schiff erschien und sich durch seine dreidimensionale Form mehr als nur etwas von der perfekten Schiffsform absetzte. Erst als das Antriebsmodul wieder im Schiff verstaut war, konnten etwaige externe Beobachter das Kunstwerk wieder aus jeder Position begutachten.
Deutlich waren die multiplen Einschläge auf der Außenhaut des runden Schiffes zu hören, die von der inneren Struktur bis ins Zentrum getragen wurden. »Es ist ein Trümmerfeld. Hier hat es eine Raumschlacht gegeben. Die meisten Schiffe sind von unbekannter Bauart, aber ich habe einen bekannten Typ gefunden.« Tori legte das Bild der Sensoren auf den großen Schirm vor den Sitzplätzen. »Ein Drakenjäger?«, erkannte May die Bauform sofort. »Sieht so aus, als wären es nicht alle gewesen die wir damals vernichtet haben.« »Das war eigentlich klar. Eine Rasse wie die Draken expandiert an mehr als einer Front, aber ihre Ausbreitung ist deutlich weiter als gedacht, wenn sie selbst hier draußen agieren.«, merkte Nim an. »Wir sollten uns einen Datenkern von den Draken besorgen.«, schlug May mit Blick auf ihren Freund vor. »Gute Idee. Wir können ihn anzapfen und bekommen auf einen Schlag tonnenweise Information über diesen Teil des Universums. Vielleicht kennen sie sogar einen Weg nach Hause.«
Weitere Scans zeigten es gab keine Überlebenden. Der Kampf war, wenn man Victors Berechnungen zur Zerstreuung der Trümmer trauen konnte, wohl auch schon ein paar Wochen her. Ein Datenkern fand sich ebenfalls nicht. Die Draken waren in diesem Teil des Weltraums genauso stark, wie sie es beim Angriff auf die Erde erlebt hatten. Sie hatten bei der Schlacht gegen etwa fünfzehn der unbekannten Schiffe nur zwei Jäger verloren. Einem Jäger war wohl die Energie ausgegangen und wurde mitsamt dem Pilot zurückgelassen. Auch ein bekanntes Verhalten dieser aggressiven Rasse. Nach einer Stunde versetzten sie das Sanktum wieder in den Unterraum und setzten ihren Flug fort.
Es blieb eine knappe Woche still. Unbeirrt sauste das Schiff durch die blaue Zwischenschicht, die Raum und Zeit voneinander trennte, als die Sensoren Energiesignaturen auffingen, die auf Waffenfeuer hindeuteten. Nim ließ sofort den Kurs ändern. Es dauerte einige Minuten, bis sie an ihrem Ziel eintrafen. Erneut war die Schlacht bereits vorbei und nur ein Trümmerfeld übrig. Dieses Mal hatten sie jedoch den laufenden Angriff noch auf ihren Sensoren gesehen. Die Draken, wenn sie es denn auch dieses Mal waren, konnten nicht so weit entfernt sein. Das Schiff wurde leicht geschüttelt. »Wir werden angegriffen.«, merkte Tori an. »Leichte Schäden an der Lackierung. Keine Gefahr.«, erklärte Jiyai.
Die Sensoren wurden auf den Angreifer gerichtet. »Das ist eins der Schiffe, die hier vernichtet wurden. Bauart und Herkunft unbekannt.«, meldete Tori weitere durch seine Konsole ermittelten Informationen: »Ich habe eine Flotte von Draken im Unterraum entdeckt, die sich von hier entfernt.« »Wir haben keine Zeit uns jetzt auch noch mit Kommunikationsproblemen herumzuschlagen. Shizuka, Kurs auf die Drakenflotte setzen. Mit unserem Turbo.« Die Pilotin drückte die Nase nach unten, um die Oberseite vor dem mehr oder weniger ungefährlichen Waffenfeuer zu schützen. Sie fuhr die Antriebsplattform aus dem Lagerraum hoch und steuerte in den Unterraum.
Bereits nach wenigen Minuten hatten sie zu den Draken aufgeschlossen, die den Unterraum bereits verlassen hatten. »Da sind weitere Schiffe im Normalraum. Die Draken greifen sie an.« »Dann wollen wir mal ein Zeichen setzen.«, verkündete Nim und Shizuka drückte das Sanktum durch das ovale Portal. Sofort stürzten sich die Drakenschiffe auf das ihnen wohl ebenfalls unbekannte Schiff. Es hatte zwar noch keinen direkten Angriff gegeben, aber alleine die Tatsache nicht zu wissen, mit wem man es zu tun hat, hatte für sie offensichtlich etwas bedrohliches. Ein Fakt, den die Menschen hier nicht zu fürchten hatten. Ihr Gegner hatte im schlimmsten Fall andere Waffen, aber die Art und die Strategie nach der er handelte, war ihnen bestens bekannt.
»Kanal zu den Draken öffnen und übersetzen.«, forderte Nim seine Mannschaft auf. »Verbindung steht. Nur Audio.«, erklärte Tori. »Wir sind das Ray Team. Diese Schiffe stehen unter unserem Schutz. Stellen sie das Feuer ein oder wir werden sie vernichten.«, erklärte Nim über den offenen Kanal. »Sie eröffnen das Feuer.«, berichtete Tori vom Offensichtlichen, denn das Sanktum wurde bereits von Treffern durchgeschüttelt. »Eine dumme Idee!«, merkte May an und bereitete die Waffenkonsole auf das Gefecht vor.
»Verbindung trennen. Shizuka, bring uns in Schussposition auf das Schiff außen an Steuerbord. May, die Jäger bekämpfen.« Die unzähligen Kugeln strömten in Intervallen aus dem Schiff und zerfetzten die kleinen Schiffe ohne Probleme. »Die Hauptwaffe, jetzt. Nach Backbord eindrehen.« May aktivierte den eckigen Waffenstrahl, während die Drehung, die Shizuka mit dem Sanktum ausführte, den Strahl wie die Klinge eines gigantisches Schwertes durch den Feind trieb. Buchstäblich mit einem einzigen Hieb wurden die Angreifer bis auf einige wenige Schiffe reduziert. Sechs der teilweise deutlich angeschlagenen Kreuzer drehten ab. »Bring uns heran. Wir brauchen einen Datenkern.« Jiyai transportierte den Kern nach Angaben die Tori machte aus einem der immer noch von kleinen Explosionen heimgesuchten Schiffe in einen als Labor genutzen Lagerraum. »May probier mal wie die kleinen Waffen auf die Kreuzer wirken.« Wieder sausten die Kugeln aus dem Sanktum und bohrten sich in die Drakenschiffe.
Es bedurfte jeweils zwei bis drei der Kugeln, um einen Kreuzer komplett zu vernichten. Schließlich war der Kampf zu ende. Shizuka drehte die Front von Atlantis auf die gerade vor dem übermächtigen Feind beschützten Schiffe, während May den eckigen Waffenrahmen wieder im Sanktum versenkte, um friedliche Absichten zu signalisieren. »Ich denke jetzt haben wir uns ein paar Freunde gemacht.«, schmunzelte May zu ihrem Freund hinüber: »Und die Draken wissen wer wir sind und woher wir kommen, wenn sie eine Kontaktmöglichkeit haben. Klever. So finden unsere Leute vielleicht Informationen über uns in den Drakenschiffen auf ihrer Seite.« »Registriere Unterraumportal. Es scheint das unbekannte Schiff von vorhin zu sein.«, gab Tori weiter Statusmeldungen von sich: »Es feuert.« Wieder rumpelte es leicht, bis das Feuer schlagartig eingestellt wurde. »Es scheint als würden die anderen Schiffe mit ihnen kommunizieren.«
»Victor können wir die Signale analysieren und übersetzen?« »Ich habe seit unserer Ankunft die Signale aufgezeichnet. Eine Übersetzung ist noch nicht möglich. Es sind viele verschiedene Sprachen, die teilweise auch mehr holprig gesprochen oder übersetzt erscheinen. Ich denke aber ich kann bereits eine generelle Bild und Ton Kommunikation nach den hiesigen Standards herstellen.« »Dann machen wir das doch.« Es dauerte einen Moment, bis sich beide Parteien sehen konnten. Eigentlich waren es drei Parteien, denn das einzelne Schiff passte nicht zu der gerade geretteten Flotte, die aber selbst ebenfalls aus vier oder fünf verschiedenen Bauformen bestand, die allesamt aber baulich deutlich von ihrem ehemaligen Verfolger abwichen.
Die Aliens waren sichtbar größer als die Menschen. Sie wirkten dürr. Wahrscheinlich kamen sie von einem Planeten mit sehr geringer Schwerkraft. Das zumindest vermutete Nim. Ihre Haut war ein schimmerndes Blau, welches sich bei jeder Bewegung leicht änderte. Es waren zwei zu sehen, während alle fünf Menschen auf der anderen Seite zu sehen waren und für die neuen Freunde bestimmt nicht weniger ungewöhnlich wirkten. Die Sprache, die im Sanktum ertönte war mehr ein Gemurmel. Der Klang eines Didgeridoo von der Erde kam diesen Lauten wohl am Nächsten.
Nach einigen Sekunden intensivem Lautaustausch, der wohl einerseits Dankbarkeit, aber auch das Nichtverstehen des jeweiligen Gegenübers ausdrückte, lag Schweigen in der Luft. Nim senkte noch einmal seinen Kopf höflich und ließ Jiyai die Verbindung trennen. »Vielleicht bringt es etwas den Übersetzer des Sanktums mit den Daten aus dem Drakenkern zu füttern. Im Manta sind bestimmt Informationen wie man ihn ansteuern muss.« »Ich habe die Daten aus dem, von euch Manta genannten, Fluggerät bereits bei eurer ersten Ankunft im Sanktum in meine Datenbank kopiert.«, erklärte Victor: »Ich kann auch die Daten direkt aus dem Modul der Draken extrahieren.« »Dann mach das. Integriere die verzeichneten Sprachen und suche nach dem Ursprung der Draken. Vielleicht bringt uns das nach Hause.«
»Die Schiffe starten in den Unterraum. Laut Sensoren fliegen sie fast in unsere Richtung.« »Gut, dann schließen wir uns an. Der normale Antrieb sollte reichen. Geben wir ihnen eine Eskorte bis wir mit ihnen kommunizieren können.« Das Schiff von der Erde folgte den neuen Freunden, obwohl es noch keinen echten Kontakt gegeben hatte. Ihre ganze Beziehung basierte eigentlich auf einem einzigen Kampf, bei dem die Menschen lediglich positive Absichten gezeigt hatten.
Victor bekam die Aufgabe die Lage zu überwachen, während sich die kleine Mannschaft zu einer Mahlzeit in die selbstgebaute Kantine zurück zog. Ungezwungen berieten sie die Lage. Niemand stellte die bisherigen Entscheidungen auch nur ansatzweise in Zweifel. Obwohl man die Heimreise mit diesen Aktionen weiter verzögerte, so war doch insgeheim allen klar, diese Reise würde auf normale Art niemals zum Ziel führen. Erst als Victor eine Gruppe von Draken meldete, die sich dem Konvoi näherte, begaben sich die selbsternannten Beschützer wieder auf ihre Posten.
Shizuka änderte den Kurs. Wie die Ray Team Waffen, funktionierten auch die Waffen des Sanktums nicht im Unterraum. Die Draken hatten diesen Nachteil nicht und konnten direkt attackieren. »Wir müssen sie für den Kampf in den Normalraum zwingen.«, formulierte Nim das Problem laut aus. Shizuka drehte das deutlich breitere als hohe Schiff zwischen die Draken, die bereits beim Anflug feuerten, hindurch und wechselte in das schwarze All zurück. Es dauerte nicht lange und ihre Feinde taten es ihr gleich. Sie hatten immer noch keine guten Absichten, denn alle Waffen waren auf das strahlend weiße Sanktum gerichtet, während die Jäger starteten. Schon fast automatisch aktivierte May die von ihr kontrollierten Systeme und reduzierte die Zahl der Draken wieder auf Null.
Nim ließ den Turbo abermals zuschalten, um zur Flotte aufschließen zu können. Die Schiffe hatten weder angehalten noch waren sie ihnen gefolgt. Ignorieren beschrieb ihr Vorgehen wohl am Besten, aber der Wahrheit entsprach das sicherlich nicht. Die Menschen wurden mit großer Wahrscheinlichkeit zumindest beobachtet. Nach einer weiteren Stunde sprang die gemischte Flotte wieder in den normalen Raum. Wie Tori schon vorher auf den Sensoren erkannt hatte, warteten weit über einhundert Schiffe an der Sprungposition. Kommunikationssignale fluteten den Raum zwischen den Schiffen. Victor hatte die Sprachen dank des Drakenspeichers weitgehend entschlüsselt und konnte Übersetzungen der Signale auf den Schirm und akustisch in den Raum legen.
Einerseits ging es um das seltsame weiße Schiff in ihrer Flotte, andererseits erwartete man drei weitere Flotten der Draken, die wohl einzelnen Parteien gefolgt waren. Tori konnte zwei der genannten Gefahren im Unterraum ausmachen. Es wurde berichtet, dass einige der eigenen Konvois es nicht bis zum Ziel geschafft hätten. Die Rettung ihrer Reisebegleitung und die damit verbundene Vernichtung diverser Angreifer durch die Menschen blieb nicht unerwähnt. Nim beschloss sich herauszuhalten, bis man sie direkt kontaktierte, was aber nicht passierte. Offensichtlich ging man davon aus mit den unbekannten Lebewesen nicht kommunizieren zu können. Tori meldete die dritte Flotte, die sich der großen Gruppe näherte. Die ersten Draken würden in weniger als zwanzig Minuten einströmen und auch mit dem Sanktum wäre der Verlust von vielen Leben zu beklagen, würde man sie hier in der Menge empfangen und bekämpfen.
»Atlantis an die Vedronn. Bitte melden.«, sendete Tori eine erste Nachricht in die Menge. Ein Schiff antwortete: »Ich bin Kresa, Flottenführer der Vedronn. Wir haben angenommen sie würden uns nicht verstehen.« »Ich bin Nim, Kapitän des Erdenschiffes Atlantis.«, begrüßte auch Nim die neuen Verbündeten: »Wir haben unsere Übersetzer angepasst. Es sind drei Drakenflotten im Anflug. Ich nehme mal an es ist keine gute Idee sie hier zu bekämpfen. Wir fliegen ihnen entgegen und erledigen so viele wir können.« Nim versuchte so einfach zu sprechen wie möglich, was ihm recht schwer fiel. »Ein einzelnes Schiff gegen so viele Draken? Das ist Selbstzerstörung.« Anscheinend hatte der Übersetzer noch kleinere Probleme, aber immerhin, der Sinn stimmte. »Dieses Schiff hat schon ganz andere Hürden genommen.«, erklärte Nim und grummelte Innerlich doch wieder eine Metapher verwendet zu haben.
Momente später war das Sanktum im Unterraum und näherte sich dem ersten Ziel. Die Waffen wurden von den Draken aktiviert und geladen. Shizuka wiederholte die gerade einmal etwas über zwei Stunde alte Aktion und flog zwischen den Schiffen hindurch und aus dem Unterraum, wo sie warteten und die Draken vernichteten. Nachdem die zweite Flotte ebenso ausradiert worden war, stellte Tori eine weitere Flotte auf seinen Sensoren fest, die sich dem Verband näherte. »Wieso haben wir die vorher nicht entdeckt?«, fragte Nim ungehalten. Das brachte den Zeitplan durcheinander. Jetzt würden zwei komplette Drakenflotten die bunt gemischte Flotte der zu beschützenden Schiffe erreichen. Zwar nicht Zeitgleich, aber eine Verschnaufpause würde es sicherlich nicht geben und bei dem Gefecht würden deutlich mehr der im Konvoi befindlichen Schiffe vernichtet werden.
»Da ist ein Quasar. Es scheint als wären die Schiffe bis eben durch die Strahlung verdeckt gewesen.«, erklärte Tori. »May übernimmt das Kommando. Ich nehme Manta X und fliege zur neuen Flotte.«, sprang Nim voller Tatendrang aus seinem Sitz. »Ein Manta gegen eine ganze Flotte?«, war May nicht nur unsicher, sondern auch besorgt um ihren Freund. »Wir haben das Schiff aufgerüstet. Es hat genug Power um ordentlich Schaden zu erzeugen. Außerdem sind die Waffen zu limitiert für einen Kampf in einem Flottenverband. Das Sanktum kann mit seinen Torpedos gezielter und schneller Draken ausschalten, als ein Manta mit den Gravitationsgeschossen.«, malte Nim seinen Plan aus: »Ich kann ihnen da Draußen mit Torpedos richtig Einheizen ohne Kollateralschäden befürchten zu müssen.«
»Sei vorsichtig.« »Klar!", erwiderte Nim nur kurz und war verschwunden. Kaum hatte der Manta, dessen äußere Erscheinung von Shizuka ebenfalls an das neue Aussehen des Sanktums angepasst worden war, den Lagerraum des Sanktums verlassen, setzten beide Schiffe Kurs auf ihre Ziele. Nim erreichte seine Drakenflotte zuerst und lockte sie in ein Minenfeld aus Torpedos, die er direkt nach dem Verlassen des Vortexes abgeworfen hatte. Per Druck auf das Sensorfeld der Mantakonsole detonierten die großen Schiffe. Es blieben nur eine Hand voll übrig. Mit weiteren Torpedos, die er aber in der kurzen Zeit nicht voll aufladen konnte, vernichtete er mit wilden Flugmanövern auch diese Schiffe und deren ausströmende Jäger.
Als die restlichen Vier mit dem Sanktum wieder bei ihrer Flotte ankamen hatten die verbliebenen Drakenschiffe gerade den Normalraum erreicht und begannen mit ihrem Angriff. May eliminierte die Jäger mit einem Fingerdruck auf ihren Schirm. Offensichtlich war es den Draken gelungen Informationen über die Waffen des Sanktums zu sammeln. Shizuka schwang das massive Schwert durch die großen Schiffe, aber viele konnten dem Angriff ausweichen. Unzählige Waffen trafen Atlantis. May musste auf ihre Torpedos zurückgreifen, denn neben den großen Brummern begannen nun auch die kleinen Jäger auf das Sanktum zu feuern. Die Hauptwaffe war nutzlos, weil die Pilotin durch ihre Ausweichmanöver keinerlei Ziele für den starr nach vorne gerichteten Strahl bieten konnte.
Mehrmals wurde die Besatzung aus ihren Sitzen gehoben. »Was war das?«, fragte May. »Hüllenbruch auf allen Decks. Wir haben Glück das Manta X nicht in seinem Lagerraum war.« »Schäden nehmen rapide zu. Diverse Systeme wurden bereits von der Energieversorgung getrennt. Eine automatische Reparatur ist an vielen Stellen nicht möglich.« May feuerte weiter die kleinen Kugeln auf die Feinde ab, die ihnen aber oft auswichen und ausnutzten, dass die kleinen Waffen automatisch abschalteten, wenn Gefahr bestand die eigenen Truppen zu treffen. Auch ihre Salven feuerten in deutlich langsamerer Folge, da diverse Waffensysteme nicht mehr in Funktion waren.
Das Sanktum war bereits schwer angeschlagen, bevor die letzten Jäger vernichtet wurden. Der Antrieb war schon länger ausgefallen und hatte weiteres Ausweichen unmöglich gemacht. Die komplette Scheibe war durchlöchert. Victor war zwischen einigen Angriffen einfach verschwunden. Jiyai hatte auch über ihre Konsole keinen Kontakt mehr zur künstlichen Intelligenz. »Sind die Unterraumreaktoren stabil?«, fragte May die Frage aller Fragen. Wenn es dort ein Problem gab, dann waren nicht nur sie erledigt, sondern die gesamte Flotte. Immer noch rumpelte das Schiff, wenn große Trümmer der Drakenschiffe auf die Oberfläche schlugen. »Kann ich nicht sagen. Alles was ich noch liefern kann sind drei der Äußeren und etwa 24 der internen Kameras. Aber der Kern ist ziemlich Massiv. Da reichen sicherlich auch ein paar direkte Treffer nicht aus.«, erklärte Jiyai.
Tori bestätigte keinerlei Kontrolle mehr über andere Sensoren zu haben und Shizuka hatte keinerlei Möglichkeit das Schiff auch nur ein wenig zu bewegen. »Wenn wir alle Draken erwischt haben, sollten wir Zeit für die Reparatur haben.«, erklärte May. »Ich habe keine Statusmeldungen von den Reparatursystemen, aber ich denke sie werden bereits an den Schäden arbeiten. Die agieren ja sonst auch komplett eigenständig, wenn es Schäden gibt. Sobald ich wieder die Kontrolle habe, kann ich bestimmte Bereiche bevorzugt behandeln, aber momentan können wir nur warten.«, führte Jiyai die Lage weiter aus. »Kommunikation?« »Keine Chance«
Jiyai legte die verbliebenen Kamerasignale auf die Kommandobrücke. Das Sanktum rotierte leicht und die Bilder auf dem Bildschirm taten es ihm logischerweise gleich. Kleinere Schiffe und Transporter waren unterwegs und sammelten offensichtlich Rettungskapseln der zerstörten Schiffe ein. »Was machen die da?«, fragte May und deutete auf einen vergrößerten Ausschnitt. »Die Kapsel driftet auf die Sonne zu, oder?« »Wir können nicht helfen, bevor sich unsere Systeme repariert haben. Momentan können wir nicht einmal gefahrlos den Raum verlassen.« Wieder bebte das Sanktum. »Das klang jetzt aber anders. Was war das?« »Das war kein Trümmerteil.« Das Sanktum schüttelte sich erneut. »Da! Eines der Schiffe schießt auf uns!« »Was haben die vor? Wollen die wissen ob wir noch leben?« »Das wäre eine wirklich tolle Methode.«, muffelte Tori. »Oder sie probieren, ob wir uns noch wehren können, wenn sie das Schiff jetzt entern. Löcher haben wir ja genug.«, merkte auch May negativ an. Das Bild drehte sich wieder vom Geschehen weg.
Nim brauchte ebenfalls eine geschlagene halbe Stunde, bis der Repligen seinen Unterraumantrieb repariert hatte. Als er eintraf sah er das optisch fast komplett zerstört wirkende Sanktum. Eines der Kriegsschiffe feuerte etwas lustlos auf das wehrlose Schiff, während er über die Kommunikation hörte, wie andere Schiffe offensichtlich versuchten es aufzuhalten. Verstehen konnte er die Gespräche, ohne die Übersetzung über Victor zu leiten, nicht. Einige kleinere Schiffe bewegten sich in die Schussbahn und wurden bei dem Versuch das Sanktum zu schützen, schwer beschädigt. Nim feuerte direkt eine Salve Torpedos auf das Angreiferschiff. Reden war zwecklos. Ohne das Sanktum würden sie ihn sowieso nicht verstehen. Er hoffte nur die kleinen bedrohlichen Kugeln an ihrem Rumpf würden für sich sprechen. »Was leuchtet da?«, fragte Jiyai, als die Kamera wieder das angreifende Schiff zeigte. »Nim! Das sind Ray Team Torpedos!", atmete May nicht nur wegen der sich damit entspannenden Lage, sondern auch wegen der abfallenden Sorge um Nim auf.
»Könnt ihr mich hören? Alles Ok, bei euch?«, hörten sie Nims Stimme ungewohnt in ihren Köpfen. Das Ray Team Kommunikationssystem hatten sie auf dem Sanktum nie benutzt, sondern immer nur Durchsagen gemacht, wenn jemand benötigt wurde. »Gutes Timing. Wir sind in Ordnung, aber das Sanktum hat etwas abbekommen. Wir haben keinerlei Kontakt zu den Schiffssystemen. Kannst du mal prüfen ob die Reparatursysteme laufen?« »Die Reaktoren sind aktiv und stabil. Ich erkenne dynamische Änderungen im Energiefluss. Es scheint als würde das Schiff sich vom Kern aus nach Außen reparieren.« »Das macht Sinn.«, merkte Jiyai an. »Da ist eine Art Rettungskapsel, die auf die Sonne zufliegt. Wurde die geborgen? Wir konnten nicht helfen und auch nicht wirklich sehen was damit passiert ist.« »Ich sehe mal nach. Die Torpedos werden das Schiff sicherlich in Schach halten.«
Einige kleine Schiffe hatten vor Nims Eintreffen versucht mit einer Art Harpune die Kapsel einzufangen, aber die Gravitation der Sonne hatte den Beschuss immer am Ziel vorbei gelenkt. Ein weiterer Rettungsversuch seitens der Aliens war nicht zu erkennen. Die Anziehung der Sonne schien das Schicksal der Kapsel und deren Insassen bereits besiegelt zu haben.
Nim startete mit dem weißen Ray Team Schiff in den Unterraum. Wenige Augenblicke später öffnete sich ein zweites Portal direkt vor der Sonne. Durch die Anziehung hatte der Zylinder, in der Nim zwölf Lebensformen ausmachte, schon deutlich an Geschwindigkeit gewonnen. Der Pilot aktivierte den Greifstrahl und richtete ihn auf zwei von drei Stellen, die für einen ähnlichen Zweck gedacht schienen und entsprechend verstärkt waren. Mit einem Rums zog die Kapsel nun ihrerseits am Manta. Die Triebwerke aufdrehend bewegte sich der Manta nicht mehr. Durch die Masse beider Objekte genährt wurden sie aber schon wenige Sekunden später wieder von der Gravitation der Sonne angezogen und beschleunigten langsam. Die für den Greifstrahl nötige Energie erlaubte es Nim nicht den Antrieb voll zu aktivieren, ohne das Energiesystem des Mantas zu überlasten. Er wurde nun auch zur Sonne gezogen.
Besorgt sahen seine Kollegen für einen kurzen Moment wie er mit der Gravitation und der Kapsel kämpfte. Dann schwenkte die Kamera wie so oft zuvor aus dem Sichtfeld. Nim rotierte seinen Manta. Die Vorderseite zeigte nun direkt auf die Kapsel. Er schaltete den Antrieb und den Greifstrahl ab. Getrennt von einander beschleunigten die beiden ungleichen Objekte nun wieder deutlich sichtbar auf die unbarmherzige Hölle zu. Er hatte sich an die Rettung von Ray Team One erinnert und führte ein ähnliches Manöver durch. Das Loch in den Unterraum öffnend schob er die Kapsel förmlich aus dem Normalraum. Im Unterraum fixierte er das schon leicht verformte Objekt wieder am Manta, bevor er auf der anderen Seite der Sonne und mit großem Abstand wieder in den normalen Raum hinüber wechselte. Mit dem Paket im Schlepp tauchte das kleine weiße Schiff hinter dem strahlenden Himmelskörper auf und steuerte langsam wieder auf die Flotte zu.
Kleinere, an den vorherigen Rettungen beteiligte, Schiffe näherten sich und nahmen ihm die Fracht ab. Nim steuerte wieder auf das eigene Basisschiff zu, nicht ohne das gigantische Gemälde unter ihm noch einmal eindringlich zu begutachten. Shizuka hatte wirklich hervorragende Arbeit geleistet, auch wenn derzeit große Teile davon zerschrammt, verbeult oder schlichtweg mit der gesamten Außenhaut verschwunden waren.
Der Manta setzte sanft an einer unbeschädigten Stelle der großen Münze auf und Nim transportierte sich direkt mit dem Ray Team Transporter auf die Kommandobrücke des Sanktums. »Da lässt man einmal die Frau fahren und schon ist das Raumschiff bis zur Unkenntlichkeit demoliert.«, kommentierte er die Lage. »Die Frau fährt doch immer.«, deutete May einfach auf Shizuka. »Ich bin jedenfalls froh euch alle munter zu sehen. Als ich auf meine Rufe hin keine Antwort bekommen habe, habe ich mir Sorgen gemacht und als ich dann den Trümmerhaufen gesehen habe wurde mir richtig Angst und Bange.«
»Warum werden wir nicht mehr angegriffen? Die sind doch in der Überzahl?« »Das war wohl die Einzeltat eines Kapitäns. Mehrere andere Schiffe haben sich schützend vor das Sanktum begeben und wurden bei der Aktion teilweise selbst schwer beschädigt. Ich konnte den Funkverkehr ja nicht verstehen.« »Es gibt also den Hunger nach Macht also nicht nur bei den Menschen.«, merkte May in Gedanken an. Jiyais Konsole piepte und sie begann hastig darauf herumzutippen. »Einige Basissystemfunktionen sind wieder verfügbar. Datenbanken, Kurzstreckenkommunikation, interne Sensoren und Türsysteme.«, verkündete sie: »Weitere Reparatursysteme auf dem gesamten Schiff haben mit der Arbeit begonnen. Dauer der Reparatur kann ich natürlich nicht sagen, bis alle Systeme wieder aktiv sind, aber alle derzeitigen Arbeiten sind in 17 Stunden abgeschlossen.«
»Dann würde ich sagen nutzen wir jetzt alle kurz das kleine Bad im Manta und ziehen uns etwas Essen aus dem Automaten. Danach werde ich mit dem Manta weiter Aktivität zeigen. Wir sind schließlich noch da.« Nim nahm seinen Patrouilliendienst wieder auf, während die anderen eigentlich nur entspannten. Es gab in dem kleinen Raum und, wenn man es genau nahm, auch im ganzen Schiff nichts anderes zu tun. Bis auf Jiyai lag die Besatzung auf dem Fußboden und prüfte die Augenlider von Innen auf Dichtigkeit. Die kleine Ärztin dirigierte die Reparatur hier und da, um wichtigeren Systemen den Vorrang zu geben.
Die Lebenserhaltung war wichtig, aber der Innenausbau eines unbenutzten Frachtraumes nicht. Nim führte nur wenig später über die wieder funktionierende Kommunikation des Sanktums Gespräche mit den Anführern der verschiedenen Völker. Man bedauerte den Zwischenfall mit dem Kriegsschiff und beteuerte den federführenden Kapitän seiner gerechten Strafe zuzuführen. Natürlich war man auch Dankbar für den Einsatz, denn schließlich kannten sich die Gruppierungen eigentlich gar nicht. Es kam zu einem regen Austausch von Informationen. So lernten auch die Aliens, warum das einzelne Schiff der Menschen geholfen hatte, ohne darum gebeten worden zu sein.
Es dauerte zwei Tage, bis das Sanktum wieder flugbereit war und Kurs auf die Erde nahm. Weitere vier Tage dauerte es, bis alle weniger wichtigen Systeme komplett funktionsfähig waren. Das runde Schiff operierte wieder so normal, als wäre nie etwas passiert und die gewohnte Normalität trat in den Vordergrund.
»Neue Meldung vom Orakel. Ein Kreuzfahrtschiff im Atlantik ist in Seenot geraten. Ich habe die Koordinaten abgeglichen. Das Schiff steckt bereits mitten in dem gewaltigen Sturm und der Wellengang nimmt stegig zu.«
»Die Krankenstation kann unmöglich alle Personen aufnehmen und ist nicht für eine Bergung dieser Dimension ausgerüstet. Was ist mit der Mystery?« »Da habe ich etwas besseres. Trish an Tin, wie laufen die Tests? Wir brauchen ein großes Schiff für die Rettung eines Kreuzfahrtschiffes in einem Sturm.« »Die Untersysteme sind noch nicht alle bereit, aber es sollte für diesen Zweck genügen.« Sab wendete sich wieder ihrer Konsole zu: »Gut, dann haben wir einen Plan. Sab an anfliegende Gleiter. Anflug abbrechen. Landung auf der Liberty. Neue Koordinaten folgen.«
»Honk an Ray Team One. Liberty?« »Abwarten. Jaque ich hätte gerne interne Aufnahmen der Piloten in den nächsten 20 Sekunden.« »Zustimmung eines zweiten Kommanders erforderlich.«, erklärte sich Jaque über das Deck. »Du bist fies.«, lachte Trish: »Zustimmung erteilt.« Der Raum vor den, an den Zielkoordinaten wartenden, Gleitern begann zu wabern und das neuste Trägermodell der Ray Team Flotte enttarnte sich. Um ein Deck aufgestockt, ein breiterer Rumpf und deutlich breitere Hangars ließen das Schiff noch gewaltiger als seine älteren Schwesterschiffe wirken. Die Gesichter der Piloten sprachen Bände und genau diese wollte Sab sehen. Sie hatte es zu ihrem Projekt ernannt Bilder des Personals speziell für Ausweise zu sammeln, die es nie geben würde. Jede der Akten hatte bereits ein ordentliches Bild angeheftet, aber Sab wollte schräge Bilder. Peinliche Bilder. »Tin an Gleiter. Landung im Backbordhangar freigegeben.«
»Das neue Schiff ist wirklich beeindruckend.«, ließ sich selbst Trish zu einem Kompliment hinreißen. »Wenn dieser Einsatz vorbei ist können wir damit beginnen die anderen Schiffe umzurüsten.«, erklärte Tin über die Standleitung zum neusten Ray Team Schiff. »Das ist möglich?« »Es sind etwa 86 Schnitte nötig, aber die Repligen können die anderen entsprechend modifizieren.«, erklärte Tin weiter über Funk, während die kleinen Gleiter im Hangar aufsetzten. »Ja, May wird bei ihrer Rückkehr nicht begeistert sein, wenn ihr Lieblingsschiff nicht mehr unser Flagschiff ist.«
»Hat einer der Piloten Kommandoerfahrung auf einem Träger?«, erkundigte Tin sich bei den anderen. Sie selbst hatte bisher weniger mit aktiven Missionen zu tun und auch wenn sie, was Möglichkeiten und Technikkenntnis anging, ganz weit vorne war, so brauchte sie ein zweites Paar qualifizierte Hände und wichtiger einen strategisch denkenden Kopf. »Niesha ist an Bord. Sie hat schon oft als stellvertretender Kapitän im Einsatz gedient und sich beeindruckend geschlagen.« »Gut. Niesha auf der Brücke melden. Alle anderen Piloten bereiten sich im Steuerbordhangar auf ihren Einsatz vor: Es geht um die Bergung und Erstversorgung von Passagieren auf einem havarierten Kreuzfahrtschiff. Nehmt also die Autodocs eurer Gleiter und Mantas mit.«, tönte Tins Stimme jetzt auch auf dem gesamten Schiff.
»Jaque, ich hätte jetzt gerne eine Bildsequenz von Sab. Nur Trish per Konsole um Erlaubnis befragen.« Trish hätte fast laut gelacht, als sie die Anfrage des Computers bekam. Sab würde mit ihren eigenen Waffen geschlagen. »Wir machen einen Sprung. Das ist schneller und sicherer als der direkte Vorstoß in die Atmosphäre. Öffne Portal.« Ein großes ovales Portal öffnete sich vor dem massiven Schiff. Sabs Blick sprach Bände und genau darauf hatte Tin spekuliert. Bisher war nur das Sanktum in der Lage ein derartiges Portal in den Unterraum zu stoßen. »Aber? – Wie?«, brachte sie nur abgehackt heraus und lieferte Jaque genau die Gesichtsaufnahmen von Sab die Tin haben wollte. »Ist technisch deutlich aufwändiger, spart aber massiv Energie bei der flachen Bauweise unserer Schiffe, weil wir den ausladenden runden Teil des Vortextes nicht mit öffnen müssen.« »Und das ist sicher?« »Ja, bei einem Fehler fällt das System in den alten Modus zurück.«, erklärte Tin und verschwand mit dem gewaltigen Schiff im roten Tunnel.
Direkt im Sturm öffnete sich das Loch in den Unterraum. »An alle. Es wird jetzt etwas holprig. Niesha kontrolliere Wind und Wellenbewegungen. Wir müssen da näher heran.« »Was ist mir der automatischen Kurskontrolle?« »Die komplette Systemsoftware ist noch noch auf die alten Schiffsdimensionen eingestellt und nicht kalibriert.« »Wir könnten uns statisch mit den Greifstrahlen an das Ziel anhängen, uns durch reduzierte Stabilisatoren automatisch dem Wackeln anpassen und uns heranziehen.« »Gute Idee. Dann können wir die Schilde um das angeschlagene Schiff legen und das Paket als ganzes stabilisieren.« Niesha am Steuer führte den Plan aus, stieß aber auf ein Problem. »Es geht nicht. Uns fehlen 1,26 Meter. Das Schiff passt nicht unter den Schild.« Tins sah sich die Sensordaten an. Sie aktivierte eine der hinteren Kanonen und richtete sie nach vorne aus. Mit einer langsam schwenkenden Salve rasierte sie Antennen, Radar und andere Aufbauten vom Schiff. »Abstand um weitere zwei Meter reduzieren. Jetzt sollte da Platz sein.«
»Wir sind drin.« »Gut, ich gehe mit der Rettungstruppe an Bord und koordiniere die Rettung mit der Besatzung. Du hast das Kommando.« Tin landete mit der Rettungstruppe auf dem Schiff und marschierte direkt zur Brücke, während ihre jüngeren Kollegen in dem verwinkelten Kreuzfahrschiff nach verletzten Personen suchten. Das riesige Raumschiff gab mit seinen Schilden von oben Deckung. Regen, Wind und Wellenberge hämmerten auf den Schild ein, aber beide Schiffe blieben weitestgehend still in ihren Positionen.
»Oh, nein. – Was ist das?« Niesha betrachtete die Sensordaten. »24 Meter? – Eine Monsterwelle! Scheiße!« Hastig inspizierte sie die Schiffssysteme. »Die Energie reicht nie. – Computer, Greifstrahlwerfer und Antrieb haben höchste Priorität. Alle anderen Unter– und Hauptsysteme mit Ausnahme dieser Konsole abschalten und Energie in den Antrieb umleiten.« Der Wellenberg war nur noch wenige Sekunden entfernt. Würde er einschlagen, würden die Schiffe wie Gummienten in einem Wasserfall umhergeschleudert und sich dabei gegenseitig zerstören. Die Gewalt die mit dem Wasser auf sie zu rollte war nicht zu stoppen.
Das große Ray Team Schiff begann das Schildei unter Wasser zu drücken, aber weit kam sie nicht, weil der Gegendruck durch das Wasser und der Auftrieb durch den enthaltenen Sauerstoff zu hoch war. »Das reicht immer noch nicht. Mist! Computer, alle Gleiter und Mantas in den Energiediagnosemodus versetzen. Energie der Flieger in die aktiven Schiffssysteme integrieren. Flughöhe weiter reduzieren.« Der riesige eierförmige Schild mit den beiden Schiffen senkte sich nun schnell unter das, im Sturm nur schwer auszumachende, Meeresniveau und setzte seine Tauchfahrt weiter fort.
»Wir sinken?«, war der erste Offizier des Kreuzfahrschiffes nicht sicher was er da sah. Der Meeresspiegel war schon deutlich über dem Schiff, aber gefühlt hatte sich der Sturm seit Minuten bis auf ein leichtes Ruckeln komplett aufgelöst. Tin hatte sich gerade vorgestellt und weitere zur Rettung nötigen Informationen eingeholt, als sie ebenfalls von dem ungewöhnlichen Tauchgang überrascht wurde. Mehrmals hatte sie bereits versucht ihr Schiff zu erreichen. Vergeblich. Die im Schiff verteilte Rettungstruppe bemerkte größtenteils nichts vom ungeplanten Ausflug in die Unterwasserwelt. Es wurde Raum für Raum und Kabine für Kabine abgesucht. Menschen behandelt und Informationen zur Lage gegeben, die so nicht ganz aktuell waren.
»Was ist da unten los?«, versuchte auch Trish Kontakt aus dem All herzustellen, aber es war vergebens. »Ich registriere eine Monsterwelle, die ihre Position gerade kreuzt.«, verkündete Jaque in neutralem Ton als würde er gerade die Lottozahlen verlesen. »Was ist mit den beiden Schiffen?« »Kein Kontakt zur Liberty. Die Sensordaten zeigen ihre Position 38 Meter unter dem Meeresspiegel. Statische Energie in der Atmosphäre und Energiespitzen aus dem Sturm stören offensichtlich die Sensoren.«, vermutete der Stationscomputer fehlerhafte Daten.
Mit einem mächtigen Rumpler rollte die Welle über die Blase hinweg, die in mehr als 30 Metern tiefe parkte. Sorgenvoll betrachtete Niesha die Konsole. Wenn der Energienachschub jetzt abreißen und der Schild zusammenbrechen würde, dann wäre alles aus. Gewaltige Wassermassen würden mit einem Schlag auf die Schiffe treffen und sie zerquetschen wie eine kleine Blechdose. Sie wartete noch einen Moment bevor sie den Antrieb wieder zum kontrollierten Auftauchen der Schiffe nutzte und die alte Konfiguration der Technik an der Wasseroberfläche wieder herstellte. »Verdammt, was ist da oben los?«, hörte sie Tin ungehalten aus der Kommunikation fluchen, kaum das diese wieder mit Energie versorgt wurde.
»Niesha an Tin. Eine gewaltige Monsterwelle hätte uns fast getroffen. Ich hatte keine Wahl als beide Schiffe zu versenken, um eine Kollision zu vermeiden. Ansonsten hätte es eine Katastrophe gegeben.« »Verstehe.«, kam unhöflich aus der Kommunikation und Niesha wusste die Sache war noch nicht ausgestanden. Sie hatte bereits Kurs aus dem Sturmgebiet gesetzt und die Liberty zog in ihrer Blase das große Schiff unter sich mühelos durch den Sturm.
Als die Liberty dreißig Minuten nach Abschluss der Mission an der Station angedockt war, was wegen der neuen Ausmaße sehr viel Präzision beim Einparken erforderte, beorderte Tin die Pilotin in das Büro des Schiffes. Sie verwieß auf einen der Stühle. »Woher wusstest du das die Energie für das Manöver ausreicht? Ich habe es gerade durchgerechnet und eigentlich hätte es gar nicht funktionieren dürfen.« »Das hat meine Berechnung auch ergeben.«, begann sie zu erklären: »Aber ich hatte keine andere Wahl. Es gab keine alternative Lösung mit positivem Ausgang. Es waren nur etwa 15 oder 20 Sekunden bis zum Einschlag.«
»Du hast es ausgerechnet? Wann?« »Bevor ich die Entscheidung für den Tauchgang getroffen habe. Das andere Schiff über den Sturm zu heben war logischerweise keine Option.« »Basierend auf welchen Angaben?« »Den Reaktoranzeigen. Ich verstehe nicht wo jetzt das Problem liegt.«, verteidigte Niesha ihre Handlungsweise. »Die habe ich auch benutzt und etwa 15 Minuten gebraucht um zu berechnen wieviel Energie für den Tauchgang nötig ist. Schildegröße, Wasserdruck, Greifstrahl, Masse der Schiffe und – und – und.« »Die Schiffsmasse habe ich natürlich auf Basis der Mystery schätzen müssen, da ich keine genauen Daten hatte.« Tin drehte den holographischen Bildschirm um 180° »Oh, ich lag 1,4 Tonnen zu hoch. Vielleicht habe ich mich bei der Masse des anderen Schiffes auch verschätzt.« Sie zuckte mit den Schultern.
»Ich habe die genauen Werte mit dem Scanner ermittelt. Die Energie der Liberty hätte niemals für diese Aktion gereicht. Selbst wenn die Schiffe zehn Tonnen leichter gewesen wären.« »Ähm – Ich habe die unbenutzten Gleiter und Mantas in den Hangars in den Energiediagnosemodus versetzt und ihre Reaktoren mit dem Schiff koppeln lassen. Das hat die fehlende Energie geliefert.« »Auch auf die Gefahr hin mich zu wiederholen. Das hast du alles in 15 Sekunden gemacht?«
»Ja, wann denn sonst?« Tin schüttelte den Kopf. »Wow. Jetzt verstehe ich was Sab vorhin meinte. Ich werde dir aktuelle Pläne und Daten der Liberty zukommen lassen. Wenn die restlichen Umbauten fertig sind kannst du sie mit einer Testbesatzung testen.« »Ich soll das Schiff testen?« »Natürlich, du bist der neue Kapitän. Also ja.« Niesha schluckte und ihr Blick war unsicher. »Du hast heute in 15 Sekunden eigenständig über 3500 Leben gerettet. Ich denke einen besseren Kapitän finden wir nicht.«
Shizuka öffnete zögerlich die Tür. »Ist etwas passiert?« May lächelte. Die Ähnlichkeit zu ihrer älteren Schwester war manchmal einfach zu offensichtlich. »Nein, ich wollte zur Abwechslung privat mit dir reden. Darf ich hereinkommen?« Das Mädchen deutete in den Raum, der einem Stationsquartier bis ins letzte Detail ähnelte. Lediglich das schwarze All, wenn man sich nicht gerade im Unterraum befand, auf den falschen Fenstern zeigte nie die Sonne, die Erde oder den Mond. Es standen diverse Bilder, Farben und eine Staffelei im Zimmer.
Auf dem noch unfertigen Bild war eines der neuen Aliens vor einem technologisch wirkenden Hintergrund zu sehen. »Ihre komische Farbe bekomme ich nicht richtig hin.«, merkte die Künstlerin fast entschuldigend an, als sie den interessierten Blick ihrer Kollegin bemerkte. »Das kann ich verstehen. Die Unebenheiten von ihrem Knochenbau reflektieren ziemlich interessant auf ihrer Oberfläche.« »Ja!«, fühlte sich Shizuka verstanden. Einige Bilder von Neela stachen ihr ins Auge. May verglich das Mädchen aus ihren Erinnerungen mit dem gemalten Abbild. Shizuka hatte selbst kleinere Details ziemlich gut getroffen. Hatte sie eine Vorlage gehabt, oder alles aus ihrer Erinnerung gezeichnet?
May wollte gerade eine lobende Bemerkung zu den Bildern machen und hatte den Kopf zu ihrer Gastgeberin gedreht, als ihr die Tränen auffielen, die sich wohl durch das Bild in Mays Hand gelöst hatten. Der kleine Kommander schloss das Mädchen in eine feste Umarmung. Sie musste gar nicht über den Grund für die Tränen nachdenken. Schon länger hatte sie vermutet ihre junge Kollegin würde ihre Gefühle verstecken und in sich hineinfressen, um nicht schwach zu wirken. »Es fühlt sich alles so falsch an, obwohl es doch richtig ist.«, brachte sie kaum verständlich schluchzend heraus.
Obwohl May die Worte intensiv analysierte, konnte sie keinen Sinn in ihnen finden. »Was meinst du?« Shizuka schniefte und wischte sich die Tränen mit ihrem Shirt von der Backe. May führte das Mädchen sanft zum Sofa und in eine sitzende Position. »Ich weiß wir werden nie nach Hause kommen, egal wie schnell und direkt wir fliegen.«, war sie sich des eigentlichen Problems bewusst: »Trotzdem tut es immer so weh, wenn ich das Sanktum in eine andere Richtung steuern oder anhalten muss, damit wir anderen Rassen helfen können.«
Das Dilemma war für alle zum täglichen Problem geworden. Die Hoffnung durch Aufmerksamkeit vielleicht Hilfe und einen Fingerzeig für eine schnellere Heimreise zu bekommen, war gering und schwand mit jedem Tag, den sie in der Ferne verweilten. Objektiv betrachtet war es aber auch die einzige Möglichkeit die sie hatten. Dazu brauchte man keine Sensorwerte und komplizierte Berechnungen. »Das Problem haben wir alle. Es ist dein Herz.«, erklärte May: »Unsere Herzen ziehen uns zu den Menschen die wir lieben. Das kann man nicht so einfach abschalten.«
»Du hast Nim.« Shizuka war abgeklärt und brachte diesen kleinen Halbsatz vorsichtig und ohne den geringsten Hauch von Vorwurf über ihre Lippen. Das Mädchen hatte die Situation ihrer Kollegen offensichtlich schon durchdacht und eine Art Rangliste aufgestellt. Tori und sie hatten das größte Opfer gebracht und ihre Liebe zurückgelassen. »Ich vermisse auch eine Menge Leute. Meine Eltern. Suki, Mergy, Tin und Trish, Doc, Sandra, Sab, Sor und sogar Jaque. Alles Personen die auch Teil meiner Familie sind.«
»Sab auch?« May schmunzelte. Wieder eine Ähnlichkeit zu ihrer Schwester. »Sab hat es nicht so mit Menschen. Darum vergrault sie diese rein präventiv, aber sie ist eigentlich ziemlich nett.«, blieb May sachlich, obwohl der Gedanke an die geliebten Menschen auch in ihr mehr Gefühle weckte, als ihr gerade lieb war. »Auf der Station haben die Anderen bestimmt gerade mächtig Probleme mit Ihr. Sie wird Jiyai vermissen und bei jeder Gelegenheit Dampf ablassen.«
»Glaubst du sie wird auf mich warten?« »Sab?« Shizuka ließ die Luft aus ihrer Lunge schnaubend durch die Nase entweichen. »Nein, Neela!«, stellte sie die Frage, welche sie wohl schon länger beschäftigte, in den richtigen Kontext. »Sie liebt dich, warum sollte sie nicht auf dich warten?«, versuchte May ihr die Angst zu nehmen. »Aber wenn wir Jahre weg sind?« Ihre Stimme klang traurig und fast schon verzweifelt. May nahm das Mädchen erneut in den Arm. »Ich denke es gibt einen Zeitpunkt, an dem das Leben einfach weiter gehen und man loslassen muss.«, begann May zu erzählen: »Beide Seiten sind einsam. Damals war meine Mutter sogar dabei sich in Mergy zu verlieben.« Shizukas Augen schnappten auf.
»Naja, Mergy hatte zu dem Zeitpunkt schon lange nur Augen für Anja. Als mein Vater plötzlich wieder auftauchte, waren auch die alten Gefühle meiner Mutter wieder da.« So recht konnten die Worte von May nicht fruchten. Sie enthielten zwar einige ziemlich private Dinge und zeugten von Vertrauen, aber das eigentliche Problem wurde wieder einmal nur durch Hoffnung angegangen. Sie flogen jetzt schon tagelang zwischen den verschiedenen Systemen hin und her. Hatten tausende von Drakenkreuzern vernichtet und den neu gewonnenen Freunden Waffentechnologie gegeben, die auf Seemtechnologie basierte. Sie ließ sich relativ leicht herstellen und erlaubte eine flexible Anpassung an die Abwehr der Feinde. Trotzdem war die Lage nicht sehr hoffnungsvoll. Es kamen immer neue Schiffe und selbst wenn man zwei oder drei Planeten befreite, so waren die wenigen Schiffe zur Verteidigung einfach nicht genug.
Es war ein Krieg an multiplen Fronten, den man wohl nur gewinnen konnte, wenn jede Rasse ein Sanktum hätte. Die immer wieder einströmenden Draken waren wie Mücken an einem See. Einen Winter zur Verschnaufpause gab es hier allerdings nicht. »Ich weiß du zweifelst an unserem Plan.«, begann May erneut zu erklären: »Aber ich bin mir sicher er funktioniert.« »Wieso kannst du da sicher sein?« Shizuka verstand nicht, wie das funktionieren sollte. Es war wie die Nadel in einem Heuhaufen zu suchen. Nur gab es eben tausende Heuhaufen und alle waren am Wasser gebaut und die dort schlüpfenden Mücken machten die Suche unerträglich. »Weil wir noch hier sind!« Diese "Erklärung" war für Shizuka offensichtlich keine, was ihre jüngere Kollegin auch nicht weiter verwunderte. »Ich bin das Orakel oder die Hüterin der Zeit. Wenn sich meine Zukunft ändert, dann ändert sich meine Vergangenheit. Dann ändert sich unser aller Vergangenheit.«
Eine kleine Pause in ihrer Geschichte ließ den jungen Pilot die bisherigen Daten verarbeiten. »Ich sende die Orakeldaten aus der Zukunft durch ein Seemschiff, welches im Erdraum in einem Zeitstrudel steckt. Daher muss ich Zuhause sein. Sollte ich nicht dort sein, wenn das Schiff in 70 Jahren oder so erscheint, dann sende ich auch keine Botschaften. Alles ändert sich auf den ursprünglichen Verlauf, der so schlecht endet und mich dazu bringt die Orakellösung zu erfinden.«
Wieder machte der Kommander eine kleine Denkpause. »Mergy meinte mal ich könnte das Universum in eine Art Endlosschleife stürzen, aber ich denke die Zeit wird das Problem auf ihre Art lösen. Wir kommen nach Hause. Vielleicht nicht morgen, nächste Woche oder nächsten Monat, aber es wird mit Sicherheit keine 70 Jahre dauern, weil ich das durch eine Orakelbotschaft verhindern würde.«
»Dann hättest du uns auch vor dem Sprung warnen können.«, schien Shizuka die Position, die May in der Geschichte der Menschen einnahm, langsam zu verstehen. »Ja, oder ich könnte auch den Rückweg in einer Botschaft nennen.«, ließ May durchblicken selbst schon über diese Dinge nachgedacht zu haben. Die Augen von Shizuka weiteten sich. Das war eine zweite Möglichkeit, die May in ihrer Position als Orakel hatte, um sie zu retten. »Und warum tust du es nicht?« Der kleine Kommander lächelte. »Weil ich nicht jede Kleinigkeit ungeschehen machen kann. Wir müssen unsere Entscheidungen selbst tragen. Handlungen müssen auch weiterhin eine Konsequenz haben, sonst werden sie bedeutungslos. Wir wären bedeutungslos und ich hätte eine Gott gleiche Macht. Niemand darf so eine Macht besitzen. Das ist falsch.«
Die Augen des Mädchens stellten die Funktion ein und man konnte erkennen, wie sie sich eine Welt ausmalte, in der jeder Fehler korrigiert werden konnte. »Wenn du etwas in deiner Vergangenheit ändern könntest, was wäre das?« May wusste mit dieser Frage begab sie sich auf sehr dünnes Eis. »Ich würde nicht alleine in die Stadt gehen und bei Suki bleiben.« Die schnelle Antwort bestätigte Mays Vermutung. »Das würde alles besser machen?« »Ja, natürlich!«, wurde Shizuka leicht ungehalten. »Was würde danach passieren? Du würdest nicht entführt. Suki würde nie beim Ray Team landen. Du natürlich auch nicht. Die Draken würden die Erde angreifen. Suki wäre nicht da und Mergy würde nicht rechtzeitig einen Kampfgleiter bekommen. Die meisten Menschen würden sterben und der Rest müsste bis zum Tod für die Draken arbeiten.«
Eine kleine Pause ließ der kleinen Pilotin abermals Zeit die Worte ihrer erfahrenen Kollegin zu verarbeiten. »Ich habe es damals schon deiner Schwester erklärt. Wir sind alle Teil einer großen Maschine. Jeder hat seinen Platz und seine Aufgabe. Wenn ein Teil geändert wird, dann hat es Auswirkungen auf die Funktion. Vielleicht nicht sofort, aber früher oder später hat alles Konsequenzen. Es ist immer eine Gradwanderung. Wenn wir heute ein Baby retten, dann kann die Person 30 Jahre später schreckliche Dinge tun. Wir können nur versuchen das Richtige zu tun.« Shizuka verarbeitete die neuerliche Datenflut, aber May war noch nicht fertig.
»Wenn unsere Reise wirklich schlimm enden würde, dann hätte ich etwas unternommen. Wir schaffen das alleine und lernen daraus.« »Lernen?« Da war es wieder. Das in der Yamamoto-Familie so verhasste Wort. »Wir lernen zu schätzen, was wir auf der Erde haben. In der Geschichte sind immer wieder Menschen aufgebrochen, um in der Einsamkeit Erkenntnis und Erleuchtung zu finden. Gut, wir sind nicht freiwillig losgezogen, aber der Effekt ist der Selbe.«, führte May ihre Erklärung weiter aus: »Deine Gefühle für Neela sind nicht stärker als vorher. Du spürst den Teil ihres Herzens, den du mitgenommen hast und gleichzeitig spürst du die Leere, die das fehlende Stück, welches bei Neela geblieben ist, verursacht. Die Gefühle werden nur nicht mehr durch die Selbstverständlichkeit des Zusammenseins in den Hintergrund gerückt. Ohne den filternden Trubel auf der Station hast du mehr Zeit zum Nachdenken und zum Fühlen. Du spürst die Liebe zu deiner Freundin daher so intensiv wie nie zuvor.«
Ihre Augen schienen noch einmal an Umfang zuzunehmen. Die Worte beschrieben exakt, was in ihrem Kopf – in ihrem Herzen – vorging und sie wollte gerade die Erkenntnis in Worte fassen, als Jiyais Stimme unsicher von der Decke tönte. »Äh, könntet ihr alle mal in die große Halle kommen, wenn es geht?« »Wasch´ dir dein Gesicht und dann komm´ nach. Scheint wohl etwas wichtiges zu sein.«, erklärte May und erhob sich von dem weichen Sofa. Shizuka nickte nachdenklich und entließ den Kommander in den Korridor.
Die restliche Mannschaft war bereits vollständig als May eintraf. Der Kommander deutete an auf Shizuka zu warten, die noch einen Moment brauchen würde. Es war wirklich nur ein Moment, denn kaum hatte sie die Lage erklärt, hastete das Mädchen auch schon in die, immer noch wie eine Arena für Gladiatoren wirkende, Halle. Einzig die Möbel im Zentrum und ein paar Fitnessgeräte am Rand verbreiteten den Flair von Moderne. »Ich habe die Flugrouten der Drakentransporte analysiert, weil ich mich gefragt habe wo sie ihre erbeuteten Ressourcen hinbringen.«, begann das jüngste Mitglied: »Flotten von 31 Schiffen fliegen auf festen Routen von Planet zu Planet und genau das macht keinen Sinn. Wieso sollte ein voll beladenes Drakenschiff zu einem weiteren Planeten fliegen, der auch nur Ressourcen produziert.«
Jiyai schaute in die Runde. Niemand sagt etwas und man lauschte ihren Worten mit echtem Interesse. »Also habe ich mir die Kurse anzeigen lassen. Statt auf direktem Weg fliegen sie teilweise erhebliche Umwege und wenn man sich alle Verbindungen anzeigen lässt, die ich in den Drakenkernen gefunden habe, dann bekommt man das.« Über ihrem runden Tisch breitete sich die Sternenkarte aus. Weiße Linien stellten die Flugrouten dar und zeigten dutzende von dichten weißen Flecken, in denen sich Routen, aus allen Richtungen kommend, überschnitten. Jiyai ließ die Linien verschwinden und ersetzte die Schnittstellen durch große Punkte. »Was ist da?«, fragte Nim, noch bevor May die gleichen Worte in den Raum werfen konnte. »Da ist nichts.« »Nichts?« »Die Sensoren können den Raum dort nicht erfassen.« »Ein Störsignal?« »Nein, ich denke das sind die natürlichen Eigenschaften der jeweiligen Orte. Einige befinden sich laut unserer Krten in unmittelbarer Nähe eines Quasars.«
»Ein perfekt getarntes Versteck.« Jiyai schüttelte den Kopf. »Nicht nur Versteck. Ich denke da bauen sie ihre Schiffe.« »Kein Wunder das kein Ende der Angriffe in Sicht ist. Wie viele sind das?« »29 potentielle Werften habe ich im näheren Umkreis ausfindig gemacht. Naja, wenn es denn wirklich Werften sind. Die Orte tauchen nicht einmal in den Datenkernen auf. Die Orte sind entweder sehr wichtig oder aber einfach nur belanglos.« »Wie nah sind wir an einem dieser Wegpunkte?« »Etwa 3 Stunden mit maximaler Geschwindigkeit.« »Dann sollten wir Kurs setzen und uns einmal ansehen was da genau ist. – Shizuka.« Das Mädchen legte den Kopf schräg und schloss die Augen: »Erledigt.« »Und wenn es wirklich Werften sind? Wir können sie nicht alle zerstören.«, merkte Tori an.
»Wir würden dafür Jahre brauchen. Alleine schon um alle Verstecke abzuklappern.«, musste auch May zustimmen. »Wir könnten Unterraumtorpedos bauen. Normale Technologie, Unterraumantrieb und Tiniumkern. Letzteren Sprengen wir im Ziel.« »Oder wir vernichten nur die zwölf Basen in Reichweite mit Torpedos. Das dürfte etwa zwei Monate dauern, während wir die Sechs vor uns vernichten. Ohne Nachschub und mit ein wenig weiterer Unterstützung dürften sich die Welten im Umkreis etwas erholen und wären vielleicht bereit sich den Draken entgegenzustellen, wenn diese wieder in Reichweite kommen.«, schlug Nim einen Mittelweg vor. »Hilfe zur Selbsthilfe. Das gefällt mir.«, entwich es May ungewollt, klang es doch als würde sie ihren Freund bevorzugen: »Aber erst müssen wir sehen, ob da wirklich Werften sind.«
Schon als sich das Sanktum der programmierten Sprungposition im Unterraum näherte, wurde es von massiven Energiesalven getroffen. Diverse Waffenplattformen, deren spezielle Technologie alleine schon auf Draken hindeutete, verhinderten eine gefahrlose Annäherung. »Schwere Treffer in den vorderen Sektionen.« »Den Angriffen ausweichen und in den Normalraum springen. Vollen Scan durchführen und dann nichts wie weg hier.«, kommandierte Nim. »Das sieht aus wie das Skelett eines Planeten.«, warf Jiyai ein, kaum das sie im Normalraum angekommen waren. Das Sanktum wurde schwer getroffen. Multiple Plattformen von der Größe eines Mantas hatten das weiße Schiff auch hier ins Visier genommen und feuerten aus allen Rohren. »Shizuka bring uns hier raus.« Immer noch dem Waffenfeuer ausweichend aktivierte Shizuka das Portal und verschwand im Rot der Zwischenschicht, wo es sich unter weiterem Waffenfeuer der dort stationierten Plattformen entfernte.
»Sie haben uns schwer erwischt. Die Reparaturen werden eine ganze Weile dauern.«, meldete Jiyai von ihren Posten. »Wir werden nicht verfolgt.«, gab Tori positive Nachrichten von seiner Konsole weiter. »Victor zeige uns die Aufzeichnungen.« Auf dem großen Schirm vor den Sitzen erschien das gewaltige Objekt, welches die Ärztin vor Minuten noch als Planetenskelett bezeichnet hatte. Bei genauerer Betrachtung waren es keine Rippen. Es waren Schiffe. Tausende Schiffe, die in allen Winkeln und Orientierungen, wie bei einem Geduldsspiel zu einer Kugel zusammengesteckt waren. »Jiyai hatte recht. Es ist eine Werft. Es sind alles Werften. Was machen wir?«
»Den Plan mit den Torpedos können wir jedenfalls vergessen. Die kommen nicht einmal in die Nähe dieser Dinger.« »Mit getarnten Torpedos vielleicht? Oder mit unserem Manta?«, versuchte auch Shizuka sich zu beteiligen. »Wir können nicht riskieren Ray Team Technologie an die Draken zu verlieren. Das würde alles nur um ein vielfaches verschlimmern.« May lächelte. Nie hätte sie gedacht diese Aussage ausgerechnet von Tori zu hören. »Und unseren Manta riskieren wir auch nicht. Das ist unser einziges Rettungsboot.« May drückte die Lippen zusammen: »Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen.«
»Hallo Suki. Immer herein und hinsetzen.«, orderte Mergy an, als das Mädchen etwas unsicher an der Bürotür des Kommandodecks zögerte. Noch bevor der Pilot auf dem linken Sessel platz genommen hatte, setzte der Kommander die Unterhaltung fort: »Wie ist es gelaufen?« »Gut – Denke ich.« Schweigen breitete sich aus. Das Thema war für Suki unangenehm und Mergy wusste um diesen Umstand, ignorierte aber die in seiner Pilotin wütenden Erinnerungen.
Suki schwieg und verdrehte ihre Finger auf dem Schoß. »Also ein wenig mehr Details hatte ich jetzt schon erwartet. Oder muss ich mir morgen etwa eine Zeitung auf der Erde kaufen?« »Mr. Bridger ist gut. Er war sehr nett.«, versuchte sich Suki um die eigentliche Frage herum zu winden. Mergy blickte ihr direkt in die Augen. Es funktionierte nicht. »Der Richter war ein Arsch.«, versuchte sie es von der anderen Seite. Diesmal anscheinend mit etwas Erfolg. »Richter sollten Objektiv und Neutral sein, sich beide Seiten anhören und dann entscheiden.« »Soweit sind wir gar nicht gekommen. Als er–«, Suki zögerte: »Als er arschig wurde hatte die Verhandlung noch gar nicht richtig begonnen. Ich sollte vor Gericht meine Brille abnehmen.«
Mergy rückte in seinem Stuhl nach oben und hob erstaunt die Augenbrauen, aber bevor er etwas sagen konnte, setzte Suki ihre Erzählung fort. "Dave – Mr. Bridger ist sofort aufgesprungen.« »Ah, Dave.«, rutsche es Mergy lächelnd heraus bevor er das Bohren in einer anderen Wunde bemerkte. Der Blick von Suki verfinsterte sich. Sie suchte nicht nach einem neuen Freund. Ihrer war nur schon seit Monaten verschwunden. »Tut mir leid. Manchmal ist mein Komikermund schneller als mein Verstand.«, erklärte sich Mergy: »Was hat Bridger gemacht?«
»Er hat dem Protokollisten aufgetragen zu notieren, Richter Hank Miller würde mit der Durchsetzung persönlich die volle Verantwortung für den Tod von meiner Familie und meinen Freunde übernehmen.« »Ja, so kenne ich ihn. Er spielt gerne Richter und Anwalt mit seiner Frau, um sich vorzubereiten. Sie ist auch Anwältin. Er war auf diese Forderung sicher vorbereitet.«, erklärte Mergy. »Ja, der Richter wurde deutlich unsicher in seinem Stuhl und ist von der Aufforderung zurückgetreten.« »Wie ging es weiter?«
»Der Anwalt der Gegenseite wollte von mir, beziehungsweise dem Ray Team, eine Million Dollar Schadensersatz. Die Spinnen doch. Ich meine wenn die Tante sich umbringen will, dann soll sie sich Zuhause in der Wanne ersäufen. Ihr Vermögen zu verschenken war dämlich. Dafür gibt es Testamente.« Sukis Tonfall war hart und verachtend.
»Sie hat ein Dach gewählt. Das ist die Krux hier, oder?« Suki schwieg. »Ja, das Leben kann noch so gut laufen, aber die Vergangenheit kann einem doch dann und wann in den Hintern treten und die damit verbundenen Gefühle an die Oberfläche schwemmen.« Suki schwieg weiter und Mergy machte keine Anstalten sie aus ihren Gedanken zu befreien. Fast zwei Minuten saß Suki da und blickte vor die Tischkante, während sich ihre Finger weiter umspielten oder an ihrem Mintgrünen Shirt zupften.
»Woher wusstest du es? Ich meine das ich springen werde?« »Ich wusste es nicht. Die Male vorher bist du nicht gesprungen.« »Die Male vorher? Wie oft warst du da?« »Keine Ahnung. Zehn oder Zwölf Mal. Jaque hat mir Bescheid gesagt und ich bin zu dir geflogen.« »Warum bist du nicht gelandet?« Sie war sichtlich erstaunt. Bisher hatte sie angenommen er wäre nur zufällig dort gewesen. Das Orakel gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht. Naja, technisch schon, aber die Botschaften blieben noch Monate unentdeckt und verborgen.
»Ich musste einfach sicher sein.« »Sicher sein, dass ich auch springe?« »Ja, aber nicht wegen dem Effekt. Nicht viele hier haben eine Familie auf der Erde. Ist dir sicher aufgefallen. Du musstest bereit sein deine Familie zu verlassen. Dein komplettes bisheriges Leben zu verlassen. Klar, bist du immer mal wieder zu deinen Eltern geflogen, aber mit dem Sprung hast du alle Bindungen aufgegeben. Du warst bereit dein Leben zu beenden und – wenn man so will – ein Neues zu beginnen.«
»Verstehe.«, murmelte Suki leise. Wieder breitete sich schweigen aus. Erneut war es das Mädchen welches die Stille durchbrach: »Was wäre gewesen, wenn du zu spät gekommen wärst?« Jetzt hatte sie ungewollt eine Wunde getroffen die Mergy immer verbarg. Diese Momente waren immer die schwersten gewesen. »Rückwirkend betrachtet hätten wir ein wertvolles Mitglied des Teams verloren.« »Wertvoll? – Ich? – Wohl kaum. Ich bin bestenfalls Durchschnitt. Unterer Durchschnitt.« »Du bist sehr kritisch mit dir.« »Ist doch wahr.« »Ist es nicht. Ja, vielleicht sind deine fliegerischen Leistungen Durchschnitt. Siehst du diese Uhr?«, deutete er auf die Anzeige in dem holographischem Display: »Wenn wir den Laden voller Leute hätten, die alle perfekt wären, dann würde diese Uhr langsamer gehen. Sehr viel langsamer. Abwechslung bringt Leben und die Station ist ein Lebensraum mit verschiedenen Menschen. Nicht nur wegen ihrer Herkunft, sondern auch vom Charakter her. Dieser quirlige Wuschelkopf ist für die Station genauso wichtig wie herausragende Piloten.«
»Ein Teil in einer Maschine.«, merkte Suki unbewusst laut an. »Ja genau. Das Öl ist genauso wichtig wie ein Zahnrad, eine Schraube oder eine Feder. Jedes Teil hat andere Fähigkeiten und Aufgaben, aber zusammen ergibt alles einen Sinn.« »So etwas Ähnliches hat May auch einmal zu mir gesagt, als ich mich als unnützen Normalo bezeichnet habe.« »Und du hast ihr nicht geglaubt?« »Doch. – Naja – Sie hatte ja recht.« »Trotzdem denkst immer noch so negativ über dich.« »Ich komme mir unwichtig vor. – Ja. Ich habe nie viel beigetragen und wenn ich mal jemanden rette, dann wird das Ray Team gleich verklagt.«
»Jetzt mach dir deswegen mal nicht ins Hemd. Du hast nichts falsch gemacht. Wenn ich ehrlich bin hatte ich schon vor Jahren mit dererlei Klagen gerechnet. Wann wird denn mit dem Richterspruch gerechnet?« »Montag. Dave ist zuversichtlich. Er meint ein Urteil gegen uns würde massive Auswirkungen auf das Rettungswesen haben.« »Klar, jeder Sanitäter, Polizist und Feuerwehrmann wäre dann nach jeder Rettung Ziel einer Klage, wenn sie dir die Schuld zusprechen.« »Dir war das klar?«, war Suki erstaunt.
Mergy lächelte: »Natürlich. Eigentlich hätten wir diesen Käse wie immer komplett ignoriert. Aber in diesem Fall wollte es das Orakel so. Ich denke wegen der damit verbundenen Vergangenheitsbewältigung einer gewissen Pilotin.« Suki lachte laut auf. »Ja, diese Sharon hatte auch nicht damit gerechnet.« »Was meinst du?« »Naja, als Bridger mir einige Fragen gestellt hat, ist sie aufgesprungen und hat gebrüllt ich wüsste ja nicht wie es wäre aus freien Stücken von einem Dach zu springen. Nachdem der Richter sie zur Ordnung aufgerufen hat, hat Dave mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte wie Sharon sich gefühlt hat. Ich konnte natürlich nichts über meine Gründe und Shizuka sagen, aber ich konnte genau berichten, wie du mich damals gerettet hast und wie dankbar ich dafür bin.«
Bei den letzten Worten blickte sie Mergy direkt in die Augen und erntete ein Lächeln. »Ich bin auch dankbar für diese Schraube, auch wenn sie manchmal etwas locker erscheint.«, lachte Mergy und riss Suki gleich mit.
»Morgen, Doc.«, meldete sich Mergy beim Betreten in der Krankenstation. »Morgen.«, blieb der Doc mürrisch und beachtete ihn kaum. »Em, Hallo?«, versuchte es der Kommander erneut. »Was auch immer es ist, kann es nicht bis zur Stationssitzung warten?« Der ihn um über einen Kopf überragende Typ in Jeanshose, Weste und schwarzem T-Shirt zog die Augenbrauen fragend hoch und verharrte in seiner Position.
Es dauerte zwanzig Sekunden, bis der Doc seinen Kopf drehte und einen grimmigen Blick auflegte: »Was ist denn?« Auf seinen mechanischen Arm deutend merkte Mergy nur ein verhaltenes »Aua!« an. Sandra war nicht zu sehen. Ob sie heute überhaupt Dienst hatte, wusste Mergy nicht, aber den Grund für die Laune seines Kollegen konnte sich der meistens gut gelaunte und zu Späßen aufgelegte Kommander denken. »Hol´ dir einfach einen neuen Arm aus dem Schrank.« Jetzt wurde auch Mergy unhöflich: »Es sind die Signalpegel in meinem Schulterinterface. Sie sind zu hoch und erinnern mich jede Sekunde daran, was mir fehlt, genau wie dich dieser Raum jede Sekunde an Jiyai denken lässt. Werde ich hier jetzt endlich behandelt?«
Der Doc schluckte. Nicht nur das Mergy den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, sondern auch die Tatsache, dass Mergy selbst mit May auch jemanden besonderen verloren hatte, wurde ihm bewusst. Jemanden der auch ihm Nahe stand. »Tut mir leid. Sie sind jetzt schon Monate weg. Ich vermisse ihre vielen Fragen und unsere langen gemeinsamen Gespräche in meinem Büro.« »Mir fehlt sie auch. Sie war immer auf zack, ist von ihrem Stuhl gehüpft und hat mich sofort behandelt.« »Die Nervenbahnen stellen sich langsam auf das neue Interface ein. Darum wirken die Pegel zu hoch.«, erklärte der Doc. »Weil durch die Ausheilung der Nervenverbindungen die Signalübertragung optimiert wird und mit geringeren Verlusten zwischen Körper und Maschine abläuft.«, erklärte Mergy die Diagnose und ließ den Doc erstaunt aufblicken: »Die Überschussenergie kann der Körper nur als Schmerz ableiten.«
»Ist nicht das erste Mal. Jiyai hat die Pegel schon öfter neu eingestellt und erklärt mir die Dinge immer in menschlich verständlicher Form, ohne mich wie einen Idioten aussehen zu lassen. Sie hat mir auch erklärt so etwas würde Vertrauen schaffen und die Patientenbindung fördern.«, erklärte Mergy sein plötzliches medizinisches Wissen. Der Doc lächelte. Ja, genauso war sie. So frisch und unbedarft. Immer das frische Wissen aus den Büchern anwendend. »Tut mir leid, wegen eben. Kommt nicht wieder vor.«
»Ich habe in den letzten Wochen schon schlimmeres erlebt.«, hob Mergy wissend die Augenbrauen und zog die Lippen zusammen: »Wo ich gerade im Thema bin. Hast du eins dieser Blasrohre mit denen du immer drohst? Und ein paar Betäubungspfeile bitte.« »Ist Sab so schlimm?« »Schlimmer. Viel Schlimmer. Ich habe mir schon überlegt in der unteren Kuppel ein weiteres Büro einzurichten oder mir ein Labor zu suchen und wie in guten alten Zeiten dort meine Zeit abzusitzen. Die verdrehte Treppe und der resultierende Würgereiz sind ein Klacks gegen Sabs Laune.«
»Die Flotte ist jeden Moment hier! Victor wie lange brauchst du für die Anpassung eines Drakenkerns?« »Den Transport in beide Richtungen eingeschlossen etwa 7 Sekunden.« »Gut. May wir nehmen ein Schiff im Zentrum der Flotte. Es muss so aussehen, als hätten wir es verfehlt.« »Ey, Kaptän.«, lächelte May ihn an. »Sie kommen.« Über einhundert Portale öffneten sich und gaben die Drakenschiffe frei. Es war seit langem ein gewohnter Anblick. Genau wie die unzähligen Jäger, die in den Raum strömten. Vom Waffenfeuer geschüttelt versuchte Shizuka den unzähligen Strahlen auszuweichen, während May die kleinen Geschosse in die Jäger und die deutlich größeren Kriegsschiffe pumpte.
Victor transportierte den Datenkern aus einem der Schiffe, modifizierte ihn und sendete ihn zurück. »Jiyai, Shizuka, May. Jetzt.« Jiyai simulierte schwerwiegende Treffer, in dem sie die Reparatur unwichtiger Sektionen aussetzte, während Shizuka die weiße Scheibe in eine unkontrolliert scheinende Rotation steuerte und May das Feuer einstellte. Unter kontinuierlichem Beschuss näherten sich die restlichen Draken stetig weiterfeuernd. Schließlich öffnete Shizuka ein Portal und die Menschen ergriffen die Flucht. »Reparatur einleiten.« »Wir werden verfolgt.« »Das war der Plan.« Ja, es war der Plan. Naja, eigentlich hatte May ihn sich ausgedacht und er basierte auf einigen Ideen die Mergy in Stationssitzungen eingeworfen hatte, als die Draken noch eine Bedrohung für die Erde waren.
Vielleicht waren sie das ja immer noch und die Draken waren dabei eine noch größere Flotte auf einer abseits liegenden Basis zu bauen. Sie hatten den Datenkern des Schiffes modifiziert. Victor war sehr schnell im Verstehen von Technologie. Schneller als Jaque. Jaque hatte andere Vorzüge. Er hatte mehr Persönlichkeit und wirkte trotz dem Fehlen von Gefühlen menschlich. Victor war nur das Abbild einer Maschine. Eine Figur zu der man sprechen konnte. Interesse an den Gefühlen seiner Begleiter zeigte er nie. Er hatte einen Weg gefunden die Konfiguration der Schiffe zu verändern. Genauer die Konfiguration von ihren Reaktoren, die er über den Kern in das Drakensystem geschleust hatte. Es handelte sich um eine Art Fernwartungsprotokoll und die Anpassungen sollten sich damit automatisch unter den Schiffen verbreiten.
»Wie schnell verbreitet sich das Virus?« »Es ist kein Virus.«, erklärte Tori: »Das ist ja das tolle. Es wird als offizielle Änderungen und Verbesserung weitergeleitet, so wie unsere Schiffe neue Waffenkonfiguration bekommen können.« »Nur das sie nicht gefragt werden. Die Signatur der Sendestation eines ihrer Schiffe reicht ihnen als Echtheitsprüfung.«, fügte Jiyai hinzu. »Wie schnell?«, fragte Nim erneut. »Nach den Zeitinformationen aus ihrem Schiff synchronisieren sie ihre Datenbanken in etwa 37 Erdminuten.« »Wie lange bis zur Werft?« »Etwa eine Stunde.« »Kurs setzen. Ich will direkt sehen ob es funktioniert hat.« »Die Schiffe hinter uns werden vorher in Waffenreichweite sein und haben bestimmt Verstärkung angefordert.« »Shizuka in den Normalraum springen und den Turbo ausfahren. Dann sofort wieder in den Unterraum, aber ohne ihn zu aktivieren. So können wir den Abstand notfalls besser halten.«
Das Schiff verblieb nach dem Sprung für zwanzig Sekunden im Normalraum. Die ersten Portale öffneten sich bereits, als das Erdschiff wieder im Unterraum verschwand. »Sie brauchen länger für einen erneuten Unterraumsprung, daher haben wir schon durch den Stopp ein paar Minuten gewonnen.«, erklärte Tori. »Die Draken denken bestimmt wir haben technische Probleme mit dem Antrieb.«, merkte May an. »Hoffentlich bemerken sie in ihrer Kampfeslust die Änderungen an ihrem Schiff nicht.« Sie wiederholten das Spiel noch einmal kurz bevor die Flotte in Waffenreichweite kam. Nim mochte es ihren Durst nach Vernichtung mit diesem Spiel zu nähren.
»Die Synchronisierung hat begonnen. Es sollte noch ein paar Erdminuten dauern, bis die ersten Schiffe explodieren.«, blieb Victor nüchtern und faktisch wie immer. »Zwölf Erdminuten bis zur Werft.«, ahmte Jiyai den Avatar des Schiffes in seiner Wortwahl mit einem Lächeln unterlegt nach. »Hoffentlich merken sie nichts von der Reaktorüberlastung.« »Eine Selbstzerstörung ohne Timer wäre mir auch lieber gewesen.«, teilte May die Sorgen ihres Freundes: »Sich selbst zu vernichten liegt nicht in der Natur der Draken. Daher haben sie keine derartige Systemfunktion in ihren Schiffen. Aber es sollte keine Warnung geben, da die Überlast konfiguriert und kein Defekt ist.« Explosionen erschütterten den Unterraum und erzeugten Plasmawellen, die es von den Schiffen hinter ihnen bis zum Sanktum rollten und es durchrüttelten, während die Trümmer in den normalen Raum zurückfielen. Als sie sich der Werft näherten, waren die Waffenplattformen verschwunden. Im Normalraum fanden sich nur noch gigantische Mengen von Trümmern vor, die das Sanktum förmlich bombardierten. »Wir haben es geschafft.«, brachte Tori ungläubig heraus.
Es war nichts übrig. Es gab keinerlei Angreifer. Nur die rotierenden Reste der gigantischen Werft und ihrer Verteidigungssysteme prasselten auf das Sanktum nieder. »Ob es wirklich alle Werften und Flotten erreicht?« »Wir haben es zumindest versucht. Kurs auf die nächste von den Draken besetzte Welt. Mal sehen ob dort auch etwas passiert ist.« Es lag ein betretendes Schweigen in der Luft. Wenn die ganze Aktion geklappt hatte, dann waren unzählige Welten von den Angriffen der Draken befreit. In diesem Fall hatten sie nicht nur ein kleines Signal gesetzt, sondern ein Leuchtfeuer entfacht. Als das Schiff vom Blau ins Schwarz wechselte war das Ergebnis ihrer Tat auch an diesem Planeten sofort sichtbar. Trümmer im All zeugten von den zerstörten Kreuzern. Trotz ihrer Hilfe würden diese Welten viel Zeit benötigen sich von dem Schrecken und den Gräueltaten zu erholen. Shizuka flog in einem weiten Bogen an dem Planeten vorbei und setzte Kurs auf die nächste Welt. Egal wo sie nachsahen. Das Bild war immer das Selbe. Sie waren mit ihrer Aktion erfolgreich gewesen.
»Eingehendes Unterraumsignal. Es ist Kresa von den Vedronn.« »Auf den Schirm!« »Hallo, lange nicht gesehen.«, begrüßte Nim seinen virtuellen Gast recht unkonventionell. »Hallo.«, war auch der Fremde unsicher wie offizielle Förmlichkeiten mit dem Erdenschiff aussahen: »Wir haben von verschiedenen Welten positive Nachrichten erhalten. Ganze Flotten von Drakenschiffen wurden einfach so vernichtet. Haben sie etwas derartiges bemerkt?« »Ja, wir haben einen Weg gefunden ihre Schiffe und Werften mit einem Schlag zu vernichten, haben aber keinerlei Ahnung wie weitreichend unser Angriff war.« Erstaunen machte sich im Gesicht des Aliens breit. Zumindest hielten es die Menschen für erstaunen. »In dem Fall kann ich nur unseren Dank aussprechen. Alle bisher von uns kontaktierten Welten berichten von einem Wunder. Nicht nur die unmittelbare Gefahr ist gebannt, sondern auch einige durch die Draken besetzten Planeten haben sich nach vielen Zyklen des Schweigens wieder gemeldet. Es hat dort Aufstände gegeben und sie haben ihre Welten zurück erobert.«
»Was gibt es?«, fragte Tin direkt beim Verlassen des Liftes. »Die Seem haben uns eine Nachricht geschickt. Einer ihrer Handelspartner hat eine seltsame Aufzeichnung gemacht.« »Die solltest du dir mal ansehen.«, fügte Trish Sabs Erläuterungen hinzu. »Das sind Draken.« »Ja, soweit war die Nachricht eindeutig. Es scheint als hätten sie in letzter Zeit nur einen großen Bogen um diesen Teil des Universums gemacht.«, muffelte Sab: »Sie sind explodiert. Ich sehe kein Waffenfeuer oder einen Angriff.« »Hatte ihre Selbstzerstörung vielleicht eine Fehlfunktion?«, fragte Trish nach Lösungen forschend nach. »Selbstmord ist nicht Bestandteil der Drakenphilosophie. Soweit ich ihre Systeme kenne, haben sie keine Selbstzerstörungssyteme. Die Draken würden sich lieber mit letzter Kraft ihre Kreuzer in den Feind rammen, als sie sinnlos zu sprengen.« »Aber alle gleichzeitig? Das macht keinen Sinn. Als hätte sie jemand ausgeknipst wie eine Lampe.« »Du klingst gerade wie Mergy.«, lachte Trish über Sab, die einen geschlitzten Blick zurückwarf.
»Ich muss zur Schule meiner Kinder. Anja ist nicht zu erreichen und es gab wohl einen Vorfall. Die Direktorin hat mich gerade angerufen.«, erklärte Mergy beim hastigen Verlassen des Stationsbüros. »Einen Vorfall?« Sab drehte sich in seine Richtung und hob fragend die Augenbrauen. »Man wollte mir am Telefon nichts genaueres sagen, aber es geht ihnen gut.«, war dennoch deutlich die Sorge eines Vaters zu hören. »Es wird schon nicht so schlimm sein. Es sind immerhin Erstklässler.« »Hoffen wir es.«, vermeldete Mergy noch mit gedämpfter Stimme und verschwand im Lift. Wenig später war er mit Höchstgeschwindigkeit in seinem Kampfgleiter auf dem Weg zur Erde.
Die Schule war von Fahrzeugen eingekreist. Vor Sorge hätte sich der, jetzt wieder zu Thomas mutierte, Familienvater am Liebsten direkt zu seinen Töchtern in das Gebäude transportiert. Er hätte das Ganze für die anderen Anwesenden sicherlich plausibel erklären können, aber er musste dauerhafte Distanz zwischen seinem Leben auf der Erde und der Arbeit auf der Station bringen. Mergy und Thomas durften sich nicht zu sehr annähern oder gar befreundet wirken. Also zappte er sich in einen kleinen Fußweg zwischen zwei Häusern. Die Hecken waren dicht und der Transportvorgang war nur von einer Seite zu sehen, da der Weg einen leichten Knick machte. Da aber niemand auch nur in der Nähe des Weges war, blieb sein effektloser Transport gänzlich unbemerkt. Der Kommander hastete aus dem Fußweg und zwischen den vielen Wagen hindurch in Richtung Schule.
Einige wertvolle Momente verstrichen, als er an den abgeriegelten Gehweg auf das Schulgelände kam, weil die Polizei ihm zunächst den Zutritt verweigern wollte. Blitze von Fotografen waren in der Menge auszumachen und sicherlich waren auch diverse Mobiltelefone mit ihren Kameras auf die Schule und Ereignisse gerichtet. Unsagbare Erleichterung breitete in ihm sich aus, als er seine Mädchen friedlich mit den Füßen wippend in der Aula sitzen sah. Der große Raum war voller Schulpersonal und Polizei. Eine der Lehrerinnen hockte vor den Stühlen seiner Töchter und redete mit ihnen. Daneen sah ihren Vater zuerst, sprang auf und rannte auf ihn zu. Kaum das Daniela die Reaktion der Lehrerin auf die Aktion ihrer Schwester bemerkt hatte, war auch sie nicht mehr zu halten. Hatte sich der große Kommander Momente zuvor noch hingehockt, um seine deutlich kleineren Mädchen zu empfangen, so war er jetzt aufgestanden und hatte die nicht mehr ganz so leichten Klammeraffen seitlich am Körper hängen.
Mit seiner Last trat er auf die nun unbesetzten Stühle zu, schüttelte seine Kinder vorsichtig darauf ab und ging wieder in die Hocke. »Was ist denn passiert?«, fragte er nun die Mädchen. Die Lehrerin, die er bisher komplett ignoriert hatte, begann zu erzählen, aber Mergy strafte sie mit einem bösen Blick ab: »Ich habe meine Kinder gefragt.« Daniela begann zu erzählen und Daneen warf dann und wann ein fehlendes Detail ein. Mergy wurde schlecht und schwummrig. Eine Polizistin hatte auch noch einige Fragen und so mussten die Mädchen, jetzt, wo ein Elternteil Vorort war, das Abenteuer des Tages noch ein weiteres Mal vor dem Familienvater ausbreiten.
»Da ist Mama!«, war es abermals Daneen, die den Überblick über die anwesenden Personen hatte. Anja kam hastig mit Danielle auf dem Arm zu ihrer kleinen Familie. »Ich habe es eben erst auf dem Anrufbeantworter gehört. Ich war doch in der Stadt und habe mir ein neues Telefon gekauft.« Danielle hatte ihr das alte Gerät am Vortag direkt aus meiner Hand die Treppe hinuntergestoßen. Außer Atem und abwechseld drückte sie eines der beiden anderen Kinder an sich: »Was ist denn hier überhaupt passiert?« »Das erzählen wir dir Zuhause. Wir müssen hier erst einmal verschwinden. Mit der Polizei haben wir schon kurz gesprochen. Die haben sowieso ein Video und Augenzeugen.«
Geschäftiges Schweigen lag über dem Kommandodeck. Trish und Sab waren ihren Bildschirmen zugewandt und arbeiteten. Sab probierte schon seit Monaten Verbesserungen ihrer Benutzeroberflächen aus. Nicht das die bisherigen nicht zufriedenstellend funktionierten. Es war wohl mehr ein Notnagel, um sich mit Arbeit von der vermissten Tochter abzulenken. Sie war wohl die Letzte, die es überhaupt bemerkt hatte. Tochter! Nie hatte sie es auch nur für möglich gehalten einmal so für einen Kadetten oder Piloten zu empfinden. Jiyai hatte sie im Sturm erobert. Immer wieder drifteten ihre Gedanken zu ihrer ersten Begegnung auf dem Stationsturm. An die Erinnerungen, in die sie sich in den letzten Wochen immer öfter zurückzog, um ihr Nahe zu sein. Weg von den Fragen auf die es keine Antwort gab. »Wo ist Jiyai?« »Geht es ihr gut?« »Was sie wohl gerade macht?« Die Arbeit lies sie, wenn auch nur kurz, im hier und jetzt verweilen.
»Ich benötige eine Bestätigung durch einen zweiten Kommander.«, meldete sich Jaque ungewohnt über das Kommunikationssystem. »Worum geht es?«, fragte Trish gerade heraus. »Mergy möchte Zugriff auf ein Video und eine mögliche zukünftige Verbreitung des Films über das Internet verhindern.« Trish und Sab sahen sich für einige Sekunden an. »Wo ist das Video zu finden?« »Laut Mergy in den Sicherheitssystemen einer Sparkasse. Wahrscheinlich wird es später auf einem Polizeiserver auftauchen. Mergy ist sich nicht sicher ob das Sicherheitssystem mit dem Internet gekoppelt ist.«, berichtete der Stationscomputer.
»Polizeiserver und eine Bank hacken. Ist ja nicht so, als hättest du das nicht schon ein paar Mal gemacht.«, lachte Trish, obwohl ihre Gedanken um die bisherigen Fakten kreisten. Hatten die Kinder etwa eine Bank überfallen? Das war absurd. Aber auch die einzige Erklärung, die den Anruf, Mergys überstürzte Abreise und die Anfrage sinnvoll verband. Nur die Schule der Kinder passte nicht ins Bild. Warum würde in dem Fall die Direktorin der Schule anrufen? Die hatte, wenn es nicht gerade ein Schulausflug in die Bank gewesen war, mit dem Vorfall doch gar nichts zu tun.
»Erlaubnis erteilt. Aber wir wollen eine Kopie des Films und versuche dein Eindringen in die Systeme so diskret wie möglich zu gestalten.« Sab hob fragend eine Augenbraue, sagte aber nichts. »Wenn ich schon meine Zustimmung für eine derartige illegale Aktion gebe, dann will ich auch wissen, worum es bei der Sache geht. Mergy wird uns wahrscheinlich keine Auskunft geben.«, lächelte Trish nur als Antwort auf die unausgesprochene Frage zurück. Sab hob beide Augenbrauen, presste den Mund zu einer geraden Linie und drehte sich auf ihrem Stuhl wieder zurück in die normale Arbeitsposition.
Es war fast 8 Uhr am Abend, als Mergy einen Landeplatz vom Kommandodeck anforderte. Eine ungewohnte Zeit. Normalerweise war er nur noch Vormittags auf der Station. Er wollte möglichst viel Zeit mit der Familie verbringen und nicht einer dieser Väter werden, die ihre Kinder nur vor dem Schlafengehen und an Sonntagen zu sehen bekommen. Nur in Ausnahmen, war er länger als bis 14 Uhr auf der Station. Nachdem seine ältesten Kinder aus dem Haus waren, trudelte er so gegen Acht Uhr am Morgen ein. Gleitzeit nannte er diese neuerliche Arbeitsmoral, die von allen Kommandern akzeptiert wurde. »Ausnahmen nur bei Krankheitsfällen und als Urlaubsvertretung.«
»Hast du schon dieses Überwachungsvideo gefunden?«, war Sab nicht weniger neugierig ob der Computer bereits eine Antwort auf die unausgesprochenen Fragen gefunden hatte. Das Gespräch vom Vormittag war durch die Tagesaktivität in den Hintergrund gedrängt worden. »Ja, ich habe einen Weg gefunden es sehr langsam aus dem Polizeisystem zu übertragen, ohne durch zu einen großen Datentransfer Alarm auszulösen. Ich hoffe nur es ist auch der richtige Film, da ich nur die Metadaten zur Suche nutzen konnte. Es dauert noch etwa 10 Minuten und 17 Sekunden bis zur Fertigstellung.«
»Wie hat die Polizei den Film bekommen?« »Ich bin mir nicht sicher. Ich denke sie haben einen mobilen Datenträger verwendet. In den Banksystemen konnte ich wie erwartet keine Verbindung zum Sicherheitssystem herstellen.«, erklärte der Stationscomputer. »Die verwenden wahrscheinlich multiple Datenspeicher im Gebäude. Zugriff auf die Kameras oder die Aufnahmen von Extern ist immer kritisch. Die Planung von Überfällen wird mit einem derartigen Zugriff deutlich erleichtert.«, erläuterte Sab. Wenige Minuten später traf Mergy auf dem Kommandodeck ein. Ungewohnterweise marschierte er nicht gleich in das Stationsbüro, sondern setzte sich an die sowieso meist unbesetzte Waffenkonsole, ohne selbige auch nur kurz anzusehen.
»Müssen wir bohren?«, fragte Trish mit bedacht sanfter Stimme nach einigen Minuten das Schweigen. Mergy schnaubte. Er war sichtlich angeschlagen, wirkte blass und ein wenig verloren. Er holte noch einmal tief Luft. »Meine Töchter und ihre Freundin Jennifer waren auf dem Heimweg von der Schule.«, begann er schließlich seine Erläuterungen, ohne weiter bedrängt worden zu sein. »Die Mädchen haben beide ihre Turnbeutel am Haken vergessen. Es war ein warmer sonniger Tag und sie hatten keine Jacken dabei. Deshalb haben sie wohl nicht mehr an ihre Beutel gedacht.« Mergy rollte über diese Vergesslichkeit seiner Mädchen die Augen und legte eine weitere Pause ein, um sich zu sammeln. »Jennifer hat gewartet und die beiden sind zurück in die Schule gerannt, um ihre Beutel zu holen. Als sie wieder bei ihrer Freundin ankamen, konnten sie gerade noch sehen, wie ein Mann das Mädchen in einen Wagen zerrte.«
»Oh, Gott!«, rutschte es Trish raus, während Sab gedanklich kurz das beschriebene Bild mit Jiyai ergänzte. Sie schüttelte den Kopf um die dunklen Gedanken zu vertreiben. Mergy sammelte sich abermals. Die Gefühle, die in ihm arbeiteten, waren wohl nur schwer unter Kontrolle zu halten. »Daniela hat versucht ihrer Freundin zu helfen.« Mehr brachte er nicht am Stück raus. Seine Körpersprache zeigte deutlich den Schock, den diese Aktion in ihm ausgelöst hatte. Das leichte Vibrato in seiner Stimme und die zittrigen Hände untermalten das Bild noch einmal deutlich.
Beide Frauen waren sprachlos und starrten ihn nur mit offenem Mund an. Niemand traute sich etwas zu sagen. Mergy war offenkundig nicht in der Verfassung sich bohrenden Fragen zu stellen. Das war eindeutig der »Schalten sie auch nächste Woche wieder ein!« Moment, den man geduldig abwarten musste. »Es hat wohl einen heftigen Kampf gegeben.« »Einen Kampf? Mit wem?«, verstand Sab nicht wie der Satz gemeint war. Trish war ebenfalls ratlos. »Ein Kampf zwischen Daniela und diesem Perversen.« Mergy lachte laut auf. Es war ein bizarres, dunkles und furchterregend unnatürliches Lachen: »Das Schwein hatte sich den Körperkontakt mit einem Kind wohl anders vorgestellt.« Es dauerte fast eine Minute, die die beiden Frauen aktiv nutzten, um die vorher noch nie gesehene Seite ihres Freundes zu verstehen und zu verdauen.
Schließlich setzte Mergy seine Erklärung nach einer Weile unaufgefordert fort. »Er hat einige gebrochene Rippen, einen gebrochenen Arm, gebrochene Finger an beiden Händen und wohl auch eine Schädelfraktur. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich das alles richtig verstanden habe. Es war einfach alles ein riesiger Schock.« »Daniela hat dieses Monster so zugerichtet? Wie?« »Sie hat mir immer zugesehen, wenn ich im Garten die Übungen von Jin gemacht habe. Eines Tages wollte sie mitmachen. Seitdem trainieren wir fast immer zusammen. In der letzten Zeit ist auch Daneen dabei. Sie soll sich ja nicht ausgeschlossen fühlen. Daniela hat aber natürlich einen deutlichen Vorsprung.« »Aber einen Arm brechen? Ist ein zierliches Mädchen wie Daniela dazu überhaupt fähig?«, war Sab unsicher was die Fakten anging. »Nachdem ich dabei war hat eine Polizistin die Mädchen befragt. Daniela hatte solche Angst ich würde böse auf sie sein. Oh, ich war böse. – Ich bin böse. – Auf sie – Auf den Typen – Auf die Polizei – Auf mich. – Sie dachte ich wäre sauer, weil sie ihre Superkräfte benutzt hätte.«
»Ihre Superkräfte?«, wurde Trish hellhörig. War sie etwa auch eine Trägerin des Joluh? »Ich habe beim Training immer wieder gesagt, man dürfe diese Kampftechniken niemals einsetzen, um Menschen zu schaden. Diese Superkräfte wären nur dafür da, um sich und andere zu beschützen. Ich habe doch nie geglaubt sie würde jemals in eine derartige Situation geraten.« Erneut legte er eine Pause ein, um sich zu sammeln. »Sie hat der Polizistin erklärt, sie hätte ihre Umgebung genutzt. Arm und Finger sind wohl Opfer der Autotür geworden.« »Das gewünschte Video liegt nun vor. Ich konnte es bisher auf keinem anderen Server ausmachen. Die Suchprozesse laufen aber kontinuierlich weiter.« »Danke Jaque.« Mergy war in Gedanken. Wollte er den Film wirklich sehen? Wollte er die Gedanken und Fantasien durch reale Bilder mit einer realen Tochter ersetzen?
»Du musst dir den Film nicht ansehen.«, hatte Trish erkannt worum Mergys Gedanken kreisten. »Doch. Ich will es sehen. Ich muss es sehen. Jaque spiele es auf den großen Schirm ab.« Der Film erschien und zeigte eine Bank von innen. Es war Mittagszeit und nicht viel los nur die zwei Angestellten bewegten sich an ihrem Arbeitsplatz. Interessanter als der Vordergrund war der Hintergrund. Durch die Scheibe konnte man frei auf die Straße blicken. »Ich dachte Überwachungskameras dürfen nicht in öffentlichem Raum hineinfilmen. Das ist doch auch in Deutschland verboten, oder?«, platzte es Trish ungewollt heraus. Zu oft hatte sie selbst die Aufnahmen ihrer Gleiter beim Überflug in den Stationssitzungen kritisiert. »Da ist normalerweise ein elektrischer Vorhang. Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht ist der defekt oder wird gerade gereinigt.«, war Mergy froh wenigstens etwas vom Thema ablenkendes beisteuern zu können.
Dann sah man die Dreiergruppe auf der anderen Straßenseite von rechts ins Bild laufen. Sie alberten herum und drehten sich und gingen Rückwärts, um einander beim Reden anzusehen. »Jaque, vergrößere nur den sichtbaren Bereich der Straße.«, meldete sich Sab mal wieder zu Wort. Das Bild war nicht toll, aber für eine Überwachungskamera und die Vergrößerung erstaunlich gut, was wohl der Auflösung geschuldet war. Eins der Mädchen blieb ruckartig stehen. Das war wohl der Turnbeutel-Moment. Die Zwillinge rannten wieder rechts aus dem Bild, während Jennifer sich die Zeit damit vertrieb auf den Gewegsteinen imaginäre Muster abzuhüpfen. Einige Minuten vergingen. Ein dunkler Wagen parkte genau vor ihr am Straßenrand und ein Mann stieg aus. Er ging um das Auto herum zum Gehweg. Jennifer nahm von ihm keine Notiz. Immer wieder konnte man ihren Kopf hinter dem Auto auftauchen sehen. Sie hüpfte immer noch auf unsichtbaren Feldern herum.
Dann schien der Mann etwas an der hinteren Autotür zu machen und eins von Mergys Mädchen rannte ins Bild. Offensichtlich Daniela. Der Mann bemerkte sie und versuchte schnell auf den Fahrersitz zu kommen, aber Daniela verpasste ihm einen Sprungtritt in beide Kniekehlen. Der Mann sackte neben seinem Wagen zusammen, während Daniela etwas zurückkroch und wieder aufstand. Deutlich war ein Einsaugen von Luft seitens der Kommandobesatzung zu hören. Das Mädchen sprang dem Mann ins Kreuz und rollte sich in den Wagen. Der Typ konnte ihren Fuß fassen, kassierte wohl aber einen Tritt mit dem zweiten im Gesicht. Daniela war auf der anderen Seite wieder aus dem Wagen gekommen und war für den Moment unsichtbar.
Sab pausierte: »Warum ist sie vorne in den Wagen geklettert? Ihre Freundin ist doch offensichtlich hinten im Fahrzeug?« »Sie hat den Schlüssel abgezogen und auf der anderen Seite in die Büsche geworfen.«, merkte Mergy an, der dieses unsichtbare Detail auch nur aus den Schilderungen seiner Töchter kannte. Der Kommander setzte den, für seine Verhältnisse eigentlich viel zu spannenden, Film fort.
Daniela lief vorne um den Wagen und verpasste der Tür einen heftigen Tritt. Ihr Gegner hatte sich gerade wieder hochgerappelt und orientierte sich, als er seine Hand in der Tür eingeklemmt vorfand und zumindest der Körperhaltung nach sehr laut und schmerzhaft aufschrie. Das Mädchen trat, sich im Sprung nähernd, gegen seinen Oberkörper, stieß sich mit dem anderen Fuß hart vom Kopf ihres Gegners ab, machte in der Luft eine Rolle rückwärts und landete mit beiden Beinen auf der Straße wie ein Superheld.
»Pause!«, hielt diesmal Trish ungläubig das Bild an: »So etwas hast du deiner Tochter beigebracht?« Mergy blickte immer noch erstarrt auf das Standbild in dem seine Tochter nach der Landung ihre Arme verschwommen zur Verteidigung wieder hob, während die freie Hand des Mannes zum Türgriff zu schnellen schien. »Nein.«, Mergy war deutlich erschrockener als noch vor dem Abspielen des Films: »Tritte und Abwehrpositionen. Aber doch keine solchen Angriffe oder gar Sprünge. Schon gar nicht mit einer Luftrolle rückwärts. Spiel weiter ab.«
Daniela blieb auf Abstand. Sie ließ den ihr unbekannten Mann den nächsten Zug machen. Sagte aber offensichtlich etwas, was ihrem Gegner nicht gefiel. Als er wieder auf Angriff schaltete, duckte sich das Mädchen unter seinen Armen durch und trat frontal gegen sein Knie. Erneut ging der Mann zu Boden und versuchte sich am Autositz der wieder offenen Tür festzuhalten. Daniela sprang auf die Beine drehte sich in der Luft und mit einem Trittsprung gegen die Wagentür verursachte sie offensichtlich den Armbruch.
Daneen tauchte unsicher am Bildrand auf. Mergy wusste sie hatte den Notruf gewählt und die Polizei gerufen. Erst nach einer deutlich sichtbaren Aufforderung und einem Fingerzeig von Daniela kletterte sie auf der hinteren Seite in den Wagen, während ihre Schwester den Blick nicht von ihrem vor Schmerzen wimmernden Angreifer ließ. Die Arme und Beine in Position, um jederzeit nachlegen zu können. Erst jetzt schienen sich einige Erwachsene in die Situation einzumischen. Zwei Männer in Arbeitskleidung hoben den am Boden liegenden Mann auf und zogen ihn vom Fahrzeug weg. Weitere Personen kamen ins Sichtfeld der Aufzeichnung, umringten das Fahrzeug und versperrten die Sicht. »Was ist mit dem anderen Mädchen? – Jennifer?« »Er hatte sie mit Chloroform betäubt und hinten in den Wagen geworfen. Sie kann sich an nichts erinnern. Als ich an der Schule ankam, war sie bereits im Krankenhaus.«
»Daniela war ziemlich mutig.« »Mutig und dumm.« »Das hat sie wohl von ihrem Vater. Der macht auch immer ziemlich wilde Kamikazeaktionen.« »Das ist doch wohl etwas ganz anderes!« »Ist es das? Beim letzten Mal hat es dir bei einer derartigen Aktion fast dein Hirn verbraten. – Ich korrigiere. – Du hast dir dein Hirn verbraten. Sei nicht so hart zu ihr.«, führte Trish weiter aus. »Es war so dumm. Wenn er eine Waffe oder nur ein Messer gehabt hätte?« »So zu denken hilft dir nicht weiter. Du hast deine Tochter gelehrt sich in Notlagen zu verteidigen. Das machen Eltern. Dafür gibt es sogar Kurse. Sie hat ihre Freundin gerettet. Wie ein gewisser Kommander auch.«, lächelte Trish. »Es hätte so viel schief gehen können. Anja ist auch deswegen sauer auf mich.«
»Sie ist zu recht sauer auf dich. Du hast Daniela schließlich gezeigt, wie man kämpft. Aber, wenn wir schon spekulieren: Was wäre passiert, wenn nicht? Vielleicht hätte sie es trotzdem versucht und wäre auch geschnappt worden. Vielleicht hätte sie nichts gemacht und sich ihr Leben lang Vorwürfe gemacht. Du bist auch sauer auf eine Menge Menschen, wenn ich mich recht erinnere. Deine Frau muss ihre Wut auch herauslassen. Erkläre es den Kindern. Erkläre ihnen warum selbst viele Erwachsene nicht getan hätten, was sie da gemacht hat. Vielleicht ist sie beim nächsten Mal besonnener.«
Mergy Augen wurden kreisrund, sein Gesichtsausdruck verzog sich zu purem Entsetzen: »Beim nächsten Mal?« »Du weißt wie ich es meine. Deine Mädchen sind bestimmt verwirrt. Sie haben etwas Gutes getan und alle Menschen in ihrem Umfeld verhalten sich als wäre es etwas Schlimmes gewesen. Du hast selbst gesagt sie hätte Angst gehabt, weil sie ihre Superkräfte benutzt hat. Erkläre es ihr. Vielleicht erfährst du dann auch woher ihre anderen Tricks stammen. Das war, trotz der heiklen Situation, ziemlich beeindruckend. Ich würde gerne Jins Meinung zu ihrem Kampfstil hören.« »In jedem Fall brauchst du dir keine Sorgen zu machen, wenn die Beiden ins Teenageralter kommen. Ungehobelte Jungs haben bei ihnen dann wohl keine Chance und werden sich freiwillig zurück halten.«
»Papa, Mama, wir haben verschlafen.«, stürmte Daneen ins Schlafzimmer der Eltern. »Die Schule fällt heute aus.«, merkte Anja an und drückte ihren Kopf schläfrig in die Kissen. »Heute ist gar keine Schule?«, hörten die Eltern ihre Tochter die neue Information mit ungläubigem Ton Richtung Flur an ihre Schwester weitergeben. Wie auf Kommando meldete sich auch Danielle schreiend aus ihrem Zimmer. »Das heißt dann wohl doch aufstehen.«, merkte Thomas an und schwang seine Beine aus dem Bett, während seine Frau noch einmal in das Kissen seufzte.
Erst bei der Frühstücksrunde kam das Thema Schule wieder auf den Tisch. »Ist Frau Bremer auch böse auf mich? Dürfen wir deshalb nicht in die Schule?« Thomas und Anja warfen sich einen kurzen Blick zu. Trish hatte wohl recht. Das Mädchen war unsicher, ob ihr Handeln nun Richtig oder Falsch war. »Niemand ist böse auf euch!« »Ihr habt gestritten. Wegen mir. Wir haben euch gestern Abend gehört.«, zeigte Daniela genau die Erkenntnis, die Trish und Sab vorhergesagt hatten. Sie verstand ihre Lage nicht. »Wir waren alle böse auf jemanden. Aber das ist nicht deine Schuld. Selbst viele Erwachsene hätten sich nicht getraut den Mann alleine anzugreifen. Erwachsene haben mehr Erfahrung und sie wissen wie gefährlich so etwas werden kann. Der Mann hätte dich auch schnappen oder verletzen können. Ihr seit in eine Situation gekommen, die für Eltern einfach nur schrecklich ist. Später wart ihr zwar in Sicherheit, aber wir alle haben uns immer wieder vorgestellt was für schlimme Dinge hätten passieren können.«
»Was du getan hast war sehr mutig. Aber auch ziemlich dumm.« »Ich musste doch Jennifer helfen.« »Das verstehen wir und es war auch richtig.«, fügte Anja sanft an: »Wie du geholfen hast, war gefährlich für dich. Du hättest auch das Nummernschild aufschreiben und mit dem Notfalltelefon die Polizei anrufen können, so wie Daneen es gemacht hat. Erwachsene hätten es auch so getan.« Um nichts in der Welt wollte sie ihrer Tochter das Gefühl geben etwas falsch gemacht zu haben, auch wenn sie es sich anders gewünscht hätte. »Hmm«, dachte Daniela deutlich hörbar über die Erklärung nach. »Wir haben das Video gestern zusammen angeschaut und es war einfach ein ziemlicher Schock.« »Ein Video?«, war nun auch Daneen aktiv beteiligt, während Danielle, ihre dritte Tochter, mehr mit dem Essen spielte und sich zwischendrin immer von Anja einen Löffel in den Mund schieben lies.
»In der Sparkasse ist eine Kamera, die hat fast alles aufgenommen.«, erklärte ihr Vater: »Woher kannst du diesen Angriff mit dem Rückwärts-Salto? Und diese anderen Sprungangriffe? Von mir hast du die jedenfalls nicht gelernt.« Ruckartig bewegten sich die Köpfe der beiden Mädchen und die Blicke der Kinder trafen einander. Es war offensichtlich ein Geheimnis unter Schwestern. »Wir haben die Sprünge auf dem Trampolin im Garten geübt. Man kann an den Stangen hochlaufen und abspringen. So wie Kommander May es im Fernsehen immer macht.«, erklärte Daniela unsicher ob nicht doch eine Strafe auf sie wartete. »Kommander May?« Die Mädchen nickten gleichzeitig. »Und von ihr hast du diese "Man muss seine Umgebung nutzen" Sache?« Daniela nickte wieder heftig: »May hat davon in der Ray Team Sendung erzählt, weil schwächere Menschen auch stark sein können, wenn sie sich schlau verhalten.«
Thomas schüttelte lächelnd den Kopf. Mit dieser Antwort hätte er nie im Leben gerechnet. Den Einfluss seiner erwachsenen Ziehtochter im Weltall auf seine Mädchen hier auf der Erde hätte er nicht einmal erahnen können. Offensichtlich klebten seine Kinder an den Worten des kleinen Kommanders und machten sich ihr Wissen zu nutze. Ein wenig entfachte das Wissen auch den Stolz in ihm. Seine Mädchen waren schlau und wussten sich in dieser gefährlichen Situation selbst zu helfen.
Mergy dachte erneut an die Aufzeichnung. Seine Tochter war stets wachsam gewesen. Wenn man von der Situation im Fahrzeug einmal absah. Sie hatte den Schlüssel abgezogen, was neutral betrachtet ebenfalls eine ziemlich gute Idee war. Ohne den Schlüssel konnte er nicht wegfahren und das zurückgelassene Fahrzeug würde in jedem Fall auf seine Spur führen. Selbst wenn sie den Schlüssel nur zwischen die Polster oder unter den Sitz befördert hätte, wäre das Arschloch nicht so schnell mit dem Wagen und ihrer Freundin entkommen. Der Einsatz der Tür, oder die Nutzung der Umgebung, wie May es offensichtlich umschrieben hatte, war einfach nur Clever und machte sie stärker, genau wie der kleine Kommander es vor seinem Verschwinden offensichtlich im Fernsehen erklärt hatte.
»Es tut mir leid, weil ihr uns gestern habt streiten hören. Wir mussten das Ganze erst einmal verdauen. Jetzt ist alles wieder gut. Ihr beide seit richtige kleine Helden.«, erklärte Anja noch einmal versöhnlicher und leichter Stolz breitete sich in den Gesichtern der Kinder aus. »Mir tut es auch leid.«, fügte ihr Ehemann hinzu: »Ich hätte gestern nicht einfach abhauen sollen. Sorry.« Letzteres galt direkt seiner Frau, die er während des Streits im Wohnzimmer hatte sitzen und sich direkt in den Kampfgleiter transportieren lassen.
»Zu einem Streit gehören immer zwei Personen. Du hattest ja auch recht. Wenn es anders gelaufen wäre und Daniela sich nicht hätte verteidigen können, hätte ich dir wohl auch Vorwürfe gemacht. Tut mir ehrlich leid.« Beide Elternteile gaben sich einen Kuss, welchen die Kinder teils mit verzücken und teils mit Ekel aufnahmen.
»Aber zurück zum Thema: Ihr geht heute nicht in die Schule, weil da draußen mal wieder die Leute von der Presse sind. Wir wollen vermeiden, dass ihr Ziel der Meute werdet. Die stehen ja schon wieder in Scharen vor der Tür nur um Fotos zu machen, die sie ohne unsere Erlaubnis gar nicht benutzen dürfen.« »In den nächsten Wochen werdet ihr wohl nicht mehr alleine zur Schule und nach Hause gehen.«, fügte Anja hinzu und erntete wenig Begeisterung. »Nur bis der Trubel sich gelegt hat.« Fast auf Kommando waren laute Stimmen vor dem Haus zu hören, die tumultartig zunahmen. »Ich sehe nach. Bleibt von den Fenstern weg.«, merkte Thomas an und verließ die Küche Richtung Flur.
Als er die Tür öffnete, hatte Birgit gerade die Eingangsstufe erreicht, während die Fotografen und Fernsehteams sich an der Grundstücksgrenze drängelten und mit Blitzlichtern auf die Tür feuerten. Thomas warf ihnen noch einen fiesen Blick zu und schloss die Tür hinter Birgit. »Und ich dachte es wäre nicht so schlimm, weil bei uns nur einer herumgelungert hat.«, erklärte Jennifers Mutter. »Diese Familie hat dank ihrer Vergangenheit offensichtlich deutlich mehr Unterhaltungswert.« »Hallo, Frau Engelmann.«, begrüßten sie Kinder ihren Gast im Chor, während Anja mit Danielle auf dem linken Arm und einem Lächeln die andere Hand reichte: »Geht es Jennifer gut?« »Ja, Frank ist bei ihr. Sie kann sich Gott sei Dank an nichts erinnern.«
»Ich wünschte ich könnte das nach dem Film auch sagen.«, gab Thomas zu Protokoll. Noch bevor Birgit ihrem fragenden Gesicht Worte verpassen konnte, fügte Anja eine Erklärung an: »Eine Kamera in der Bank hat alles aufgenommen.« »Da ist sind ja die kleinen Heldinnen.«, platzte es aus dem Hausgast heraus und sie zog die Mädchen sogleich in eine Umarmung: »Ich weiß nicht wie wir uns jemals bei euch dafür bedanken können.«
»Hier. Jennifer meint ihr würdet euch darüber freuen.« Daniela nahm die große Schachtel in Empfang und schaute sich irritiert zu den Eltern um. »Ich habe Jennifer doch nicht geholfen, weil ich Geschenke will.« »Das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen.«, warf auch Anja ein. »Doch es musste sein. Und wenn nicht wegen der Rettung gestern, dann wegen deiner wundervollen Aussage gerade eben. Danke, dass du für Jennifer eine so tolle Freundin bist.« Sie strich der verdutzten jungen Dame noch einmal über die Haare. Daneen war gebannt von der großen Schachtel und schwieg, während Daniela immer noch zögerte das schwere Paket mit dem bunten Papier zu öffnen. »Außerdem hatte ich einen Grund heute in die Stadt zu fahren und wenigstens für eine Stunde Abstand und Ablenkung von dem Trubel zu gewinnen.«
Zögerlich begann das Mädchen das Papier aufzureißen. Schon als sie das Logo in der Ecke sahen, sprangen die Augen der Schwestern auf. Es war die große Spielkonsole mit dem Ray Team Spiel. Nur zwei Kinder in ihrer Klasse hatten es bisher gespielt, weil ihre älteren Geschwister es besaßen. Immer wieder hatten sie damit angegeben. »Wir hatten ursprünglich geplant morgen einen Gillabend bei uns im Garten machen. Wie wäre es, wenn wir eine kleine Grillparty daraus machen und uns alle hier treffen?«, schlug Anja vor. »Das wäre toll. Ich mache die Salate.«, erklärte Jennifers Mutter: »Ich muss einfach etwas zu tun haben, sonst drehe ich durch.«
Die Aufregung auf dem Erdenschiff hatte sich schon vor Wochen gelegt. Mehr als sechs Monate dauerte ihre Reise nun schon und ein Ende war nicht ansatzweise in Sicht, auch wenn sie jetzt wieder mit voller Geschwindigkeit durch den blauen Raum fegten und nur von Zeit zu Zeit kurz einmal anhielten, um einen genauen Scan zu machen und Energie aus dem Unterraum zu zapfen. Das dauerte in der Regel nur etwa eine halbe Minute. Obwohl das gute Gefühl etwas bewirkt zu haben noch in ihnen weilte, war die einsame Realität längst wieder Alltag. Kämpfe gab es mangels Draken schon lange nicht mehr.
Das Notsignal einer noch unbekannten Rasse ließ die Menschen aufhorchen. Dieses Mal war es nicht nur der Wille zu helfen, der sie alleine antrieb, sondern auch der Wunsch nach Abwechslung. Zu ihrem Erstaunen war es erneut ein Drakenschiff, von dem Gefahr ausging. Das gefährdete Schiff war eine Kugel. Keine Aufbauten, sichtbare Fenster oder sonstige Öffnungen. Einfach nur eine glatte graue Kugel. Nim ließ Victor den Datenkern der Angreifer sichern. Auf diese Weise konnte man vielleicht mehr über die verbliebenen Draken erfahren und herausfinden wie dieses Schiff der Zerstörung entgangen war. Nim stellte die Kommunikation her und ließ keinen Zweifel daran, was mit den restlichen Draken passiert war. Er bot ihnen an sich zurückzuziehen, schließlich wären sie wohl die letzten ihrer Art oder zumindest in der glücklichen Lage noch ein funktionierendes Raumschiff zu besitzen.
Die Draken hatten schon damals ähnliche Angebote verweigert und so hatte auch diese Drakenkreuzersbesatzung keinerlei Fluchtgedanken. May pustete es nach einer zweiten Warnung weg. Jiyai versuchte einen Kontakt zur neuen Rasse herzustellen, aber es gab nur eine schriftliche Verbindung. Die Lebensform war auch nicht wirklich in den Schiff auszumachen und auch in den Drakendaten fanden sich keinerlei Informationen zu ihrem Aussehen. Es war als würde das Innere des Schiffes leben. Wie eine Schildkröte, die im Inneren ihres Panzers wohnte, so schien diese Lebensform das Raumschiff förmlich auszufüllen.
So wurden nur auf schriftlichem Wege Danksagungen und Informationen ausgetauscht. Victor fand derweil heraus warum der Kreuzer der Draken nicht mit den anderen Schiffen explodiert war. In den Logbüchern fand er einen Eintrag, der einen Defekt des Kommunikationssystems für etwas über drei Erdenstunden beschrieb. Genau zu dem Zeitpunkt als die Nachricht zur Neukonfigurierung der Reaktorsteuerung von den Schiffen verteilt wurden. Nach dem Wiederherstellen der Systeme, waren sie, zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit, auf einem der letzten Schiffe ihres Volkes und konnten die zerstörerischen Daten nicht mehr empfangen, weil es keine Sendequelle mehr gab.
»Ein weiteres Schiff nähert sich im Unterraum. Signale stimmen laut Sanktum mit den Wadomm überein.«, berichtete Tori. »Wadomm? Der Hüter hat von ihnen geredet.«, verkündete May: »Sie haben ihr Joluh über die Jahre verloren, so wie die Seem.« Ein sehr langes kantiges Schiff verließ den Unterraum mit einigem Sicherheitsabstand. »Es ist ein Frachtschiff. Minimale Bewaffnung. Keine Fracht an Bord.« Tori entdeckte einen Scan des eigenen Schiffes, sonst verhielt es sich still. »Eingehendes Signal. Sie senden in der Sprache der Seem.« Nim ließ die Botschaft auf den Schirm legen. »Wir sind die Wadomm und grüßen Kommander May und die Menschen.«
»Sie kennen uns? Sie kennen die Seem?« »Wir betreiben Handel mit den Seem.« »Es gibt einen weiteren Planeten der Seem? Hier?«, erkundigte sich Nim weiter. May ergründete derweil die Optik der Außerirdischen. »Kartoffelköpfe!«, schoss ihr immer wieder durch den Kopf, obwohl das ziemlich unhöflich war. Diese Aliens sahen aus wie Trolle. Allerdings wie Trolle, die man mit ungeschälten Kartoffeln und einigen Zahnstochern gebastelt hatte. Ihre Gesichter waren kartoffelig ausgebeult. Ja, die erste Beschreibung war unschön, aber durchaus treffend.
»Nein, die Seem sind, wie auch unsere eigene Heimat, auf der anderen Seite des Vistra.« »Was ist ein Vistra?« »Unser Volk hat vor vielen hundert Jahren das Vistra entdeckt. Es führte uns direkt hier her.« »Vielleicht ist das diese Brücke der Draken, deren Koordinaten nie in den Datenbanken auftauchen.«, flüsterte Jiyai leise. »Wir handeln hier. Unsere Handelspartner haben von einem Schiff berichtet, welches alleine und erfolgreich die Draken bekämpft und Welten befreit. Wir haben beschlossen weiter in den Raum vorzudringen, um zu sehen ob wir Kontakt aufnehmen können. Die Formbeschreibung der Seem war zutreffend.«
»Würden sie uns dieses Vistra zeigen?« »Folgen sie uns einfach.«, merkte der ulkige Troll an und terminierte die Verbindung. »Ist das wirklich ein Weg nach Hause?«, brachte Tori als erster Zweifel vor. »Es könnte auch eine Falle sein.«, merkte Nim an: »Aber dieses Risiko müssen wir wohl eingehen. Es ist immerhin eine Möglichkeit. Die Erste seit Monaten. Die Erste überhaupt.« »Woher sollten sie sonst von uns wissen? Und von den Seem? Es muss diese Brücke sein, die in den Drakenkernen erwähnt wurde.«, stellte sich May auf die Seite der Wadomm.
Shizuka folgte dem länglichen Schiff. Es unterschied sich baulich nicht sehr von einem Flussfrachtschiff auf der Erde. Lang und mit nach oben und unten zu öffnenden Luken bestand es zum größten Teil aus Laderaum. Trotz aktiviertem Turbo, wie Nim den erweiterten Antrieb gerne mal nannte, hielt Shizuka das Schiff hinter dem der Wadomm. Sie flogen fast einen Tag in die, auf die Erde bezogen, falsche Richtung. Victor beobachtete und überwachte, während die Piloten in ihren Kabinen nach Schlaf suchten. Trotz der Anspannung und der erneut aufkeimenden, aufflackernden Hoffnung einen schnelleren Weg finden zu können, schliefen die Piloten tief, als Victor den Unterraum verließ. Eine Nachricht der Wadomm verkündete, der Unterraum wäre in diesem Bereich nicht mehr sicher und man müsse das letzte Stück der Reise im normalen Raum fliegen.
Victor hatte die Anomalie, auf die sie zusteuerten, bereits im Unterraum geortet. Die Angaben waren korrekt, auch wenn die Wellen, die von ihrem Ziel ausgingen für das Sanktum zumindest aus dieser Entfernung nicht gefährlich waren, so brauchte er nur das deutlich weniger massive Schiff seines Begleitschiffes zu scannen. Es würde im Unterraum zerbrechen, wenn die drückenden und zerrenden Kräfte an verschiedenen Stellen die Stabilität aufreiben würden. Er hielt es nicht für nötig seine Besatzung zu wecken. Die komplette Mannschaft war ausgeruht, als sie die Brücke wieder betraten.
Die Maschine erklärte die aktuelle Lage und das Ziel. Kaum war Victor damit fertig, wurde die Besatzung erneut gerufen. Die Wadomm teilten den Menschen mit man würde nun in das Vistra hineinfliegen. Eine Kommunikation darin wäre bis zum Wiedereintritt in den Normalraum nicht möglich. »Besser wir fahren den Turbo ein.«, merkte Nim an, obwohl er keine Ahnung hatte wie ihre Reise weiter gehen sollte. Der Raum vor ihnen war dunkel. Es gab nichts zu sehen. Keine Planeten, keine Sonne. Nur Dunkelheit. Das Sanktum fand mit den Sensoren auch bei einer genauen Prüfung nur einen kleinen Riss im Unterraum auf den das Schiff der Wadomm zuflog. Dann sahen sie helles Licht und das Schiff war im Inneren verschwunden. Victor legte die Aufzeichnung noch einmal auf den Schirm. Bild für Bild konnte man sehen was passiert war. Für einen kurzen Moment konnte man einen Wirbel sehen. Es war kein Vortex, aber auch nichts was sie sich erklären konnten.
Shizuka steuert auf Anweisung den gleichen Punkt an. Das grelle Licht blendete die Besatzung ebenfalls. Dann sahen sie den Wirbel, der in allen Farben strahlte. Als würden sie der Länge nach in einem Regenbogen fliegen, dessen Streifen schnell um seine Achse rotierten. Das Sanktum wurde erschüttert und umher geworfen. Shizuka hatte keine Kontrolle mehr. Der Antrieb reagierte zwar, vermochte aber keine Bewegung zu erzeugen. Die externen Kräfte waren zu groß und hielten die gigantische Münze wie auf holperigen Schienen in der Spur.
Die Sensoren waren ebenfalls unwirksam. Sie waren zur Untätigkeit verdammt und ihrem Schicksal ausgeliefert. Fast eine halbe Stunde dauerte es, bis sie mit hoher Geschwindigkeit wieder in das Weltall entlassen wurden, wo das Wadomm Begleitschiff bereits auf sie wartete. Das Loch hinter ihnen war, bis auf minimale Sensorwerte, wieder unsichtbar. Tori tippte angeregt auf seiner Konsole. »Bekannte Sternenkonstellationen. Rückflugszeit zur Erde–« Er hielt inne und tippte erneut auf seiner Anzeige herum. Mit aufgerissenen Augen drehte er sich zu May und Nim: »Drei Stunden und Vierundzwanzig Minuten.«
Stille breitete sich aus. Sie waren Zuhause. Vielleicht noch nicht ganz, aber für Weltraumverhältnisse war das hier schon der heimische Vorgarten. »Victor, womit handeln die Wadomm?«, brach May die Stille. »Sie liefern Kranarkristalle an die Seem.« »Die Seem nutzen sie als Energiequelle, oder?« »Nach einer Weiterverarbeitung, ja.« »Produziere diese Kristalle in einem unserer Lagerräume. Soviel hineinpasst.« Nim schaute fragend, aber bevor er etwas sagen konnte, erschien der Hüter der Sankten in einem Lichtblitz vor ihnen im Raum. »Morgen Professor.«, begrüßte Shizuka ihn schnippisch, wirkte er doch immer noch mehr wie ein Uniprofessor und weniger wie eine, von einer uralter Zivilisation abstammende, nicht menschliche Lebensform.
»Ich hatte angenommen dieses Sanktum wäre ebenfalls im Kampf verloren gegangen.«, zeigte er sich überrascht. »Das haben wir auch schon einige Male gedacht, aber es ist stabiler als erwartet.«, lachte Nim. »Wieso konnte ich keinen Kontakt aufnehmen? Es war als wäre es verschwunden. Zerstört.« »Sie haben wohl an der falschen Stelle gesucht.«, fügte May hinzu: »Wir wurden während der Explosion des anderen Sanktums durch einen Vortex geschleudert.« »Verstehe. Ich stehe tief in eurer Schuld.« »Nein, dank des Sanktums konnten wir die Erde retten. Wir hatten intensiv die Möglichkeit das Sanktum zu erforschen und zu studieren. Es hat bereits viele Milliarden von Lebewesen gerettet, Hoffnung geschenkt und Frieden geschaffen, wo vorher nur Krieg herrschte.« Nim konnte den Worten seiner Freundin nur lächelnd zustimmen und das wohlige Gefühl in seinem Innersten genießen.
Der Hüter verschwand ohne ein weiteres Wort. Es nahm seine »nicht einmischen« Philosophie offensichtlich immer noch sehr ernst. Eingehende Nachricht von den Wadomm. Sie fragen ob wir den Übergang heil überstanden haben. May flüsterte Nim etwas ins Ohr. »Öffne einen Kanal. Unser Schiff hatte keinerlei Probleme mit dem Vistra. Sie haben uns eine sehr lange Reise erspart und selbstlos gehandelt. Ich kann nicht für alle Menschen sprechen, aber das Ray Team spricht ihnen seinen Dank aus. Als kleine Kompensation für ihre Mühen habe ich, als Zeichen unserer Dankbarkeit und des weiterführenden Vertrauens, einen ihrer Lagerräume füllen lassen. Ich hoffe sie nehmen unser Geschenk an.«, redete Nim offiziell und als hätte er jahrelange Übung in Diplomatie. Dabei hatte er nur jahrelang fern gesehen.
Der Wadomm, der sich Wroggen nannte, sprach einige Worte zur Seite. Es war gut die Sprache der Seem zu nutzen. May wunderte sich. Hatten die Seem zu diesem vorgehen geraten, weil ihnen die Menschen und ihre Übersetzungsprobleme bekannt waren? Auch ohne bekannte Worte verstand May den Dialog mit dem unsichtbaren Besatzungsmitglied. Sie hatten das energiehaltige Material gefunden und der Kapitän forderte ihn auf seine Angaben noch einmal genau prüfen. Obwohl die Rasse ihnen bis vor zwei Tagen nur aus den Datenbanken der Seem bekannt war und selbst dort die Angaben mehr spärlich als umfangreich waren, konnte May Erstaunen im Gesicht des kartoffeligen Wesens erkennen.
»Ihre Kompensation ist mehr als großzügig. Danke! Gute Weiterreise.« Die Verbindung wurde getrennt. »Das war jetzt komisch.«, merkte Nim an. May schaltete. »Victor kannst du den Wert der übermittelten Kristallmenge umschreiben?« »Etwa das sechs bis siebenfache des Wertes eines Wadomm-Frachters.« »Oh.«, war May sprachlos. Nim brach in Lachen aus: »Über das Ziel hinausgeschossen, nennt man das.« »Er hatte wohl Angst wir würden unsere Meinung noch einmal ändern.«, fügte Tori hinzu. »Shizuka, Kurs auf die Erde setzen. Volles Tempo!« Das Mädchen lächelte, aktivierte ein letztes mal den Turbo und trieb das Sanktum in den Unterraum.
Nachdenklich saßen alle auf ihren Sitzen. Eine vorzeitige Kommunikation mit der Heimat wollte man vermeiden. Sie wollten einen Überraschungsmoment. Eine triumphale Rückkehr. Das hatten sie sich mehr als verdient. May sprang von ihrer schon seit einer Weile nutzlosen Waffenkonsole auf und stellte sich vor ihre vier Kollegen, die sie fragend anblickten. »Ich weiß wir sind nicht freiwillig auf diese Reise gegangen und in weniger als drei Stunden ist dieses Abenteuer zu Ende.« Der Kommander legte eine kurze Pause ein. »Wir haben viel erreicht. Leben gerettet, Welten befreit und neue Freunde gefunden.« Wieder ließ sie ihren Freunden Zeit zum Reflektieren.
»Mönche auf der Erde ziehen alleine los und begeben sich in entlegene Regionen, um über ihr Leben nachzudenken. Wenn wir gleich Zuhause eintreffen, werden die Informationen und Gefühle wieder auf uns herein prasseln, aber wir sollten vorher noch einmal in uns gehen. In den letzten sechs Monaten haben wir viel über uns und unsere Begleiter gelernt. Wir sind auf persönliche Grenzen gestoßen und haben sie gemeistert. Egal ob körperlich oder emotional. Wir sind zusammengewachsen und eine Einheit geworden, die sich blind vertraut. Eine Einheit, die auch ohne viele Worte gemeinsam handelt. Wir können stolz auf das Erreichte sein. Egal ob da draußen, oder–«, May deutete auf ihr Herz: »–hier drin.« Ohne weitere Worte setzte sie sich wieder in ihren Stuhl. Einzig Nims Hand legte sich sanft auf ihre und er schenkte ihr ein Lächeln. Den Rest der Reise schwiegen sie alle in Gedanken.
»Registriere Unterraumaktivität.«, war Trish angespannt. »Ich bringe die Guardians in Position. Waffen werden geladen. Sab an Vanquist, wir brauchen euch zur Verteidigung. Tests abbrechen.« »Ein Vortex öffnet sich.«, verkündete Trish noch hektisch, bevor ihre Stimmlage einen deutlich leiseren, überraschten Unterton bekam: »Er ist oval.« Sab sprang auf und eilte zum Fenster. Ihr Stuhl, obwohl mit magnetischen Rollen versehen, riss vom Boden ab und kippte scheppernd auf die Lehne. »Das war die wohl größte positive emotionale Regung, die ich von Sab je gesehen habe.«, schoss es Trish durch den Kopf. Das weiße Schiff bohrte sich in den Raum und senkte den Zusatzantrieb ins Innere ab, bevor es sich Richtung Station drehte.
»Zwölf Waffenplattformen haben uns gerade aufs Korn genommen. Zumindest sind es der Energiemenge nach Waffensysteme. Da sind laut Sensoren ziemlich große Tiniumkerne drin.« Tori legte eines der unbekannten Geräte auf den Bildschirm. Nim blickte unsicher zu May hinüber, die aber ebenfalls keine Ahnung hatte was es mit dieser neuen Technologie aufsich hatte, als ein Piepen weitere Neuigkeiten ankündigte. »Ein Schiff enttarnt sich direkt vor uns. Laut Kennung ist es die Vanquist.«, legte Tori den Videobeweis neben die Waffenplatform. »Was zur Hölle? Sind wir durch das Vistra in ein 16:9 Universum gewechselt? Das Schiff sieht verzerrt aus.«, umschrieb Nim das Bild des deutlich breiteren Flagschiffes. »Die Station sieht aus wie immer.«, merkte Jiyai an.
Da Sab regungslos am Fenster stand, legte Trish das eingehende Signal selbst auf den großen Schirm: »Nim an Ray Team One. Wir kommen in Frieden. Mission erfolgreich abgeschlossen. Mannschaft vollständig anwesend.« Mit diesem kurzen Statement beantwortete er die meisten bis Dato unbeantworteten Fragen. Mehr als Nim war in der Übertragung nicht zu sehen. Sab blickte nach einem kurzen Blick auf den Schirm sofort wieder auf das strahlende Schiff mit den großen Schriftzeichen auf dem Rand. »Willkommen zurück. Jaque, die Guardians herunterfahren wieder an ihrem HUB andocken.«
Reiko hatte den Vortex erblickt, als sie dabei war den Mittagstisch vorzubereiten und stand ebenfalls gebannt an der Scheibe. Sie war bei weitem nicht die Einzige. Das komplette im Sors anwesende Personal drängelte sich an den Scheiben. »Suki, tut mir leid wenn ich störe.«, ertönte die Stimme von Trish in ihrem Kopf. »Äh, ich bin doch gerade erst mit meiner Schicht fertig.«, war das Mädchen froh, wenigstens nicht von Sab geweckt worden zu sein. Auch wenn sie sich in den letzten Monaten wirklich näher gekommen waren, so blieb ihre Stimme gruselig. »Ich weiß. Du solltest vielleicht mal aus dem Fenster sehen und dann in Hangar drei kommen.« Erst jetzt bemerkte die übermüdete Pilotin den Trubel an den Fenstern. Hastig bahnte sich sich einen Weg durch ihre Kollegen. Gerade als sie sich fragte was es da draußen besonderes zu sehen gab, flog das gigantische Gemälde am Fenster vorbei.
Auch Neela bekam eine Ansage. Damit sie ihren Gleiter nicht durch Hast oder Unachtsamkeit in ein Flugzeug rammte, gab Trish nur an ihr Gleiter würde Fehlermeldungen senden und müsste umgehend zur Wartung. Kaum hatte sie das All erreicht schossen ihr die Tränen in die Augen. Shizuka begann gerade mit einer erneuten wilden Rotationen eine weitere Runde um die Station. Sie brachte das Schiff erst nach einer zweiten Aufforderung von Nim neben der im direkten Vergleich nicht wirklich kleinen Station zum Stillstand. Nim war ihr nicht wirklich böse. Es war ein guter und spektakulärer Auftritt, den das Sanktum hingelegt hatte. Jeder mit einem Fenster dürfte das Sanktum gesehen haben und wusste nun um ihre Rückkehr.
Tori legte den einzelnen im All parkenden Gleiter auf den Schirm. »Ich war noch nie so froh einen Kampfgleiter zu sehen.«, platzte die Freude auch aus Jiyai heraus. »Darum habe ich ihn nicht auf den Schirm gelegt.«, merkte Tori an und vergrößerte das Bild noch einmal deutlich. Nun war Neela hinter der Scheibe zu sehen, die mit einer Hand vor dem Mund das Innere ihres kleinen Schiffes unter Wasser setzte. Shizuka spiegelte die Geste sofort wieder. »Lassen wir sie nicht länger warten. Alles in den Manta zum Übersetzen.«, kommandierte Nim ein letztes Mal seine Mannschaft und übergab Victor das Ruder, obwohl das eigentlich eine unsinnige Anweisung war. Mit May im Arm ging nun auch Nim in Richtung Hangar. Sie hatten sich schon lange nicht mehr öffentlich so nah gezeigt. Beide waren sich da einig gewesen. Zärtliche Gesten würden ihre verletzlichen Kollegen nur zusätzlich an ihren eigenen Verlust erinnern. So hatten sie in den letzten Monaten auch die kleinen Berührungen und die zärtlichen Küsse auf ihre kleine Kabine beschränkt.
Nim setzte sich an die Steuerkonsole, während alle Anderen automatisch die, durch ihre erste gemeinsame Mission definierten, Plätze einnahmen. Victor öffnete das Dach und langsam erhob sich die Plattform mit dem kleinen weißen Raumschiff. Erst im All aktivierte Nim den Antrieb und überwand das Gravitationsfeld, welches den Manta auf dem Sanktum kleben ließ. Nicht weniger unauffällig als zuvor Shizuka flog er um die Station. Jaque teilte ihm wie erwartet Hangar drei zu. Alleine die Tatsache seiner Antwort zeugte von dem bevorstehenden Großereignis. Die komplette Kommandoebene würde sie bereits im Hangar erwarten. Langsam, über die fröhlich winkenden Signalfeuer hinweg schwebend, drang der Flachdrache in den Landetunnel ein. Für einen kurzen Moment konnte man die auf sie wartende Menge sehen. Dann drehte Nim das Schiff um 180 Grad, damit die sich gleich öffnende Luke den erwartungsvollen Blicken ausgesetzt war.
»Da wären wir. Zuhause!«, kommentierte Nim die Lage, während die Anderen schon Richtung Luke stürzten, um den Taster zu drücken, der sie jetzt als einziges noch von dem trennte, was sie in den letzten Monaten so schmerzlich vermisst hatten. Die beiden Lukenelemente teilten sich und auf beiden Seiten flossen die Tränen in Strömen. Nim blieb noch auf seinem Sessel sitzen und schaute, den Sitz um 90 Grad gedreht, schweigend zu, wie sich die einzelnen Menschen zu Gruppen und Knäulen verbanden. Schließlich erhob er sich und trat von der Luke auf den Metallboden des Hangars. May war von ihren Eltern eingenommen. Shizuka hatte Neela, Suki und Tori im Arm und Jiyai klebte abwechselnd an Sab und dem Doc.
Nim lächelte zufrieden und bemerkte Trish und Tin nicht, die bereits seit einigen Sekunden neben ihm standen. »Dich hat wohl niemand vermisst.«, merkte Tin schließlich an. Der Pilot blickte mit hochgezogenen Augenbrauen zur Seite. Trish griff um seinen Rücken herum die Schulter und zog ihn an die eigene. »Ich hab dich vermisst.« »Lügende Kommander sind ein schlechtes Vorbild.«, lächelte Nim verschmitzt. »Ihr habt ein ziemliches Loch hinterlassen. Egal wen man auf der Station getroffen hat, dieses Loch war bereits da. Das hat genervt.« Trish zog nochmal an dem nur wenige Jahre jüngeren Kollegen und erhöhte den Druck zwischen ihren Schultern. Selbst Tin ließ sich zu einer identischen Geste hinreißen und der Pilot wurde von beiden Seiten gedrückt.
May schaute nach hinten, wo Nim Schulter an Schulter mit Trish und Tin stand. Sie öffnete den Kreis der Familienumarmung und winkte ihm mit der freien Hand zu. Trish drückte ihn nach vorne und er marschierte leicht zögerlich auf seine Familie zu, die ihn mit offenen Armen empfing. Mergy saß derweil zusammen mit Kagami und Kenji im Transporter. »Ich habe ihnen ja gesagt, sie werden zurück kommen.«, lächelte der Kommander, als das Transportschiff ihn in Frankreich einsammelt hatte. Er wurde sogleich von den beiden anderen Passagieren freudig empfangen. »Geht es Shizuka auch wirklich gut?«, war die Mutter des Mädchens unsicher was sie erwartete. »Wenn dem nicht so wäre, dann hätte man mich darüber informiert.«, erklärte Mergy höflich und zerstreute die aufkeimende Sorge.
Sekunden später wurde die Aufmerksamkeit der Insassen auf das durch seine glatte Form und die neue Lackierung hell strahlende Schiff gelenkt. Die Station wirkende dagegen mehr Matt. »Holla, das nenne ich mal einen Streitwagen. Die Künstlerin, die das Bild entworfen hat, dürfte ihnen bekannt sein.«, witzelte Mergy. Erst als er seinen Blick wieder ins Innere schwenkte, bemerkte er die Unwissenheit in ihren Augen: »Sie haben wirklich keine Ahnung, oder? Josh gib mir mal ein HUD nach hinten.«
Vor Mergy erschien ein kleiner holographischer Bildschirm. Der Kommander tippte ein paar Felder an und schließlich sah man die runde Scheibe auf dem holographischem Schirm. Er drehte das Bild in eine aufrechte Position und zoomte den rechten unteren Teil heran. »SY«, stand dort in einem farblich abgesetzten Symbol, das Mergy ein wenig an Taiji, dem Symbol für Yin und Yang, erinnerte: »Ich kenne doch meine Piloten. – Ich meine: Künstler.«, witzelte Mergy, während die Gäste nur staunend seinen Bewegungen folgten, bis die Augen auf der Signatur kleben blieben. Ihr Blick schwenkte wieder ins All, wo sie das gigantische Bild jetzt mit ganz anderen Augen sahen.
Erst durch die Einflugwarnung, die lautstark über das Deck schallte, ließen die freudigen Umarmungen kurz nach. Der Transporter mit Josh am Steuer landete neben dem Manta. Die Eltern von Shizuka und Suki traten aus der Türöffnung. Kaum hatten sie das Schiff verlassen stürmte Shizuka ihnen auch schon entgegen. Mergy, der als letzter Passagier das, wie ein Bus aussehende, Raumschiff verließ, überragte das sich vor ihm bildende kleine Knäul deutlich und marschierte grinsend um es herum.
»Das hat aber lange gedauert. Was hat euch aufgehalten?«, waren seine ersten Worte als er May und Nim sah. »Also eine 232 Jahre lange Reise auf sechs Monate und vierzehn Tage zu verkürzen halte ich für ziemlich beeindruckend und keinesfalls langsam.«, warf Nim nicht weniger schnippisch zurück, während May ihren deutlich älteren Freund in die Arme schloss: »Und wir haben nebenbei noch unzählige Welten und Milliarden von Lebewesen gerettet.« »Die Leute hier waren der Meinung ich wäre schon steinalt, wenn ihr euch wieder die Ehre geben würdet.«
»Dann sind wir wohl 15 Jahre zu spät. Tut uns leid.«, lachte Tori und riss die Kommander, Piloten und Gäste auf dem Deck mit in ein lautes Lachen. »Ich erwarte einen ausführlichen Bericht.« May zog den Kopf zurück: »Nim hat einige verfasst, auch wenn sie wahrscheinlich alle mit mit "Sternzeit" und "Dies sind die Abenteuer des Raumschiffs Atlantis" anfangen.« Nim erstarrte und wurde knallrot. »Du hast mich gehört?« »Ab und zu.«, prustete May vor Lachen: »Ich fand das süß!«
»Stationssitzung in 20 Minuten.«, verkündete Mergy. »Jetzt gib ihnen doch etwas Zeit.«, herrschte Trish zurück. »Ich habe nur 45 Minuten. Die Prinzessinenparade!« Alle starrten ihn unsicher an. Hatte er das jetzt wirklich gesagt? »Was? Wir machen mit den Kindern gerade Urlaub in Disneyland!« Wieder brachen alle in Lachen aus. »Ich will euch heute noch für eine Untersuchung sehen.« »Doc!« »Keine Widerrede.«, blieb der Arzt hart und wiegelte Trish ab.
»Jiyai hat uns gut versorgt. Sie hat sogar Nim aufgeschnitten und alles wieder zurechtgerückt.«, warf Tori von der Seite ein. »Erinnere mich nicht daran. Die erste und letzte Operation an der ich aktiv teilgenommen habe.«, lächelte May. Doc und Sab blickten erstarrt auf das Mädchen hinunter. »Er wäre sonst gestorben.«, versuchte sich Jiyai zu rechtfertigen und wurde gleich wieder an Sab herangezogen. »Das hat alles bis Morgen Zeit.«, erklärte Trish mit lautem Ton und setzte sich damit über Mergy und sogar den Doc hinweg, was Rangmäßig eigentlich unmöglich war. Die medizinische Abteilung hatte in Gesundheitsfragen die Oberhand. Sab brauchte sie sowieso nicht einwickeln. Sie würde Jiyai wohl erst in einigen Stunden wieder loslassen.
»Du musst nicht hier bleiben. Ich bin ja später auch noch da. Deine Familie – deine Kinder – brauchen dich mehr als ich.«, erklärte May. »Du bist aber auch meine Familie.« »Ich weiß.«, lächelte May und schloss ihn erneut in einer Umarmung ein.
Unsicher stapfte May über den flauschigen Teppich und um das Bett herum zur Tür in den Wohnraum. Alles sah genauso aus wie in ihrer Erinnerung. Sie waren nach Hause gekommen. Alle waren da. Sogar Mergy. Es war so ein schöner Traum gewesen.
Alles war wie immer. Selbst der Mondstein lag an seinem Platz, genau wie May ihn aus ihren Erinnerungen programmiert hatte. Die Bilder mit ihren Freunden lachten sie an und Nim, der immer noch tief schlief. Sanft strich sie über das Bild. Suki und May in einer Umarmung und mit Partyhüten. Der Abend war so schön gewesen. Was Suki wohl machte? Sie war auch in ihrem Traum gewesen und hatte Tori innig geküsst und ihre Schwester in den Arm genommen. Es war wirklich ein schöner Traum gewesen. Sie drehte sich gerade wieder zur Schlafzimmertür, als sie erstarrte. Langsam drehte sie ihren Kopf. Ihr Blick schob sich vorbei an Regal und Schreibtisch. Er endete an den Bildschirmen, die das Weltall nachempfanden. Warum waren sie nicht im Unterraum? Und wieso war da ein Andockring?
»Victor, warum sind wir nicht im Unterraum?«, fragte May laut. »Wer ist Victor?«, fragte eine Stimme von der Decke. Es war Jaque. »Schlafe ich etwa noch?«, war May unsicher. »Ich kann mit meinen Sensoren die Quartiere nicht erfassen, aber der Umstand deine Stimme zu hören und mit dir zu interagieren, deutet deinen Zustand bereits an. Du bist wach!« »Nein, ich träume.« Der kleine Kommander drückte die Taste neben der Tür. Das eckige Portal in den Korridor öffnete sich und May steckte den Kopf hinaus. Ein normaler Stationsflur. »Langsam übertreibt Jiyai es mit der Nachbildung der Station.«
May setzte sich auf den Sessel am Fenster. Sie zog die Beine an, umfasste sie mit ihren Armen und schaute aus dem Fenster. Eine winzige und zärtliche Berührung ließ sie nach einer halben Stunde aus ihren Träumen aufwachen. »Ich bin noch hier.«, schaute sie wieder über den äußeren Stationsring hinweg in All. »Das will ich doch hoffen.«, lächelte Nim: »Was machst du hier draußen?« »Ich habe geträumt wir wären nach Hause gekommen und alle waren da.« Nim verzog die Augenbrauen fragend nach oben. »Ja, sag´ es ruhig. Ich habe Heimweh und soll mich untersuchen lassen.« Seine Freundin lächelte, während er begann sich Sorgen zu machen. »Wir sind wieder Zuhause. Das war kein Traum. Es ist alles echt.«, versuchte Nim sie zurück in die echte Welt zu holen.
»Hast du schlecht geschlafen? Wir sind in der Nachbildung unseres Quartiers im Sanktum. Victor scheint einen Wartungszyklus zu machen. Darum das Weltall.« »Hast du ihn gefragt?« »Jiyai hat wirklich eine gute Simulation von Jaque hinbekommen. Ich wäre fast darauf hereingefallen. Sogar der Flur sieht jetzt wie auf der Station aus.« »Wir sind Zuhause. Im Hangar haben uns alle begrüßt. Mergy wollte zu einer Prinzessinnenparade. Wie kann ich das wissen?« »Weil das hier ein Traum ist. Mein Traum und du bist nicht echt. Ich träume dich und darum weißt du alles was ich weiß.« »Wenn das ein Traum ist, wieso muss Jiyai dann eine Simulation von Jaque erfinden? In deinen Träumen bestimmst du was passiert und niemand sonst.«, versuchte Nim sie von der Wahrheit zu überzeugen.
»Komm.« Nim reichte ihr eine Hand und zog sie auf ihre Füsse. Erst dachte sie er wolle sie nur wieder ins Bett bringen, aber er führte sie zur Dusche. May gurrte: »Ich mag es auch mit dir zu duschen.« »Jaque. Wasser kalt.« Seine Freundin schrie auf und versuchte sich aus der Kabine zu befreien, aber Nim hielt die Tür von außen zu. »Wasser aus.« Das kalte Wasser tropfte ihr aus den Haaren und dem Hasennachthemd. Sie zitterte am ganzen Körper. »Aufgewacht?« »Spinnst du?« »Ich rufe gleich den Doc.« »Das will ich sehen.« »Ich nicht. Er schläft bestimmt. Es ist vier Uhr am Morgen.« »Hier ist das Sanktum und es gibt, von Jiyai abgesehen, keinen Doc.« Nim schüttelte den Kopf und hatte keine weiteren Ideen mehr.
Er verließ das Bad, während seine Freundin sich abtrocknete und ein neues Nachthemd überzog. Im Schlafzimmer fand sie Nim einige Minuten später im Bett vor. May setzte sich auf ihren auf der Seite liegenden Freund. »Ich würde gerne schlafen.« »Das hier ist ein Traum.«, lächelte May: »Wir können machen was wir wollen. Ohne Konsequenzen.« Nim spürte wie May seinen Körper auf den Rücken zwang. Es waren ihre Kräfte, die an ihm zerrten. »Das ist kein Traum und du tust mir weh.«, stieß Nim hervor. Schlagartig war er frei. Mit erschrockenem Gesicht kniete sie immer noch über ihm. Eine Träne lief ihm aus dem Auge und bahnte sich seinen Weg Richtung Ohr.
May setzte zur anderen Bettseite über, während Nim sich erhob und vom Bett aufstand. Sie fasste ihren Freund am Arm, um ihn aufzuhalten. »Nein!« Mehr sagte er nicht. Als sie nach einigen Minuten im Wohnbereich nachsah, war von Nim nichts zu sehen. Er war gegangen.
»Danke sehr.«, kommentierte der Doc. Jiyai lächelte über beide Ohren als sie den Scanner verließ. »Alles in bester Ordnung.«, verkündete der Doc seine Diagnose: »Aber ich denke das wusstest du bereits.« »Na, wen haben wir denn da?«, verkündete Sandra kaum das sie in der Krankenstation eingetroffen war. »Da ist man einmal für zwei Tage nicht auf der Station und dann muss ich durch die Nachrichten auf der Erde von eurer Rückkehr erfahren.« Sie drückte Jiyai an sich. »Du hast mir gefehlt.« »Du mir auch.« Einmal mehr wurde ihr das Vorhandensein ihrer neuen Familie bewusst. Nim trat in die Krankenstation und wurde vom Doc gleich in den Scanner beordert. »Du siehst nicht besonders gut aus.« Jiyai erstarrte. Hatte sie bei ihrer Operation doch etwas falsch gemacht. »Ich hab nur wenig geschlafen.«
»Streit?«, schoss Sandra ihrerseits ziemlich zielsicher einen Pfeil auf das eigentliche Problem. »So in der Art. Ich bin o.k!« Der Doc sah sich die Informationen vom Scan deutlich intensiver an, als die seiner Auszubildenden. »Alles an seinem Platz.«, erklärte der Doc: »Wenn ich das Video nicht gesehen hätte, würde ich niemals glauben das Jiyai dich zusammengeflickt hat.« »Jiyai hat was?«, war Sandra verwirrt und erschrocken. »Mich hat es während des Kampfes mit dem anderen Sanktum ziemlich übel erwischt. Ich verdanke ihr mein Leben.« Anerkennend legte er seine Hand auf Jiyais Schulter.
»Aufstehen.« »Och, noch fünf Minuten. Ich habe doch frei.« »Nix fünf Minuten. Ich kenne dich. Du musst noch zum Doc und dir bei Sab den neuen Dienstplan für die nächste Woche abholen.« Shizuka öffnete die Augen. Direkt über ihrem Kopf schwebte der dunkelhäutige Kopf ihrer Freundin. »Ich habe mir sehr lange gewünscht nur noch einmal so geweckt zu werden.« »So?« Noch bevor Shizuka etwas sagen oder fragen konnte senkte ihre Liebste den Kopf und küsste sie auf den Mund. »Oder so?« »Das Zweite war definitiv besser als jeder Traum.« »Trotzdem musst du deinen süßen Hintern aus den Federn bekommen. Ich muss jetzt zu meiner Schicht. Sonst bekommst du gleich am ersten Tag wieder Ärger mit Sab.« Erst jetzt bemerkte der Pilot das Neela bereits angezogen war. Shizuka lächelte: »Danke fürs Warten.« Für einen Moment zögerte das Mädchen. Es lag kein Sarkasmus sondern ausschließlich Zuneigung in der Stimme. Ihre Freundin meinte etwas anderes. »Warten? Ich habe schon bei Sor gefrühstückt und wollte dich ausschlafen lassen.« »Nicht das. Ich hatte Angst du würdest mich einfach abschreiben und vergessen.«
»Das könnte ich gar nicht. Ich habe dich so vermisst. Außerdem war Sab sicher ihr würdet bald zurück sein.« »Du hast dich mit Sab über uns unterhalten?« »Der Club der Zurückgelassenen konnte nicht wählerisch bei seinen Mitgliedern sein. Außerdem ist sie wirklich nett.« »Club der Zurückgelassenen.«, murmelte Shizuka nachdenklich und ihr fielen die Worte von May wieder ein: »Wenn sie dich liebt, dann wird sie auf dich warten.« Neela vernahm die versehentlich leise geflüsterten Worte. »Natürlich liebe ich dich.« »Und ich liebe dich.« Beide verfielen noch einmal in einen langen, gefühlvollen Kuss, bevor Neela sich löste, noch einmal zum Ausstehen aufforderte und das Schlafzimmer verließ.
Als Shizuka fünfzehn Minuten später aus ihrer Quartiertür auf den Gang trat, öffnete sich zeitgleich die gegenüberliegende Tür. Suki und Tori kamen mit deutlich glücklichem Gesichtsausdruck aus ihrem Reich. »Oh, die kenne ich.«, witzelte Tori. »Deine Nase ist mir auch mehr als nur flüchtig bekannt.«, erwiderte Shizuka. Suki lächelte nur. Sie war einfach nur froh Beide gesund und munter wieder um sich zu haben. »Ich muss zum Doc.«, erklärte Shizuka. »Ich auch. Erst solltest du etwas essen, sonst gibt es einen Vortrag.«, fügte Tori hinzu. »Ich vermisse Doktor Jiyai jetzt schon ein wenig.« »Hat sie wirklich Nim aufgeschnitten?« »Der Manta sah aus wie ein Schlachthaus. Übel!« Mit Schaudern dachte Tori an die Aufnahme zurück, die Viktor dem Manta, auch ohne das ein zweiter Kommander anwesend war, entlockt hatte. »Ohne die Kleine wären wir jetzt wohl nicht hier.«, fügte Tori erklärend hinzu: »Wir sollten sie wohl nicht mehr so mit ihrem Berufswunsch aufziehen.« Suki boxte ihren Freund in die Schulter: »Wie wäre es wenn du sie nicht immer "Kleine" nennen würdest? Das alleine ist schon abwertend.«
Tori knetete sich intensiv die Schmerzen aus der Schulter. »Toll, jetzt muss ich mich vom Doc auch noch über häusliche Gewalt ausfragen lassen.« May rieb sich verschlafen die Augen. Das Bett neben ihr war leer. Ihr Oberkörper schnellte in die Höhe. Sie hatte Nim weh getan. Ihre Augen weiteten sich. Sie hatte ihm Angst gemacht. Das Wasser der Dusche pladderte über ihren Rücken, während sie mit dem Kopf an der Wand lehnte und immer und immer wieder die letzte Nacht durchlebte, als wenn ihre Rückspultaste klemmte. Das war unverzeihlich gewesen und genau darauf musste sie hoffen. Wenn er ihr nicht verzeihen würde, dann wäre alles aus.
Appetitlos schleppte sie sich am Sor vorbei in die Krankenstation. »Ah, besser spät als nie.«, begrüßte Sandra den Kommander. May konnte nur lustlos einen Mundwinkel hochziehen und stellte sich wie gewünscht in den Scanner. Es war schon seltsam. Der kleine Kommander empfand es entspannend in der gläsernen Röhre abgeschottet zu sein, nicht reden zu müssen. Als die Kabine sich wieder öffnete verkündete die Ärztin ihre Diagnose: »Akute Beziehungsproblemitis. Das geht derzeit um.« Der kleine Kommander schluckte. Hatte Nim sich hier schon über ihr Verhalten ausgelassen. Das war eigentlich gar nicht seine Art, aber ihre war es auch nicht ihm weh zu tun. Sandra erwartete wohl keine Antwort auf ihre kleine Anmerkung, da sie sich abwendete und an den Terminal trat. Ihre Patientin beließ es dabei.
Eigentlich hatte sie sich auf die Stationssitzung gefreut. Endlich wieder Abwechslung und nicht mehr die triste Eintönigkeit von fünf Leuten in einem trotz seiner Größe viel zu kleinem Raumschiff. Dennoch konnte sie sich nicht konzentrieren. Der Doc zeigte sich beeindruckt von der Leistung seines Schützlings, was Sab, von den Anderen nicht ganz unbemerkt, die Brust vor Stolz anschwellen ließ. May war fast dankbar, weil Mergy sich direkt wieder auf die Erde verzogen hatte, um mit seinen Kindern weiter den Freizeitpark zu erkunden. »Anja und ihre vier Kinder.«, schmunzelte May innerlich. Wäre er auf der Station gewesen, hätte er sie so lange gelöchert, bis sie mit der Sprache herausgerückt wäre. Darin war er gut. Auch wenn seine Arbeit nur darin bestand mit dem Zeigefinger kontinuierlich ihre Schulter zu picken. »Deutsche Fingerfolter.«, schoss es ihr durch den Kopf.
Von dieser Seite drohte jedenfalls keine Gefahr. Der Doc machte keinerlei Andeutungen und Sandra war nicht hier. Nur einzelne Worte rauschten durch ihren Kopf. Personaleinteilung. Hangarwartung. Mondsprengung. Mondsprengung? May blickte fragend auf. Alle am Tisch sahen sie direkt an. »Was ist mit dir los? Du bist nicht wirklich bei der Sache.«, stellte Trish laut in den Raum, was alle dachten. Der kleine Kommander öffnete den Mund und schloss ihn wieder ohne ein Wort zu sagen. »Es ist Nim, oder?«, merkte Sab sanfter als üblich an: »Er konnte gar nicht schnell genug eine Gleiterschicht bekommen und hat mit Suki getauscht.«
Darum war er an diesem Tag noch nicht auf ihrem Radar aufgetaucht. Wäre er im Sor gewesen, hätte sie ihn schon im Vorbeigehen aufgespürt und sich in seinem eigenen Quartier zu verstecken sah ihm nun wirklich nicht ähnlich. Er hatte offensichtlich auch kein Wort über die Geschehnisse in der Nacht verloren. »Ich habe Mist gebaut.«, wollte sie das Thema schnell abhaken. Die Augen ihrer Kollegen wandelten sich in erstaunen. »Mist! Diese blöde Doppeldeutigkeit.«, schoss ihr die Formulierung durch ihren Schädel, die schon einmal für Verwirrung mit Elisabeth gesorgt hatte. »Nein, ich bin nicht fremdgegangen!«, warf sie leicht unfreundlich und sauer über sich selbst hinterher.
Ausgerechnet Sab versuchte das Mädchen mit einer Zusammenfassung der Geschehnisse während und nach der Schlacht mit den anderen Sanktum für Ablenkung zu sorgen. Es funktionierte zum Erstaunen aller. May erzählte vom Totalausfall, der schweren Verletzung ihres Freundes und der Operation. Die vielen Drakenangriffe und die finale Schlacht, die das Ende ihrer Feinde einläutete. Trish zeigte sich nicht sehr begeistert von der Lösung ein ganzes Volk auszulöschen, aber May merkte an, es gäbe sicherlich diverse Planeten auf denen noch Draken existieren würden. Ohne es zu merken hatte May mehr als neunzig Minuten erzählt. Niemandem fiel diese Zeitspanne auf, denn die Geschichte war spannend, obwohl man ihrem großen Finale gestern persönlich beigewohnt hatte.
Mit dem Ende der Sitzung kamen nicht nur die Erinnerungen an die letzte Nacht, sondern auch der Hunger zurück. Sor begrüßte sie überschwänglich und mit einer Umarmung. Das Mädchen hatte auch ihn sehr vermisst. Nicht nur wegen seinem Essen. Wegen seiner direkten Art und seinem Grinsen. Am Fenster nahm sie ein Mittagessen ein, welches etwas größer ausfiel, weil das Frühstück fehlte und die wachen Stunden zwischen den Tagen Energie gekostet hatten. Ein klapperndes Tablett riss das Mädchen aus den Gedanken und holte sie auf das Fütterungsdeck zurück. Als sie den Kopf drehte saß Nim schon auf der anderen Seite des Tisches. »Hallo.«, lächelte er als wenn nichts passiert wäre.
»Hallo.«, erwiderte May: »Es tut mir so leid. Ich versteh gar nicht was mit mir los war.« »Du warst verwirrt und nicht mehr du selbst.« May nickte stumm. »Ich glaube es war die Anspannung. Du hast dich in den letzten sechs Monaten für uns verantwortlich gefühlt und es hat an deiner Seele gezerrt. Mehr als du dir selbst eingestehen wolltest.« Schweigend nahm May die Worte auf. Sie hatte nie über das Thema geredet, aber insgeheim musste sie es einsehen. Er hatte Recht. Sie war der Kommander und musste alle Entscheidungen treffen und die damit verbundenen Konsequenzen tragen. Auch wenn es meistens so aussah als hätten sie alle Fragen gemeinsam beantwortet und wären Probleme gemeinsam angegangen, so wusste sie es war nicht so gewesen.
Angefangen mit der Entscheidung das Leben ihres Freundes zu riskieren, um das Sanktum erneut starten zu können, bis hin zu den Angriffen auf die Planeten. Wenn sie nicht einverstanden gewesen war, dann hatte sie Einspruch eingeworfen. Oft hatte sie die Ideen der anderen nur umso mehr gelobt, damit ein späteres Veto bei einer anderen Sache nicht so schwer wog. »Ich habe dir Angst gemacht und dir weh getan.«, brachte May leise hervor. »Ich dachte die Dusche würde dich zurückholen, aber als das nicht geklappt hat und als die Lage eskaliert ist, war mir schon etwas mulmig.« »Es tut mir so leid.« »Ich weiß. Das habe ich schon an deinem Blick und deiner Reaktion gesehen. Du würdest mir nie absichtlich weh tun.«
»Trotzdem bist du gegangen.« »Vielleicht nicht die beste Idee und der beste Zeitpunkt, aber es war die erste positive Reaktion und ich wollte diesen Schwung halten. Du brauchst eine Pause. Eine Pause von der Verantwortung. Eine Pause von mir.« Der Blick des Kommanders war entsetzt. »Du willst dich von mir trennen?« Nim griff ihre Hand: »Nein, niemals! Du brauchst Zeit für dich. Erinnerst du dich an deine Worte vor unserer Rückkehr? Du bist weit über deine Grenzen gegangen. Du bist ausgebrannt! Geh´ zum Doc. Erzähl ihm alles.« May ließ die Worte sacken. Er wollte sich nicht von ihr trennen, sondern nur helfen. Vielleicht hatte er recht. Nach der konstanten Anspannung während der letzten Monate war all der Druck mit ihrer Rückkehr schlagartig abgefallen.
»Ich rede mit dem Doc.«, brachte May leise heraus: »Ich habe dir weh getan. Ich mache alles was du verlangst.« »Hey, ich verlange es nicht. Ich möchte meiner Freundin helfen, weil ich sie liebe.«, Nim legte eine Pause ein und wartete bis May Augenkontakt aufgebaut hatte: »Auch wenn sie immer Mist baut.« »Ich muss echt aufpassen wo und wie ich den Mist einbaue.«, verkündete May mit einem Lächeln. »Ja, nicht das du es in einer Stationssitzung so formulierst. Könnte peinlich werden.« May zog die brauen zu ihren Augen hinunter und die Lippen zusammengepresst zu ihrer Nase hoch. »Das ist dir schon passiert?« »Ja, heute morgen. Sie haben gemerkt das etwas nicht stimmte und ich habe versucht es schnell abzuwimmeln.« Nim lachte. Es war das tollste Geräusch das May an diesem Tag vernommen hatte: »Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt.«
Als May später die Krankenstation verließ, verstand sie was Nim gemeint hatte. Der Doc hatte ihr aufgezeigt, diese Art von Krankheit würde oft bei Soldaten auftreten, die lange im Krieg waren und wieder nach Hause kamen. Auch wenn ihre Erlebnisse kein Vergleich zu einem Dschungel– oder Häuserkampf darstellten, so hatte sie mit ihrer Rückkehr ins normale Leben genauso zu kämpfen wie die heimgekehrten Soldaten.
Sie müsse erst wieder lernen sich an den Alltag zu gewöhnen. An ein Leben mit geringer Gefahr und weniger weitreichenden Verantwortungen, die nicht gleich über das Leben und den Tod ihrer Freunde entschieden. Noch am selben Tag packte sie ihren Koffer und reiste auf die Erde, wo sie ohne Ray Team und ohne bekannte Gesichter zur Ruhe kommen wollte. Eine Trennung von allem.
Wie der Mönch, der ein entferntes Kloster bereist, suchte May sich einen einsamen Platz, mietete sich eine Unterkunft und befolgte ihren eigenen Rat. Sie reflektierte die Geschehnisse der letzten Monate.
Es war eine kleine Familienpension in einem nicht sehr großen Ort am Meer. Marcy´s Inn. Keine Touristenhochburg, sondern eine winzige Gemeinde mit etwas über zweitausend Einwohnern. Nach einem ausgiebigen Frühstück ging die Touristin zum Strand. Die Urlauberin hatte an diesem Tag keine Lust zu schwimmen, trug aber dennoch einen schwarzen Zweiteiler, wie schon an den letzten Tagen zuvor. Es war nicht der Bikini, den Nim so mochte. Sie hatte ihm versprochen dieses Kleidungsstück nicht öffentlich zu tragen und auch wenn er es wohl nie erfahren würde, war sie nicht gewillt dieses, ihm wichtige, Versprechen zu brechen.
Ihr Bikini war mehr ein Sport-BH mit Höschen. Er zeigte zwar immer noch viel Haut, aber deutlich weniger als das vorherige Modell. Sie rollte eine Bambusmatte ab. Aus dem kleinen Weidenkorb, den sie sich wie die restlichen Dinge im Dorf gekauft hatte, entnahm sie ihr feuriges Handtuch und breitete es sorgsam aus. Eigentlich war es blau, aber der auf dem Tuch abgebildete Sonnenuntergang, vom Meer aus über eine Insel hinweg gesehen, verschob mit seinem Rot das Farbspektrum zum Kopfende hin. Sie lass in ihrem Buch, einem Liebesroman, den man ihr im örtlichen Buchladen empfohlen hatte. Der kleine Kommander musste sich regelrecht zwingen ihn zu lesen und nicht einfach nur den Text zu fotografieren und weiter zu blättern. So dauerte es deutlich länger die über sechshundert Seiten zu verarbeiten. Zusätzlich war das Buch in English geschrieben und ließ sie ab und zu an unbekannten Wörtern steckenbleiben, die sie trotz ihrer Fähigkeiten nicht schon in einer Wortsammlung eingesaugt hatte.
»Da bist du ja wieder.«, vernahm sie eine bekannte Stimme. Jonathan. May ließ ihr Buch sinken und blinzelte in den hellen Tag über ihr. »Hallo.« »Immer noch ohne Freund, wie ich sehe.«, grinste er schelmisch. Er sah gut aus. Keine Frage. Größer als Nim und sein Bauch war, dazu musste sie ihn nicht einmal berühren, fest. Er trainierte jeden Tag am Strand. Zumindest behauptete er das. Vielleicht hatte er auch nur seinen Übungsort an den Strand verlagert, weil er hoffte dort auf Reiko zu treffen, wie May sich hier nannte.
»Ich habe einen Freund, wie du weißt.« »Das ist was du sagst. Vielleicht ist er ja unsichtbar oder imaginär?« Das Mädchen klappte das Buch mit einem lauten Plopp zusammen, nachdem sie den kleinen Streifen mit der Werbung des kleinen Buchladens zwischen die Seiten geklemmt hatte. »Weder das eine, noch das andere.« »Wie auch immer.«, schien er an der Antwort nicht interessiert zu sein: »Heute Abend beginnt das große Dorffest. Glaubst du dein Freund hätte etwas dagegen, wenn ich dich dahin einlade. Tanzen, Pizza, Tombola, Bier?« Seine Frage respektierte Nim zwar, aber optisch malte er Anführungszeichen in die Luft, während er »Freund« aussprach.
»Komm´ schon. Ein tolles Mädchen wie du sollte nicht die Abende im Hotelzimmer versauern, sondern Spaß haben.« Der kleine Kommander zögerte immer noch. »Dein Freund«, wieder malte er Anführungszeichen in die Luft: »sollte sich schämen so eine tolle Frau einfach alleine zu lassen.« »Er hat mich nicht alleine gelassen.« »Wo ist er dann?« Das Gespräch drehte sich im Kreis. »Er ist Zuhause.« Die Augen des Jungen weiteten sich. »Ihr wohnt zusammen?« »Er wohnt bei mir, wenn man es genau nimmt.« »Trotzdem lässt er dich alleine. Eine schöne Frau muss doch verwöhnt werden.«, stellte er sein Werben auf die nächste Stufe: »Diesen Bikini dürftest du als meine Freundin jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit tragen.«
Er sog die Luft scharf ein. »Der Anblick gehört verboten.« May lachte laut auf und rollte sich auf die Seite. Jonathan legte einen fragenden Blick auf. »Männer!« »Was ist mit mir?« Er legte es wirklich darauf an der einzige für May zu sein. »Nim hat mir auch verboten einen Bikini zu tragen. Der war aber dreimal so klein.« Das Mädchen kugelte sich vor Lachen als sie die Augen des Jungen sah, der es sich neben ihr im Sand bequem gemacht hatte. Er malte sich anscheinend den Anblick in allen Details aus.
»Was ist Nim denn für ein Name? Die Abkürzung von Nimbus?« »Jon – ath – an.«, ließ May seinen Namen über die Lippen laufen als würde jedes Teilstück aus etwas ungenießbarem Bestehen. »Ja, mein Name ist auch nicht toll. Punkt für dich.« Schweigen breitete sich am ansonsten fast leeren Strand aus. »Reiko ist jedenfalls sehr schön. Ein schöner Name für eine wunderschöne Frau.« May spürte wie ihr Kopf bei dem Kompliment damit begann rote Farbe zu sammeln. »Ok, ok. Ich gehe mit dir auf das Fest.« Damit hatte sie ihn überrumpelt. »Wirklich? Ich meine – Cool!« Er fasste sich aber recht schnell wieder und fand zu seiner alten Form zurück: »Dann lasse ich dich mal alleine. Damit du Sehnsucht nach mir aufbauen kannst. Ich hole dich um Acht Uhr in der Pension ab. Das wird lustig!«
May legte sich wieder auf den Rücken. War sie zu Weit gegangen? Nein! Nim war ebenfalls mit anderen Frauen unterwegs, auch wenn dann immer auch weitere Typen dabei waren, wie sie sich eingestehen musste. Sie stellte sich vor Nim würde mit Kati ausgehen. Das war kein Problem. Ohne es zu wollen ersetzte ihr Kopf Kati durch Kari. Das war jetzt ein Problem. Ein kleiner Buchstabe und doch so eine große Veränderung. Sie waren einmal ein Paar gewesen. Optisch hatte Kari alles was May nicht hatte und Jonathan hatte alles was Nim nicht hatte.
Noch als sie beim Mittagessen auf der kleinen Veranda saß kreisten die Gedanken um dieses kleine Gedankenspiel. »Blödsinn. Ich will nichts von Jonathan. Nur ein wenig Spaß.«, schoss es May durch den Kopf: »Ich werde keinen Mist bauen.« Sie lächelte. Zum ersten Mal hatte sie die Worte so eingesetzt, wie alle anderen es immer verstanden hatten. Sie würde Nim nie betrügen. Er war ihre große Liebe, ihr wertvollster Schatz. Sein vermeintlicher Tod in der großen Halle, seine Verletzungen bei der letzten Mission und die schreckliche Operation, bei der sein Leben erneut in den Händen des Schicksals gelegen hatte, flogen wie kleine Blitze durch ihren Kopf. Nein. Sie liebte ihn über alles. Falls diese Beziehung je enden sollte, dann nur weil er sie beenden würde, wie er es damals bei Kari getan hatte.
Den Nachmittag verbrachte sie im Garten. Das Konzept war ziemlich witzig. Eigentlich war die Grünfläche hinter dem Haus sehr groß, aber durch Hecken, die fast wie ein Labyrinth angeordnet waren, gab es für jedes Zimmer eine Art Parzelle mit eigenem Zugang. Man musste nur der Zimmernummer folgen und landete in einem abgetrennten kleinen Paradies. Der kleine Kommander legte das Handtuch auf die massive hölzerne Liege, ließ den Bademantel auf den kleinen Tisch fallen und bevor sie sich hinlegte.
Es waren nicht viele Gäste in der kleinen Pension. Gut es gab ja auch nur sechs Zimmer. Beim Frühstück hatte sie ein Ehepaar und einen älteren Herren gesehen. Mittags war sie alleine im kleinen Speisesaal gewesen. Hier im Garten schien sie ebenfalls die einzige Person zu sein. Die warmen Strahlen prickelten auf ihrer Haut. Ihr Körperschild filterte, wie schon am Vortag, die ungesunden Frequenzen. »Kein Jonathan nötig, um mir den Rücken einzucremen.«, kicherte May leise und schlief ein. »Was seit ihr nur für ein müder Haufen?« Der kleine Kommander nahm die Worte unbewusst auf und gab einen leisen Stöhner von sich. »Konzentriert euch gefälligst auf die Mission.« May schrak hoch. Es war ein Traum. Noch immer klangen die Worte von Mergy nach. »Wir hatten noch nie so schlechte Kadetten.« »Sab?« Was hatte das zu bedeuten? Sie hatte Urlaub und Mergy und Sab machten es sich in der Nebenparzelle gemütlich?
Wütend sprang May auf und warf einen Blick über die dichte grüne Wand. Es war nicht so einfach. Selbst auf Zehenspitzen konnte sie nur die halbe Liegewiese einsehen. Ein Mädchen, sie schätzte es auf maximal siebzehn Jahre, saß unter einer Decke auf dem Liegestuhl. Neben sich auf dem Tisch ein paar Knabbereien und eine sprudelnde Limonade. »Hah, sie kann es nicht.«, tönte Sab aus dem kleinen Gerät in ihrer Hand, gefolgt von einem »Mist« aus dem Mund des Mädchens. Jetzt verstand May. Das war das Ray Team Videospiel. »Probleme mit dem Kampfgleiter?«, fragte May ungeniert über die getrimmte grüne Mauer. »Tut mir leid. Ich hätte den Ton abstellen sollen. Mama hat mich noch gewarnt. Ich soll keine Gäste stören. Tut mir echt leid.« »Deiner Mutter gehört die Pension?« »Nein.«, antwortete das Mädchen leicht peinlich berührt: »Sie ist nur die Köchin.«
»Nur? Das Essen ist vorzüglich. Ich muss es wissen. Meine Mutter ist auch Köchin.« Ein Lächeln huschte über das Gesicht ihres Gegenübers. »Was dagegen, wenn ich zu dir hinüberkomme? Das Spiel wollte ich mir schon immer mal ansehen.« Der Blick des Mädchens schien zwischen dem Kommandergesicht über der Hecke und dem Boden davor zu wechseln. »Okay.«, gab sie unsicher von sich. »Wenn du keine Lust hast, dann hau ich mich wieder in die Sonne. Ich will mich nicht aufdrängen.«, ruderte May zurück. »Nein, es wäre nett.« »Gut, bis gleich.« Als May die Wiese ihrer neuen Bekanntschaft betrat, stockte ihr der Atem. Jetzt war klar warum das Mädchen vor sie auf den Boden geschaut hatte. Da stand ein Rollstuhl an der Hecke. Sie kannte das Gefühl, auch wenn ihre Beine nie wirklich gelähmt waren.
»Da bin ich. Ich bin Reiko.« »Joselyn, aber nenn´ mich einfach Joss.«, lächelte die nur wenig jüngere Dame ihr zu. May rückte den zweiten Stuhl dichter an den anderen, damit sie gemeinsam auf den kleinen Bildschirm sehen konnten. »Es gibt doch zwei Ray Team Spiele, oder?«, fragte May nach, obwohl sie es genau wusste. Nim hatte, wie Mergy und einige andere Piloten auch, die von Jaque entworfene Spielwelt ausgiebig getestet. Der Computer hatte die Wünsche der Spieler immer wieder umgesetzt, bis sie mit dem Spiel zufrieden waren. Damit war die Ray Team Besatzung nicht alleine. Jaque hatte das kleine Gerät bis zur Leistungsgrenze ausgereizt. Spielerisch, grafisch und akustisch wurde das Spiel von Testmagazinen gelobt und bekam Höchstwertungen. Selbst Sab zeigte sich begeistert von den Gewinnen, die man mit dem Verkauf machte.
»Ja, das ist Ray Team Academy. Man kommt als Kadett auf die Station und lernt Pilot zu werden. Willst du mal?« Ohne auf die Antwort zu warten reichte ihr das Mädchen die Konsole: »Ich wäre auch gerne wirklich beim Ray Team.« May hatte den Spielstart bei dem Sab die Rede hielt. Es gab auch Versionen mit Mergy, Trish und ihr selbst. Die Stimme von Sab war scharf wie schon lange nicht mehr. »Gruselig.«, merkte May an. »Ja, die anderen Kommander sind netter.« May lächelte und konzentrierte sich. Schließlich sollte May Starts und Landungen mit einem Manta üben. »Mantas sind schwer.«, kommentierte ihre Copilotin. May nutzte die Steuerung auf dem glatten Bildschirm, der bis auf die Vertiefungen, genauso funktionierte wie die Konsole bei einem richtigen Modell.
»Wow, du hast das wirklich noch nie gespielt?« »Noch nie. Ich schwöre.« Das war die Wahrheit. Sie kannte nur das echte Fluggerät und dessen Steuerung. Die Stunden verflogen. Sie bemerkten nicht einmal wie Joss´ Mutter in die Begrünung schaute und die Beiden kurz beobachtete. Erst als die Batterie in dem Gerät das Spiel beendete, holte sie die Realität wieder ein. »Du solltest Ray Team Pilot werden.«, merkte Joss an: »So ein Naturtalent gehört in einen Kampfgleiter.« »Das gilt wohl auch für dich. Du lernst schnell.«, erwiderte May. »Den Traum habe ich schon lange begraben. Die nehmen keine Krüppel wie mich.« »Krüppel?«, wiederholte May das abscheuliche Wort. Das Mädchen warf die Decke zur Seite, die auf ihren Beinen lag. Aber da waren keine Beine. Nur jeweils ein halber Oberschenkel. May schluckte. Den Rollstuhl hatte die schnell verdaut, aber das hier?
»Autounfall. Der Fahrer war besoffen und hat mich gegen eine Wand gequetscht.«, erklärte Joss abgeklärt. »Tut mir leid.«, war das Einzige was May sagen konnte. Diese kurze Beschreibung stimmte fast genau mit dem Unfall von Tin überein. Auch sie war damals gegen eine Wand gepresst worden. »Ich kann nur dumm herumsitzen und vom richtigen Leben träumen, oder es im Videospiel erleben.« »Kommander Mergy hat nur einen Arm. Kommander Trish ist eigentlich blind und Kommander Tin hat wie du keine Beine.« Die Augen des Mädchens sprangen auf. Sie selbst bemerkte ihren eigenen Gesichtsausdruck erst, als sie die Spiegelung in Mays schwarz umrandeter Brille sah.
»Woher weißt du das?« Erst jetzt wurde May sich über die möglichen Konsequenzen für ihre Tarnung klar. »Ich glaube darüber habe ich etwas im Fernsehen gesehen.«, korrigierte May schnell die Aussage: »Jedenfalls sind Behinderungen wohl kein Hindernis. Du bist ein Mensch. Ein netter Mensch.« Ein Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. »Warum hast du keine Prothesen?« »Damit ich lächerlich im Salat herumstorche?« »Herumstorche?«, kicherte May. »Ich habe mal welche im Krankenhaus probiert. Mir war das so peinlich. Da fahre ich lieber im Rollstuhl in die Schule.«
»Ahh!«, stöhnte May: »Kopfschmerzen.« Was war das? Sie erinnerte sich an Joss und dann? Jonathan. Richtig! Er hatte sie um Acht abgeholt und sie waren auf das Fest gegangen. Sie hatten Pizza gegessen, diverse Spiele an den Ständen gemacht. Sie hatten auch zusammen getanzt. Und sie hatten etwas getrunken, was Jonathan Shots nannte. Der Name passte. May fühlte sich wie erschossen. Der Junge hatte vor seinen Freunden mächtig mit ihr angegeben. Jetzt verstand May. Sie war betrunken gewesen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich betrunken. Der kleine Kommander spulte in ihrem Kopf umher, um die Geschehnisse aufzufrischen. Nachdem die Stände geschlossen wurden, es war schon weit nach Mitternacht, waren sie gemeinsam zum Strand gegangen. Sie schüttelte den Kopf.
Ihr Kopf schmerzte. »Kopf schütteln, böse!«, murmelte sie leise. Sie hatte am Strand geprahlt über das Wasser gehen zu können. Natürlich wollte man dieses Kunststück sehen. Es war peinlich. May hatte am Ufer gestanden und auf das Meer geschaut. Wo ihre Schuhe waren, wusste sie da schon nicht mehr. »Worauf wartest du?«, wurde sie angefeuert. »Essisch schief.«, brachte May undeutlich heraus. Das Meer hing im 45 Grad Winkel und sie wartete darauf, dass es sich wieder ausrichtete, damit sie darauf laufen konnte. Mit ihren Händen fühlte sie ihren Kopf und rückte ihn zurecht. Sie kicherte in peinlichen Lauten: »War ganischs Meeeer, war mein Kopf!« Wieder zögerte sie. »Ich kann auch durchgehen.« »Das können wir auch.«, ertönte es im Chor von hinten. »Trocken und mit Teilen und so. Wie der Typ mit dem Schtock.«
Mit erhobener Hand stand sie da, aber nichts passierte. Sie drehte sich wackelig um, zuckte mit den Schultern: »Meine Schuperkräfte schind kaputt.« Die Nacht war kühler als erwartet und so beendete das Wetter die kleine Standparty früher als erwartet. Jonathan brachte May in die Pension zurück. Obwohl sie schwankte und nur undeutlich sprechen konnte, wimmelte sie ihn an der Tür ab. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und bedankte sich für den schönen Abend. Als sie an sich herunter schaute, war sie noch komplett bekleidet. Nur die Schuhe fehlten immer noch. Wieder einmal war sie voll bekleidet auf dem Bett eingeschlafen. Klasse.
Es hämmerte in ihrem Schädel. Die sonst so entspannende Dusche wirkte wie eine Chinesische Wasserfolter. Da ihre Schuhe wohl für immer unauffindbar waren, zog sie ihre Strandsandalen an. »Toll, jetzt muss ich mir auch noch Schuhe kaufen.« Draußen regnete es und der Speisesaal war bis auf den älteren Herren leer. Er musterte May genau, was der Kommander aber nicht wahr nahm. Es roch nach Suppe. Unweigerlich blickte sie auf die Uhr an der Wand. 12 und 23 zeigten die Zeiger an. »Frühstück kann ich wohl vergessen.«, murmelte der verkaterte Kommander und setzte sich an seinen Platz.
»Ich denke das können sie gebrauchen.«, stellte die Bedienung ein Glas Wasser, in dem eine Tablette sprudelte, auf den Tisch. Die direkten und lauten Worte stachen in ihren pochenden Kopf. Als wäre das noch nicht genug, beugte sich die Dame zu May hinunter: »Und halten sie sich von meiner Tochter fern, sie braucht keinen schlechten Einfluss.« Bevor May verstand, war sie wieder mit dem Mann alleine, der sie mit einem verständnisvollem Blick anlächelte. May kippte das Wasser fast in einem Anlauf hinunter. »Schlechter Einfluss?«, murmelte May: »Für meinen Einfluss habe ich sogar eine Auszeichnung bekommen.« Das war also die Mutter von Joss.
Entweder war es die Suppe oder das gepimpte Wasser. Nach dem Essen ging es ihr jedenfalls schon deutlich besser. Der Regen hatte aufgehört und die Sonne kam langsam durch. Die wenigen Sonnenstrahlen waren schon wegen der vielen Reflexionen der feuchten Oberflächen zu grell für ihre Augen. Sie legte sich sich wieder ins Bett. Die nächsten Tage ließ sie es ruhiger angehen. Im Garten war sie alleine. Joss blieb verschwunden. Es war wohl leicht jemandem, der nicht laufen kann, den Ausgang zu verbieten. Es dauerte vier Tage, bis May an einem sonnigen Vormittag wieder auf das Mädchen traf.
»Hey.«, lächelte May über die Hecke. »Hallo. Meine Mutter will nicht, dass wir miteinander reden.« »Ah, darum warst du verschwunden?« »Sie wollte mich nicht in den Garten lassen. Weiter als auf den Balkon bin ich nicht gekommen.« »Und alles wegen mir! Tut mir so leid.« »Was ist passiert? Mama hat nur gesagt du wärst kein guter Umgang für mich, obwohl sie sich erst so gefreut hatte, als sie uns hier zusammen gesehen hat.«
»Ich war auf dem Dorffest und habe Shots getrunken. Sie muss etwas mitbekommen haben.« »Du warst betrunken?« »Ja, zum ersten Mal in meinem Leben.« May verzog ihre Stirn. »Da ist jetzt ein grüner Haken dran. Brauche ich nicht wieder zu machen.« »Alkohol! Das erklärt warum Mama so reagiert hat.« Die Augen des Kommanders sprangen auf: »Der Unfall!« Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf: »Tut mir leid. Daran habe ich gar nicht gedacht.« »Bist du betrunken Auto gefahren?« »Nein, natürlich nicht. Seit meinen Fahrstunden bin ich überhaupt nicht mehr Auto gefahren. Nur ein paar mal Motorrad, aber natürlich nie betrunken!«
»Mama glaubt seit dem Unfall alle Menschen die Alkohol trinken sind böse.« May schnaufte: »Alkohol ist böse. Da macht man peinliche Dinge.« »Warst du alleine im Dorf?« »Nein, mit Jonathan Walker und seinen Freunden.« »Du hast doch nicht–« Das Mädchen brach den Satz selber ab. »Oh, Gott – Nein.«, erwiderte May. »Gut, ich dachte wegen den peinlichen Dingen und weil es Jonathan war.« »Ich habe einen Freund. An ihn kommt auch Jonathan nicht heran.« »Küssen scheint er ja zu können.« »Jonathan?« Joss kicherte: »Nim, dein Freund.«
Die Augenbrauen verdichteten sich über den Augen und die Stirn warf falten. Sie hatte vorher nie mit Joss über ihren Freund geredet. Der Einzige im Umkreis, der wusste wie er heißt, war Jonathan. Joss brach in lautem Lachen aus und schlug die Arme über den Kopf. Joss´ Mutter stand wohl angelockt durch das Lachen hinter ihrer Tochter im Eingang. »Sorry, ich wollte nur "Hallo" sagen.«, brachte May hervor und tauchte hinter der Hecke ab. Die Mutter konnte May nicht hören, ihre Tochter aber sehr wohl. Joss machte keine Anstalten unverblümt und laut zu antworten. Sie wiederholte dabei auch gerne die Frage oder Aussage als Ganzes. Mit ihren Superkräften hätte der Wind-Joluh durchaus auch das ganze Gespräch zu hören bekommen, aber jemanden absichtlich belauschen war nicht ihre Art.
»Ja, sie hat getrunken, aber sie ist keine Schlampe und Auto gefahren ist sie auch nicht.« May schluckte. Joss´ Mutter war ja derbe unterhalb der Gürtellinie unterwegs. Etwas zu laut wieß sie Joss an leise zu sein. »May, ich meine Reiko ist toll. Sie behandelt mich nicht wie einen Krüppel.«, wurde es wieder lauter: »Ich hab nicht mein Hirn verloren, sondern meine Beine. Du hast nicht das Recht mir vorzuschreiben, was ich zu tun habe und mit wem ich abhänge. Der Typ hat Mist gebaut. Nicht ich, nicht Reiko sondern der blöde Typ. Also hör auf mich dafür zu bestrafen.« »Mist bauen in einem anderen Kontext.«, schoss es May erleuchtend durch den Kopf.
Stille legte sie über den Garten. »Bist du noch da?«, hörte May nach einer Weile leise von der anderen Seite der Hecke. Es war als wären dem Mädchen nach der Büllerei etwaige andere Gäste eingefallen: »Sie ist weg.« May steckte den Kopf über die Hecke: »Es tut mir leid. Nur wegen mir hast du jetzt auch noch Streit mit deiner Mutter.« »Ach, das ist nicht deine Schuld. Sie packt mich seit dem Unfall in Watte, als würde ich bei einer leichten Erschütterung auch noch einen Satz Arme verlieren.« May war ihr lauter Versprecher nicht entgangen. »Wie habe ich mich verraten?« »Ähnliche Stimme, ähnliches Aussehen und definitiv zu viel Ray Team Detailwissen. Da hilft dir auch die Brille nix. Beine ab! Nicht Kopf!« May lächelte. Sie hatte sich mit ihrer Situation schon recht gut abgefunden und machte sogar ziemlich derbe Witze darüber. »Komm´ ´rüber!« May zögerte. »Mama überlass mir.« May setzte auf die andere Seite über. Diesmal aber nutzte sie nicht den Weg, sondern sprang über die grüne Grenze, was dank ihrer Kräfte ein Kinderspiel war.
»Wow, machst du Hochsprung oder wieso kannst du so hoch springen?« »Superkräfte!«, lächelte May. »Das war der peinliche Teil. Ich hab vor Jonathans Freunden angegeben ich könnte über das Wasser laufen, oder das Meer teilen. Aber besoffen funktioniert es offensichtlich nicht. Wieder etwas gelernt.« May zuckte mit den Schultern. »Du kannst also wirklich fliegen?« »Ja, fliegen ist oft sehr hilfreich.« »Dein Freund kann auch fliegen. Habt ihr euch so gefunden?« May lachte laut auf. »Nein, er kann nicht fliegen. Das war ich. Ich kontrolliere Luft.« Das halbvolle Glas mit der Limonade hob vom kleinen Tisch ab und umkreiste die Mädchen einmal. Dann hielt es direkt mit dem Strohhalm an Joss´ Mund an. Sie zog ein paar Schlucke und kontrollierte mit fuchtelnden Bewegungen ob vielleicht unsichtbare Seile diesen Trick ermöglichten. »Das ist so cool.«
»Bist du schon lange mit Nim zusammen? Er ist süß.« »Seit dem ersten Drakenangriff. Er war aber schon länger in mich verliebt. Ich habe es aber nicht gemerkt und er hat sich nicht getraut den ersten Schritt zu machen.« »Und da hat er den Mut gefunden?« »Ich war damals verletzt. Mein halber Körper war verbrannt. Er hat mir beigestanden.« »Oh, das ist so romantisch. Also nicht das du verletzt wurdest, aber das er zu dir gehalten hat. Ich habe tagelang geweint, nachdem ich deinen zerstörten Kampfgleiter im All gesehen habe. Alle dachten du wärst tot. Das Ray Team wäre vernichtet.« May nickte mit einem Lächeln.
Das Mädchen hatte wegen jemandem geweint, den sie gar nicht kannte? »Gibt es jemanden in deinem Leben?« »Nein, alle weg.« »Alle?« »Nach meinem Unfall haben mich alle meine Freunde besucht und waren für mich da. Aber es wurden immer weniger. Jetzt kommt niemand mehr.« »Als ich damals verzweifelt war und mit verbranntem Kopf und Körper an mir gezweifelt habe, da hat jemand gesagt es wäre eine Gelegenheit die echten Freunde von den Oberflächlichen zu unterscheiden.
»Meine Freunde waren dann wohl allesamt ein Griff ins Klo.«, merkte Joss an. May kannte das Sprichwort zwar nicht, aber die bildliche Vorstellung stellte die Metapher in den richtigen Kontext. »Vielleicht gibt es in deinem Leben auch jemanden, der sich nur nicht traut dich anzusprechen. Jemanden dessen Blicke du für Mitleid hältst und nicht als Zuneigung erkennst.« Joss lächelte. »Vielleicht hast du recht und ich sollte mal genauer hinsehen.« Schweigend schauten beide in den blauen Himmel. »Jemand hat einmal gesagt in Marcys Inn würde nie eine Berühmtheit übernachten. Der lag ja sowas von falsch. Berühmter als Kommander May vom Ray Team geht es ja wohl kaum noch.«, kicherte Joss.
»Berühmt sein ist nicht so toll wie es sich anhört. Die einfachsten Dinge sind kompliziert. Man wird immer gestört und nicht in Ruhe gelassen. Ich muss ja schon verkleiden, wenn ich mit meinem Freund nur einen Kuchen essen will.« »Daran habe ich gar nicht gedacht. Filmstars haben es da wohl noch schwerer. Die können sich nicht einfach auf eine Raumstation verkriechen.« Die Mädchen versanken wieder in schweigen und schauten gedankenversunken in den klaren Himmel.
Joselyn rollte sich auf die Seite: »Warum bist du hier? Ohne deinen Nim meine ich.« May schaute weiter in den Himmel, hinter dessen Blau sie die Station und ihren Freund vermutete. »Ich habe sechs Monate ohne Pause gearbeitet und da sind bei mir einige Sicherungen durchgebrannt. Posttraumatische Belastungsstörung hat der Doc das genannt.«, erklärte May sachlich und distanziert: »Ich habe Nim weh getan und ihm Angst gemacht.« »Wenn er dich wirklich liebt, dann wird er dir verzeihen.« May drehte den Kopf und schaute in die blauen Augen von Joss. »Das hat er schon.« Joss lächelte. Es war ehrlich.
Die nächsten Tage verbrachten die Mädchen zusammen. Es war schön und entspannend. Joss begleitete sie sogar ins Dorf, wo May sich neue Schuhe kaufte. May war dankbar. Sie hatte noch nie einen Schuhladen von Innen gesehen. Ihre neue Freundin half bei der Auswahl und May verprasste einen weiteren der großen Scheine die Trish ihr gegeben hatte. Die kleine Eisdiele im Ort wurde täglich heimgesucht. Jonathan lungerte zwar immer noch in ihrer Nähe herum, aber da er selbst bei einer sturzbetrunkenen May abgeblitzt war, hatte er wohl jegliche Hoffnung begraben.
So schön die Tage auch waren. May vermisste die Station täglich mehr. Vor allen Dingen vermisste sie Nim. Er war zwar nicht am anderen Ende des Universums, aber er war in unerreichbarer Höhe und würde selbst keine Kontaktaufnahme starten. Nicht weil er sie nicht liebte, sondern gerade weil er sie liebte. May war nun schon über vier Wochen Dauergast bei Marcy.
Joss hielt dicht und die wahre Identität von Reiko blieb im Verborgenen. Jenna Cross, Joss´ Mutter, hatte sich mehrmals bei May für ihre mehr als harten Worte entschuldigt. Sie hatte bemerkt wie sich ihre Tochter geöffnet hatte und regelrecht aufgeblüht war. Ihr Mädchen war fröhlich. Ein Zustand den sie schon lange nicht mehr erleben durfte. Aber May würde abreisen und selbst der kleine Kommander hoffte, Joss würde dann nicht wieder in ihr dunkles Loch zurückfallen.
»Ich werde heute zurückfliegen.«, merkte May fast beiläufig an. »Kannst du nicht noch ein paar Tage bleiben?« »Ich vermisse meine Familie, meine Freunde und Nim.« Tränen flossen aus Joss´ Augen. »Hey, ich bin doch nicht aus der Welt und kann dich besuchen.« May konnte sich vorstellen, wie sich das Mädchen fühlte. Sie hatte in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal Besuch von Freunden oder Bekannten bekommen. May war ihre einzige und somit auch beste Freundin geworden. »Ich habe noch eine kleine Überraschung für dich. Komm!«
Die Mädchen verließen die Pension wie schon an den anderen Tagen zuvor. Doch statt im Dorf einzukaufen oder ein Eis zu essen, blieb May in einer Unterführung stehen und reichte Joss einen Transportring. »An einen Arm stecken und den Knopf drücken.« May erschien kurz nach dem Mädchen im Manta. »Wir sind in einem Manta. Das sieht alles genauso aus wie im Spiel.« Der Kommander lachte: »Ich denke das Spiel sieht mehr aus wie ein Manta, obwohl der Manta wiederum aus einem anderen Spiel kommt.« Joss blickte fragend drein. »Nicht so wichtig.« »Wo ist mein Rollstuhl?« »Der ist noch unten. Der Transporter transportiert normalerweise ja keine Stühle.« Der Kommander, auf dem Beifliegersitz, tippte auf der Konsole herum und das rollende Möbel erschien hinten im Schiff. »Dann kann es ja losgehen.«
Es passierte nichts. Joss schaute unsicher zu May, als sie begriff. Sie saß auf dem Pilotensitz. »Ich soll fliegen? Das geht nicht. Das kann ich nicht.« »Du kannst. Keine Panik, ich kann im Notfall immer noch mit den Kontaktlinsen übernehmen.« Zögerlich legte Joss die Hände auf die Konsole. Hier gab es keinen Steuerhebel oder ein Steuerkreuz wie bei ihrem Videospiel, sondern nur die berührungssensitive Fläche. Dank der Vertiefungen war es einfach die Positionen auf der ansonsten glatten Fläche zu halten. Nachdem sie eine Weile zögerlich und vorsichtig ihre unsichtbare Bahn am Himmel gezogen hatte, wurde sie sicherer. Das Mädchen war nicht gerade zimperlich mit dem Geschwindigkeitsregler, obwohl sie einige harte Kurven flog. »Das ist so cool, aber ich glaube ich habe mich verflogen. Wo sind wir?« May tippte auf ihrer Konsole herum: »Texas!« »Ups.«, kicherte Joss. »Dieses Ding kann auch nach oben fliegen.« Mit ihrem Finger deutete der kleine Kommander die Richtung parallel zu den Worten noch einmal an.
Das unsichere Mädchen blickte noch zweimal zwischen der Konsole und May hin und her, lächelte und dann zog sie den Manta in die Höhe als hätte sie noch nie etwas anderes gemacht. May musste einmal eine minimale Korrektur vornehmen, damit sie nicht in die Flugbahn eines Jets gelangte. Man konnte sehen, wie in der jungen Frau der Wunsch ein Pilot zu werden noch einmal deutlich wuchs. Das Videospiel war interessant, weil es die Realität nachahmte, aber dieser Flug erzeugte echte Gefühle, echtes Adrenalin. Noch zu gut konnte sich May an ihren ersten Flug durch das künstliche Asteroidenfeld erinnern. An die Wärme, die ihren Körper durchflutete, als das heiße Blut unter Feuer durch ihren Körper gepumpt wurde. Der Manta durchstieß die Luftschichten. »Oh – mein – Gott!«, entfuhr es Joss: »Ich bin im Weltall. So richtig.« May lächelte und gab einen Kurs vor, den ihre Schülerin auf Zeit sorgsam folgte. Die weiße Station tauchte hinter der Erde auf. Joselyn war zu keinen Worten mehr fähig, während sie auf das immer größer werdende Objekt zuflog.
Atlantis war nicht mehr zu sehen. Auch auf dem Mond konnte May das eigentlich unübersehbare Raumschiff nicht ausmachen. Erst als sie die Sensorbilder des Mondes vergrößerte erkannte sie die Scharade und die leichte Unruhe legte sich wieder. Anscheinend hatte Shizuka einen gewaltigen Mondkrater entworfen und auf die Außenhülle des Schiffes gelegt. Tausende kleinere Krater und Geröll im Inneren ließen das Schiff optisch mit dem Mond verschmelzen. Es war unsichtbar und doch für jeden auf der Erde deutlich sichtbar, wenn man wusste wo nach man Ausschau halten musste.
Ein einzelner Manta kam ihnen entgegen. Mergy meldete sich: »Als man mir gesagt hat du würdest Urlaub machen, habe ich gedacht die Stationsbesatzung wäre von Aliens übernommen worden.« »Das war dein erster Gedanke?« »Natürlich nicht! Zuerst dachte ich, ich wäre in ein paralleles Universum geworfen worden, aber da ich mich nicht an den Übergang erinnern konnte, habe ich diese Erklärung als Schwachsinn verworfen.« »Du Spinner!«, lachte May. »Komisch. Das sagt meine Frau auch immer.«, witzelte Mergy zurück und terminierte die Verbindung ohne auf Joselyn einzugehen. Salutierend passierten die Kommander in den Mantas einander.
»May an Ray Team One, erbitte um Landeerlaubnis.« »Einflug in Hangar 3, Willkommen zurück.«, bestätigte Sab ihre Anfrage. Joss blickte erstaunt zu May, die anfing zu lachen. »Ja, Sab gibt es wirklich. Wie alles andere im Spiel auch.« Zuerst wollte das Mädchen auf keinen Fall die Landung durchführen. Im Videospiel hatte sie immer kläglich versagt, aber May bot nur die Möglichkeit zu landen oder zur Erde zurückzukehren. Außerdem hatte sie ja noch die Linsensteuerung. »Da stimmt etwas nicht. May kommt viel zu wackelig rein.« »Sie ist mindestens Monat nicht geflogen. Wahrscheinlich länger. Vielleicht ist es einfach nur Unsicherheit.« »Bei May?« Sab zoomte an den Manta heran. »Da fliegt ein anderes Mädchen. Was soll das?« »Vielleicht hat sie eine Freundin gefunden.« »Wo kommen wir da hin, wenn jeder gleich jede Bekanntschaft mit auf die Station bringt?«
»Nur weil dein Marcel sich weigert, müssen ja nicht gleich alle draußen bleiben.« Sab schwieg. Es wurmte sie. Sie war jetzt schon so lange mit ihrem Freund zusammen und er weigerte sich ins Weltall zu fliegen. Andere bezahlten Millionen für ein paar Stunden und er wollte nicht einmal einen gratis Flug. Etwas ruppig setzte der Manta mit der rechten Seite zuerst auf und schepperte über den Vorderen abrollend auf den linken hinteren Stalk. »Tut mir leid. Hoffentlich ist nichts kaputt gegangen.« »Ah, die Dinger halten das aus.« May holte den Stuhl und Joss setzte über. Der Rollstuhl beschleunigte als er die hintere Luke des Mantas herunterglitt und auf dem Deck ausrollte.
May gab die komplette Führung. Hangar 1, Kommandodeck, Freizeitdeck, ihr Quartier und natürlich das Sors, wo sie sich eine große Portion Eis genehmigten. »Sor ist wirklich cool.« »Ja, er ist ein guter Freund.« »Lerne ich deinen Nim auch kennen?« »Hmm?«, entfuhr es May. Sie hob ihre Hand und fragte den Stationscomputer wo ihr Liebster sich gerade aufhielt. »Danke Jaque. Er hat noch zweieinhalb Stunden Dienst im Kampfgleiter.«, merkte May an. Während Joss nur ihre Armbewegungen nachahmte und sich wunderte. »Implantierte Chips. Kommunikation, Sensoren und Körperschild. Ich hab mit dem Stationscomputer gesprochen.«
»Deine Kollegen starren mich alle an. Ich passe hier wohl nicht rein.« May lachte. »Du bist eine schöne junge Frau. Da ist es doch kein Wunder, wenn du alle Blicke auf dich ziehst.« »Aber meine Beine?«, stellte Joss eine halbformulierte Begründung als Frage in den Raum. »Die können sie doch gar nicht sehen.«, platzte es aus May heraus, ohne über die eigentliche Härte der Worte nachzudenken. Ihre Augenlieder schnappten bei der Erkenntnis auseinander, aber das ihr gegenüber sitzende Mädchen lächelte: »Beine ab!« Nach weiteren Gesprächen und Fragen zum Ray Team musste May gezwungener Maßen den Stecker ziehen: »Wir müssen langsam zurück.« »Schade.«
Als sich wenig später die Lifttüren auf der Promenade öffneten, trat Sash heraus. »Hey, du bist wieder da!« Die Beiden hatten sich nun seit über sieben Monaten nicht gesehen. »Hallo Sash. Das ist Joss.« »Hi.« »Hallo.« Die Mädchen gaben sich die Hand. »Ich habe nur kurz eine Führung gemacht und bin wohl ab morgen wieder regelmäßig hier. Einen Haarschnitt brauche ich sowieso mal wieder.« »Toll!« Sie tauschten die Plätze und wurden von der Tür getrennt.
»Hangardeck drei« »Sie scheint eine gute Freundin von dir zu sein.« »So viel haben wir gar nicht miteinander zu tun. Sie betreibt hier den Frisörsalon. Hast du etwas bemerkt?« »Nein, was denn?« »Sash hat nur einen Arm.« Joselyn verzog fragend die Augenbrauen. Sie hatte es wirklich nicht bemerkt. Ihre hatte Gesprächspartnerin nur einen Arm gehabt? May unterbrach die nachdenklich schweigende Stille: »Du hast eben eine künstliche Hand geschüttelt.« »Nein!« »Doch.« »Wahnsinn! Ich habe nichts gemerkt.« »Darum habe ich es ja erwähnt.«, lächelte May.
»Du glaubst wirklich ich kann einmal Pilot werden?« May hatte es nicht eilig und den Manta auf einen langsamen automatischen Kurs gebracht, der sie zurück in die ländliche Kleinstadt bringen sollte. »Das hängt alleine von dir ab. Das Ray Team ist kein Krankenhaus oder eine Reha-Station. Wir brauchen gefestigte Menschen.« »Gefestigt?« »Naja, ein Mädchen war z.B. unverschuldet drogenabhängig geworden. Wir haben sie abgelehnt. Erst nach einer Weile, in der sie mit der Entscheidung klarkommen musste, haben wir nachgesehen, wie es um sie steht. Sie hatte es geschafft von den Drogen loszukommen.« »Und was wurde aus ihr?« »Du hast von Atlantis gehört?« »Natürlich. Der Hammer. Atlantis ist in Wirklichkeit ein Alienraumschiff. Wer hätte das gedacht?« »Sie ist der offizielle Pilot von Atlantis. Naja, meistens fliegt sie Kampfgleiter und Mantas.« »Wow!« »Du hast noch über drei Jahre Zeit den anderen Kommandern zu beweisen, was für ein Mensch du bist. Was für einen Menschen ich in dir sehe.«, erklärte May weiter sachlich. Joss errötete. »Unter 21 ist deine Chance ein Pilot zu werden sowieso gleich Null.«, nahm sie Joss wie auch Shizuka jede Hoffnung auf sofortige Aufnahme.
»Und das Mädchen mit dem ihr damals das Feuer in Seattle gelöscht habt, war nie und nimmer 21. Nicht einmal 18 würde ich sagen. Mit Sicherheit nicht.« Sie versuchte ein Mitglied des Ray Teams zu werden und alle Hürden aus dem Weg zu räumen. »Jiyai wurde von Menschenhändlern verschleppt.« Das Mädchen sog deutlich hörbar die Luft ein. »So wie Du.«, hauchte sie leise und verstand jetzt den Grund. May nickte stumm. »Darum gibt es Ausnahmen.« Joselyn gab nur ein leises »Hmm« von sich. Nach einer Pause legte sie ein: »Und ihr müsst euch sicher sein. Ich meine damit ich wirklich mitmache und nicht auf neuen Beinen abhaue!« May entfuhr ein deutlich erleichtertes Lächeln. Ihre neue Freundin hatte sich offensichtlich seit ihrem Gespräch Gedanken zu diesem Thema gemacht. »Und das bedeutet?«, wurde May ihrerseits nun lehrerhaft. »Storch!«, entglitt es Joss. May schüttelte leicht grinsend den Kopf: »Nein. Es bedeutet ein mutiges Mädchen muss sich zurück ins Leben kämpfen!« »Sag ich doch. Storch!«
Der Transporterstrahl setzte die beiden wieder in der kleinen Bahnunterführung ab. Schweigend und die Eindrücke verdauend machten sie sich auf den Weg zu Marcys Inn. Joss und ihre Mutter wohnten im hinteren Teil des Hauses, in dem auch Marcy Quinn selbst wohnte. Es war eine Win-Win Situation wie das Mädchen May erklärt hatte. So konnte ihre Mutter auch mal mitten in der Nacht anreisenden Gästen eine Mahlzeit wärmen, sie hatte keine Anfahrt, ihr Mädchen ein behinderten gerechtes Umfeld in ihrer Nähe, welches nicht erst teuer bezahlt und umgebaut werden musste. Mietfrei war es zudem auch, ein Grund warum es Jenna so wichtig war, dass Joss niemanden störte. Ihre eigene Wohn– und Arbeitssituation hing genauso an der kleinen Pension wie die von Marcy, obwohl May nicht glaubte sie würde die Beiden vor die Tür setzen. Dafür war die familiäre Atmosphäre in dem kleinen Gasthaus einfach zu gut.
»Du darfst niemandem etwas vom Ray Team und deinen Plänen und Wünschen erzählen. Es gibt ziemlich üble Leute da draußen, die würden alles tun, um uns zu Schaden. Ok?« »Ist klar.« Wieder in ihrem Zimmer packte May ihren kleinen Lila Koffer. Das einzige Zugeständnis an ihre wahre Identität in den letzten viereinhalb Wochen. An der Rezeption bezahlte sie für die letzten Tage. Die Verabschiedung war herzlich. Mit Sicherheit herzlicher als bei den meisten anderen Gästen, die aber wahrscheinlich auch nicht knapp fünf Wochen am Stück bei ihnen gastierten. Das war aber sicherlich nicht alles. Es hatte auch mit Joss zu tun, die sich der Verabschiedung deutlich positiver hingab, als noch am frühen Nachmittag zu erwarten war. Trotzdem kullerten auf beiden Seiten einige Tränen.
May zog ihren Koffer die Straße entlang. Jonathan erspähte sie, als sie gerade in die Unterführung einbog. May schaute sich noch einmal mit einem Lächeln um und verschwand in dem kleinen Tunnel. Als der junge Mann in die Unterführung hastete war May nicht mehr zu sehen. Auch auf der anderen Seite war sie unauffindbar. Er konnte es nicht wissen. Der Kommander war bereits mit hoher Geschwindigkeit ins All unterwegs.
»Joselyn, Reiko hat ein Paket für dich hinterlassen. Es lag auf ihrem Bett.«, trat Marcy auf das Mädchen zu, welches immer noch in Gedanken versunken im Eingangsbereich auf die Straße hinausträumte. Selbst ihre Mutter streckte neugierig den Kopf aus der Küche. »Es ist ziemlich schwer.« Hastig entfernte das Mädchen das graue Papier. Zum Vorschein kam eine Spezial Edition einer großen Heimkonsole zusammen mit dem zweiten Ray Team Spiel. Joss konnte sich die Konsole nicht selber leisten und ihre Mutter drehte jeden Cent zweimal um, um ihrer Tochter eine Zukunft zu ermöglichen. Da war der Wunsch nach einem so teuren Spielzeug nicht förderlich. »Wieso macht sie dir ein so teures Geschenk?« »Es ist eine Anzahlung für ein Versprechen – Denke ich.« Joss blickte von der Konsole auf und direkt in die fragenden Augen ihrer Mutter: »Können wir Doctor Brown anrufen? Ich möchte Prothesen!«
Jenna schossen Tränen in die Augen. Sie hielt sich die Hand vor den Mund. Die ganze Zeit nach dem Unfall hatte sich ihre Tochter immer geweigert diesen Schritt zu gehen. Die Vorschläge wurden allesamt ausgeschlagen. Schon alleine die Erwähnung eines Arztes brachte Streit und jetzt kam sie selbst auf sie zu. Glücklich stürzte sie auf ihr Mädchen zu und drückte es an sich.
Als Nim auf dem Hangardeck landete, lehnte May neben dem Eingang am massiven Träger des Regals. Ihr Freund konnte sie einfach nicht übersehen. Als er aus dem Kampfgleiter stieg stand ihm ehrliche Freude ins Gesicht geschrieben. May konnte spüren, wie er sich zurück hielt. Er wäre ihr sicherlich am Liebsten direkt in die Arme gesprungen, spielte aber den lässigen Typen und trat cool und langsam auf sie zu. »Du siehst gut aus.« »Ich hab dich vermisst.« »Wirklich?« »Klar, Jonathan konnte einfach nicht mithalten.« »Jonathan?« »Mein Urlaubsflirt.« Nim zog die Brauen zusammen. May lachte laut auf: »Wir sind ausgegangen, haben uns betrunken und hab ihn trotz meines Zustandes abblitzen lassen, obwohl er meinen Bikini ziemlich heiß fand.«
Nim blickte sie weiter stumm an. Seine Augen weiteten sich bei dem Wort Bikini. »Hey, alles gut. Ich liebe dich und das habe ich ihm auch gesagt, auch wenn er geglaubt hat du wärst nicht real.« Ihr Freund regte sich nicht. »Langsam machst du mir Angst. Vertraust du mir nicht mehr?« May wurde unsicher und ihr Gesicht spiegelte die Unsicherheit wieder. Plötzlich änderte sich Nims Gesicht in ein finsteres Lächeln: »Das Spiel kann ich auch spielen.« »Ich wollte dir nur kurz zusammenfassen, was auf der Erde passiert ist. Es war nicht mein Plan dich eifersüchtig machen, aber deine Reaktion war schon witzig.« »Ich hab dich auch vermisst. Sonst noch etwas passiert, von dem ich wissen sollte?« »Hmm, ich habe eine Freundin gewonnen, die gut ins Ray Team passen würde.« »Du solltest dich doch entspannen und nicht neue Leute rekrutieren.« Nim legte den Arm auf die Schulter seiner Freundin und zog sie durch die Tür in den Korridor und zum Lift.
»Lift anhalten.«, warf Nim in die Luft. May schaute fragend, hatte aber keine Zeit zu reagieren. Nim packte sie, hob sie hoch und drückte sie gegen die Liftwand, wo er ihr einen Kuss auf den Mund drückte, der jeden weiteren Laut erdrückte. Darauf war der kleine Kommander nicht gefasst gewesen. »Wir haben einen manuellen Nothalt im Liftsystem. Ich aktiviere die Überwachung.« Sab zuckte und das Bild verschwand so schnell wie es erschienen war. »Was ist los? Was hast du gesehen?«, fragte Trish neugierig.
»Mehr als ich wollte. Nim und May. Wenn sie den Lift nicht bald weiterfahren lassen, aktiviere ich den Sprinkler.« Trish lachte laut auf: »Junge Liebe und Fahrstühle. Ja, da werden Erinnerungen wach.« Sab drehte sich entsetzt um: »Toll noch ein unlöschbares Bild in meinem Kopf.« »Wow!«, brachte May nach Luft schnappend heraus. »Neues Ziel. Quartierring.«, definierte Nim das Ziel um: »Essen und Leute treffen können wir später immer noch, aber das was ich jetzt vorhabe, machen wir lieber alleine in unserem Quartier.« May hatte keine Einwände. Ihr Körper kribbelte noch von den intensiven Berührungen und ihr Geist wollte mehr davon.
Als May erwachte, prüfte sie mehrmals das Datum. Es stimmte eindeutig mit den Berechnungen überein, die sie sogleich ebenfalls noch einmal überprüfte. Kein Zweifel. Heute war der Tag, der über ihr gesamtes Leben bestimmen würde. Schwerfällig erhob sie sich von ihrem Schreibtisch und machte sich auf den Weg ins Bad. Im Spiegel sah sie wieder die alte Frau, die sie schon seit Jahrzehnten aus der alten Aufnahme kannte. Seit einigen Jahren war sie Real und begleitete sie bei jedem Schritt. Kaum hatte sie das Quartier verlassen, da tauchten zwei Kadetten in der Kurve des Quartiergangs auf. Einer der beiden zündelte mit seiner Hand. Kleine Stichflammen stiegen empor und verschwanden wieder. »Hat man euch im Sanktum nicht beigebracht, wie ihr mit euren Kräften umgehen sollt. Auf der Station ist der Einsatz jedenfalls strengstens untersagt.«, maulte der alte Kommander und erstickte die Flammen mit seinen Fähigkeiten.
Ohne weiter auf die Missachtung einzugehen, marschierte May an den Beiden vorbei, behielt den Feuerteufel aber weiter unter ihrer Kontrolle. Deutlich spürte sie, wie er versuchte sein Element zu steuern, aber es gelang ihm ohne die dazu nötige Luft nicht. Deutlich hörte sie wie er fluchte, aber interessanter war seine Begleitung: »Weist du wer das war?« »Die Alte?« »Das war Kommander May.« »Sicher? Ich dachte die gibt es gar nicht mehr? Zumindest dachte ich sie wäre nicht mehr auf der Station.«
May schmunzelte. Man hatte sie nach all den Jahren doch noch nicht ganz vergessen. »Hallo Kleines.«, begrüßte Sor seine langjährige Kollegin. »Sor, du wirst wirklich nicht müde mich so nennen, oder?« »Ach, du kennst mich doch.«, zog der graue Troll, wie Mergy ihn gerne genannt hatte, die Mundwinkel hoch. May war traurig. Es würde das letzte Mal sein, wo sie ihn sehen würde. Heute war es soweit. Heute würde sich der Kreis schließen. Ohne Hast und die Umgebung um so intensiver aufnehmend nahm sie ihr Frühstück zu sich. Es war nichts besonderes. Eigentlich wie immer ein mit Wurst belegtes Brötchen, dazu ein paar kleine Gürkchen und eine Tasse Kakao. Kaffee oder Tee waren ihr auch im hohen Alter, zumindest beim Frühstück, immer noch ein Graus.
An diesem Morgen setzte sich der gealterte Kommander aber nicht mit kleineren Problemen auseinander oder experimentierte im Labor, wie in den letzten Jahren. Das war mehr ein Zeitvertreib gewesen. Heute war der erste Tag vom Rest ihres Lebens. Sie war müde. Es war nicht die Art Müdigkeit, die einen überfällt, wenn man kurz im Sessel die Augen schließt, sondern die Müdigkeit des Wartens. Missionen war sie schon lange nicht mehr geflogen und ihre letzte Reise ins All war schon viele Jahre her. Damals wurde wieder ein neuer Pavan ins Amt eingeführt. May war, wie schon unzählige Male zuvor, zur Zeremonie eingeladen worden. Trotz all der Jahre seit ihrer ersten Begegnung mit den Seem, war sie immer noch sehr beliebt bei ihren außerirdischen Verbündeten. Die Lebenserwartung eines Seems lag nur bei knapp 8 Erdjahren. Die Seem, die sie damals gerettet hatte, waren längst genauso vergangen, wie deren direkte Nachfahren und deren Kinder.
Der Lift entließ sie auf dem Kommandodeck. Der Anblick war ihr nur zu vertraut, aber die vielen Personen, die sich hier tummelten, machten diesen Raum dennoch jedesmal ungewohnt. Damit war sie nicht alleine: »Hallo Oma, was machst du denn hier?« »Hallo Kleines. Ich habe etwas wichtiges zu erledigen. Es tut mir leid, aber es muss sein.« Bevor der amtierende Kommander auch nur verarbeitet hatte, was May gesagt hatte, setzte diese eins drauf. »Jaque, das Orakelprotokoll aktivieren. Autorisation May 45897726« »Orakelprotokoll?«, fragte Amber noch laut, als es um sie herum lauter wurde. Die verschiedenen Stationen bemerkten Fehlfunktionen auf der gesamten Station. Diverse Warntöne drangen aus den verschiedenen Konsolen. »Kommander. Die Hangars schließen sich. Kommunikationsysteme ausgefallen.« »Liftsysteme ausgefallen.« »Waffensysteme ausgefallen.«, kamen von allen Seiten Meldungen des Personals. »Was ist hier los?«, fragte Amber nun direkt ihre Oma, weil nur diese Erklärung Sinn machte. Transportmarkierungen auf dem Deck zogen ihren Blick auf sich und noch bevor sie sich wieder dem alten Kommander zuwenden konnte verschwand auch sie im Lichtschein.
May stand immer noch auf der leichten Anhöhe vor Büro und Konferenzraum. Der große abgerundete Raum war nun leer. Fast so wie damals. »Jaque, Status?« »Alle Zugänge zum Turm blockiert. Der Transportblocker wurde reaktiviert. Terminals auf der gesamten Station wurden abgeschaltet.« May setzte sich auf einen Stuhl, den sie zwischen die Konsolen in den Gang rollte. »Schiffe in Stationsnähe?« »Negativ.« »Hologramm aktivieren.« Hinter May entstand eine farbige Wand, die den hinteren Teil eines Kampfgleiters nachbildete. Von Vorne sah es aus, als würde sie in selbigem als Pilot sitzen. Ihr Gesicht zeichneten nun die holographischen Male einer längst vergessenen Schlacht und teilten es vertikal. »Registriere Unterraumstrahlung an den vorherbestimmten Koordinaten.«, verkündete Jaque.
»Aktiviere den Transport.« »Bin schon dabei.« »Kanal zu den Seem öffnen. Ich hoffe das klappt.« »Leitung steht!« Auf dem Schirm tauchten die gruseligen Gestalten auf. Die Seem, die mit ihren großen Zähnen wie übergroße Piranhas aussahen, schwammen wie in einem Aquarium vor der Kamera. »Hier spricht Kommander May vom Ray Team. Wir haben nicht viel Zeit, also hören sie einfach nur zu. Ihr Schiff sitzt in einer Art Zeitstrudel fest und ist bereits schwer beschädigt. In diesem Moment wird ein Datenmodul an ihr System gekoppelt. Um die natürliche Ordnung der Zeit zu erhalten werden dafür Teile ihres Waffensystems in das Datenmodul umgewandelt und an ihre Kommunikation gekoppelt. Übergeben sie meinen Freunden das Modul nach ihrer Rettung. Sie werden ihnen helfen. Viel Glück!«
»Transport abgeschlossen. Modul in Position und aktiviert.« Laut und etwas verzerrt kam die Antwort aus den Lautsprechern: »Die Seem danken!« Dann war auf dem Schirm ein zweiter Seem zu sehen, der aufgeregt hin und her wackelnd im Sichtfeld auftauchte und etwas sagte, was der Computer nicht übersetzen konnte. Das Bild änderte sich. Ein asiatischer Mann Anfang 40 erschien auf dem Bild und streckte seine Hand Richtung Kamera: »May?« May schluckte. Ihr alter Körper verkrampfte und längst begrabene Gefühle stiegen geballt in ihr auf, die stärker waren als all die Erinnerungen des aktuellen Tages zusammen. Daran hatte sie nun wirklich nicht mehr gedacht: »Papa!« »Erneuter Strahlungsanstieg!«, meldete Jaque und nur Bruchteile von Sekunden später waren ihre alten Freunde und ihr Vater wieder verschwunden.
Sie hielt inne. Es waren nicht nur ihre eigentlich längst verstorbenen Freunde an Bord gewesen, sondern auch ihr Vater. Den hatte sie komplett vergessen, aber alles war genauso passiert, wie sie es von ihm und den Seem erzählt bekommen hatte. Jetzt konnte sie nur noch hoffen und beten. Sie würde es nicht merken, wenn die Schleife einen Fehler hätte, aber im schlimmsten Fall würde sich die Welt, ihr Universum, nicht so entwickeln wir sie es erlebt hatte. Das konnte schlimme Konsequenzen haben. Unzählige Male ließ sie ihre Übertragung an die Seem noch einmal von Jaque abspielen und prüfte die am Seemschiff vorgenommenen Modifikationen, aber alles schien zu stimmen.
»Orakelprotokoll deaktivieren und die Orakelkonsole abschalten. Wir werden sie nicht mehr benötigen.« »Verstanden Kommander.«, quittierte Jaque die Aufgabe. Es dauerte gerade mal zwei Minuten, bis ein kleiner bewaffneter Trupp in den Kommandosaal stürmte und May umringte. »Waffen runter! Oma, was hat das alles zu bedeuten? Was ist hier gerade geschehen?« »Das Orakel ist auf die Reise geschickt worden. Es musste genauso geschehen, wie es vorher bestimmt war. Jeder Fehler hätte unser Ende sein können.«, blieb May vage. »Das Orakelereignis? Das war heute?« »Ja, von heute an bekommen wir keine Hilfe mehr. Die Krücke ist zerbrochen.« May lachte laut auf. Sie hatte mit Tin unzählige Stunden diskutiert und nach einer Erklärung für das Paradoxon gesucht und die Lösung war so einfach. Einfach nochmal die schlimme Zukunft vorgaukeln und alle Orakelnachrichten der Vergangenheit aussenden, wie sie empfangen wurden. Mehr war gar nicht nötig.
»Callwas, ziehen sie ihre Männer ab.«, befahl der amtierende Stationschef. »Kommander May hat gegen unzählige Vorschriften verstoßen. Ich werde es melden müssen.« »Tun sie sich keinen Zwang an. Kommander May hat gerade die Menschheit gerettet. Wenn das ein Problem für sie ist, dann nur zu.« Amber wirkte stark, kompetent und in ihrem Element. May konnte es nicht laut aussprechen, aber die Art, wie sie mit der Situation umging war einfach nur professionell und erfüllte sie mit stolz.
Die Sicherheitstruppe zog zögerlich ab. Callwas warf noch einen vorwurfsvollen Blick zurück. »Callwas ist schon immer ein wenig übereifrig gewesen.«, kommentierte May die Lage und stellte durch Ton und Lautstärke sicher, dass auch der Sicherheitschef sie hören konnte. »Du kennst ihn schon länger?« »Sagen wir mal, wir sind schon öfter aufeinander getroffen.« »Was machen wir denn jetzt so ganz ohne Orakel?« »Das was ihr sonst auch gemacht habt, nur eben ohne den Sicherheitsgurt. Meine Zeit hier ist jedenfalls gekommen.« »Oma!« »Schon gut. Jiyai erwartet mich bereits auf der Erde.« »Du willst uns auch verlassen?« »Die letzten Jahre seit ihr doch auch gut ohne mich klar gekommen, oder? Ich bin doch hier längst überflüssig und will niemandem im Weg stehen. Endlich habe ich wieder die Freiheit zu tun, was ich will und diese Gelegenheit werde ich nun nutzen.«
»Die Seem führen einen neuen Pavan in sein Amt ein und du bist geladen. Was soll ich ihnen ausrichten?« »Ist es wieder so weit ja? Schon traurig. So friedvolle Wesen und so eine kurze Lebenserwartung.« May bedauerte es sehr. Auch wenn die Seem immer nur als Schwarm, als Gruppe, auftraten, so waren sie doch immer auch Freunde gewesen. Mit jedem der bisherigen Pavane verband sie ein Ereignis oder eine Mission. May war nur froh, weil die Seem keine Fremden auf ihren Beerdigungen duldeten. Selbst bei dem großen Pavan, mit dem sie vor wenigen Augenblicken noch gesprochen hatte, wurde damals keine Ausnahme gemacht, dabei wäre es ihr persönlich wirklich wichtig gewesen. »Sag ihnen die Wahrheit. Ich bin Alt und offiziell außer Dienst. Ihre Statue wird mir sowieso schon lange nicht mehr gerecht. Warum gehst du nicht hin?« »Ich? Zur Amtseinführung eines Pavans der Seem? Nach all den Auszeichnungen und Ehrungen, die du unter den Planeten der Allianz, bekommen hast, wäre das wohl nicht angemessen.«
»Sagt wer? Es ist nicht wichtig wieviele Auszeichnungen man bekommt. Einzig die Person hinter der Medaille ist wichtig und hat Bedeutung. So viele Menschen haben mir in den letzten 60 Jahren ihre Dankbarkeit gezeigt. Wichtig war mir nur eine einzige Danksagung.« Schlagartig erwachten die Erinnerungen an diesen Tag, der für sie gleichzeitig bedeutsam wie traurig war. May kommandierte die Volumm weit draußen im All, als die Nachricht eintraf. Sie überließ ihrem ersten Offizier das Kommando, der genauso erschrocken und unsicher wirkte wie ihre Enkelin vor wenigen Sekunde.
May startete direkt zu ihrem Rückflug in einem Manta. Unendlich lange 56 Stunden dauerte die Reise und das auch nur, weil sie die Triebwerke bis ans Limit belastete. Bereits bevor sie auch nur den Satellitenring erreichte kontaktierte sie das Earthgate und forderte bevorzugte Abfertigung. Dieses Tor war der einzige Zugang zum Planeten. Seit der Einführung der globalen Erdregierung stellte es sicher, dass keine unerwünschten Personen, Krankheiten, Substanzen oder Waffen den Planeten erreichten oder verließen. Einzig die Gleiter und Mantas des Ray Teams dürften das Tor bevorzugt passieren, sofern sie direkt von der Station kamen. »Es tut mir leid Kommander, sie kennen die Regeln.«, tönte es unfreundlich aus der Kommunikationsanlage.
»Ich denke sie verstehen nicht so recht. Als Kommander des Ray Teams habe ich im Falles eines Notfalls das Recht eine bevorzugte Abfertigung anzufordern. So steht es im Abkommen zwischen der Erde und dem Ray Team.« »Schiffe, die nicht von Ray Team One gestartet sind, müssen ohne Ausnahme abgetastet werden.« May war bereits bis unter das Dach geladen und sie brauchte die Kraft an diesem Tag noch. Das wusste sie genau. Dieser Torwächter brachte sie dennoch zur Weißglut. »Sie hören ja nicht einmal zu. Ich bestehe auf bevorzuge Behandlung am Gate und nicht um einen freien Durchflug. Klären sie das mit ihrem Vorgesetzten, oder ich werde ihr dämliches Gate persönlich mit meinen Waffen demontieren. May Ende« »Drohen sie mir etwa?«, ertönte noch aus der Kommunikation, aber May hatte genug und schaltete ab.
Es würde der bisher schwerste Tag in ihrem Leben werden, soviel war klar. Sie reaktivierte die Kommunikation erst wieder als sie in den Normalraum eindrang. Ihr Antrieb hatte die extremen Belastungen überstanden. Damit würde dieser Manta wohl wieder ein gutes Beispiel für extreme Abnutzung geben und helfen die Technik zu verbessern. May aber hatte keinen Kopf für diese eigentlich logischen Gedanken: »May an Earthgate. Erwarte eine bevorzugte Abtastung.« May blieb kurz und knapp. »Hier spricht General Wandor vom Earthgate. Sie haben freien Durchflug zum Gate.«, erreichte sie eine deutlich positivere Nachricht: »Ich möchte mich in aller Form für das ungebührliche Verhalten von Leutnant Callwas entschuldigen.« »Danke.«, fiel May ein Stein vom Herzen. Sie stoppte ihren Manta zwischen den beiden Ringen und wartete auf grünes Licht für die Weiterreise. Kaum war der Durchflug erlaubt, da beschleunigte sie wieder und aktivierte die Tarnung, damit niemand von ihrem Zielort auf dem Planeten erfuhr.
Nur wenige Minuten und einen Überschallknall später erreichte sie ihre Zielkoordinaten. Sie hatte sich so beeilt, hielt aber trotzdem noch einmal inne, bevor sie sich vor dem Haus, von einem Baum und einer Hecke geschützt hinunter transportierte. Noch einmal zögerte sie bevor sie den kleinen runden Metallknopf neben der Tür tief eindrückte. Deutlich hörbar ertönte eine Glocke im Inneren. Es dauerte nicht lange, bis die Tür aufsprang und Daniela sie begrüßte. Ihr Gesicht war verquollen und dicke Ringe zeugten von massivem Schlafmangel. »Bin ich spät?«, erschrak May, hatte sie doch alles daran gesetzt rechtzeitig einzutreffen.
»Nein, aber er hat nicht mehr viel Zeit. Schön das du da bist.«, schien Mergys Tochter erleichtert zu sein, ihre Last nun auf eine weitere Person verteilen zu können. Anja, Daneen und Danielle eilten sofort in den Flur, als sie Mays Stimme vernahmen. Die intensive Umarmung wurde schlagartig unterbrochen, als Jiyai aus einem der angrenzenden Zimmer trat und May erblickte. »Schön das du da bist. Er hat schon wieder nach dir gefragt.«, begrüßte die Ärztin ihre Teamkollegin mehr oder weniger. »Du kannst gar nichts für ihn tun?« »Nein, seine Zeit ist einfach gekommen.«. Dieser Mensch in dem Schlafzimmer war für die Medizinerin ebenfalls nicht nur irgend ein beliebiger Patient, sondern ein langjähriger guter Freund. Ihr betrübtes Gesicht machte diesen Umstand nur umso deutlicher.
Vorsichtig öffnete May die Tür und trat ein. Mergy hatte die Augen geschlossen und schien friedlich schlafen. Er sah so zerbrechlich und Mager aus. Von dem großen Kämpfer war zumindest äußerlich nichts mehr vorhanden. Das Zimmer war in freundlichen Farben gehalten. Hellblaue Tapeten harmonierten mit den sonnigen Tönen der Gardinen. Unzählige Bilder zierten die Wände. Die vielen Momentaufnahmen zeigten alle Stationen seines bewegten Lebens. Hochzeit, Urlaube mit den Kindern und die stolzen Momente in deren Leben.
Aber auch das Ray Team wurde nicht vergessen. Wohl aus Rücksicht auf seine Identität waren diese Details mehr versteckt in der Menge und konnten allesamt plausibel erklärt werden. Ein paar der blauen Figuren standen vor den Büchern im Regal, aus deren Mitte der lila Kampfgleiter hervorstach. Mergy selbst gab es nicht einmal angedeutet. Für ihn war in diesem Raum kein Platz vorgesehen.
Plötzlich schlug er die dunklen Augen auf und man konnte deutlich die Freude erkennen, als er May auf dem Stuhl neben seinem Bett sitzen sah: »Hallo Prinzessin.« Seine Stimme war leise und man konnte spüren, wie ihm das Reden förmlich die Kraft aus dem schwachen Laib saugte. »Hallo Papa!«, begrüßte May ihren väterlichen Freund, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Bisher hatte sie es immer vermieden ihn so zu nennen, weil diese Anrede nur ihrem eigenen, ihrem richtigen, Vater zustand. Jetzt aber war es ihr wichtig, ihm den Titel zu geben, den er doch eigentlich schon so lange in ihrem Leben einnahm. Mergy bemerkte die ungewöhnliche Wortwahl sofort und May machte ein Lächeln auf seinem hageren Gesicht aus.
»Schön das du doch es noch geschafft hast.«, sprach er stockend und schwächlich seine Gefühle aus. »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.«, erklärte seine Ziehtochter: »Wir waren bei den Strelongens in den Randgebieten unseres Bündnisses.« »Sind das diese vogelähnlichen Wesen?« »Nein, die sehen aus dreieckige Eier mit Pinguinfüßen und einer Blume auf dem Kopf.« »Bestimmt amüsant anzusehen. Wie geht es der Familie?« »Meinen Eltern geht es gut. Nim und den Kindern auch.« »Nim hätte sich wohl auch nicht träumen lassen mal einen Tempel zu leiten.« »Ja, manchmal denke ich, ihm fehlt noch eine Schwarze Kutte.«, lächelte May leicht krampfhaft, war doch die Situation nicht gerade leicht für sie: »Er würde dich auch gerne noch einmal sehen, wenn es dir recht ist?« »Natürlich. Wir sind, was wir wohl deiner Bekanntschaft verdanken, über die Jahre recht vertraut geworden. Mehr noch als die meisten anderen Menschen mit denen ich je gearbeitet habe.«
Ein Lichtblitz leuchtete auf und Nim stand im Zimmer: »Hallo, Kommander.« »Hallo Voodoopriester. Ein Kommander bin ich schon lange nicht mehr.« »Für mich wirst du es immer bleiben, genau wie du nie müde wirst mir neue Titel zu verpassen.« »War das letzte Mal. Versprochen.« Mergy schaute die beiden schweigend einige Sekunden an: »Genießt die Zeit zusammen. Am Ende ist alles kürzer als ihr es erwartet habt. Erkundet das Universum und saugt jede Sekunde in euch auf. Ich hätte so gerne noch einmal die Station und einige der bekannten Welten bereist, aber jetzt ist es dafür zu spät.« »Vielleicht kann ich da helfen? Es war mir eine Ehre an deiner Seite arbeiten zu dürfen. Ich habe viel von dir gelernt. Gute Reise!« Mit einem weiteren kurzen Zapp war er wieder verschwunden.
»Da ist etwas das ich dir noch sagen wollte. Ich hätte es schon vor Jahren tun sollen, aber das hat sich nie ergeben,«, wurde May's ehemaliger Kollege nochmal deutlich ernster: »Ich wollte dir für alles danken. Ohne dich wäre der Traum vom Ray Team nie so zum Leben erwacht. Niemals hätte ich mir dieses Ergebnis auch nur vorzustellen gewagt.« May war gerührt und am Liebsten hätte sie ihm widersprochen. Schließlich hatte er ihr dieses Leben überhaupt erst möglich gemacht. »Und ich danke dir dafür, weil du meiner Familie und allen voran mir einen Platz in eurem Traum eingeräumt hast.« Schnell reichte sie ihm ein Glas Wasser, um ein sofortiges Widersprechen zu verhindern und seiner schweren trockenen Stimme wieder etwas Farbe zu verleihen. Er wirkte so zerbrechlich. Der große Krieger von damals, dem höchstens seine Schusseligkeit im Weg stand, war verschwunden.
Schlagartig waren Beide in weißes Licht gehüllt. Mergy schaute verwirrt und dachte wohl für einen Moment seine Zeit wäre schon jetzt abgelaufen, aber May saß noch an seiner Seite. »Ich denke das war Nim.«, konnte sie gerade noch erklärend von sich geben, da schwebten sie schon über dem Haus. Nim projizierte das Bild direkt in das Krankenzimmer und richtete es so aus, als würde Mergy stehen. »Mein Haus und die alte Eiche. Die habe ich vor vielen Jahren vor einem Straßenbauprojekt gerettet.« Langsam wurde die Erde kleiner und dann drehte die Sicht in Richtung All, wo sie auf das Earthgate zuflogen, welches wie ein Verschlussring in einem Bonbonglas jeglichen Zugang zum Planeten unterband.
»Es ist viel größer als ich es mir vorgestellt habe.« »Da müssen komplette Raumschiffe durch. Zu klein darf es daher nicht sein.«, erklärte May. »Ist das eine Aufzeichnung?«, war Mergy unsicher, was er da sah. May selbst hatte keine Ahnung und sah genauer hin. »Das scheint live zu sein. Die beiden Schiffe vorne am Gate habe ich vorhin in der Warteschlange überholt.« Ein Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht des Kommanders ab: »Wenn Sab damals gewusst hätte, was euer Tempel alles drauf hat, hätte sie ihn euch nicht kampflos überlassen.« »Den Kampf hätte sie wohl verloren.«, lächelte May zurück, obwohl ihr nicht wirklich danach zu mute war.
Nach einer Drehung flogen sie auf das weiße Schloss zu. Etwa ein dutzend Ray Team Trägerschiffe konnte man im All ausmachen. »Sind die echt?« »Hologrammschiffe brauchen wir nur noch im Notfall.«, erklärte May ohne Umschweife: »Wir haben mittlerweile 72 Schiffe im Einsatz. Nummer 73 befindet sich bereits im Bau.« »Beeindruckend, wenn man bedenkt wie wir damals in unser kleinen Transportdose angefangen haben.« Über die Station hinweg umkreisten sie das gigantische Gebilde einige Male, bis die Reisenden schließlich durch die Scheibe auf dem Kommandodeck landeten, wo Kommander Moon gerade das Kommando hatte.
Mergy stutzte: »Ist das Moon?« »Ja, das ist er!« »Ist das weise?« »Keine Sorge. Er hat es kapiert. Kari erdet ihn zusätzlich. Sie sind seit vielen Jahren verheiratet und haben zwei Kinder.« »Der Böse bekommt das schöne Mädchen. Ist ja wie im klassischen Film.« Mergy hustete heftig und May reichte ihm erneut das Glas Wasser. Zurück durchs Fenster ging es wieder hinaus ins All, wo die rasante Fahrt an jedem Planet für kurze Zeit verlangsamte, um dann wenige Momente später wieder zu beschleunigen. Der Planet der Seem, der Stri und einige andere Welten wurden abgeklappert, bis sich die kleine Blase langsam auflöste und das Zimmer wieder wie durch einen Nebelschleier nach vorne drang. »Bestell deinem Mann einen herzlichen Dank. Das war wirklich sehr schön.« »Mache ich.«
»Da ist noch etwas. Du brauchst nicht auf meine Beerdigung zu kommen. Niemand kann eine dreimalige Teilnahme verlangen. Du hast schon genug für mich getan.« Er wusste seine Zeit war gekommen und der letzte Sand aus seiner Uhr ronn durch die Finger des Schicksals. Der alte Mann, der die linke Seite des großen Doppelbettes einnahm, hatte natürlich recht. Die erste Beerdigung nach seinem Verschwinden in der Zeit, war noch immer einer der schlimmsten Momente in ihrer Erinnerung. Die Zweite war nur eine Show für die Medien und Ray Team Kollegen gewesen.
Einzig seine Freunde waren eingeweiht. Alle anderen bekamen die Nachricht, laut der Mergy bei einem Testflug mit einem Manta ums Leben gekommen war. Die Wiederholung der Prozedur trieb May auch auf dieser künstlichen Veranstaltung abermals die Tränen in die Augen und machte es für die anderen Trauergäste nur umso glaubwürdiger, die Trennung von Thomas perfekter. So konnte er in Frieden mit seiner Frau und den Kindern auf dem Planeten den mehr als verdienten Ruhestand genießen, ohne doch wieder als Mergy offiziellen Feierlichkeiten beiwohnen zu müssen, wie man das auch von Altkanzlern und Präsidenten erwartete.
»Kommt gar nicht in Frage.«, brachte May trotz ihres nicht mehr jugendlichen Alters eine patzige Antwort heraus, die Mergy kommentarlos akzeptierte. »Schau nicht so. Ich wechsele nur auf die Zuschauerbank. Mehr nicht. Der Doc wartet schon auf mich. Ich vermisse den alten Kauz.« Der deutlich jüngere Kommander berichtete ihm noch von noch einigen Geschehnissen und den Neuerungen auf der Station. Ihr altersschwacher Kollege hörte aufmerksam zu und fragte hier und da nach, bis May sein Einschlafen bemerkte. Für einen Augenblick hielt sie die Luft an, aber dann sah sie seinen Brustkorb leicht mitsamt der Decke anschwellen und wieder zusammenfallen. Leise verließ sie den Raum und gesellte sich zu Jiyai und den Töchtern in die Küche. Anja nahm wieder am Bett ihres Mannes platz, während sich die Anderen mit Erzählungen von dem Unvermeidlichen ablenkten.
43 Minuten später schlief Thomas Merninger für immer ein. Seine Berühmtheit hatte er schon lange abgelegt. Naja, nicht wirklich abgelegt, aber die Presse hatte eben längst das Interesse an seiner Person verloren. Es waren alle Heldentaten niedergeschrieben und alle Details über sein Leben veröffentlicht. Sein Tod jedenfalls sorgte noch einmal für ein Aufkeimen der alten Informationen.
Kinder und Jugendliche erfuhren von dem alten Mann, der einst in einer waghalsigen Aktion den Planeten und die komplette Menschheit gerettet hatte. Sendungen wurden umgestrickt und neu vertont, damit sie aktueller und moderner wirkten als sie in Wahrheit waren. Menschen, egal ob Normal oder Prominent, die sich sonst auf der Straße nicht einmal für den alternden Helden umgedreht hätten, sprachen ihr Beileid aus und nutzten den Verstorbenen um ihr Gesicht in den Medien zu präsentieren und selbst wieder an Aktualität und Präsenz zuzulegen.
Egal wie oft dieser Planet sich noch friedlich um seine eigene Achse drehen würde, eines würde sich nie verändern. Die Menschen!
Von: <Joselyn Cross> JoselynCross@homenet.us
An: <Kommander May> May@rayteam.space
Betreff: Statusupdate
Hallo May,
Es ist komisch dir zu schreiben. Als Kind habe ich immer dem Weihnachtsmann geschrieben. Aber obwohl ich genau weiß, dass es dich gibt, fühlt es sich unreal an, diese Worte an dich zu richten. Deine E-Mail-Adresse habe ich aus dem Internet. Hoffentlich findest du diese Mail überhaupt. Dir schreiben bestimmt tausende Menschen täglich. Eigentlich Unsinn, da du diesen Text ja nur lesen kannst, wenn du ihn gefunden hast. :)
Danke für die Spielkonsole. Ich habe schon fleißig geübt. :) Seit dem du abgereist bist, ist viel passiert. Ich habe wieder Beine. Anfangs hatte ich Angst die Leute würden mich komisch ansehen. Naja, seit meinem Unfall haben mich sowieso alle komisch angesehen, aber jetzt kann ich ihnen auf Augenhöhe entgegentreten. Das Herumstorchen ist auch schon besser geworden. Die meiste Zeit – vor allem in der Schule – nutze ich aber trotzdem immer noch den Rollstuhl. Du hattest übrigens recht. Da ist jemand der mich nicht mitleidig angesehen hat. Er heißt Todd und mag mich. Er mag mich sehr. Nachdem wir uns einige Tage nur sinnlos angelächelt haben, hat er sich in der Schule zu mir an den Mittagstisch gesetzt.
Ryan Hindrix, einer von Jonathan Walkers sogenannten Freunden, kam an unseren Tisch und war ziemlich fies zu ihm. Und zu mir. »Ob er keine komplette Freundin abbekommen würde?« Da bin ich zum ersten Mal aufgestanden. Vor der ganzen Schule. Damit hatte er nicht gerechnet. Niemand hatte das. Nicht einmal ich selber. Ich habe ihm dann gesteckt, man könne in der heutigen Zeit ganz einfach neue Beine bekommen und ihm dann mein Bedauern ausgedrückt, weil er nicht so einfach ein funktionierendes Hirn für seinen Hohlkörper beziehen könne.
Er war komplett irritiert, sprachlos und ist zu seinen Kollegen zurückgedackelt. Plötzlich haben alle im Raum geklatscht und mit den Füßen gestampft. Selbst Frau Daniels, die im Saal für Ordnung sorgen sollte, stand einfach nur mit der Hand vor dem Mund an der Tür. Als ich mich wieder in den Rollstuhl fallen ließ, hat Todd mich angelächelt und geküsst. Einfach so. Ja, so war das. Wir sind jetzt zusammen. Er ist toll.
Ich hoffe dir, Nim und den anderen geht es gut. Mama fragt mich oft, wie dieses Mädchen – damit meint sie dich – geschafft hätte, mich zu überzeugen Prothesen zu benutzen. Meisten zucke ich dann nur die Schulter. Erklären kann ich ihr ja sowieso nichts. Vielleicht kommst du uns ja nochmal besuchen und bringst deinen Nim mit. Dann können wir mal zu viert ausgehen.
So, Todd ist jeden Moment da. Wir wollen ins Kino.
Ich hoffe wirklich die Nachricht erreicht dich. Danke für alles.
Joss.
»Ihr seit da.«, sprang Joselyn aus der Küche und May direkt an den Hals. Ihre Mutter folgte deutlich zögerlicher. »Hey. Du bist größer geworden.« »Ein Vorteil bei Störchen. Lange dünne Stelzen.«, lachte Joss. »Joselyn, darf ich dir meinen Freund Nim vorstellen. Nim, hier haben wir Joselyn Cross.« Joselyn schnappte sich Nim und umarmte ihn genauso freudig wie May zuvor. »Marcy hat gesagt ihr bleibt nur bis morgen?« »Ja, nur über das Wochenende. Montag müssen wir wieder früh raus.« »Verstehe.« Das Mädchen zwinkerte wissend in ihre Richtung.
Jetzt erst gesellte sich auch ihre Mutter dazu. Sie bedankte sich überschwänglich bei May für die Hilfe ihre Tochter zur Besinnung zu bringen. Abermals war ihr das eigene Verhalten von damals peinlich. Marcy reichte May den Zimmerschlüssel. »Essen wir nachher zusammen zu Mittag? Dann kann ich euch Todd vorstellen.« »Klingt toll.« »Jetzt lass die beiden doch erst einmal ankommen. Sie hatten eine lange Zugfahrt.«, ermahnte sie ihre Mutter. Abermals lächelte Joselyn eines besseren wissend.
Nach dem Mittagessen ging es mit Todd zum Strand. May musste schmunzeln. Nim hatte darauf bestanden, ihren Bikini einzupacken. DEN Bikini. Er wollte nicht das sie jemand darin sah und trotzdem sollte sie ihn einpacken. Als sie ihn zur Rede stellte, hatte er eine plausible Erklärung. Seit dem Aufenthalt auf dem Planet der Seem hatte es keine Gelegenheit gegeben sie in dem Kleidungsstück zu bewundern, was er selbst am Meisten bedauerte. Nim musste also den Anblick teilen, oder auf den Anblick verzichten. Beides gefiel ihm nicht wirklich, aber er war wohl zu der Erkenntnis gekommen, diese Option wäre die bessere.
Unter ihrer engen Jeans und dem T-Shirt mit dem Logo einer Rockband, die Nim verehrte, ging es also im Bikini zum Strand. Nim trug seine roten Converse, eine kurze Jeans, deren Beine gerade über seine Knie reichten. Dazu ein knalliges T-Shirt mit einem japanischen Fischgericht im Mangastil darauf. Joss trug eine luftige Bluse und eine lange Hose, um ihre künstlichen Beine zu verdecken. Todd eine kurze knielange beige Hose und ein blaues Shirt mit dunklen Streifen an den Rändern.
May hatte ihn beobachtet. Er blickte immer wieder zu seiner Freundin und beobachtete sie einfach nur so. Egal ob sie etwas erzählte oder nur zuhörte, wenn May oder Nim etwas zu sagen hatten. Sie war genauso. Nim beim Kuchenessen oder beim Videospielen zuzusehen war spannender als jeder Film. Dieser Junge war fasziniert von seiner Freundin. Die metallenen Beine seiner Partnerin waren ihm egal. Wie die Superkräfte für Nim.
Über den aus Holzplanken gelegten Weg ging es Richtung Wasser. Das letzte Stück musste auch Joselyn laufen, da die Räder ihres Stuhls sich in den Sand eingruben und selbst mit der Hilfe von Todd wäre sie keinen Meter mehr vorwärts gekommen. Nachdem sie die Decken ausgebreitet hatten und sich er überflüssigen Kleidung entledigt hatten, genossen die Vier den Strand. Keine zwanzig Meter entfernt waren Jugendliche auf dem kleinen Fitnessplatz dabei Gewichte zu stemmen. Einige machten Klimmzüge oder hingen mit den Füßen nach oben Kopfüber an einer Stange und wuchteten ihren Oberkörper nach oben.
Nim konnte den Blick nicht von seiner Freundin abwenden. May bemerkte wie er immer wieder auf Leute schielte, die an ihrem Platz vorbei flanierten und Augen auf seine Freundin warfen. May lächelte. Er war stolz derjenige zu sein, der neben ihr auf der Decke liegen und sie eincremen durfte. Eigentlich war das Eincremen wegen dem optionalen Körperschild unnötig, aber es war ein Ritual, welches auch Todd und Joss, wenn auch gezwungenermaßen, zelebrierten. May genoss die Berührungen ihres Freundes und auch Nim ließ sich deutlich mehr Zeit als nötig, um sie mit der zähen weissen Milch einzureiben.
Sie lachten, mampften Leckereien, die Joss´ Mutter in den großen Picknickkorb gepackt hatte und erfrischten sich im kühlen Nass. Todd war wirklich aufgeschlossen und ging mit Joselyns Problem um wie ein Profi. Er trug sie, ohne ihre Beine, zum Wasser. Ihr Freund blieb immer in der Nähe um einzugreifen, wenn ihr die Puste ausging, ließ sie dabei aber nie schwach oder hilfsbedürftig aussehen. May konnte aber auch sehen, wie die beiden von anderen Strandbesuchern angesehen wurden. Es war dem ungewöhnlichen Paar egal und das beeindruckte May einmal mehr.
Als sie wieder auf ihrer Decke lagen und sich von der Sonne trocknen ließen, vernahm May eine bekannte Stimme. Jonathan. Er warf nach einer mehr als freundlichen Begrüßung von May und einem noch intensiveren Blick auf ihren Körper nur einen flüchtigen Blick auf Nim. »Nim das ist Jonathan. Jonathan darf ich dir meinen sehr wohl existierenden Freund Nim vorstellen?« Der von oben herabgesendete Blick verfinsterte sich leicht: »Ich hatte ihn mir größer und beeindruckender vorgestellt.« Nim lachte laut auf und zog die Blicke auf sich. »Wie hat er denn jetzt meine Gedanken gelesen?«, fügte er erklärend an und erntete ein Lachen seiner drei Begleiter.
»Wir können ja bei einem Wettdrücken bestimmen, wer der Beeindruckendste von uns Beiden ist.« May verstand nicht so recht was er meinte. Nim erkannte das Problem und flüsterte ihr ins Ohr, was ihr möchtegern Kurschatten mit seinem Vorschlag meinte. »Musst du erst deine Freundin um Erlaubnis bitten?« »Nein, muss er nicht. Nim kann ohne Probleme mithalten. Da bin ich mir sicher.« Nim blickte erstaunt und verwirrt zwischen Jonathan und May hin und her. »Ich mache mich dann schon mal warm und bin gespannt ob er sich auch wirklich traut.«, erwiderte Jonathan und drehte selbstsicher Richtung des kleinen Trainingsplatzes ab.
»Bist du irre? Hast du dir den Typen schon mal genau angesehen?«, murmelte Nim leise Richtung May. »Jay trainiert den ganzen Tag und ich sehe nicht wie Nim ihn schlagen könnte. Ich wüsste niemanden, der ihn auf dem Gebiet schlagen kann. Ist nicht persönlich gemeint, Nim.«, verkündete Todd seine Meinung. »Schon gut. Ich bin da realistisch und denke genauso.«, gab Nim zurück und wendete den immer noch mit Unverständnis und Irritation getränkten Blick wieder zu May, die nur lächelte. »Supermay macht das schon.«, ertönte es für die Anderen unhörbar in seinem Gehörgang. Seine Augen schnappten auf: »Ernsthaft?« »Lust ihm eine Lektion zu erteilen?« »Aber immer doch.«, war Nim nun ebenfalls voller Tatendrang und sprang von der Decke auf: »Das wird lustig.« »Du willst ernsthaft gegen ihn antreten? Das kann doch nur peinlich werden.«, war Todd irritiert. »Ja, aber die Frage ist für wen?«
Die Geschwindigkeit auf Joselyns Beinproblem angepasst ging es zu der kleinen Fitnessinsel am Strand. Jonathan war bereits in seinem Element. Er ließ jeden in der Umgebung mehrfach wissen, welcher Wettstreit gleich stattfinden würde, wenn Nim sich denn trauen würde. Einer der Umstehenden nicht weniger mit Muskeln bepackten jungen Männer fragte lautstark nach dem Preis für den Gewinner. Für einen Moment war Jonathan sprachlos. Das war neu. »Der Gewinner bekommt einen Kuss von mir.«, warf May unüberhörbar über die Anlage und versetzte nicht nur Nim in erstaunen, der sie mit großen Augen ansah. »Gib dir bitte etwas Mühe!«, lachte seine Freundin nur, während Jonathan sich schon innerlich auf den Preis freute.
»Mick ist der Helfer. Er wird das Gewicht übergeben. Dann herunterlassen bis zur Brust, stemmen, wieder runter zur Brust, stemmen und dann wieder an Mick übergeben. Nach einem Durchgang wird das Gewicht erhöht. Das Ganze bis du versagst.«, erklärte Jonathan. »Du meinst bis jemand versagt.« »Ja! Genau das habe ich doch gesagt.« Die ersten Durchgänge verliefen recht schnell. Erst im vierten Durchgang ließ May das Gewicht langsamer steigen, während Nim nur stöhnte und seine Muskeln anspannte, damit es echt aussah. Die Wirkung war wie gewünscht. Jonathan wurde noch siegessicherer und posaunte diesen Umstand laut über den Platz. Da Jonathan immer vor Nim dran war, konnte May grob ermitteln wie schnell sie das Gewicht bewegen musste, damit es echt wirkte. Nim sollte ja nicht wie Supermann mit dem Sportgerät herumwirbeln.
Jonathan wurde kleinlauter, als sein bisheriges Rekordgewicht aufgelegt wurde. Diese Information hätte er selbst nie Preis gegeben, aber einer seiner Trainingskollegen informierte alle Anwesenden über diesen Fakt und erntete einen bösen Blick von Jay. Angestachelt durch die Menge und die Aussicht auf einen Kuss von May bewältigte er auch dieses Gewicht. Nim puderte sich die Hände. Eigentlich sinnlos, da er nicht einmal die Hände benötigte, um das Gewicht zu stemmen. May hatte keine Probleme damit. Verglichen mit einem Tanker, einem Flugzeug oder einem komplett mit Wasser gefüllten Seemkreuzer war das Gewicht ein Witz.
Die Stange senkte sich auf Nims Brust. Er stöhnte. May bemerkte wie er gegen das Gewicht presste, um es selbst zu bewegen. Länger als nötig dauerte es, bis Nim das Gewicht wieder in der Luft hatte. Ein lauter Aufschrei der Menge stachelte die Situation noch einmal deutlich an. Er senkte das Gewicht wieder ab und deutlich schneller als beim ersten Mal, drückte er das Gewicht wieder nach oben und führte es nach hinten, wo Helfer Mick das Gewicht auf die Halterung zog.
Nim setzte sich auf: »Sagen wir unentschieden?« Er wusste genau Jonathan hatte noch nie so viel gestemmt und bot ihm einen Ausweg an, bei dem er nicht sein Gesicht verlieren würde. Es war mehr eine formelle Höflichkeit. Jonathan würde angesichts der von ihm selbst aufgebauten Stimmung und seiner eigenen Siegessicherheit niemals auf dieses Angebot eingehen. »Falscher Stolz besiegelt die Niederlage!«, schoss Nim eine Lektion von Jin in den Kopf. »Nachlegen!«, forderte Jonathan und Mick tauschte eine Scheibe auf jeder Seite der Stange gegen eine Größere aus. Joss und Todd waren gespannt. Sie schauten nur Wortlos zu. Nim feuerten sie natürlich intensiv an. Obwohl Joss natürlich von Mays Kräften wusste, hatte sie augenscheinlich keine Ahnung von ihrem unsichtbaren Einsatz.
Jonathan gab sein bestes, aber die Gewichte wollten nicht mehr als den halben Weg nach oben. Mick musste eingreifen, damit die Stange nicht auf den Sportler herunterfiel. Erst mit seiner Unterstützung wanderte das Gerät wieder nach oben und in die Halterung. Nim legte sich auf die Bank und senkte das Gewicht ab. Wieder ließen es die Beiden schwer aussehen, aber im Gegensatz zu seinem Konkurrenten schaffte Nim es das Gewicht mit Ach und Krach zweimal zu stemmen. Todd und Joss jubelten. Genau wie die Menge. Das war eine Sensation. May zog ihren Helden auf die Beine: »Zeit für den Gewinn!« Mit einem Kuss, der an Intensität nicht zu überbieten war, zogen die Beiden alle Aufmerksamkeit auf sich und ließen Jonathan einmal mehr mit offenem Mund über die vergebene Chance grübeln.
Nim reichte seinem Kontrahenten die Hand: »Gut gekämpft.« »Ich habe dich unterschätzt.«, musste Jonathan anerkennend zugeben. »Naja, genau genommen bin ich ja auch gedoopt.« »Du bist was?«, schien Jonathan ernsthaft schockiert. Damit rutschte er bei Nim direkt in eine deutlich positivere Kategorie. »Der Kuchen von Joss´ Mutter ist einfach unglaublich. Kein Wunder das Joss ein so starkes Mädchen ist, bei dem Kraftfutter, welches sie täglich bekommt.«, lächelte Nim zu dem ungleichen Paar hinüber: »Und wo ich schon bei Kuchen bin. Ich glaube unten im Korb war noch ein Stück auf dem mein Name stand. Bin dann mal weg.« Nim marschierte ohne weitere Worte direkt von der Anlage zurück zur Decke. Joss, Todd und May folgten. Sie ließen einen ziemlich ratlosen, schon jetzt von den Sprüchen seiner Kollegen genervten, Jonathan zurück.
Als sie wieder an ihrem Platz ankamen, machte Nim ein bedrücktes Gesicht: »Jemand hat uns beklaut.« »Oh, wie konnten wir so unvorsichtig sein. Seit Wochen wird in der Zeitung von Diebstählen berichtet.«, merkte Todd an. May stand nur mit geschlossenen Augen da. Nim wusste sofort was sie tat, aber bevor er Joss und Todd ablenken konnte, schauten beide fragend zwischen ihr und Nim hin und her. May tastete den kompletten Strand auf mehrere Kilometer ab. Eine Tasche zu finden war schwer, aber den Hotelzimmerschlüssel darin würde sie einfach erkennen. Das war ein Unikat. Die Kegelform nicht, wie May schnell erkannte, aber die Nummer und das eingeprägte Logo mit dem geschwungenen »M« war einfach. Schließlich hatte sie einen Typen mit Rucksack gefunden. Sein Gepäck enthielt mehr Handtaschen, Telefone und Geldbörsen, als eine ganze Reisegruppe mitführen würde.
May öffnete die Augen und blickte demonstrativ in die falsche Richtung, bevor sie wendete und die andere Richtung über den Strand blickte. Das wiederholte sie mehrfach. »Dahinten.« Wortlos folgten die drei dem Mädchen, während May ihr Ziel mit der Luft verfolgte. Es bewegte sich langsam und mehr oder weniger am selben Platz. Anscheinend warte der Dieb noch auf eine weitere Gelegenheit. Trotz der leichten Verzögerung, die Joss verursachte holten sie ihn schnell ein. May instruierte Nim kurz. Er sprang auf den Weg hinter dem Strand und näherte sich dem Typen, den May beschrieben hatte von hinten. »Bleibt zurück. Wir regeln das.«, erklärte sie ihren Freunden. Während May langsam durch den weichen Sand auf den Typen zustapfte, gab sich Nim auf ihr Zeichen hin zu erkennen. »Tach, auch hier? Schon ordentlich Beute gemacht?«
Der Typ war sofort im Fluchtmodus und versuchte erst gar nicht sich unschuldig zu geben. Da Nim von der Straße kam, machte der Dieb einen Satz auf den Strand zu. Er kam nicht weit. »Vorsicht! Da ist Treibsand!«, warf May ihm zu. Entweder er verstand sie nicht, oder er hielt es für einen Witz, aber keine zwei Schritte später steckte er bis zu den Knien im Sand, den May regelrecht mit Luft getränkt hatte, um ihm jede Stabilität zu nehmen. »Würden sie die Polizei rufen?«, wendete sich May an eine Frau, die von ihrer Decke verwirrt nach hinten aufsah: »Wir können leider nicht telefonieren, weil unsere Sachen alle im Rucksack dieses Herren sind.« Nach einigen Momenten verstand die Dame was May damit meinte und wählte die Notrufnummer.
»Prüfen sie bitte alle ihre Wertsachen. Wenn sie bestohlen wurden melden sich sich bei der Polizei. Sie wird jeden Moment hier sein. Sagen sie es bitte auch ihren Nachbarn weiter. Danke!« Nim gesellte sich zu May und den anderen. »Wie ist er in die Erde gekommen?«, fragte Todd ungläubig auf den Typen, der verzweifelt versuchte sich freizubekommen, schauend. »Da hat jemand eine kleine Höhle oder einen Tunnel unter einer Sandburg gegraben. Als er daraufgetreten ist, ist er eingebrochen und hat sich selbst gefangen.«, erklärte Nim, weil er wusste wie sehr May es hasste zu lügen. Er hoffte nur seine Aussage wäre auch glaubhaft genug, während seine Freundin unmerklich die Reste einer Sandburg aufsteigen ließ um die Plausibilität zu erhöhen.
Noch bevor die Polizei eintraf, war die kleine Gruppe von Menschen umzingelt. Aufgebracht und sich gegenseitig anstachelnd forderte die Meute ihr Eigentum. Nim, May, aber auch Todd und Joselyn taten ihr Bestes, um den Dieb vor dem Mob zu schützen. Selbst Jonathan und seine Freunde unterstützten die kleine Gruppe. »Hätte nicht gedacht dich hier zu sehen.«, gab Todd seiner Verwunderung Ausdruck. »Ich schieße vielleicht manchmal über das Ziel hinaus, aber ich bin kein hirnloser Vollhorst!« »Ist notiert.«, vermerkte Todd respektvoll. May hatte derweil ihr Agentenspielzeug, wie Trish es genannt hatte, aktiviert, und via Kontaktlinsen mit dem Kommunikationsgerät in ihrer Deo-Dose die Station kontaktiert und ihren Gleiter angefordert. Mit dem Schrei des Kampfgleiters kam die aufgebrachte Menschenmenge schlagartig zur Ruhe.
Eine holografische Version von May stand auf der Ladeluke und stemmte die Fäuste in ihre Seite. Sie musste schmunzeln, weil sie da auf dem Gleiter wie die Statue der Seem wirkte. Verbal stauchte sie die Leute von oben herab zusammen. May ließ nichts aus. Vom schlechten Vorbild für die Kinder, die sich in und um die Menge verteilt befanden, bis hin zu Heugabeln und Scheiterhaufen. May war nur froh nur ihre Stimme aus Luft von dem Hologramm ertönen lassen zu müssen und die Technik im Gleiter die eigentliche Mundbewegungen nachahmte. Das hatte schon damals bei ihrem Duett mit sich selbst wunderbar funktioniert. So hielt sich der Aufwand, Anweisungen mit den Linsen an den Gleiter zu senden, in engen Grenzen. »Die Frau ist der Hammer!«, pustete Jonathan in hinter ihnen in die Luft. »Ich denke da sind wir zum ersten Mal einer Meinung.«, fügte Nim hinzu. »Zwei Nummern zu groß!«, mimte Jonathan den Wissenden: »Bei einer solchen Frau haben wir beide keine Chance.« »Du besitzt ja doch eine Spur Selbsteinschätzung. Hätte ich nicht gedacht.«
Erst nachdem Jonathan seinen Satz ausgesprochen hatte bemerkte er die potentielle Abwertung der der zweiten May auf dem Boden. »Also ich meine du bist auch eine ziemlich hohe Hausnummer. Eine Zeit lang habe ich sogar gedacht du wärst May vom Ray Team. Du siehst ihr schon ziemlich ähnlich. Aber was sollte die in einer kleinen Pension in unserem Örtchen.« Joselyn kicherte leise, wusste sie doch um die Wahrheit. »Ja, May vom Ray Team ist schon eine Hammerfrau.«, warf Nim unvermittelt in den Raum. Da die May auf dem Kampfgleiter nur noch stumm, aber böse, auf die Menge hinunter blickte, konnte sich die May am Boden wieder auf die Gespräche mit ihren Freunden konzentrieren.
»Du findest sie ist hübscher als mich?«, spielte sie mit. »Naja, sie ist eben eine ganz andere Liga.«, blieb Nim in seiner Rolle. »Es geht dir also nur ums Aussehen?«, wurde May nun lauter. Todd versuchte zu vermitteln und das Missverständnis aufzuklären, aber es war vergebens. Selbst Jonathan ging auf Abstand, als die beiden Liebenden ihr Wortgefecht intensivierten. »Ja, sie ist wunderschön. Na und? Ich liebe dich!« »Du bist so oberflächlich.«, maulte May gespielt.
Der Ray Team Kommander verschwand erst wieder als die ersten Polizisten eintrafen. Unter dem Raunen der Menge zog der Gleiter über den Strand Richtung offenes Meer, wo May das Hologramm einfach ausknipsen und den Gleiter per Autopilot nach Hause schicken konnte. Es dauerte noch zwei endlose Stunden, bis sie endlich alle Fragen der Beamten beantwortet und ihre Sachen wieder bekamen. Es dämmerte bereits als die Vierergruppe wieder im Hotel ankam.
Sie aßen gemeinsam auf der Veranda zu Abend und unterhielten sich über den Tag. Plötzlich erhob sich May und verkündete ihr wäre kühl und sie wolle ihre Jacke holen. Sie fragte auch ihren verdutzten Freund, ob sie ihm seine Jacke mitbringen solle. Nim schaltete. Todd hatte seine Jacke schon vor einiger Zeit Joselyn übergehängt. Seine Freundin brachte Realismus in die Situation, die eigentlich mit Körperschild und Superkräften keinerlei Zusatzkleidung benötigte. Als May ihr Wochenenddomizil wieder verließ und die Tür hinter sich verschloss, hörte sie eine Stimme: »Kommander May.« May schluckte. Damit war die Tarnung wohl geplatzt. Es war die Mutter von Joss. »Ich hatte gehofft sie einmal alleine zu treffen.«
»Woher?«, brachte May nur ein verdutztes Wort raus. »Joss hat so viele Bilder vom Ray Team gesammelt. Dann der Stimmungswechsel nach ihrem letzten Besuch und die Spielkonsole. Da musste ich nur eins und eins zusammenzählen. Joss hat jedenfalls nichts verraten.« May lächelte. »Was haben sie ihr versprochen? Das sie zum Ray Team kann?«, war die Frau in ihrer Wort und Tonwahl wieder deutlich härter. »Nein, wer zum Team kommt oder nicht kann ich nicht alleine bestimmen. Ich habe ihr Möglichkeiten aufgezeigt. Wir haben die Station besucht. Sie hat einige Leute kennengelernt, die mit ähnlichen Problemen leben und für die Aufgeben keine Option war. Joss brauchte wieder Hoffnungen und Träume. Diese habe ich in ihr geweckt.«
»Joss war im Weltall?« May lächelte. Dieser Teil war für die meisten Menschen noch unglaublicher als Teil des Ray Teams zu sein. Vielleicht lag es an der bisher nur eine kleine Gruppe von hoch trainierten Menschen die bisher ins All aufbrechen durfte. »Ja – Und sie hat das Raumschiff sogar selbst geflogen.«, fügte May hinzu. Die ihr gegenüberstehende Frau verarbeitete die Informationen. »Bevor sie 21 ist, hat sie keine Chance überhaupt als Kadett aufgenommen zu werden. Ich habe ihr gesagt sie solle ihr Leben sortieren, festigen und sich nicht verkriechen und aufgeben. Das hat sie gemacht. Sie ist so viel lebendiger. So glücklich. In Todd hat sie einen tollen Freund gefunden. Vielleicht ist ihr das Ray Team bald schon nicht mehr so wichtig.«
»Ich konnte mir ihren plötzlichen Stimmungswechsel erst nicht erklären. Sie wollte nie Prothesen und dann wie aus heiterem Himmel. Es war wie ein Wunder. Ich wusste es musste mit ihnen zu tun haben, aber ich hatte ja keine Ahnung wie viel Mühe sie sich gemacht haben, um sie zu beeinflussen.« »Das war keine Mühe. Sie ist ein tolles Mädchen. Wir hatten einfach Spaß zusammen. Jetzt sollte ich mal wieder zu den anderen gehen. Die fragen sich bestimmt wo ich bleibe.« »Vielen Dank.« »Sie müssen wirklich aufhören sich zu bedanken.« »Meine Peinlichkeit von damals wiegt nur umso schwerer bei dem Ergebnis.« »Sie wollten Joss beschützen. Das machen Eltern so. Sie schießen dabei oft über ihr Ziel hinaus. Davon kann auch ich ein Lied singen.«, lachte May und brach wieder ins untere Stockwerk auf.
»Zimmer nicht gefunden?«, witzelte Nim. »Ja, war im falschen Hotel. Passiert mir ständig.«, lachte May. »Todd muss nach Hause.«, verkündete Joss mit leicht traurigem Unterton. »Oh, jetzt schon?«, war May verblüfft. »Ja, leider. Es war ein langer Tag. Ich muss morgen sehr früh raus und die Lieferungen annehmen.«, erklärte Todd sachlich. »Er hilft bei seinen Eltern im Laden. Sie haben den großen Baumarkt neben dem Schuhladen.«, fügte Joss die fehlenden Details hinzu. »Wenn ich wieder verschlafe bekomme ich Ärger.« »Ja, mit verschlafen kenne ich mich aus.«, lachte May und drückte ihren neuen Freund ehrlich: »Es war schön dich kennen zu lernen. Wir sehen uns bestimmt bald wieder.« »Das will ich doch hoffen. Wenn ihr mal Werkzeug und Baumaterial braucht. Kommt zu mir. Es gibt auch Rabatt.«
Kaum war Todd verschwunden, da verkündete auch Nim das stille Örtchen aufzusuchen, wie er es formulierte und ließ die Mädchen alleine am runden Tisch zurück. »Nim, ist wirklich toll.« »Todd ist aber auch nicht ohne.«, erwiderte May. »Ja, ist er.«, strahlte ihre Freundin über das ganze Gesicht. »Hat Nim auch schlimmes erlebt? Oder ist er einfach so zum Ray Team gekommen?« May wurde schlagartig in die Vergangenheit geworfen. Sie hatte Nim gebeten ihm seine alte Heimat zu zeigen. Ihre war vom Meer verschluckt, aber seinen Stadtteil in Chicago gab es noch. Nim war nicht sehr begeistert. Er hatte mit seiner Vergangenheit abgeschlossen und alles tief begraben, aber seine Freundin wollte gerne sehen, was eben noch zu sehen war. Sie marschierten also gemeinsam durch sein altes Revier, wie er es bezeichnete.
Es sah alles ziemlich heruntergekommen aus. Alte dunkle Ziegelbauten, die bröckelten und nur durch den Deck in den Straßen an Schäbigkeit übertroffen wurde. Vor einem der endlos wirkenden Häuserketten blieb Nim stehen. Das ist es. Da habe ich gewohnt. May blickte von unten nach oben und stellte sich bildlich vor, wie das Haus zu seiner Blüte ausgesehen hatte. Graffitis mit Logos waren wie auf den anderen Häusern das einzig Farbenfrohe. »Ich hätte gedacht es wäre schlimmer geworden. Sieht noch genauso aus wie damals. Nur die Tags sind neu.« May verstand. Er verband mit diesem Haus genauso eine Erinnerung, wie sie selbst mit der alten Hütte ihrer Eltern. Zweckmäßig, aber keinesfalls schön.
Mit jedem Meter, den sie zurücklegten, erwachte in Nim der Entdeckerdrang. Er wollte wissen, wie es um andere Dinge seiner Vergangenheit stand. Seinen Schilderungen nach war eigentlich alles beim Alten, nur die Läden und wohl auch die Bewohner waren verändert. Aus einem der Läden sprang ein dunkelhäutiger Typ in Nims Alter auf den Gehweg. Er hatte sich beim Bäcker etwas gekauft, wie die kleine Papiertüte in seiner linken Hand zeigte. Er erstarrte für einen Augenblick: »LLoyd?« »Hi, Teddy! Ich hätte nicht gedacht dich hier noch anzutreffen.« »Das gibt es ja nicht. LLoyd. Mann, Alter. Wo hast du gesteckt? Als dieser Robotertyp aufgetaucht ist, sind wir alle nur raus. Später warst du verschwunden. Gabriel hat noch Stunden später gezittert. Ist das zu glauben. Wir dachten er hätte dich geholt!«
»May, das ist Teddy. Der einzige Typ, dem ich damals vertrauen konnte. Teddy das ist meine Freundin May.« Beide gaben sich die Hand. »Ich hätte nie abgedrückt. Aber ich musste wenigstens so tun. Du weißt. Wegen Gabriel. Was hätte ich machen sollen? Ich war so froh als dieser Typ – dieses Ding – die Situation gesprengt hat. Was war das? Was ist dann passiert? Ich bin nur noch um mein Leben gelaufen. Wir alle sind um unser Leben gelaufen.« »Das war das Beste was mir bis zu dem Zeitpunkt je passiert ist.« »Echt? Wir dachten wir würden nur noch Stücke von dir finden, aber du warst einfach weg. Wie vom Erdboden verschluckt.« »Es war mehr die andere Richtung. Das Weltall. Der Typ war Kommander Mergy vom Ray Team. Er hat mich in seiner Gang aufgenommen.«
»Du bist beim Ray Team?« Schlagartig wanderte sein Blick zu May. Er hatte zwar ihr Aussehen gemustert, aber ihrem Gesicht keine Bedeutung beigemessen: »May vom Ray Team?« »Genau die!«, lächelte May, wohl wissend keine zweite Person mit ihrem Namen auf der Station zu haben. Sie mochte den Typen auf Anhieb. Er war ein Freund von Nim und auch wenn beide eine dunkle Vergangenheit verband, so schien Teddy auf den rechten Weg geraten zu sein. »Was ist mit den anderen passiert. Frank, Gibs, Gabriel, Rachael?« »Gibs hat sich einen Schuss zu viel gesetzt. Gabriel wollte das schnelle Geld, aber der Typ in der Wechselstube hatte eine Knarre. Frank sitzt wegen Drogenhandel oder so. Rachael habe ich aus den Augen verloren. Sie war eines Tages weg. Keine Ahnung. Ich stelle mir manchmal vor sie wohnt in einem kleinen Haus am Stadtrand. Glücklich mit Mann und Kindern. Naja, man weiß ja nie.« »Und du?« »Naja, als die Gang zerfallen ist, habe ich beim alten Paul in der Werkstadt gearbeitet. Nur das legale Zeug. Sie haben ihn erwischt, wie er geklaute Wagen zerlegt und verkauft hat. Er kam in den Knast. Hat keine vier Monate gedauert, da haben sie ihn aufgemischt. War ein feiner Kerl. Er wollte einfach nur über die Runden kommen.«
Teddy holte Luft. »Er hat mir seinen Kram hinterlassen. Ist jetzt "Teddy´s Car Parts". Ich verkaufe an Tuner. Paul wollte mit dem neumodischen Zeug nichts zu tun haben. "Mehr als ein gutes Radio braucht man nicht!" hat er immer gesagt. Ob man es braucht oder nicht. Ich verkaufe es recht gut und komme zurecht.« »Wow, Teddy hat eine eigene Firma. Das hätte ich nie gedacht.« »Und LLoyd macht auf Retter der Welt. Raumstationen, Raumschiffe und Aliens. Das volle Programm?« »Oh, ja. Kapitän Nim und sein Raumschiff Atlantis haben schon Millionen von Leben gerettet und das ist wohl weit untertrieben.«, warf May ein. Nim warf ihr einen »Bist du irre?« Blick zu, aber May lächelte nur und zog ihren Helden an sich. Die Augen von Teddy weiteten sich und sein Mund öffnete sich vor Erstaunen: »Da haben wir wohl am Ende beide das große Los gezogen.«
»Gibt es unsere alte Bude noch?« »Ja, aber da würde ich nicht einmal in die Nähe gehen. Da sind die Ratts drin. Üble Schläger.« »Also das hält uns nicht auf.«, lächelte May. Teddy verstand. »Ihr müsst unbedingt mal zum Essen vorbei schauen. Da kann meine Frau mal wieder mit ihren Kochkünsten angeben.« »Frau?« »Sie ist der Hammer. Wir haben zwei Söhne.« »Wow. Das klingt ja als hätten wir beide unsere Traumfrau gefunden.« May sog die Luft ein während ihre Augen aufschnappten: »Traumfrau!«. Das war kein leeres Wort gewesen. Oder ein Kompliment unter vier Augen. »Ich habe wohl wirklich einiges verpasst. Beim nächsten Mal. Versprochen.« Nach einer intensiven Verabschiedung trennten sich ihre Wege. Nim drückte seinem alten Freund noch eine Signalcard in die Hand. »Fensterreinigung?«, fragte Teddy erstaunt. »Wenn du mal Hilfe brauchst. Ich meine wirklich Hilfe!« Nim deutete nach oben: »Einfach zerreißen.« »Oh! Eine du kommst aus Problemen frei, Karte?« »Ja, aber nur für ehrliche Leute.« »Oh, ich habe nicht vor auf die dunkle Seite zurückzukehren. Das versichere ich dir.«
»Teddy ist nett.« »Ja, das ist er.« »War doch gut hier mal vorbei zu schauen.« »Ja, meine schlaue Freundin hatte mal wieder recht. Jetzt lass uns mal diese Schläger besuchen.« May lächelte und hakte sich ein. »Willst du nach ihr suchen?« »Nach wem?« »Nach dieser Rachael. Es wirkte als wäre sie euch beiden wichtig.« Nim blieb schlagartig stehen. »Das ist alles Vergangenheit.« »Das war Teddy bis eben auch.« Ihr Freund hielt inne. Damit hatte sie einen Punkt, den er nicht widerlegen konnte. Oder wollte? »Sie aber war mehr als nur eine Freundin.« »Oh!«, entfuhr es May unbedacht und sie fügte noch gedanklich ein »Noch eine Ex!« hinzu. »Ja, ich war mit ihr zusammen. Naja, erst mein Bruder und später ich.«, erklärte Nim. Er sah es in Mays Augen. Sie hatte versehentlich einen Raum aufgetreten, dessen Inhalt sie eigentlich gar nicht so genau kennen wollte. »Hey, sie war mir einmal wichtig, aber das ist schon lange her. Ich denke ich kann mit dem Gedanken an eine glückliche Familie am Stadtrand leben.« Er schlang seinen Arm wieder unter ihren und sie setzten ihre Erkundungsreise fort.
Als sie im ersten Stock des abbruchreifen und scheibenlosen Gebäudes eintrafen, war das zentrale Motiv Müll. Dreck, Tüten, getrocknete Dinge von denen man besser nicht wusste was das einmal war und ein paar zerfledderte alte Möbel. »Nicht einmal in Folie gekleidet und auf einer Decke würde ich mich da hinsetzen.«, dachte May, obwohl sie selbst vor langer Zeit in ähnlichen Verhältnissen gelebt hatte. Die eckigen Löcher der ehemaligen Fenster waren mit Brettern verschlossen, um dem kleinen Ofen wenigstens minimal die Chance zu geben im Winter etwas Wärme zu erzeugen. Die Wände waren mit mehr oder weniger taktlosen Spüchen verziert. Mehrere Matratzen in den Ecken zeugten von schäbigen Schlafplätzen.
Plötzlich erspähte Nim etwas an der Wand. Zögerlich näherte er sich. »Das gibt es ja nicht.« »Was ist?« Nim versucht etwas aus der Wand zu lösen und hielt anschließend mit starrem Blick inne. Es dauerte einige Momente. May erkannte wie wichtig und voller Bedeutung dieser Augenblick für ihn war, auch wenn sie noch keine Ahnung hatte wieso. Er drehte sich um und hielt ein kleines Stück blaues Plastik in der Hand, auf dem etwas Farbe vom Graffiti gesprüht worden war. Es sah aus wie ein eierförmiges Schild. »Das gehörte meinem Bruder.« Damit rückte er die Sache in den richtigen Kontext, aber May verstand nicht was dieses Plastik für einen Sinn hatte. »Das ist ein Plex. Mein Bruder hat immer gerne Gitarre gespielt. Er war richtig gut. Damals wollte er in eine Band und groß herauskommen. Gabriel hat in unserem letzten gemeinsamen Winter seine Gitarre zum Heizen benutzt.«
May spürte wie die schmerzhaften Erinnerungen, die in ihm wüteten. »Lance hat den Plex an die Wand genagelt. Wie der Boxer es sprichwörtlich mit den Boxhandschuhen tun würde. Seine Karriere war damit vorzeitig beendet.« Seine Hand bildete eine Faust um das kleine Plastikteil. Es war das Einzige was er von seiner Familie außer den meist schlechten Erinnerungen noch hatte. Es hatte einen Wert bekommen. Wie damals der staubige Mondstein für May. »Lass uns verschwinden.«, erklärte Nim. »Oh, nicht so schnell. Hier ist noch niemand Senkrecht hinausgegangen, der hier nichts verloren hatte.«, ertönte es hinter ihnen.
Sechs muskelbepackte Typen bauten sich vor ihnen auf. »Ich will mich hier nicht prügeln. Zu viele negative Erinnerungen!«, erklärte Nim: »Willst du sie umhauen?« »Ehrlich? Nicht das du nachher sauer bist, weil ich dir keinen übriggelassen habe.«, ignorierte May die bedrohlich dreinschauende Gang, wie es schon Nim getan hatte. »Nein. Mach nur!« »Habt ihr auch nur eine winzige Ahnung wer wir eigentlich sind?« »Die Heckenpenner vom Dienst?«, platzte es aus May heraus. Nim sah erstaunt zu ihr hinüber: »Was kennst du den für Ausdrücke?« »Schlechter Einfluss. Ich sollte mich wohl von Tori fernhalten.«
Mit einem langen Holzbrett ausholend stürmte der erste Typ auf die Beiden los. »Einen Moment noch.«, hob Nim die Hand. May bremste seinen Angriff mit der Luft. Es sah aus als hätte der ungepflegte Kerl auf Nim gehört, was ihn selbst mehr verwirrte als seine Kollegen. »Wäre vielleicht nicht so verkehrt. Obwohl Suki komischerweise nie dererlei Kraftausdrücke in den Mund nimmt.« »Darf ich jetzt?« »Nur zu.« »Zeig mal das Brett.«, gab May zu verstehen und entwaffnete ihr Gegenüber ohne Gewaltanwendung. Sie nahm ihm die Latte einfach aus der Hand.
»Damit kannst du jemanden wirklich böse verletzen. Das ist kein Spielzeug. Nachher hast du einen Splitter im Finger und deine Spielkameraden müssen dich trösten.« »Die ist doch nicht ganz dicht!«, merkte ein kleinerer nicht weniger mit Muskeln und Tattoos bepackter Typ an. May nahm das Brett der Länge nach zwischen ihre Hände. Wäre es nur 10 Zentimeter länger gewesen, wären ihre Arme zu kurz. Als würde sie in die Hände klatschen bewegte sie die Handflächen aufeinander zu, während das Brett dazwischen als feines Mehl zu Boden rieselte. Sie klatsche noch den Rest Staub von ihren Händen: »Oh, jetzt habe ich das Spielzeug vom bösen Onkel kaputt gemacht.«
Mit einem lauten Knall verwandelten sich die im Raum verstreuten Sessel in Staub. Die Baseballschläger, mit denen zwei der Gangmitglieder bewaffnet waren, zerbröselten ihnen in den Händen. Licht drang durch die Fenster, deren Bretterverkleidung ebenso zu Boden rieselte. Hastig griffen sie nach ihren Waffen und feuerten auf die plötzlich doch gefährlichen Personen. Die Kugeln stoppten direkt vor Nim und May. Es dauerte nur wenige Sekunden dann wurde es wieder still. Ihre Waffen waren leer. Nim griff sich eine der vor ihm schwebenden Kugeln: »Nett.« »Danke.«, erklärte May. Plötzlich schrien die Typen auf und entledigten sich ihrer Waffen, die rot glühend auf dem Boden aufschlugen.
Nim zog seine Augenbrauen fragend nach oben und blickte seine Freundin an: "Das war neu." May lächelte frech eine Erklärung heraus: »Reibung erzeugt Hitze!« »Ah!« »Was geht hier vor?« Nim lachte laut auf: »Ihr werdet gerade von einem Mädchen fertig gemacht.« Einer der Typen stürzte auf May zu und prallte unsanft gegen eine unsichtbare Wand, während die anderen sich unwohl in ihrer Kleidung fühlten. Langsam aber sicher begann diese sich aufzulösen. Erst nur unmerklich brachte May die Fasern und Nähte an ihre Grenzen. Die Kleidung alterte förmlich an ihren Körpern. Zuerst die Jacken, dann die Shirts und Hosen. »Scheiße! Ich bin hier ´raus.«, brüllte einer und flüchtete durch die nicht vorhandene Tür zur Treppe. Die fünf anderen folgten seinem Vorbild. Die nun offenen Fenster boten einen Blick auf die Straße, wo die Typen nun fast nackt das Gebäude verließen. Einer hatte sich eine große Pappe geschnappt, die dem Aufdruck nach von einem Fernseher stammte, und versuchte sich zu bedecken, aber auch die Pappe zerfiel in wenigen Sekunden.
Polizeiwagen, die von beiden Seiten auf die nun Schutzlos auf der Straße herumirrenden Gang zufuhren, stoppten. Sie mussten sich flach auf den Boden legen. Ein Polizist holte eine Decke aus dem Kofferraum, um einen der Typen zu bedecken, aber kaum lag die Decke, zersetzte sie sich und zerfiel unter Staunen aller Beobachter zu Staub. Weitere Wagen trafen ein und bildeten einen Schutzwall. »Du hast die Polizei gerufen, oder?« »Ja, ich habe eine Nachricht hinterlassen.«, grinste May. »Erinnere mich daran dich nie wütend zu machen.« »Das Beste kommt noch.«
»Was denn? Naja, ich habe den Sparx aus dem Gleiter da unten und er macht Fotos. Man muss die Presse ja mit wirklich wichtigen Neuigkeiten füttern. Jetzt muss ich noch eine Warnung aussprechen.« May konzentrierte sich, um ihre Stimme nur für die am Boden liegenden Personen und Nim hörbar zu machen: »Solltet ihr noch einmal andere Menschen verletzen oder auch nur schief ansehen, dann werde ich euch genauso verschwinden lassen wie eure Kleidung. Langsam, schmerzhaft und scheibchenweise. Und jetzt wäre ein guter Zeitpunkt mich zu besänftigen und den netten Herren von der Polizei etwas zu gestehen, oder der Albtraum geht sofort weiter.«
Sofort ging das laute Gestehen los. Kameras und die Anwesenheit der Polizei schienen bedeutungslos. Es fing mit kleinen Diebstählen und Überfällen an. Schließlich bezichtigten sie sich gegenseitig. Das Ganze schaukelte sich hoch, bis sie sogar Messerstechereien und Morde gestanden. Der Sparx zeichnete zusätzlich alles auf und würde später wohl das beste Bildmaterial liefern. »Ich muss dir auch etwas gestehen.«, lächelte Nim seine Freundin an: »Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt.« May lächelte: »Das weiß ich doch. Ich liebe dich auch mehr als alles andere.« Nach einem Kuss, der die Tristesse und den Dreck mehr als nur überstrahlte, machten sich beide wieder auf den Weg zur Straße. Sie verließen das Gebäude auf der Rückseite, um nicht ins Blickfeld der Medien zu gelangen.
»Ich würde doch gerne wissen was mit Rachael passiert ist, wenn du nichts dagegen hast.«, warf Nim nach Minuten des Schweigens mit sanfter Stimme ein. »Es steht mir nicht zu etwas dagegen zu haben.«, lächelte May zurück: »Aber ich kann dir bei der Suche helfen.« Nim schaute erstaunt. Er hatte maximal ein zögerliches Zustimmen erwartet, aber niemals eine derartige Reaktion. Noch bevor er May sein Erstaunen erklären konnte, legte sie nach: »Jemand hat mich heute in der Öffentlichkeit als Traumfrau bezeichnet. Das ist ein Status der mit Pflichten und einer gewissen Verantwortung daher kommt.« Sie lächelte ihren Freund an, der noch dabei war die Informationen zu verarbeiten. Schließlich versanken ihre Lippen abermals auf der Straße ineinander. Kaum hatten sie sich getrennt, da gab May Jaque auch schon Anweisungen für die Personensuche.
Sie folgten Hand in Hand und schweigend der Straße durch Nims alten Stadtteil. Plötzlich stoppte Nim. May war so überrascht, dass sogar ihr Handkontakt abbriß. Fragend drehte sie sich zu ihrem Freund um, ohne ein Wort zu sagen. "Ich würde doch gerne noch jemanden besuchen." "Ok!" blieb May kurz, während Nimm ihre Hand ergriff und nach der mit einem Nicken unterstrichenen Bestätigung seinen Weg durch eine Seitenstraße fortsetzte. Nach einem Stopp in einem Blumenladen setzte Nim seine kleine Reise in die Vergangenheit fort.
Er würde seine Familie besuchen. Wie Nim einige Jahr zuvor, blieb May schweigend an seiner Seite. Diesmal war es seine Geschichte. Seine Vergangenheit. Er würde sich ihr mitteilen, wenn es soweit wäre. Nim kannte den Weg. Obwohl der Besuch nicht geplant war, war es offensichtlich. Als wäre er das schmale Labyrinth aus Kieseln schon oft gegangen. Aber das konnte nicht sein. Er hatte ihr erzählt er wäre nie hier gewesen. Nicht nach dem Tod seiner Mutter und ebenfalls nicht nach dem Tod seines Bruders. Er war nicht zur Beerdigung gegangen. Bei seiner Mutter, weil sie es in seinen Augen nicht verdient hatte. Von seinen Bruder hätte er damals gerne verabschiedet, aber es war zu gefährlich. Nicht nur wegen der Gang die ihn getötet hatte, sondern auch wegen der Polizei, die zu der Zeit großes Interesse an seinem Leben gezeigt hatte.
Als er an einem Grab stoppte, war May für einen Moment verwirrt. "Samantha Clark" stand auf dem Grabstein. Noch während May die Lage analysierte, hatte Nim schon die bunten Blumen aus dem Topf gezogen und auf dem Grab abgestellt, wo er mit den blanken Händen ein Loch buddelte, die Pflanzen in die Erde setzte und mit dem Aushub fest im Erdreich verankerte. Als May die Jahreszahlen betrachtete erinnerte sie sich. Das Mädchen war nur wenige Tage vor ihrem fünften Geburtstag gestorben und May kannte die Geschichte. Es war zusammen mit Nims Bruder im Kugelhagel gestorben.
"Sie hatte ein Kleid mit bunten Blumen an.", brach Nim das Schweigen. May zog sich an ihn und kuschelte ihren Kopf an seine Schulter. "Deshalb habe ich diese Blumen ausgesucht.", fügte er nach einer Pause hinzu. "Ich denke sie würden ihr gefallen.", gab May sanft zu verstehen. Es dauerte noch einige Minuten bevor Nim sie wieder zurück auf den Weg zum Eingang führte.
"Es ist schön zu sehen, dass wenigstens einer aus der alten Truppe es geschafft hat sich aus dem Sumpf zu ziehen. Teddy scheint glücklich mit seinem jetzigen Leben zu sein." "Zwei haben es geschafft und ich hoffe du bist auch ein wenig glücklich." Nim lachte laut auf: "Ja, ich bin glücklich." "Aber?" "Ich bin ein Versager. Genau wie der Rest." May blieb ruckartig stehen und positionierte sich vor ihrem Freund. "Ernsthaft?" Nim zuckte mit den Schultern: "Ja, und?" Für einen Augenblick war May sprachlos. Dann fing sie sich und drückte ihre Faust mit Schwung in die die Schulter ihres Freundes. "Du Idiot. Du hast es genauso geschafft. Jeden Tag rettest du Leben."
Ein verächtliches Schnauben verließ seinen Mund. "Ich habe mich von Mergy einsammeln lassen. Ganz tolle Leistung. Teddy ist nicht alles in den Schoss gefallen. Er hat dafür hart gearbeitet." "Du siehst es wirklich nicht, oder?" "Was soll ich sehen?" "Du hast dich für das Ray Team entschieden. Du hast gelernt, trainiert und für dein heutiges Leben gearbeitet. Genau wie dein Freund. Und – um das klar zu stellen – Teddy hat seinen Laden geerbt. Das hat er selbst gesagt. Er hat seine Chance bekommen und zugegriffen. Genau wie du."
Nim verarbeitete ihr Worte noch, als May ihn erneut gegen die Schulter boxte: "Und wenn ich dich noch mal so von dir reden höre, dann wird es richtig weh tun!" May setzte ihren Weg fort und ließ ihren Freund verwirrt seine Schulter reibend am Straßenrand stehen.
Texte: Summa Dornigen
Bildmaterialien: Guido Mersmann
Cover: Guido Mersmann
Lektorat: Guido Mersmann
Korrektorat: Guido Mersmann
Satz: Guido Mersmann
Tag der Veröffentlichung: 29.11.2023
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