Prinzessin May und die Macht der Joluh
V von Prinzessin May Saga
Summa Dornigen
Schlagwörter:
Fantasy, Science Fiction
Die Energieknappheit fordert drastische Maßnahmen vom Ray Team. Als ein neuer
übermächtiger Feind die Erde angreift bleibt dem Ray Team nur eine Möglichkeit
ihre Heimat zu verteidigen. Sie müssen alles auf eine Karte setzen, um sich und
den Planeten zu retten. Die Folgen sind fatal. Doch eine Verschnaufpause kann
man sich nicht leisten, denn weitere Gefahren sind bereits im Anmarsch.
Band #5
Geschrieben von Summa Dornigen (summadornigen@geit.de)
Die Energieknappheit fordert drastische Maßnahmen vom Ray Team. Als ein neuer übermächtiger Feind die Erde angreift bleibt dem Ray Team nur eine Möglichkeit ihre Heimat zu verteidigen. Sie müssen alles auf eine Karte setzen, um sich und den Planeten zu retten. Die Folgen sind fatal. Doch eine Verschnaufpause kann man sich nicht leisten, denn weitere Gefahren sind bereits im Anmarsch.
May lag mit dem Kopf auf der Brust ihres Freundes und schnaufte noch leicht. Mit dem Finger umspielte sie die kleinen Locken, die sich von dem ebenso heftig atmenden Bauch ihres Freundes aufstellten. »Ich liebe dich!«, flüsterte sie leise. Es war still und das Licht war gedämpft. Leichte Vibrationen des Antriebs breiteten sich im Innenraum aus, wurden aber durch die Matratze absorbiert. Rötliche Reflexionen an den Metallteilen der kleinen Kabine zeugten von dem Ort im Inneren des Ei-Universums, wie Tin es einmal umschrieben hatte. »Ich liebe dich auch, du Wesen voller Gegensätze.«, erwiderte Nim. May kräuselte die Stirn. »Gegensätze?« Sanft drehte sie ihren Kopf und stellte ihr Kinn behutsam im weichen Flaum seiner Brust ab.
»Ja, du wirkst oft so verletzlich und bist doch eins der mächtigsten Wesen im Universum. Du wirkst oft unsicher und dann im nächsten Augenblick souverän und stark. Du strahlst so viel Macht aus und bist doch so friedfertig. Du scheinst kein Wässerchen trüben zu können und dann das hier.«, erklärte Nim mit einem leicht schelmischem Grinsen, welches sich beim letzten Teil es Satzes bildete. Seine Freundin errötete schlagartig. Ihre eben noch leicht schläfrigen Augen öffneten sich schlagartig, als wären sie durch einen Kippschalter aktiviert worden.
»So denkst du über mich?« May war sichtlich gerührt von seinen liebevollen und warmen Worten. »Ja!«, hauchte Nim zu ihr hinüber und streichelte mit seinen kräftigen Händen über ihren Rücken und erzeugte in ihr einen warmen Schauer, der die wohlige Nähe der Beiden nur noch zu verstärken schien. May stützte sich links und rechts auf das Laken und drückte sich in die Höhe und nach vorne. Jetzt schwebte ihr Kopf über seinem Kopf und sie senkte sich langsam zu einem Kuss ab. »An Letzterem sind sie nicht ganz unschuldig mein Herr!«, spottete May wieder über ihm schwebend und mit einer Hand auf die Brust tippend, um ihren Worten mehr Ausdruck zu verleihen.
Dann senkte sich sich wieder in die alte Position auf seiner Brust ab und legte ihren Kopf an. Die lockige Wolle umschmeichelte dabei ihr Ohr. Nim bemerkte die leichte Gänsehaut auf ihrem Rücken und zog die weiche wärmende Decke, die sie vorher achtlos zur Wand gedrückt hatten, schützend über sie.
»Hallo Jiyai.«, begrüßte Trish die kleine Doktorandin auf dem Kommandodeck: »Was führt dich denn in unseren Turm?« »Hallo.«, erwiderte Jiyai den freundlichen Empfang leicht unsicher und fragte ob sie mit Sab unter vier Augen sprechen könne. Sab war sichtlich verdutzt. Sie sahen sich relativ oft. Entweder aßen sie zusammen bei Sab in der Wohnung oder im Sors, was längst keine Aufregung mehr unter den Piloten verursachte. Sab hatte natürlich die Blicke der anderen Piloten und Kadetten bemerkt, die ihnen bei solchen Auftritten immer entgegen flogen, aber sich dazu gezwungen ihnen nicht mit einem bösen Blick oder schroffen Worten entgegen zu wirken. Ihre Ziehtochter war schon durch ihre Beteiligung in der medizinischen Abteilung anders aufgestellt, als die Piloten und Kadetten. »Natürlich. Gehen wir ins Büro.« Sab machte sich nicht einmal die Mühe sich hinter den Tisch zu setzen, sondern nahm gleich auf dem rechten Sessel platz.
Die recht unsicher wirkende Kadettin tat es ihr auf dem linken Sessel gleich. »Also. Was gibt es?«, forschte Sab nach. »Es geht um meine Eltern.« Damit hatte der Kommander jetzt nicht gerechnet. Stationsprobleme oder ein unbemerktes Fehlverhalten ihrerseits oder einer anderen Person, aber die Eltern ihrer Ziehtochter waren nie ein Thema gewesen. Sab vermied es das Thema anzusprechen und Jiyai hatte nie auch nur versucht darüber zu reden. Bis jetzt jedenfalls. »Ich denke ich möchte sie besuchen.« »Das klingt aber nicht sehr überzeugt.« »Ja, ich weis auch nicht wann, aber ich muss wissen ob es ihnen gut geht.« »Nach allem was sie dir angetan haben?« »Sie sind immer noch meine Eltern. Was sie getan haben war falsch, aber ich will sehen ob sie es bereuen und ihnen zeigen was aus mir geworden ist.«
»Sag einfach Bescheid. Dann bring ich dich hin.« »Nein!« Die Antwort war unerwartet hart und schnell für das immer noch recht zerbrechlich wirkende Mädchen: »Ich muss es alleine machen.« »Du willst meine Erlaubnis dich alleine mit einem Gleiter zur Erde zu lassen, um deine Eltern zu besuchen?«, fasste Sab die Bitte noch einmal zusammen. »Ja! Ich kann bereits sehr gut starten und landen. Viel mehr ist dafür ja nicht nötig.« Sie hatte alles gut durchdacht und mit Argumenten vorgetragen, musste sich selbst Sab eingestehen. »Ich sehe mir deine Trainingsdaten an und dann sehen wir weiter.« Jiyai fiel ihrer Ziehmutter um den Hals und bedankte sich, obwohl noch keine eindeutige Entscheidung gefallen war.
Schläfrig und Stunden später wurden die beiden Diplomaten durch Warntöne geweckt. May erhob sich schnell und knallte mit dem Kopf an das obere Bett. »Das Gefühl kenne ich.«, lachte Nim, aber May war schon aus dem Bett gehüpft und hatte sich das T-Shirt ihres Freundes übergeworfen. »Da ist ein Drakenschiff im Sensorbereich. Es kommt näher.«, merkte May an, während Nim noch nach einem Ersatz für sein Shirt im Koffer suchte. »Ich ändere den Kurs um ein Zehntel Grad« »Ein Zehntel Grad? Was soll das bringen?«, fragte Nim von hinten. Nicht abfällig, aber immer bereit wieder etwas von seinem persönlichen Kommander zu lernen. »Wir müssen sie ja nicht gleich darauf stoßen, wo unser Ziel liegt. Die Seem haben auch so schon genug Probleme.« »Verstehe. Minimale Abweichung am Ausgangspunkt sind Millionen von Meilen am Zielpunkt vorbei.« »Ganz genau.« Beide schauten auf die Sensoren, die das große Schlachtschiff immer noch auf Abfangkurs zeigten. »Sollen wir den neuen Antrieb aktivieren, oder ist es zu früh die Karten aufzudecken?« May schaute mit schräg gelegtem Kopf zu ihrem Freund hinüber. »Schön. Da hast du außer Schmerzen auch mal etwas sinnvolles bei meinem Vater gelernt.« May kicherte. Dieser dunkle Dämon über ihrer Beziehung war schon länger bezwungen worden.
Nim wurde sichtlich unruhig, obwohl May so locker blieb und auch noch zu Scherzen aufgelegt war. »Bereite den Abwurf der Invisible und der Vanish vor.«, besann sich May wieder auf ihre Aufgabe. Mit leichtem Rumpeln durchbrachen sie die Barriere zwischen den Räumen. May gab das Zeichen zum Abwurf. Es waren keine Schiffe in der Nähe, aber das würde sich bald ändern. May steuerte auf einen gemächlich im All treibenden Asteroiden zu und begann mit einigen Scans. Jetzt war ihr Freund so richtig verwirrt. Sie sichtete seelenruhig die Daten der Abtastung und warf erst danach einen Blick auf ihren Liebsten, der jetzt mit gerunzelter Stirn und fragender Miene neben ihr saß.
»Was soll das jetzt?«, stieß er vorsichtig aus. May lächelte: »Wir forschen, wo noch nie ein Mensch zuvor geforscht hat.« Nim lachte laut auf. Der Drakenkreuzer bohrte sich einige tausend Kilometer entfernt aus dem Unterraum und setzte Kurs auf die vermeintlich leichte Beute. Jetzt dämmerte es Nim: »Wir sind der Köder!« »Die sollen nicht glauben ein einzelnes kleines Ray Team Schiff wäre ein leichtes Ziel.« Unbemerkt von den Draken positionierte sie die beiden unsichtbaren Kühlschränke im All. »Kanal zu den Draken öffnen!«, kommandierte May, immer noch nur mit einem T-Shirt bekleidet: »Hier spricht Kommander May vom Ray Team. Ziehen sie sich zurück, oder sie werden vernichtet!«
Die vorprogrammierten Sensoren gaben Warntöne von sich und zeugten von der Aktivierung der Drakenwaffen und erste Jäger strömten ins All. Mit einer Rotation wich der im Vergleich zum Schlachtschiff mickrige Manta dem Hauptstrahl der großen Waffe aus. »Bekannte Konfiguration. Die Waffen können unseren Schilden nichts anhaben!«, bestätigte Nim eine Analyse des Waffenfeuers. »Dann wollen wir mal die restlichen Gäste zur Party holen.« May öffnete einen Ray Team Kanal und beorderte die beiden Tarnschiffe zu einem vermeintlichen Sprung. Zum ersten Mal sah Nim sein Alterego. Es bestätigte man würde die Draken in die Zange nehmen und Suki setzte zum bereits bekannten Tritt in den Hintern an.
May pustete einige Jäger in Teile, während die beiden großen Schiffe sich den Antrieb, Waffen und andere sensible Systeme ihres deutlich größeren Feindes vornahmen. Der Kommander beorderte die beiden Schiffe aus dem Kampfgebiet und zog sich ihrerseits weiter zurück. Einige der kleinen grünlich schimmernden Feinde folgten den Schiffen und wurden von den Geschützen des Mantas gezielt zerlegt. Der kleine Kommander ließ die Holoschiffe im vermeintlichem Unterraum verschwinden und wieder in den unteren Laderaum fliegen. Sie überbrückte die dafür nötige Zeit mit einem weiteren Kontakt mit den Draken: »Sollten sie uns noch einmal zu Nahe kommen, werden wir sie ohne vorherige Warnung vernichten.« Mit einem Sprung in den Unterraum und Kurs auf die Seem, ließen sie die Draken hinter sich.
Einige Minuten prüften sie die Sensoren, aber es waren keine weiteren verdächtigen Objekte im Umkreis auszumachen. »Lass uns wieder ins Bett gehen!«, schmunzelte May, als hätte sie sich gerade nur ein Glas Milch aus der Küche geholt. Nim stutze ungläubig, als sie mit nur einem Satz wieder vom weisen, machtvollen und souveränen Kommandermodus in den sanften, liebevollen Privatmodus umschaltete, das Shirt in die Luft wirbelte und unter der Bettdecke verschwand, noch bevor Nim sich erhoben hatte. Ihr männlicher Begleiter brauchte einige Sekunden, um die Geschehnisse zu verarbeiten, schlüpfte dann aber auch unter die Decke. »Hmm, Hart im Kampf und zart unter der Bettdecke.«, murmelte Nim und kuschelte sich an seine Freundin.
Sab sah sich die Daten nun schon zum zehnten Mal an. Sie hatte sich auch Aufzeichnungen der virtuellen Trainingsflüge ihrer Ziehtochter angesehen. »Die Flüge werden nicht schlechter, auch wenn du sie dir noch zwanzig Mal ansiehst.«, kommentierte Trish die ungewohnten Aktionen ihrer Kollegin. »Ja, ich weiß.« »Kinder werden so schnell erwachsen und fliegen aus dem sicheren Nest.«, lächelte Trish ob der zutreffenden Doppeldeutigkeit. »Ich mache mir nur Sorgen. Was wenn sie zu ihren Eltern zurück will?« »Jiyai hat hier jede Menge Freunde. Sie will Ärztin werden und sie hat dich sehr gerne. Ich glaube niemand könnte sie dazu bewegen auf der Erde zu bleiben. Selbst ihre Eltern nicht.«
Freundliche Töne des Autopiloten weckten die beiden Verliebten in ihrer Koje. »Warum haben wir eigentlich zwei Betten?«, fragte May als sie sich wieder leicht den Kopf angeschlagen hätte. »Wegen Zucht und Anstand!«, erklärte Nim mit erhobenen Zeigefinger und einem nicht weniger schelmischem Blick. »Aha, und wann steigen die Beiden zu?«, blieb May trocken, während Nim, immer noch auf dem Bett sitzend und seine Socken überstreifend, sich mit einem schallenden Lacher nach hinten auf die zerwühlten Laken warf. May richtete noch schnell den Kragen ihres Freundes und bürstete sich selbst ihr zerzaustes Haar. Nim prüfte derweil die Umgebung und machte ein Objekt aus, welches nicht natürlichen Ursprungs war.
Nach einer kurzen Rücksprache, deaktivierte er den Autopiloten, der plangemäß am Zielpunkt gestoppt hatte, setzte Kurs und näherte sich vorsichtig dem unbekannten Gegenstand. Ein detaillierter Scan offenbarte Seemtechnologie: »Ich glaube das Ding ist ein Satellit, auch wenn der komisch aussieht.« »Unsere sehen auch anders aus als die von der restlichen Menschheit.«, warf May zurück. »Gutes Argument!«, bestätigte Nim: »Was machen wir jetzt?« »Bei uns haben die Seem an einem Satelliten gewartet und Kontakt aufgenommen. Wir sollten es genauso machen. Wegen dem Anstand!« Ihr Freund kicherte bei dem Wort, während May die Kommunikation aktivierte und die Seem rief. »Hier spricht Kommander May vom Ray Team. Erbitten um Einflugerlaubnis!«, improvisierte sie aus Ermangelung existierender Richtlinien. »Regeln für den ersten Kontakt.«, schmunzelte Nim sein Fernsehwissen in die kleine flache Flunder, die seit vielen Stunden ihr Zuhause war. »Ja, das kann man so sagen.«, lächelte May zurück.
Es dauerte einige Minuten, bis die Kommunikation ein Signal aufzeichnete: »Wir sind die Seem. Kommander May und das Ray Team sind bei den Seem jederzeit willkommen!« »Danke!« »Das war einfach.«, merkte Nim unwissend an. »Mergy hat die Seem damals genauso in unser System gewunken.« »Ah, verstehe! Sie passen sich an.« »Ich denke sie sind wie wir einfach nur höflich und wollen keine Zucht in der oberen Koje.«, kicherte May und Nim erhob sich von seinem Sitz und drückte May auf dem anderen einen Kuss auf. »Ich auch nicht.«, flüsterte er ihr sanft ins Ohr. May lächelte glücklich und steuerte auf den Wasserplaneten zu, den man aus dieser Entfernung nicht einmal erahnen konnte. Sie hätte springen können, aber ein Auftauchen aus dem Unterraum war ihr zu direkt. So hatten die Seem Zeit Vorbereitungen zu treffen, schließlich gab es keinen fixen Zeitpunkt für ihr Zusammentreffen. »May an Ray Team One. Wir befinden uns im Anflug auf den Planeten. Der erste Kontakt wurde bereits hergestellt. May Ende.«, sendete May noch eine knappe Unterraumbotschaft in ihre weiße Heimat.
Kaum konnten sie den riesigen Planeten aus Wasser in der Ferne sehen, war Nim nicht mehr ansprechbar. Das war sein großer Traum. Wie ein kleines Kind schaute er den beiden Seemschiffen zu, die erst am Manta vorbei und dann an beiden Seiten Position bezogen und sie geleiteten. »Wie Weltraumfische.«, säuselte Nim leise murmelnd, während er die Fischform der Raumschiffe bestaunte, die er noch nie so nah hatte sehen können. Auch ohne Vergleichswerte konnte man deutlich sehen, diese blaue Kugel war deutlich größer als die Erde. Eins musste man den Seem lassen. Wenn sie beeindrucken wollten, dann machten sie das mit Stil. »Wie baut man einen Planeten?«, dachte May und konzentrierte sich auf den Flug. Es war zwar nicht wirklich schwer zwischen den beiden Schiffen zu bleiben, aber die Situation machte den Unterschied zwischen den Toren in der Holokammer und der Realität.
Leicht rumpelnd drang das Schiff in die Atmosphäre ein. Die Sensoren bestätigten saubere und reine Luft. Die Qualität entsprach in etwa der Ray Team Station. Die Erde, deren Luft durch Abgase und Giftpartikel mehr als nur leicht verschmutzt war, war nicht vergleichbar. Gefährliche Strahlung gab es auch keine. »Klasse M Planet«, bemerkte Nim. May schaute fragend zur Seite: »Klasse M?« »Für humanoides Leben geeignet!«, entgegnete Nim. May dämmerte woher der Ausdruck kam und quittierte die Erklärung mit einem wissenden Lächeln.
In einigen hundert Metern Höhe ging die Reise über die klare und saubere Wasserwelt. May erblickte ihr Ziel als erstes: »Da ist eine Insel!« Die Schiffe senkten unmerklich die Geschwindigkeit und deuteten dadurch ebenfalls dieses Eiland als ihr Ziel an. Es gab Palmen und einen Sandstrand. Zentral auf der maximal einen Quadratkilometer großen Inselscheibe stand ein Haus. Davor ein großer Platz mit blinkenden Lichtern. Die Seem stoppten und May setzte langsam zum Sinkflug an. Kaum das die Stalks des Mantas den Boden berührten, verschwanden die Seem mit rasanter Geschwindigkeit.
»Ich denke wir sind da!« »Die haben uns ein Haus gebaut?« »Sieht so aus.« »Wie können Fische ein Haus an Land bauen?«, fragte Nim unsicher. »Sie haben auch einen Planeten im Vakuum des Alls gebaut.«, warf May ihr einziges Argument und ihre einzige verfügbare Antwort zurück. Sie tippte auf der Konsole und ein Sparx erwachte leise piepend zum Leben. »Sollten wir den nicht tarnen?« »Naja, hier würde das hier funktionieren, aber unsere Tarnung funktioniert unter Wasser nicht. Ich denke wir spielen lieber gleich mit offenen Karten.« »Wie sie meinen Kommander!«, salutierte Nim. May lächelte und drückte den Knopf für die Heckklappe, die sich sogleich teilte und surrend nach oben und unten kippte.
Ruckartig stoppte May am Ende der Luke und trat zur Seite. »Was ist?« »Du solltest als erster den Planeten betreten.« »Ich?« Nim war verunsichert. »Hab ich schon gemacht, war nicht so toll!«, grinste May und spielte auf ihre Entführung an. Nim stellte sich an die Kante des Schiffes und blickte noch einmal zur Seite, als wolle er May abermals um Erlaubnis bitten. Sie nickte bestätigend. Dann hob er sein rechtes Bein: »Ein kleiner Schritt für einen Nim, aber ein großer für die Zukunft der Menschheit!« Er sprach laut, als wäre der Platz voller Menschen oder Seem. Aber da war niemand. May kamen die Tränen. Nim war so glücklich und unbeschwert. Das war alles sein großer Traum, sein Ding. Nach all den Problemen der letzten Zeit war es einfach nur schon ihn so überschwänglich rumalbern zu sehen.
Schnell ließ sie unbemerkt die Tränen verschwinden, um den Augenblick nicht durch Besorgnis seitens ihres Partners zu zerstören. Der Boden sah auf den ersten Blick aus wie ein aus Holzplanken gezimmerter Steg, aber er war aus einem Guss und ohne Nägel. Die Köpfe der Metallstifte waren aufgemalt. Über ein paar Stufen führte ein Weg aus dem gleichen Material hoch zum Haus. Fragend deutete Nim auf das Haus und May nickte. Sie blieb hinten und sah ihm einfach nur zu. Wie ein kleines Kind im Spieleparadies hüpfte er die Stufen zum Haus hoch. »Hallo, ist jemand hier?«, rief er durch die leicht offen stehende Tür. May schmunzelte und folgte ihm hinein. Es gab nur einen Raum und der sah edel aus. Wie aus dem Prospekt eines Möbelgeschäfts oder der Auswahl von Jaque, wenn man seine Wohnung umgestalten wollte. Nein, mehr wie ein Möbelgeschäft, in dem Küche, Bad, Schlaf und Wohnbereich direkt und ohne Wände aufgebaut waren. Der Sparx flog umher und führte einen Sicherheitsscan durch.
Die leeren Schubladen waren seltsam geöffnet. Dann verstand May schlagartig. »Nicht!«, rief sie Nim zu, der sich gerade schwungvoll auf das Bett warf. Aber es war zu spät. Er war in der Luft und landete unsanft und unter stöhnen. »Ah, was ist das denn?« »Bist du verletzt?«, fragte May unsicher. »Nein, aber das gibt bestimmt ein paar blaue Flecken.« Demonstrativ klopfte er auf das aufgebauschte und einladend wirkende Bettzeug. Es hallte wie beim Klopfen auf einen hohlen Körper und klang wie Plastik. May fühlte die Unterlage. Sie war steinhart. »Das ist kein Bett. Das ist eine Statue!«, formulierte Nim, was May schon bei ihrem Aufschrei vermutet hatte.
»Sie haben das alles hier nach einem Katalog oder Bild gebaut, ohne die Funktion oder das genaue Material zu kennen.«, erklärte May: »Die Laden in den Möbeln kann man auch nicht bewegen.« Ächzend bewegte sich Nim auf die Schubladen zu. Es gab keinen Spalt zwischen den Laden und dem Gehäuse, sondern nur einen schwarzen Strich, den Schatten des Zwischenraums auf einem Foto. Die gläserne Lampe auf der Kommode leuchtete zwar und ließ sich zu Nims Erstaunen mit dem kleinen Schalter einschalten, aber der Korpus selbst war mit dem Möbel verschmolzen und unbeweglich.
May rief einen Repligen aus dem Manta. »Wir haben bestimmt auch Dinge falsch gemacht, als wir ihnen den Tank gebaut haben.«, schmunzelte May amüsiert über ihren Freund, der sich immer noch die Schulter rieb. Als wäre es das normalste der Welt, kam der Repligen auf seinen sechs Beinen durch die Tür geschlendert, aktivierte den Scanner und veränderte die bekannt aussehenden Möbel, damit sie auch eine echte Funktion bekamen.
Immer noch vertieft in die wundersame Möblierung des kleinen Hauses, drangen plötzlich laute aufsteigende, schrille Töne ins Innere. Es schien als würde eine Stimme dagegen ankämpfen, denn so etwas wie Gebrabbel schwang mit. Beide stürzten sofort aus dem Gebäudemodell auf den optisch buchstäblichen Holzweg. Die Töne kamen nicht aus Richtung Manta, sondern seitlich vom Strand. Ohne ein Wort drehten sich beide Menschen auf das neuerliche Ziel und beschleunigten wieder, nachdem sie vorher nur einen Moment inne gehalten hatten, um die Quelle des Signals zu orten.
»Unterstützer 618 ist keine Gefahr!«, wiederholte sich zu der Klangfolge. Ein etwa ein Meter hohes und 60 Zentimeter breites Ei aus Edelmetall schwebte auf der Wasserseite, während der Sparx mit ausgefahrenen Minikanonen darauf zielte und die bedrohliche Warnung aussendete. »Sparky, Waffen einfahren und Alarm abstellen.«, kommandierte May. Der Alarm verstummte kurz und der Sparx spielte eine kleine Melodie, der im Anschluss wieder die aussteigende Tonfolge als Warnung folgte. »Waffen einfahren und Alarm abstellen.«, wies May erneut an. Eine fast traurig klingende Tonfolge verließ die schwebende Scheibe. Lautlos begab sich das Fluggerät auf eine kleine Umlaufbahn um die drei Personen am Strand, dessen optische Katalogperfektion die Menschen in diesem Augenblick nicht wahrzunehmen vermochten.
»Ich bin May und das ist Nim.«, erklärte May vorsichtig und ruhig. Auch wenn sie die Waffen abgeschaltet hatte, war sie keinesfalls wehrlos. Sie kontrollierte bereits eine große Menge ihres Elements, welches nur darauf wartete die Metallkugel bei einem Angriff zu zerquetschen oder zumindest aufzuhalten. »Unterstützer 618.«, wiederholte die seltsame Maschine abermals. »Ist das dein Name?«, fragte May forsch, um ihren Adressat nicht auch noch mit Personalpronomen zu verwirren. »Unterstützer 618, ja!« Erst jetzt fiel dem Kommander das Tablett auf, welches auf dem wuchtigen Arm parkte, der an der Seite des schwebenden Roboters den Körper verließ. Es enthielt eine Schale mit Früchten oder anderen Lebensmitteln. Nichts von dem auf dem kleinen Gefäß ähnelte jedenfalls auch nur Ansatzweise den Früchten auf der Erde.
May schaute zu Nim hinüber, der sie fragend ansah. »Das ist ein Sor.«, erklärte May ihrem Freund. »Die Bedeutung von Sor ist unbekannt!«, ertönte es leicht blechern, aber doch mit einer gewissen Freundlichkeit aus der Maschine. »Du bist ein Helfer.«, beschrieb May vorsichtig seinen Aufgabenbereich: »Wir haben auch so jemanden beim Ray Team. Er heißt Sor und bringt uns Nahrung und Zerstreuung.« »Ja, Unterstützer 618 hilft Seem und Menschen, zerstört aber nicht, sondern konstruiert.« May verstand. Der Übersetzer hatte wohl Zerstreuung nicht gefunden und durch Zerstörung ersetzt. »Durch solche Fehler sind schon Kriege entstanden.«, ermahnte sich May deutlich zu sprechen und die Worte nicht zu kompliziert zu wählen.« »Zerstreuung ist Ablenkung. Zum Beispiel durch Gespräche.«, erklärte der Kommander deutlich.
Nim bewunderte den Alienroboter und seine Freundin, die freundlich und eloquent auf die Worte ihrer neuen Bekanntschaft einging. »Unterstützer 618 passt Daten an.« May ging nicht weiter auf die Statusmeldung ein und fragte nach dem Tablett. Die Maschine bestätigte ihre Vermutung. Die Seem hatten ihnen auf diesem Weg Nahrung geschickt. Mit dem Roboter im Schlepptau ging es zurück ins Haus, wo er automatisiert seine Ladung auf dem runden Tisch mit den sechs Stühlen absetzte. Das Tablett war offensichtlich Teil seines Arms. Für einen kurzen Moment konnten die beiden staunend drein blickenden Menschen sehen das der Boden der Scheibe mit Rand sich öffnete und die Schale die letzten Millimeter auf den Tisch plumpste. Klar, ohne einen zweiten Arm wäre ein selbstständiges normales Abladen auch unmöglich gewesen.
Eine kleine runde Öffnung erschien an der Seite des Roboters. Woher sie plötzlich kam, konnten sie nicht sehen, da sie erst ihren Blick auf den neuen Punkt der ansonsten polierten und spiegelglatten Oberfläche richten mussten. Ein Lichtstrahl drang ins Freie und zielte direkt auf den Repligen, der abrupt einfror und wieder zu scannen schien.
Momente später schaltete sich das Licht wieder ab, die kleine Öffnung verschwand und beide Roboter verließen ihre Starre. »Das ist ein Repligen. Er konstruiert auch.«, erklärte May noch bevor die Maschine etwas sagen konnte: »Hast du das Haus konstruiert?« May blieb bei der vom Metall-Ei gewählten Wortwahl. Wie auf Kommando setzte sich der Repligen in Bewegung und klackerte auf den Kleiderschrank zu, dessen Türen fest und die Kleiderbügel im Inneren wie angeleimt an der Stange fixiert waren. »Unterstützer 618 hat Unterkunft gebaut. Sind die Menschen May und Nim nicht zufrieden?« Seine Stimme war genau wie die Male zuvor. Er kannte keine Panik und wohl auch keine andere Emotion. Zumindest konnte er diese nicht durch Sprache ausdrücken.
»Es ist nicht deine Schuld.«, interpretierte May unterwürfiges Versagen in seine Stimme, die er aber gar nicht aussendete: »Etwas korrekt zu bauen, dessen Funktion man nicht kennt, ist unmöglich.« May schritt auf das Bett zu und drückte das Bettzeug, welches noch genauso aussah wie vorher. Jetzt war es aber genauso weich und flauschig, wie es optisch wirkte. Der kleine Kommander in seiner Uniform drückte die weiche Oberfläche hinunter bis auf die Matratze, die ebenfalls leicht nachgab. Wieder öffnete sich die kleine Luke und der Lichtstrahl tastete das Bett ab. »Unterstützer 618 passt Daten an.«, ertönte es monoton und der Lichtkegel wanderte über den Raum und erfasste alle Dinge im Raum, die der Repligen schon vorher verändert hatte. »Unterstützer 618 passt Daten an.«, wiederholte er diverse Male, bis das Licht sich schließlich abschaltete und die Iris erneut den Blick ins Innere verschloss. »Unterstützer 618 bedauert die Fehler.« May öffnete den Mund, aber Nim war schneller. Augenscheinlich hatte er seine Sprache wiedergefunden. »Das ist nicht schlimm. Jeder macht mal Fehler.«
»Wie sieht der Zeitplan aus? Wann treffen wir den Pavan?«, nahm May ihre diplomatische Mission auf. »Der Pavan möchte ihnen erlauben sich anzupassen. Das erste Treffen findet in einer Umrundung statt. Die Seem werden sie abholen.«, erklärte ihr neuer Freund in kurzen Sätzen. »Unterstützer 618 verabschiedet sich. Wenn May und Nim etwas benötigen, dann berühren sie den Schirm.« »Danke!«, ertönte es fast zeitgleich aus den Mündern der menschlichen Gäste. Der Roboter mit dem nun nach unten hängenden Arm und der daran befestigten Tablettscheibe schwebte zum Ausgang. Die beiden hasteten hinterher, schließlich wollten sie wissen wo er herkam. Am Strand stehend konnten die beiden sehen, wie er ohne zu bremsen im Meer verschwand.
May lächelte als sie ihren Freund ansah, der wieder seinen Entdeckerausdruck aufgelegt hatte. »Was ist?« »Ich sehe wie mein Freund den Erstkontakt genießt.«, kicherte May und Nim wurde rot. »Ist das nicht unglaublich? Wir haben 24 Stunden, was machen wir?« »Wir haben 17 Stunden.« »17? Ah, er meinte natürlich die Umrundung der beiden Sonnen durch diesen Planeten. Verstehe.« May gluckste und drückte ihm einen Kuss auf. »Wir sollen den Bildschirm berühren?« »Das haben wir damals auf der Station auch so gemacht. Die Terminalbildschirme waren ja im Hangar vorhanden und so brauchten sie ihn nur zu berühren, um mit uns zu reden.«, erläuterte May Dinge die sie in ihren Erzählungen damals nicht erwähnt hatte, weil sie nicht von Bedeutung für die eigentliche Geschichte waren.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Nim erneut schelmisch. May hockte sich hin und ließ das Meer ihre Hand umspülen. Der leichte Wind ließ das Wasser nur etwa einen Meter ans Ufer schwappen. »Hast du deine Badehose dabei?«, schmunzelte sie und stürmte auch schon Richtung Manta. Kopfschüttelnd blieb Nim zurück. Wie schnell sie vom professionellen Diplomatenkommander in den Freundin-Modus umschalten konnte. Er beschloss, die Boxershorts unter seiner Uniform müsse genügen und sah auf das offene blaue Meer hinaus. Eine warme Brise von etwa 30 Grad wehte um seinen Kopf. Das Wasser war mit 24.5 Grad mehr als nur angenehm. Das waren jedenfalls die Werte, die die Sensoren ihres Raumschiffes beim Überflug ausgespuckt hatten. Das Rumpeln der Heckluke des Mantas ließ ihn aufhorchen und den Kopf drehen, bevor ihm die Kinnlade herunterfiel.
May trug einen schwarzen Bikini, der die wenigen Stellen, die er bedeckte deutlich von der hellen Haut abhob. Es war für den kleinen Kommander leicht zu deuten, was ihn ihrem Freund gerade vorging. Tänzelnd machte sie auf dem letzten Stück des Holzweges eine Rotation. Dabei wurden ihre Arme fast automatisch gestreckt, da sie in der linken Hand eine Decke und in der Rechten einen Korb hielt, der von der Zentrifugalkraft getrieben auf Schulterhöhe um sie rotierte.
Spätestens jetzt versagte der Stoff seiner Uniform, der schon ohne Körperschild gut isolierte und die Temperatur seines Körpers konstant hielt. Schlagartig wurde ihm bei dem Anblick warm. »Du bist so wunderschön!« Seine Worte waren mehr gehaucht als gesprochen. May stoppte ihre Rotation, hüpfte in den Sand und marschierte mit einem Lächeln auf ihn zu. Er hatte zwar schon so oft ihre Optik gelobt und betont, aber das hier war anders. Es war ein unbewusster Ausstoß seiner Zuneigung, seiner Liebe, der sanft seine Lippen verlassen hatte.
Demonstrativ hob das Objekt seiner Begierde die beiden Arme in seine Richtung. »Picknick?« »Wer könnte da nein sagen?« May machte ein Sor ähnliches Gesicht und stapfte grinsend an ihm vorbei durch den weißen Sand zu einer Katalogpalme, die sich vom grünen Rand der Insel über den Stand beugte, setzte den Korb ab und schüttelte die Decke auf. »Sparky, Dokumentationsmodus!«, sprach Nim in seine Hand und setzte sich in Bewegung. Seine Schuhe waren voller Sand als er bei seiner Freundin ankam, aber das bemerkte er gar nicht. May verteilte bereits zwei Teller, Obst, Brot, Käse und andere Dinge im Zentrum der Decke, während Nim nur zusah.
»Bis auf dein Outfit ist alles bereit!«, funkelte May unten auf der Decke kniend nach oben. In Trance reagierte Nim und ließ seine Kleidung in den Sand fallen, bevor er, nur noch mit seiner Shorts bekleidet, auf die Decke sank. »Ich hoffe das ist alles richtig so. Ich habe noch nie ein Picknick gemacht.« »Es ist perfekt!«, lächelte Nim, meinte aber wohl weder die Decke noch die darauf verteilten Lebensmittel. May drückte ihrem Freund einen Kuss auf und vermeldete großen Hunger. Nim bestätigte, vermittelte aber abermals den Eindruck nicht die Nahrungsmittel zu meinen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder auftaute und das Spiel mitspielte. May hatte wohl nicht erst für diesen Anlass und diesen Strand die nötigen Informationen aufgesaugt. Die Zeit beim Umziehen im Manta war dafür zu kurz gewesen und sie wusste ja vorher nicht um den Strand, den sie hier auf dem Planet vorgefunden hatten.
Mit geschlossenen Augen umschlossen ihre Lippen die Erdbeere sanft und die Zähne teilen das untere Ende ab. Nim entzog ihr den Rest und knabberte weiter daran, bevor er das restliche Grünzeug in eine Schale warf. Die Luft knisterte regelrecht zwischen ihnen. Nach einer Weile des gegenseitigen Fütterns zog May ihren Freund auf die Beine und es wurde im erfrischenden Nass geschwommen. Die Stunden im Licht der zwei Sonnen verronnen. Beide lagen auf der Decke und genossen die Stille. Es war wie eine Aufnahme auf einer Relax-CD. Hier gab es aber keine störenden Vögel und auch keine nervigen Insekten. Nur das sanfte Rauschen des Meeres und der gleichmäßige Wind erzeugten entspannende Geräusche. Nim legte einen Finger auf ihre Nase, sprang damit auf ihren Mund über, dessen Lippen er abzeichnete, als ihre Zunge nach ihm schlängelte, ohne das May die Augen auch nur öffnete.
Sanft und mit einer unmerklichen Berührung zog er seinen Finger an ihrem Körper hinunter bis zu ihrem Nabel, in dem er ihn kreisen ließ wie einen Golfball in seinem Loch. »Gut das dein Vater dich nicht so sehen kann.«, merkte Nim an. May öffnete die Augen und stemmte den Kopf auf einen Arm: »Wieso?« Er schmunzelte. »Er würde dich wegschließen und den Schlüssel entsorgen.« »Meinst du wirklich?« »Ich würde es tun.«, entwich es Nim und er spürte die Probleme, die diesem Satz folgen könnten. »Du würdest mich einsperren?« Mays Blick war gleichermaßen verwirrt wie entsetzt. »Ich« Nim zögerte. »Ich möchte auch nicht das jemand anders dich so sieht.« »Du bist ja richtig eifersüchtig.«, war May erleichtert. Ihr Freund war sichtlich erstaunt selbst zu so einem Gefühl fähig zu sein. Er war immer stolz neben seiner Freundin zu stehen, aber dieser Bikini zeigte mehr als er gewillt war mit anderen Menschen zu teilen.
»Heh, Spontansonnenbrand«, lachte der gefühlsduselige Pilot als er Mays, auf seine Erklärung hin, rot anlaufenden Kopf sah. May drückte ihm einen Kuss auf die Stirn: »Wenn du es so möchtest, ziehe ich den Bikini nur noch für dich an.« Nim rollte sich auf seine Freundin und küsste sie innig: »Danke!«
Als die Beiden Stunden später das kleine Standhaus betraten fielen ihre Blicke sofort auf die Schale mit den Früchten, die sie bisher komplett ignoriert hatten. Waren es überhaupt Früchte? May zitierte den Sparx in den Raum, ließ das Gebotene analysieren und in die Datenbank aufnehmen. Die Tonfolge, die der kleine scheibenförmige Roboter ausstieß, erklärte die Nahrung sei essbar und ungefährlich. »Sicher?«, traute Nim seiner Freundin und ihren Sprachfähigkeiten in Bezug auf den Roboter nicht wirklich, während er nach einer zitronenförmigen Frucht griff, die aber leuchtend Blau gefärbt war.
May tat es ihm gleich und beide bissen in das gleiche Nahrungsmittel. Zeitgleich spukten sie es auch wieder auf den Tisch. »Das ist ja grässlich!«, quälte Nim die Worte aus seinem verzogenen Mund. May ging es nicht anders und sie griff zum nächsten, wie eine Gurke aussehenden, Obst oder Gemüse. Diesmal tat Nim es ihr gleich und wieder bissen beide in experimentelles Essen der selben Form. Beide rissen die Augen auf »Oh, mein Gott!«, brachte Nim mit vollem Mund hervor und biss noch einmal in die feuerrote längliche Frucht. »Das ist ja lecker.«, brachte auch May hervor. »Schmeckt wie Kirsche und Banane, aber da ist noch etwas.«, erklärte Nim, aber auch May konnte keinen passenden Vergleich mit der neuen Geschmacksrichtung definieren, die sich zwischen den beiden bekannten Varianten tummelte.
Der Repligen vernichtete die Reste des angeknabberten Obstes, während sich die kleine Ray Team Delegation fertig fürs Bett machte. Es war ein komisches Gefühl, denn draußen schien immer noch eine der beiden Sonnen und suggerierte einen sonnigen Nachmittag.
»Hi.«, lächelte Jiyai als die Tür sich öffnete. »Hallo. Hattest du einen schönen Tag?« »Der Doc hat mich sein medizinisches Holoprogramm probieren lassen. Eine Blinddarmoperation.« »Und?« »Sagen wir einfach ich habe jetzt mehr Hunger als ursprünglich geplant!« Sab brach in Lachen aus. Jede andere Person hätte sich vermutlich geschämt oder an ihrem Ziel gezweifelt. Jiyai sah diese Hürde anscheinend nur als neuerliche Prüfung. »Ich hab dir bei Jaque die Freigabe für den Flug zur Erde erteilt. Sag ihm einfach Bescheid, wenn du starten möchtest.« »Danke!«, fiel das Mädchen Sab in die Arme. »Wir sind kein Gefängnis.«, erklärte Sab: »Wenn du zurück auf den Planeten möchtest, kannst du das jederzeit tun.« »Nein! Mir gefällt es hier. Auf der Erde habe ich keine Perspektive. Da ist alles vorherbestimmt.« Die junge Dame schien regelrecht angewidert von der Vorstellung wieder zurück auf den Planeten und in ihr altes Zuhause zu müssen. »Hier sind meine Freunde und meine neue Familie.«
Als May die Augen aufschlug blickte sie direkt in die von Nim, der sie, seinen Kopf auf einen Arm gestützt, lächelnd ansah. »Morgen.« »Morgen.«, begrüßte May ihn zurück und streckte sich ausgiebig. Dann schreckte sie hoch: »Wie spät ist es?« »Wir haben noch mindestens 90 Minuten. Ich hab den Wecker abgestellt.«, ließ Nim verlauten und May fiel wie ein Stein zurück auf das weiche Bett. Nims Grinsen hatte noch einmal deutlich zugenommen. »Worüber freust du dich so?« Ihr Freund dachte nicht im entferntesten daran zu antworten und sah weiter wie ein Honigkuchenpferd auf sie hinunter.
Dann kam es May und sie setzte eine wissende Miene auf: »Ahhh, Übernachtung auf einem Alienplanet! Erstkontakt - Dein großer Traum.« Die Lösung war so naheliegend, schließlich war es gestern schon so begeistert von seinem Kontakt mit den neuen Verbündeten des Teams, und es war klar, der heutige Tag würde das noch einmal deutlich übertreffen. »Ja, aber das ist nur ein netter Bonus.«, wiegelte Nim ab. Nun setzte seine Freundin einen fragenden Blick auf und ihre Stirn bekam Falten, was dem Mund ihres Freundes sichtlich zu gefallen schien. »Haben wir gut geschlafen?«, fragte er schließlich. »Ja, herrlich.«, streckte sich May erneut, erreichte aber weder die obere noch die untere Seite des Bettes. Der Blick von Nim berichtete von der offensichtlichen Lösung und dann wurden Mays Augen groß. Sie hatte keinen Albtraum gehabt. Weder im Manta noch hier auf dem Planeten. Das hatte es seit ihrer Gefangenschaft nicht ein einziges Mal gegeben.
In ihrem Kopf arbeitete es und dann sprach sie die Lösung laut aus: »Das war Mergys eigentlicher Plan?« »Wenn wir ihren Geist mit neuen Bildern und Eindrücken fluten, dann rücken ihre dunklen Träume vielleicht in den Hintergrund. Bestenfalls verschwinden sie ganz.« Der Satz kam auf keinen Fall von Nim selbst, was schon die dritte Person im Satz andeutete: »Das hat Mergy nie im Leben so gesagt!« Jetzt war es Nim, der sich wieder lachend und sichtlich glücklich in die Kissen fallen ließ: »Das hat der Doc zu mir gesagt.«
»Du hast mit dem Doc über das hier gesprochen?« »Ich wollte sichergehen. Mergy ist kein Experte und ich musste wissen, was ich tun kann, wenn es Probleme gibt und ob es überhaupt gut für dich ist. Ich hab mir einfach Sorgen gemacht.« May spürte das er den letzten Teil nur angehängt hatte, um einer neuerlichen Strafe zu entgehen, weil er mit Dritten über Mays Gesundheitszustand gesprochen hatte. »Mergy hat dir die Reise aufgetragen und du bist zum Doc um dir eine zweite Meinung einzuholen?« »Ich hab noch vorher schnell den Koffer gepackt und bin dann direkt zum Doc, also ja.« May rollte sich auf ihren Freund: »Ich habe einen cleveren, kompetenten, zärtlichen, wunderschönen, lieben und wirklich fürsorglichen Freund.« Diesmal war Nim von der Verkettung von Komplimenten sichtlich überrascht. »Du bist nicht sauer?« »Nein. Du hattest gute Gründe, die ich wohl kaum ignorieren kann.« May küsste ihn zärtlich und kämmte ihre Finger durch den Flaum auf seinem Bauch.
»Wir sollten uns fertig machen. Erstmal eine gemeinsame Dusche im Manta. Mein Kerl mag das!«, kicherte May. Ihr Kerl war sichtlich angetan von der Idee, setzte aber einen fragenden Blick auf. »Warum ist das Bad hier nicht fertig?« Die Frage hatte er sich schon vor dem Schlafen gestellt, als sie die Nasszelle im Manta genutzt hatten, aber es bei den Gedanken belassen. »Weil wir dann Repligen und Energietechnik hätten einbauen müssen.«, erklärte May: »Ein Schrank oder ein Bett ist kein Problem, aber unsere Technologie dürfen wir nicht zurücklassen.« »Verstanden, Kommander!«, salutierte ihr Freund witzelnd, während sie auf dem Weg zum Raumschiff die warme Luft und die Sonnenstrahlen auf ihren Körpern genossen.
»May an Ray Team One. Hatten einen interessanten ersten Tag auf dem Planeten. Ist das zu fassen? Die Seem haben uns eine Insel gebaut! Treffen die Seem selbst erst in wenigen Minuten. May Ende.« »Leg die an.« »Zwei? Sollte nicht ein Armreif genügen?« »Bei einem Defekt sind wir bei der zu erwartenden Wassertiefe buchstäblich platt.«, erklärte May: »Ich will kein Risiko eingehen, weil ich dich in dieser Form lieber habe.« »Verstehe.« Das eine Wort machte mehr als deutlich, wie es um Nim stand. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft wurde ihm wieder bewusst welche Gefahren selbst hier auf einem freundlichen Planeten für sie beide bestanden. »Hey, ich passe auf dich auf.« »Das muss doch umgekehrt laufen.«, protestierte Nim. Einen innigen Kuss später piepte auch schon die Konsole der Sensoren. Zwei Seemschiffe näherten sich. Es war nicht möglich zu sagen, ob es die selben waren, wie am Vortag, aber sie sahen identisch aus und stoppten seitlich über dem Manta.
»Seem an Ray Team Schiff. Die Seem sind bereit.« »Hier spricht Kommander May. Wir sind ebenfalls startbereit.« Nim schloss die horizontal geteilte Luke im Heck, während May das kleine Schiff langsam in die Höhe zog. Kaum waren sie auf einem Niveau mit den Aliens, setzten die sich langsam in Bewegung. May war, wie schon am Vortag, hoch konzentriert. Dieses Mal würde der Flug unter die Wasseroberfläche gehen, wo die Seem lebten und das Letzte was sie wollte war durch ein falsches Flugmanöver jemanden zu verletzen oder gar zu töten.
Ihre Gastgeber fragten sich wohl gar nicht, ob das Ray Team Schiff unter Wasser funktionierte. Entweder wussten sie es aus den Erfahrungen mit Tin beim Umbau ihres Schiffes oder durch einfache Scans. Vielleicht nahmen sie es auch an, weil dieses Schiff mit seiner andersartigen Lackierung und den kleineren baulichen Änderungen einfach speziell wirkte. Sanft verschwanden die Schiffe ihrer Gastgeber ohne zu bremsen im Ozean, der ihren Planeten bedeckte. May tat es ihnen gleich. Erst teilte der Manta mit seinem Gravitationsantrieb das Wasser und tauchte dann, zwischen den wie von Noah geteilten Wänden, in die Tiefe.
Das Wasser war klar. Klarer als May es erwartet hätte. Ihre Sensoren machten eine große Energieansammlung vor dem Schiff aus, aber Nim konnte die Quelle nicht ausmachen. Wenig später war klar, was der Grund war. Sie flogen auf eine gigantische unsichtbare Schildkuppel zu, dessen Existenz nur durch das leichte Aufblitzen von Materie auf seiner Oberfläche an einigen Stellen aufgedeckt wurde. Ein riesiger Tunnel schien ihr Ziel zu sein. Die beiden kleinen Begleitschiffe setzten sich vor und hinter den Mantaprototypen und alle flogen gemeinschaftlich hinein. Die Sicht war nun gleich Null, aber May traute sich auch nicht die Scheinwerfer zu aktivieren und nutzte nur die Sensoren und das Schiff vor ihr zur Navigation. Der Weg machte einige Schlenker, bis die Decke wieder Licht hinein ließ. Die Höhle war zu einem Graben geworden, der auf den Scannern deutlich sichtbar oben mit einem Schild abgedeckt war.
Als die seitlichen Wände verschwanden, flogen die Seem vor ihnen über eine gigantische Ebene auf der sich zwei massive Säulen empor stellten. Sie waren aber nicht senkrecht, sondern neigten sich einander zu. »Am Boden sehen die Säulen aus wie Schuhe.«, dachte der junge Kommander leicht amüsiert, während sie weiter konzentriert nach vorne sah und den freundlichen Schiffen durch den dreieckigen Bogen folgte. Nim hatte sich von seinem Sitz erhoben und starrte mit erstauntem Blick in die nicht vorhandene Luft, als die massiven Säulen am Erdschiff vorbei zu fliegen schienen. Unten parkten weitere Seemschiffe und dann tauchte eine gigantische Menge Seem auf. Erst hatte May gedacht es wäre eine Halle oder ein weiterer Graben, aber es waren nur die Seem selbst, die auf der Stelle schwammen und auf beiden Seiten des Platzes wie auf einer Tribüne auf die menschlichen Gäste warteten.
Eine Leuchtanzeige im Boden deutete, wie schon auf der Insel, den Landeplatz an und May setzte auf. Die Anspannung wich aus ihrem Körper: »Hast du das gesehen? So viele Seem sind hier! Nur wegen uns!« »Nur wegen dir würde ich sagen.«, erwiderte Nim. »Wegen uns.«, erwiderte May mit korrigierendem Unterton. »Hast du da hinten eigentlich etwas besonderes gesehen?«, fragte Nim erstaunt. »Die Säulen? Ja, ist witzig. Ich glaube die Säulenfüße haben Ähnlichkeit mit Schuhen.« Nim fiel die Kinnlade runter: »Du hast es also wirklich nicht gesehen.« »Was denn? Ich hatte keine Zeit mir die Landschaft anzusehen.«, war May leicht missmutig. Ihr Freund lächelte und tippte auf seiner Konsole herum, bis auf dem Bildschirm ein Bild erschien, welches er vergrößerte: »Jemand den du kennst?«
Mays Blick wurde starr und ihr wurde schwummerig. Das waren keine Säulen gewesen. Es waren Beine. Ihre Beine. Eine gigantische Statue erhob sich vor der Einfahrt zum Platz und zeigte eine junge asiatisch anmutende Frau im Kleid mit zwei Gesichtsfarben, die mit den Händen in den Hüften und gehobenem Blick nach Feinden Ausschau zu halten schien. »Oh – mein – Gott.« Mehr brachte sie nicht heraus. »Los der Pavan wartet.«, war es nun erstmals Nim, der die diplomatische Mission voran trieb und nach einem der flachen Terminals griff, die seitlich oberhalb der Sitze in einem Fach verstaut waren.
»Was willst du denn damit?« »Ich dachte es wäre eine gute Idee. So können wir Probleme vermeiden, wenn wir die unklaren Dinge direkt zeigen können, ohne sie umständlich beschreiben zu müssen.« May schmunzelte: »Gute Idee.« Der Pilot verschwand ans hintere Ende des flachen kleinen Schiffes. May folgte und prüfte noch einmal den Bereich hinter dem Manta. Schließlich sollte niemand unbeabsichtigt die Luke auf den Kopf oder die Flosse bekommen. Dann öffnete Nim das Gefährt. Im nächsten Moment hielt er sich vor Schmerzen die Ohren. May verlor das Gleichgewicht und taumelte aus der sich öffnenden Luke, auf der sie aufschreiend zusammenbrach. Dort blieb sie weiter vor Schmerz schreiend liegen und verstummte nach einigen Momenten regungslos. Nim kniff die Augen zusammen und versuchte den Schmerz seiner Ohren gedanklich abzustellen, packte seine Freundin an den Armen und zog sie wieder ins Schiff. Hastig schloss er die Luke mit dem massiven Knopf an der Seite. Erst als sich die Elemente nahtlos berührten, war der Schmerz schlagartig weg.
Nim schnaufte noch einige Male und griff sich May, die immer noch reglos da lag. Er bettete sie sanft auf dem unteren Bett und fühlte ihren Puls. Er war normal, aber sie reagierte nicht auf Zurufe und leichtes Klopfen auf ihre Wangen. Hastig holte er einen Autodoc, entfernte das Armband an ihrem linken Arm und ersetzte es durch den mechanischen Arzt. Erleichtert, nachdem er zweimal die kleine Prinzessin komplett mit dem Handscanner abgetastet hatte, glaubte er dem Maschinenarzt, der vermeldete sie wäre einfach nur bewusstlos. Auch wenn das die einzige Diagnose war, die er auch hätte selbst stellen können, so beruhigte ihn die zweite Meinung der Maschine. Mit seinem handlichen Terminal versuchte er herauszufinden, was gerade passiert war, wurde aber von einem Kommunikationsversuch seitens der Seem unterbrochen, die sich sichtlich besorgt zeigten.
Was sollte er tun? Wurden sie angegriffen? Was würde May tun? »Sie würde an die Seem glauben.«, dachte er und öffnete die Funkverbindung. »Hier ist Nim vom Ray Team. Die Verzögerung tut uns leid. Wir haben technische Probleme und arbeiten an einer Lösung.« »Verstanden!«, tönte es aus den Lautsprechern. Kaum war das Alienproblem gelöst, saß er auch schon wieder auf dem Bett und streichelte über das Haar seiner Freundin, die immer noch so verwundbar und leblos da lag. Er brauchte einige Momente, bis er sich wieder dem flachen Computer zuwenden und eine Vermutung prüfen konnte. »Das ist ja dumm gelaufen!«, murmelte er und programmierte die Armreifen um.
Ein leichtes Stöhnen neben ihm lenkte ihn von seiner Arbeit ab. Hastig war der Computer vergessen. »Hey, willkommen zurück!« »Was ist passiert? Wurden wir angegriffen? Wie geht es dir?« »Alles gut. Das Problem war hausgemacht - Denke ich jendenfalls.« »Hausgemacht?« May hielt sich den Kopf und versuchte sich aufzusetzen, als sie den schweren Autodoc an ihrem Arm bemerkte. Fragend sah sie zu Nim auf. »Du bist nicht mehr aufgewacht. Ich hatte Angst um dich.« Nim versuchte normal zu klingen, aber das leichte Vibrato in seiner Stimme und der sorgenvolle Blick in seinem Gesicht zeugten von der Sorge, die er sich gemacht haben musste.
»Es geht mir gut. Der Kopf tut noch etwas weh.« »Ich hab auch noch ein Klingeln im Ohr.«, erläuterte Nim. »Du auch?« »Der Übersetzer in den Armreifen war auf Anschlag, was die Reichweite anging und bei mehreren tausend Seem und der Verstärkung durch zwei Geräte wurde es sehr laut. Ich habe Reichweite auf 5 Meter und Verstärkung auf Normal gestellt. Die Verstärkung bei dir jetzt ist auf Null. Wegen den Superohren.« »Die Seem?«, war May schon wieder im Delegationsmodus. »Ich habe ihnen erklärt wir hätten ein technisches Problem gehabt und würden uns melden, wenn es gelöst ist.« May schmunzelte. »Gut gemacht, Pilot.«
Nachdem die Kleidung sortiert und die Seem von ihrem neuen Versuch informiert worden waren, öffnete Nim die Luke einen Spalt, um sie schnell wieder schließen zu können. Es blieb still. Mit dem Finger im Anschlag wartete er bis die Klappe ganz offen war. Das Bild das sich bot, war nicht anders als es beim Anflug zu sehen war. Es waren tausende von Seem anwesend und schienen immer noch voller Spannung und Erwartung auf die Besucher zu warten. Zwei Seem schwammen auf sie zu und nahmen sie in die Mitte. Zusammen mit dem Sparx begannen sie über den Platz auf dem Grund des Meeres zu gehen.
Der kleine Kommander winkte den Seem zu, die den riesigen Weg säumten, auch wenn sie sich nicht klar darüber war, ob sie diese Geste ansich überhaupt kannten und verstanden, wie sie gemeint war. Nim tat es ihr gleich. Die kleine Gruppe näherte sich einem Gebäude, welches durch seine Bauweise den Seemschiffen nicht unähnlich war. Lediglich der helle steinerne Baustoff machte hier den visuellen Unterschied aus. Kugelig und mit großen Bullaugen schien es im Boden zu stecken. Die große ovale Tür vor ihnen öffnete sich und sie traten ins Innere.
Es gab keine Möbel. Nur Pflanzen in Kübeln und Kästen zierten die rundlichen Wände und die tragenden Säulen. Technologie war nur an den Seiten der Türen auszumachen, wo sich Schlitze befanden, in denen immer einer der fischigen Freunde eine Flosse steckte, bevor sich die Pforte öffnete. Anscheinend ihre Version einer Sicherheitstür oder aber auch einfach nur die Seemversion einer Türklinke. Das konnte man rein optisch nicht erkennen. Es folgte ein weiterer großer Saal mit vielen Türen. Auf den ersten Blick wirkte es wie ein baulicher Fehler, weil die Türen der oberen zwei Stockwerke direkt in der Luft endeten.
Aber es war ja eben keine Luft. Es war Wasser. Treppen benötigten die Seem schließlich nicht. Ihre Begleiter teilten sich vor einer Tür am Boden der Halle und der Fisch auf der rechten Seite steckte seine Flosse in den Apparat. Jetzt wo May Zeit hatte und genau hinsah konnte sie die Ähnlichkeit mit dem Seemschiff aus der Wolke damals erkennen. Dort gab es auch einige dieser Schlitze an der Wand und Tin hatte gemeint es wäre eine Art Datenhandschuh. Diese waren wohl noch einmal deutlich moderner, was angesichts des Technologiesprungs, den auch die Seem mit den Jahren gemacht haben dürften, nicht weiter verwunderte.
Als die Tür sich öffnete und ihre Begleiter wortlos auf ihrer Position verharrten, war klar, sie sollten alleine in den nächsten Raum eintreten. Dieser ebenfalls rundliche Raum hatte hinten zwei Türen und war reichlich mit Pflanzen ausgestattet. Auf einem Tisch, der wohl nur für diesen Besuch dort platziert worden war, standen zwei Schalen mit dem bereits probierten Obst. Davor zwei massive unbewegliche Stuhlblöcke. Dahinter ein Seem, der gleichmäßig vor ihnen im Wasser trieb und nur mit leichten Bewegungen die Position hielt. »Willkommen bei den Seem!«, begrüßte er seine beiden Gäste. »Ich bin Kommander May und das ist Pilot Nim, mein Schwarm. Es tut mir leid wegen der Verzögerung. Unser Kommunikationssystem hatte ein Problem mit der Wassertiefe.«, legte May die Wahrheit für ihre Verhältnisse zu weit aus.
Der Seem machte eine eine schnelle Bewegung hin und her, als wolle er die beiden mit den seitlichen Augen genau betrachten. »Sie sind nicht Kommander May.«, entfuhr es ihm. »Bin ich nicht?« »Ist sie nicht?« Beide Erdlinge waren sichtlich erstaunt über die Aussage. »Ich kenne Kommander May und sie sieht anders aus.«, setzte der Seem fort und May glaubte eine Spur von Ärger in der Stimme zu vernehmen. »Sie kennen mich?« »Ich kenne Kommander May. Sie hat uns gerettet.«
Hilfesuchend schaute May zu ihrem Freund hinüber, der die neuen Daten ebenfalls gedanklich sortierte. »Natürlich, jetzt verstehe ich!«, brachte Nim heraus und aktivierte seine diplomatischen Fähigkeiten: »Die beeindruckende Statue da draußen ist Kommander May?« »Ja. Bildniss eines Fremden Volkshelden nennen wir sie.« Nim lächelte. »Dann verstehe ich ihr Problem. Die Seem unterscheiden sich nur durch durch ihre Größe und der Farben ihrer Schuppen, richtig?« »Das ist korrekt.«, blieb der Seem, trotz seiner Ausführung zur Statue, kurz angebunden und reserviert. May sah ihn fragend an. »Du hast deine Hautfarbe geändert und bist nicht mehr zweifarbig.«
»Natürlich.«, wachte nun auch May auf: »Sie haben mich damals gesehen, als ich verletzt war. Meine Haut war durch die Waffen der Draken verbrannt. Jetzt ist sie wieder so, wie sie sein soll.« »Verletzt?« »Ja, es war aber schon damals nicht mehr so schlimm. Es hat nur sehr lange gedauert, bis ich wieder diese eine einheitliche Gesichtsfarbe hatte. Sie haben sicherlich bemerkt, dass die anderen Menschen ebenfalls eine unterschiedliche, aber doch einheitliche Hautfarbe haben.«
»Mein Verhalten tut mir sehr leid. Ich wusste es nicht. Die Seem wussten es nicht.« May zog die Mundwinkel nach oben: »Das ist nicht schlimm. Ich könnte auch nicht sagen, welcher der drei Seembesucher sie sind.« »Ich bin der Pavan. Herrscher über die Seem. Wir hatten Kontakt.« »Sie haben damals mit uns auf der Station gesprochen?« »Ja.« »Dann hätten wir das ja geklärt.«, lachte May deutlich lockerer. »Es tut mir leid das unser Bildniss inkorrekt ist. Wir wussten es nicht.« »Die Verletzung habe ich als Zeichen von Stärke getragen. Um unseren Freunden Mut zu machen und unseren Feinden zu signalisieren, ich würde niemals aufgeben, egal wie verletzt ich bin. Daher finde ich die Statue perfekt genau so wie sie ist.« »Ich verstehe.«
Jetzt schaute Nim wieder erstaunt drein. So hatte er das Verhalten seiner Freundin damals selbst nicht gesehen. »Was ist das für ein Gerät?«, fragte der Seem. »Das ist ein Sparx. Im Prinzip funktioniert er wie eure Unterstützer, nur eben als Wächter.« Langsam erwärmte sich die kleine ungleiche Gruppe für einander und es wurde eine angenehme Unterhaltung geführt, in denen viele Unklarheiten und Fragen der letzten Monate geklärt wurden. Es wurden Danksagungen für die Hilfe in der Not, sowohl von den Menschen, als auch von den Seem wurden ausgetauscht. Auch die Drakenfrage und die Tatsache ihrer immer noch vorhandenen Bedrohung wurde diskutiert. Beide Parteien waren sich einig: Ein Angriff seitens der noch jungen Allianz auf die Draken wäre der falsche Weg.
»Kommander Sab. Jiyai hat gerade einen Kampfgleiter angefordert.« »Das ging aber schnell. Stelle mir auch einen bereit, aber in einem anderen Hangar.« »Du willst ihr hinterher spionieren?«, war Trish erstaunt. »Ich will nur sichergehen und sie im Auge behalten. Ihren Eltern ist nicht zu trauen.« Als der grimmige Kommander im getarnten Gleiter den Hangar verließ, war Jiyai schon in dem schneeweißen Medigleiter im Anflug auf das Zielgebiet. Offensichtlich unsicher und Mut für die Konfrontation sammelnd, flog das Mädchen schließlich einige Kreise in großer Höhe, bis sie zur Landung ansetzte. Mit lautem Kreischen drückte das Flugobjekt seine drei Beine in den vom Wasser aufgeweichten und schlammigen Boden, der vom immer noch fallenden Regen in den nächsten Stunden nicht trockener werden würde. Sab schwebte unter voller Tarnung in ihrem Gleiter lautlos nur wenige Meter über dem Gelände ein und lauschte mit den Sensoren: »Wenn die ihr auch nur ein Haar krümmen, dann können sie was erleben.«
Zwei Personen erschienen, angelockt durch die ungewohnten Geräusche der Maschine, in der Tür des alten Hauses. Es war durch Felder eingerahmt und nur über einen leicht erhabenen Weg zu erreichen war, der aber, wie die Hütte selbst auch, schon bessere Tage gesehen hatte. Die Beiden mussten ihre Eltern sein. Zumindest vermutete Sab das. Jiyai rührte sich nicht. Vermutlich sammelte sie noch immer ihren Mut. Erst viel Später surrte die Flügeltür des Gleiters in die Höhe und das Mädchen trat zu Sabs erstaunen in festlicher Uniform aus dem Fluggerät. Mit dieser gleichermaßen hochwertigen, wie auch nicht in diese Umgebung passende, Kleidung wollte ihre Ziehtochter offensichtlich eine optische Distanz zwischen der schäbigen Vergangenheit in dieser schmutzigen Umgebung schaffen und wohl auch klarstellen, nicht mehr das kleine Mädchen von früher zu sein, obwohl seit den unschönen Geschehnissen nur wenige Jahre verstrichen waren. Sie hatte in dieser kleinen Zeitspanne bereits mehr erreicht, als jeder Mensch, den sie auf dem Planeten kannte. Viele waren es ohnehin nicht.
Ihre Mutter hielt sich die Hand vor den Mund, als sie ihre Tochter in der ungewohnten Kleidung erkannte. Jiyai ließ sich nichts anmerken. Sie marschierte langsam und gleichmäßig weiter auf die Beiden zu. Ihre Mutter schloss sie direkt in ihre Arme, während ihr Vater nur zwischen dem futuristischen Fluggerät in seiner schlammigen Einfahrt und der nicht weniger ungewohnt aussehenden Tochter hin und her sah. Es dauerte einige Momente und die Drei verschwanden im trockenen Innern des Hauses.
Sab musste sich auf die Sensoren verlassen. Zum ersten Mal hatte sie Zweifel an ihrem Vorhaben. Spätestens jetzt war es richtiges Spionieren. Zu oft war sie in der Vergangenheit von den anderen Kommandern zurückgehalten worden, wenn sie mit ihren Überwachungsvorhaben wieder meilenweit über das Ziel hinausgeschossen war. Trish hatte sie bereits auf den einen möglichen Fehler hingewiesen, der sie die innige Freundschaft zu ihrer jungen Kollegin kosten konnte, aber Sab mochte das Mädchen zu sehr, als das sie es einfach so und ohne Rückendeckung in eine potentiell gefährliche Situation laufen lassen würde. Ihr Mädchen hatte bereits klar gemacht, wie sie zu dem Thema stand und würde bestimmt nicht erfreut reagieren, wenn sie ihre Anwesenheit auch nur bemerken würde.
Jiyai fand auch das Innere ihres altes Zuhause wenig verändert vor. Es war fast noch genauso wie sie es in Erinnerung hatte. Die Gefühle ihrer Mutter schienen ehrlich zu sein, aber sie hatte damals nicht einmal versucht ihren Vater davon abzuhalten sie an die Männer zu verkaufen, die im Nachhinein betrachtet noch dreckiger waren, als ihr altes Zuhause. Selbst die kleine Ecke in dem kargen Raum, in der sie die Nächte verbracht hatte, war noch da, auch wenn allerlei Kram auf ihrem Bett, wenn man diesen Holzrahmen und das mit getrockneten Pflanzen gefüllte Leinentuch, welches ihr damals als Matratze diente, so nennen mochte.
»Deine Sachen sind noch da. Wir räumen das hier weg.«, versuchte ihre Mutter die Lage zu erklären und wieder Platz für ihre Tochter in ihrem Leben schaffen. »Ich wollte nur sehen, ob es euch gut geht.«, nahm Jiyai ihrer Mutter gleich den Wind aus den Segeln: »Hierbleiben werde ich auf keinen Fall.« »Natürlich bleibst du hier. Du bist unsere Tochter!«, warf der Vater ein. »Nein, du hast deine Tochter verkauft! Ich habe jetzt mein eigenes Leben mit Freunden und Menschen, denen ich wirklich wichtig bin und die mir wichtig sind. Man hat mir die Möglichkeit gegeben zu lernen und sogar Ärztin zu werden. Diese Menschen haben mir eine Zukunft gegeben und vertrauen mir sogar ihre Raumschiffe an.«
Sab schluckte. Jiyai hob das in sie gesetzte Vertrauen auf ein Podest. Auch wenn Sab keine Sekunde glaubte Jiyai würde mit dem Kampfgleiter durchbrennen, war ihre Abhöraktion genau das Gegenteil von dem, was ihre Ziehtochter so an ihrem neuen Zuhause schätzte. »Du kannst noch mehr davon besorgen?«, war ihr Vater anscheinend schon wieder im Geldmodus. »Du kommst nicht einmal in die Nähe so einer Maschine. Über mich hast du keine Macht mehr.« »Wir haben dir das neue Leben doch erst ermöglicht.«, versuchte ihr Vater sich zu rechtfertigen. »Wenn das Ray Team mich nicht gerettet hätte, dann hätte ich gar kein Leben. Dann wäre ich wohl schon lange tot oder würde mir wünschen ich wäre es.« Sab konnte sich nur erschrocken die Hand vor ihren Mund halten. Ihr kleines Mädchen teilte nicht nur ordentlich aus, sondern packte auch eine Menge Informationen und Gedanken auf den Tisch, von denen Sab immer gehofft hatte, ihre Ziehtochter würde sie nicht haben. Dieses verletzliche Mädchen hatte sich anscheinend in allen schmutzigen Details ausgemalt, wie ihr Leben ohne das Ray Team verlaufen wäre.
»Du kannst doch nicht einfach so wieder gehen.«, meldete sich ihre Mutter zu Wort. »Trotz allem was passiert ist geht es mir gut. Das wollte ich euch zeigen und mich endgültig von euch verabschieden. Wir werden uns nach diesem Treffen nicht mehr wieder sehen.« Auch wenn Sab diese Worte auf eine beschämende Art und Weise erfreuten, zeigten sie doch die festen Vorstellungen von Jiyai. Der Neuen und besseren Zukunft, in der ihre leiblichen Eltern keinen Platz mehr hatten. »Ich lasse dich nicht gehen.«, stellte sich ihr Vater blockierend vor den einzigen Ausgang. »Du kannst mich nicht aufhalten.«, blieb Jiyai ruhig und langte zum Griff der Tür, was ihr alter Herr zu verhindern versuchte. Als er ihren Arm griff zuckte er nur zusammen und sank schmerzhaft Zitternd auf die Knie. Mit ihrem Körperschild auf Personenabwehr gestellt, brauchte sie sich zumindest nicht mit Muskelkraft anstrengen, obwohl sie durch das Kampftraining bei Jin schon einige Tricks gelernt hatte.
Sab konnte sehen wie Jiyai die Hütte verließ. Es wurde stürmisch und wegen des stärker gewordenen Regens wirbelte viel Erde in der Luft herum, welche die Sicht auf auf das Mädchen mehr und mehr verschleierte. Erst als Jiyai im Kampfgleiter abhob, war der Spuk vorbei und der Wind ließ wieder nach. Als hätte die Natur ihr auf magische Weise persönlichen Schutz geboten. Sab wartete und öffnete außer Sicht einen Vortex zur Station. Ihre Tochter hatte jetzt viel zu verarbeiten und sie wollte für sie da sein.
Als der Manta von der kleinen Insel abhob trat schon ein wenig Traurigkeit in die Gemüter der beiden Menschen. Sie hatten in den letzten Tagen so viel neues erfahren, so viele Informationen über die fremde Kultur gesammelt. Ja man konnte schon sagen es wurde eine echte Freundschaft aufgebaut. Aber es war an der Zeit die Heimreise anzutreten. Begleitet von den Seemschiffen verließ Manta X die Atmosphäre und entfernte sich von dem Planeten mit seinen zwei Sonnen. »Alles in Ordnung bei dir?«, fragte May als sie den Ausdruck auf dem Gesicht ihres Freundes sah. »Das hier war alles so anders.« »Anders?« »Naja, anders als vergleichbare Situationen im Fernsehen.« »Gut anders oder schlecht anders?« »Gut und aufregend anders!«, lächelte Nim. »Warum dann dieses Gesicht?« »Ich finde es traurig. Die Menschen sehen in ihnen nur Fische. Wir haben sie kennengelernt und erfahren zu welchen Wundern sie fähig sind, auch wenn sie keinen opponierbaren Daumen haben.« »Mergy hat mich Botschafter May genannt.«, wurde nun auch May nachdenklich: »Vielleicht sind wir das ja wirklich. Nicht nur als Menschen bei den Seem, sondern auch für die Erde. Mit all dem gesammelten Material kann Daneen einen großen Bericht verfassen und den Menschen zeigen, was für Wunder, wie du es genannt hast, wirklich existieren.«
Wortlos sausten die beiden in ihrem Manta weiter durch den roten Unterraum in Richtung Erde. Erst einige Minuten später brach Nim das Schweigen: »Trotz all der Diplomatie war diese Reise doch auch so etwas wie unser erster richtiger und gemeinsamer Urlaub.« May lächelte und zog ihn nach hinten in die Kabine: »Und er ist noch nicht vorbei!«
Als Jiyai mit den Landefüßen des Gleiters auf dem Boden des Hangardecks aufsetzte, stand Sab bereits vor dem Regal. Der junge Pilot hatte sie noch gar nicht bemerkt. Still saß sie auf ihrem Sitz und starrte nach vorne. Sab war zu keiner Bewegung fähig, denn sie musste ihrem Mädchen die Gelegenheit geben ihre Gedanken zu sortieren. Jaque leitete auf ihre Anweisungen hin den Flugbetrieb auf das andere Deck um, auch wenn Mergy bei einer identischen Blockadeaktion seinerseits schon mal einen Anpfiff von seiner mürrischen Kollegin bekommen hatte. Fast zehn Minuten dauerte es, bis Jiyai die Tür öffnete und unsicher ausstieg. Es war deutlich zu sehen, wie sie noch einmal die Instrumente prüfte und überlegte, ob sie alles richtig abgeschaltet und bedient hatte.
Kaum hatte sie den Weg zur Tür angepeilt, erspähte sie ihre Ersatzmutter, die mit dem Rücken am Regalträger lehnte. »Ich dachte du brauchst vielleicht jemanden zum Reden, oder einfach nur eine Umarmung.«, begründete Sab ihre Anwesenheit. Jiyai lächelte und breitete ihrerseits die Arme zu einer Umarmung aus. »Schlimmer als erwartet?«, versuchte Sab auch das angebotene Gespräch anzustoßen. »Nein, eigentlich genau wie erwartet.«, blieb Jiyai abgeklärt, wie schon auf der Erde: »Danke für das Angebot, aber ich denke ich gehe in mein Quartier und lerne noch ein wenig.« »Alles klar junge Dame.«, strich Sab ihrer Ziehtochter noch einmal durch die Haare: »Ich bin Stolz auf dich.« »Du bist stolz? Auf mich?«, war Jiyai sichtlich erstaunt dieses Wort aus Sabs Mund zu hören. »Du hast einen Entschluss gefasst, alle Unwägbarkeiten ausgeräumt und es mutig bis zum Ende durchgezogen. Viele Erwachsene hätten sich das nicht getraut.«, lächelte Sab und drückte sie noch einmal an sich: »Wenn du deine Meinung bezüglich des Redens änderst: Ich bin immer für dich da!« »Danke!«
Die Glut im Feuer war heiß. Sie erzeugte leises Knistern und ein wenig zusätzliches Licht. Immer wenn das Fleisch etwas Flüssigkeit absonderte zischte es beim Auftreffen auf die Kohle laut und eine weiße Wolke stieg aus der Hitze auf. »Papa, Papa schau mal da oben. Der Mond!«, rief der Junge laut auf seinen Vater zurennend durch den Park. Das Himmelsobjekt leuchtete nicht in den natürlichen Gelbtönen, sondern flackerte wild durch die gesamte Farbpalette.
»Sieht so aus, als wenn der Mann im Mond eine Party feiert.«, lachte das Familienoberhaupt. Die Menschen um sie herum blickten ebenfalls fast alle nach oben. Wie bei einem Flashmob, bei dem sich eine Gruppe versammelt und auf einen bestimmten Punkt starrt. »Den Mann im Mond gibt es gar nicht.«, erklärte der Junge in besserwisserischer Tonlage. »Und wer ist es dann?« »Das ist das Ray Team.«, tänzelte der Junge mit erhobenen Armen im Kreis, ohne den Blick vom Himmel abweichen zu lassen.
So ganz unrecht hatte der Kleine da nicht. Es war eine Party, wenngleich die Veranstaltung nur vom Ray Team organisiert worden war. Mergy, genauer gesagt Thomas, hatte die Feier angesetzt. Ein riesiger mehrschichtiger Schild sorgte für eine sichere Atmosphäre im Inneren. Diverse Zelte und kleinere Buden waren aufgestellt worden, in denen neben normalem Essen und Getränken auch kleinere Leckereien angeboten wurden. Eine große Fläche mit Tischen und Sitzgelegenheiten in verschiedenen Größen und Formen lug zum Verweilen ein, während ein fast gleich großes Areal als Tanzfläche diente.
Von der kargen Mondoberfläche war hier nichts mehr zu sehen. Eine ebene und stolperfreie mit grünem Teppich überspannte Zone, die fast das komplette Gebiet unter dem Schild ausmachte, sorgte für eine erdähnliche Gravitation. Lediglich ein kleinerer Bereich war ausgespart worden. Hier konnten die Kinder hautnah erleben, wie sich die Anziehung auf dem Mond anfühlt. Viele der erwachsenen Partygäste taten es ihnen gleich und hopsten über das sandige Gelände.
Im restlichen Areal deuteten Blumenstangen und Torbögen Wege zwischen den kleinen Funktionsoasen an, die es eigentlich gar nicht gab. Sor marschierte zwischen den Tischen umher, entfernte zurückgelassenes Geschirr und bediente an den kleinen Ständen. Während die Musik von den, um die Tanzfläche aufgestellten, Lautsprechern nur schwach diese Bereiche überströmte und gemütliche Unterhaltungen zuließ. Von der großen mehrstöckigen Torte war nicht mehr viel übrig. Wie die von einem Heuschreckenschwarm zurückgelassenen Reste parkten die erbärmlichen Reste auf dem zentralen Tisch in der Mitte.
»Darf ich bitten Frau Merninger?« »Schon wieder, Herr Merninger?« »Wir haben den Mond nicht ewig.«, grinste Thomas. »Ja, so etwas erwähnte mein Mann die letzten drei Male auch schon.«, erwiderte Anja, während er sie auf die Füße zog. »Ein schlauer Mann, den sie da haben, Frau Merninger.« Das weiße Kleid wehte entgegen ihrer Laufrichtung vom Körper weg. »Wieso bist plötzlich du so versessen aufs Tanzen?«, fragte Anja neugierig, während sie von ihre Ehemann zu Walzerklängen über die Tanzfläche geschoben wurde.
»Hunderte von Hologramme mussten für diesen Moment qualvoll leiden.« Anja stutzte für einen Moment. »Du hast es extra für heute geübt?«, schmunzelte sie während einer ausladenden Drehbewegung. »Ich wollte die Scheidung nicht schon nach dem ersten Tanz riskieren. Ehe ist Arbeit.«, lachte Thomas. Langsam klang die Musik aus. »Darf ich um den nächsten Tanz bitten?«, fragte Nim höflich an und entführte die Braut. Es war wohl nicht seine eigene Idee, denn May stand bereits neben Mergy und tat es ihm gleich. In einem altmodisch ausladenden und bis zum Boden reichenden Kleid, welches sich lediglich durch die kräftige Lila Farbe niemals in die Zeitperiode passte, aus der es zu kommen schien, wurde sie nun von Mergy, der in seinem Anzug noch ungewohnter aussah, als sonst, wenn er in Erdenkleidung durch die Flure der Station marschierte, über die Tanzfläche bewegt.
»Prinzessin May war wohl nie passender als heute.«, merkte ihr neuer Tanzpartner an. »Ich dachte ich nutze die Gelegenheit einmal so etwas zu tragen.« »Und was hat dein Freund dazu gesagt?« »Erst einmal gar nichts!«, kicherte May, die sich recht gut in die Rolle des passiven Tanzpartners fügte. »Das kann man ihm nicht verdenken. Sie sehen umwerfend aus, Prinzessin.« May senkte anerkennend ihren Kopf, wie sie es bei einem Hofknicks machen würde und folgte weiter den von der Musik angewiesenen Schritten. Schließlich spielten die letzten Takte und der Tanz war beendet. Mergy nahm die Hand von May und führte sie wie eine echte Prinzessin zu ihrem Prinzen: »Tausche Peach gegen Braut.« Nim zog die Mundwinkel hoch, während sich die beiden Frauen nur fragend ansahen. »Das hab ich heute auch schon einige Male gedacht.«, erklärte der deutlich jüngere Tänzer lachend und wendete sich seiner Liebsten zu: »Darf ich um den nächsten Tanz bitten, euer Hoheit?«
»Was hatte das zu bedeuten?«, fragte die Braut unsicher. »Das hat Nim schon verstanden.«, lachte der Bräutigam ohne weitere Details zu verraten. »Ich brauche jetzt eine Pause.«, erklärte Anja. Thomas legte seinen Arm um sie, während sich die verschiedenen Paare um sie herum wieder in Bewegung setzten. Trish stand außerhalb und unterhielt sich mit Daneen und Reiko, die allesamt, wenngleich nicht so dramatisch wie May, in feinen Kleidern steckten. »Was habt ihr denn Sab in den Tee getan?«, deutete der Kommander nach hinten, wo Sab lachend und ohne auch nur das kleinste Anzeichen von Missmut, von einem seiner Freunde geführt, über die Tanzfläche wirbelte. »Also wir waren es nicht, aber wenn du herausfindest, was es ist: Wir brauchen mehr davon!«, lachte Daneen.
Hinten an einem kleinen Tisch mit Sofa machten sie ihre Tochter Daniela ausfindig, die zusammen mit einigen anderen Kindern, von Jiyai und Meena beaufsichtigt wurden. Anscheinend erzählten sie gerade spannende Geschichten, denn die Kleinen hingen förmlich an ihren Lippen. Keine Spur mehr von dem unsicheren Mädchen, welches vor der Zeremonie nicht von der Seite ihrer Eltern weichen wollte, obwohl die Aussicht auf einen Besuch beim Ray Team sie Stunden vorher noch vor Glück hatte aufschreien lassen.
Nach diversen Pleiten in Restaurants und den nach der Adoption nicht weniger gewordenen Reportern, von deren Auftraggebern sich dann aber doch niemand getraut hatte auch nur ein klares Bild des Mädchens abzudrucken, hatte Mergy den Entschluss gefasst die Feierlichkeiten auf dem Mond auszurichten, um die Presse schlichtweg auszusperren. Auch wenn Sab es missfiel Ray Team Technologie und vor allen Dingen kostbare Energie dafür zu verschwenden, wurde sie bei der Abstimmung von allen anderen Kommandomitgliedern überstimmt. Diese Tatsache schien, angesichts ihrer neuerlichen Partystimmung, wie weggeblasen. Tin hatte einige Transporter mit einem Hologramm ausgestattet, womit sie wie ein normaler Bus aussahen. Räder und eine sich nach außen öffnende Tür waren hier noch das kleinste Problem. Aber im Inneren ein Lenkrad zu platzieren, war, sollte es doch echt aussehen, schwerer als noch bei der Verkündung der Idee gedacht.
Die Gäste bekamen Einladungen, auf denen nur ein zweitägiger Aufenthalt in einem Hotel benannt und um kleines Gepäck gebeten wurde. Die Transporter sammelten die Gäste am Morgen der Hochzeit, wie ein Shuttle vom Flughafen, ein, nur das die Reise hier, am Ende jeder Tour, zur Überraschung aller Fahrgäste, ohne Umsteigen direkt ins All führte. Einzig Anja, Thomas und Tochter Daniela kamen in den Genuss mit einem Manta zu reisen, der sie direkt in ihrem Haus einsaugte. Nach einem kurzen Aufenthalt auf der Station, wo die Gäste ihre Quartiere für die Nacht zugeteilt bekamen und sich umziehen konnten, wurde die komplette Gästeschar mit der Vanquist zum Mond gebracht, wo ein weiterer Shuttleservice sie auf dem vorbereiteten Gelände absetzte.
Die Zeremonie war, von der Örtlichkeit mal abgesehen, identisch mit einer normalen Hochzeit auf der Erde gewesen. Die standesamtliche Trauung barg aber noch eine zusätzliche kleine Überraschung für ihre Tochter. War die Adoption bisher nur unter Vorbehalt und durch Beziehungen von Thomas ermöglicht worden, wurde sie nun mit der Heirat auch rechtlich komplett wasserdicht und die Eltern hatten den Beamten gebeten auch diesen Faktor in die Feierlichkeiten einzubeziehen. So enthielt jedes der zu unterzeichnenden Dokumente auch ein zusätzliches Feld, welches mit »Tochter« bezeichnet und den Namen des Kindes enthielt. Eine Linie darunter verlangte nach einer Unterschrift, um den Bund endgültig zu besiegeln.
Der Standesbeamte machte seine Arbeit mehr als gut. Sorgsam hatte er sogar seinen eigenen Text angepasst und die Tochter überall eingefügt, wo es nötig oder sinnvoll war. Er stellte dem Mädchen sogar einige wichtige Fragen und ermahnte, die neuen Eltern seien zu respektieren. Kindgerecht natürlich. Am Ende schrieb Daniela ihren Namen in krakeligen Druckbuchstaben in die entsprechenden Felder, wie ihre nun offiziellen Eltern zuvor auch. Das Strahlen im Gesicht ihrer Tochter, als der Beamte verkündete sie seien nun offiziell eine echte Familie, war für die Eltern fast wichtiger, als die eigene Eheschließung und erzeugte wohl auch unter den Gästen mehr Tränen als die eigentliche Trauung selbst.
Daniela blickte strahlend auf, als sie ihre neuen Eltern näher kommen sah und Jiyai unterbrach die Erzählungen. »Na, habt ihr auch alle Spaß?«, fragte Anja und die kleine Gruppe stimmte ein »Ja« ein. »Ist Kommander Mergy noch da?«, fragte ihre Tochter die Neueltern direkt. Mergy konnte die aufschnappenden Augen seiner beiden jungen und unerfahrenen Kolleginnen sehen. So wie es aussah hatte Daniela die beiden Aufpasser schon mit ähnlichen Fragen gelöchert. »Ich glaube er ist direkt nach der Hochzeit wieder zur Station geflogen. Es können ja nicht alle feiern. Einige Menschen müssen auch arbeiten und die Erde beschützen. Wieso fragst du?« »Ich wollte wissen, ob er auch mal Bananen-Knuspers machen kann. Ich mag Bananen!« Anja schnappte nach Luft, während Thomas versuchte ernst zu bleiben, was ihm aber nicht so recht gelang: »Wenn ich ihn sehe, werde ich ihn darauf ansprechen!«
Gerade als sich die Beiden wieder umdrehen und den anderen Gästen zuwenden wollten, rauschte deutlich hörbar ein Hubschrauber über die Kuppel. Eigentlich war es unmöglich ihn zu hören, aber wenn man es genau nahm, war genauso unmöglich einen Hubschrauber hier über dem Mond zu fliegen. Er setzte auf dem offiziellen Landeplatz auf. »Direct Sun Tours«, prangte in sonnigen Farben deutlich sichtbar neben ein paar flauschigen Wolken auf dem himmelblauen Fluggerät, welches ansonsten nur noch einen Regenbogenstreifen an der Heckflosse und einige offizielle Beschriftungen enthielt. Suki hopste aus der Maschine, umschritt sie und lehnte sich auf der Seite der feiernden Masse dagegen, als würde sie einfach nur auf jemanden warten. Die Gäste formierten sich neu und bildeten einen Korridor. Selbst Jiyai und die anderen Kinder nahmen ihren Platz ein. Schlagartig stand die kleine Familie am Ende eines klar von menschlichen Wänden umrissenen Weges.
»Sollen wir da durchlaufen?«, fragte Daniela neugierig. »Ich denke schon.« Die Eltern nahmen ihr Mädchen in die Mitte und legten unter dem Jubel ihrer Familien, Freunde und den anwesenden Ray Team Mitgliedern langsam den vorgegebenen Weg zurück, an dessen Ende nicht nur die anderen Kommandomitglieder, sondern speziell Trish wartete, die als einzige keinen Beitrag zum Tunnel lieferte. »Uns ist zu Ohren gekommen, ihr wollt die Arbeit einer Hochzeitsreise vorziehen.«, begann Trish und das Brautpaar ahnte was jetzt kommen würde: »Da wir so etwas nicht zulassen können, müssen wir euch eben dazu zwingen.« Trish legte einen schelmischen Gesichtsausdruck hin: »Bevor ihr etwas sagt. Es ist alles geklärt. Die nächsten 14 Tage habt ihr alle drei ganz offiziell frei. Abflug!« Suki spurtete an den vier Personen vorbei und öffnete die hintere Tür des Helikopters. »Die Koffer sind gepackt und der Doc hat ausreichend Hilfsmittel gegen Reiseübelkeit dazu gepackt. Es gibt also keine Ausrede.«, erklärte Trish weiter.
Der Tunnel hatte sich mittlerweile hinter ihnen zu einem breiten Publikum verformt, welches sich gespannt an einer nicht vorhandenen Begrenzung zwischen Landeplatz und Festwiese verteilte. »Ich schätze wir haben keine Wahl.«, lachte Thomas. »Wo fliegen wir hin?«, war Daniela verwirrt. »Das ist eine Überraschung. Wir wissen es auch nicht.«, erklärte Anja. Die Braut deutete an den Strauß zu werfen, was die Männer in der Menschentraube spontan von den Frauen trennte. Die gebundenen Blumen flogen rotierend und in hohem Bogen mitten in die Menge, die sich schlagartig erneut teilte, als wollte sie den Fänger präsentieren.
Eine ziemlich verdutzte Sab stand dort in ihrem blauen Kleid, den Strauß in der Hand, und wusste nicht so recht, was sie nun machen sollte. Sie warf einen fragenden Blick mit deutlich grimmigem Unterton zu May, lag doch der Verdacht nahe sie hätte mit ihren Kräften nachgeholfen. »Ich hab nichts damit zu tun.«, wiegelte die, den bösen Blick richtig deutend, sofort ab. »Treffer!«, kommentierte Thomas den gelungenen Wurf und weidete sich sichtlich an dem Anblick seiner irritierten Freundin.
Winkend stieg Anja auf die Sitzbank und zog ihre Tochter in die Mitte. »Dran gekriegt.«, zeigte Trish triumphierend auf den Kommander in Schwarz. Thomas blieb wortlos und konnte nur lachend den Kopf schütteln. Schweigend stieg er zu seiner frisch gebackenen Familie in den Hubschrauber. Suki verschloss sorgsam die Tür und setzte sich auf der anderen Seite auf den Pilotensitz.
Der Vater stülpte einen Kopfhörer über den Kopf seiner Tochter. Dann setzten auch die Eltern einen auf. »Sieht so aus, als wenn sich unsere Pläne geändert haben.«, lächelte er zur Seite. Suki blickte nach hinten und fragte ob alle bereit wären. Anja nestelte noch an dem Gurt ihrer Tochter und legte ihren eigenen an. Thomas verzichtete komplett auf das Anschnallen. Unter dem Winken der Menschenansammlung hob der Hubschrauber ab und setzte Kurs auf den Planeten, der nach einem winzigen Sprung in den Unterraum schlagartig riesiger geworden war. »Wenigstens fliegen wir nicht zum Mars!«, kommentierte Anja die ungewisse Lage, in der sie sich befanden. »Ich mag Mars!«, erklärte Daniela. Anja lachte laut auf: »Ich meinte den Planeten, nicht deine Schokoriegel.«
Thomas versuchte mehrfach zumindest eine kleine Information aus Suki herauszukitzeln, aber der Pilot blieb standhaft. Oder sie hörte ihn gar nicht und hatte die Kopfhörer abgestellt. Normalerweise hätte er an der Stelle einige unflätige Worte abgelassen, um zu testen, ob seine Pilotin ihn absichtlich ignorierte, aber da seine Tochter zuhörte, fügte er sich schweigend seinem Schicksal. »Direct Sun Tours Helikopter an Emerald Sun. Erbitte um Landeerlaubnis.«, hörten die drei Passagiere erstmals seit dem Start wieder Sukis Stimme über die Ohrmuscheln.
»Wir haben Seegang Stärke 6 und böigen Wind. Sie können von Achtern anfliegen, wenn sie es wirklich wagen wollen. Der Landeplatz ist gesichert.«, ertönte von der anderen Seite eine zweifelnde Stimme. »So wie es aussieht werdet ihr eure Kotzpillen brauchen.«, grinste Suki kurz nach hinten und senkte die Flughöhe. Unter ihnen tauchte das mächtige, sich durch die Wellen kämpfende, Kreuzfahrtschiff auf. Es war stürmisch, aber trocken. Zumindest so lange die Wellen nicht vom Wind über den Decks zerstäubt wurden. »Emerald Sun, das wird ein Kinderspiel. Beginne mit dem Landeanflug.«
Suki aktivierte die automatische Flugkorrektur und passte die Bewegungen des Hubschraubers mit denen des Schiffes an, was den Gästen auf der Rückbank schon mal einen Eindruck von den Bewegungen des großen Schiffes gab. Deutlich konnte man das große H sehen, auf dem sie aufsetzen würden. Es war mitten auf einem Tennisplatz eingezeichnet, der von Scheinwerfern umringt gut ausgeleuchtet war. Sanft, als wäre es nur eine Landefläche auf einem Flugplatz an einem windstillen Sommertag, setzte die Maschine auf. Suki stellte die Rotoren ab. Der eigentliche Gravitationsantrieb der Flugmaschine blieb unbemerkt aktiv und hielt es in Position. Das Fluggerät durfte ja auf keinen Fall, vom Wellengang oder Wind angetrieben, auf dem feuchten Landeplatz umherrutschen.
»Auf das Wetter haben wir leider immer noch keinen Einfluss.«, merkte Suki an, als sie die Tür auf Anjas Seite öffnete und den Wind hinein ließ. Wenigstens war es hier hoch oben auf dem Schiff noch trocken. Eine leichte Gischt von den unteren Decks versprühte ihre Feuchte lediglich an den Rändern des Platzes. Der Pilot öffnete die hintere Klappe und zog drei Koffer heraus, die sogleich von Personal angenommen wurde, welches nach der Landung aus einer der Türen gespurtet kam. »Das Wetter ist jedenfalls ideal für eine aktionsreiche Hochzeitsnacht.«, ertönte Suki laut, um dem Heulen des Windes entgegen zu wirken und untermalte den letzten Satz noch mit einem Boxen gegen Thomas Schulter, der die Geste nur mit einem Lächeln quittierte.
Dann folgte die Familie der formell gekleideten Besatzung ins Innere. Anja musste sich beim Gang über das Deck wie ein Fahnenmast fühlen, denn ihr Kleid zerrte unablässig in Windrichtung, bis sie die Tür ins schützende Innere erreicht hatten. »Wir haben einen medizinischen Notfall. Können sie eine Patientin und den Arzt mitnehmen?«, wurde Suki von einem der Helfer angesprochen. Der Pilot schmunzelte. Nach den Worten von Sab sich wegen dem Seegang nicht abwimmeln zu lassen und den auch sonst miserablen Wetterbedingungen hatte sie deutlich mehr Gegenwehr von Seiten des Kapitäns erwartet, als sie vor einigen Minuten die Landeerlaubnis eingefordert hatte. Der Notfall erklärte die Leichtigkeit, mit der sie an die nötige Formalität gekommen war.
»Kein Problem.«, bestätigte Suki und wenige Minuten später wurde ein Krankenbett an den Hubschrauber gebracht und die Patientin umgeladen. »Danke, für ihre Hilfe.«, erklärte eine junge Frau, deren Tochter wohl die Patientin war. Dann stiegt der Arzt hinten ein und die Mutter nahm auf seine Anweisung hin auf dem vorderen Sitz neben Suki platz. »Sie muss dringend operiert werden. Bei dem Seegang war uns das zu gefährlich, aber wir haben nicht mehr viel Zeit. Alle anderen Piloten haben bereits im Vorfeld eine Landung ausgeschlossen und sind gar nicht erst gestartet. Unsere letzte Möglichkeit wäre ansonsten nur noch die Seerettung gewesen, aber eine Abholung im Rettungskorb wäre in ihrem Zustand auch nicht wirklich eine Option gewesen. Wir hatten so viel Glück, weil sie landen konnten.« Suki konnte sich gut vorstellen, wie das Mädchen mit einer Trage an einem langen Seil durch die Luft schwingend zu einem Hubschrauber hochgezogen hätte werden müssen. »Sie ahnen gar nicht wie viel Glück sie wirklich haben.«, merkte Suki an und startete die Rotoren.
Ohne Probleme war sie dem, sich unter ihr durch die Wellen brechenden, Schiff entkommen und nahm Geschwindigkeit auf. »Suki an Ray Team One, erbitte um Sprungerlaubnis. Benötige Medizinisches Notfallteam.«, hatte Suki keine Ahnung wer gerade auf dem Kommandodeck und der Krankenstation Dienst schob. Sab jedenfalls konnte es nicht sein, denn die hatte sie auf der Partymeile über die Tanzfläche schweben sehen. Zumindest dieser Kommander würde den Abend nicht auf dem Kommandoplatz verbringen. Es war Jaque, der monoton und formell wie immer antwortete und vermeldete der Doc wäre bereits unterwegs. Sie bekam zugleich Sprung- und Landeerlaubnis. Hangar 3 war ihr vorgegebenes Ziel, was nicht weiter verwunderlich war, da der Hubschrauber hier einen festen Platz im Regal hatte. Das Rot des Unterraums umgab den Hubschrauber nur für kurze Zeit, aber das darauf folgende Schwarz zog nicht weniger die Aufmerksamkeit der bis dahin nichts ahnenden Gäste auf sich.
Thomas und seine kleine Familie wurden, wenn auch leicht wackelig, durch das Schiff in ihre Kabine geführt. Den Gästen, denen sie auf dem Weg begegneten, war sofort klar, welchen Zweck diese Reise hatte. Dazu war das weiße Kleid von Anja und der passende Anzug von Thomas dann doch zu offensichtlich. »Woooh!«, kommentierte Daniela jedes Schwanken des Schiffes, welches sie beim Laufen wie einen Tennisball zwischen der linken und rechten Seite des Ganges wechseln ließ. Schließlich kamen sie an einer Suit an, die schon auf den ersten Blick keine Wünsche offen ließ.
Sie war riesig und ein großes Panoramafenster zeigte eindrucksvoll die Wellenberge, von denen einige beim Auftreffen bis an ihr Fenster spritzten. Es gab zwei Schlaf- und Badezimmer, die durch eine großzügige Wohnlandschaft verbunden waren. »Da hat jemand die Portokasse des Ray Teams gründlich missbraucht.«, schoss es Thomas durch den Kopf. Schon für eine winzige Kabine ohne Fenster und tief unter der Wasserlinie würde man einen hohen vierstelligen Betrag zahlen müssen. Zwei Sektkühler, gefüllt mit einer Flasche Sekt und einer Flasche Orangensaft für den Zwerg, sowie reichlich Blumen und Obst rundeten das edle Ambiente ab.
Das Personal erklärte noch einige Details und zog sich dann diskret zurück. »Das ist ja was!«, ließ sich Anja lang auf das Sofa fallen, welches sie sanft auffing. »Wo fahren wir denn mit dem Boot hin?«, fragte Daniela neugierig aus dem Fenster blickend. »Ich habe nicht wirklich viel Ahnung von Booten, aber ich glaube das hier nennt man Schiff. Vielleicht steht hier etwas über unser Ziel drin?«, zog Thomas einen Umschlag aus einer zentral platzierten Halterung zwischen Sektkühler und Blumenarrangement. Sein Blick fiel direkt auf die Unterschrift. »Ist von Trish! Also Kommander Trish«, verbesserte sich Thomas hastig. »Da Thomas Flugreisen ja bekannter Maßen nicht leiden kann, gibt es eine per Schiff.«, las er laut vor und machte einige hastige Schritte zur Seite, um eine unerwartet starke Welle zu kompensieren.
Daniela hatte sich gleich auf den Hintern fallen lassen und rollte derweil wie ein Stück Treibgut laut kichernd über den flauschigen Boden durch den Raum. »Ob, das jetzt besser ist als fliegen?«, murmelte Thomas und las weiter: »Das Reiseziel eurer 14 tägigen Fahrt ist das Nordkap. Ausflüge sind inklusive, also keine Hemmungen. Das Ray Team wünscht einen fröhlichen Familienurlaub. Trish. PS: Wir haben natürlich nicht die Portokasse geplündert.« Bei diesen Worten entfuhr ihm ein lautes Lachen. Anja konnte es nicht zuordnen und fragte nach. »Das mit der Portokasse hab ich vorhin beim Eintreten fast Wörtlich gedacht.« »Sie kennen dich eben.«
»Was ist das Nordkap?«, fragte Daniela neugierig. »Da gibt es Eisberge, Eisschollen, Eisbären, Delfine, Wale und Robben. Unterwegs sehen wir noch Vulkane, heißes Wasser spukende Quellen und vieles mehr.« »Hier liegt der Veranstaltungskalender.« »Nur keine Poseidonfeiern und Kostümparties. Bitte.«, klang Thomas schon fast bettelnd. »Der Kleine hier scheint extra für Dani zu sein. Hier gibt es ja fast alles von Kino, über Clownsschule bis hin zu Ballettstunden.« Jetzt hatte Anja die volle Aufmerksamkeit ihrer Tochter und musste alle Programmpunkte und Möglichkeiten aufzählen und ausführlich erklären.
Während Anja in ihrem Brautkleid auf dem Sofa die Unterhaltungsmöglichkeiten für Kinder auf dem Schiff erklärte, lehnte Thomas sich mit der Schulter gegen die große Scheibe, um trotz des Wellengangs ohne Anstrengung stabil stehen zu können. Er beobachtete die Wellenberge und deren Täler, die im stetigen Wechsel die Umgebung ausmalten. Der Himmel hatte sich schon deutlich verfinstert. Beim Anflug war es dämmrig gewesen, aber jetzt waren es die Fenster des Schiffes und der Mond, der die Umgebung beleuchtete. Unweigerlich fiel sein Blick auf die Kugel am Himmelszelt, wo sich die Farben der Tanzflächenstrahler an der unsichtbaren Kuppel spiegelten und seine Freunde und Verwandten sich noch immer amüsierten.
Er bemerkte seine Frau gar nicht, bis sie sich von hinten an ihn kuschelte: »Alles in Ordnung?« Er drehte sich auf der Stelle um und gab ihr einen Kuss: »Alles Bestens. Wenn wir uns schnell umziehen, dann können wir noch einen kleinen Rundgang über das Schiff machen. Dann ist Schlafenszeit.« »Oh, noch nicht.«, hörte er Widerspruch von der Seite, wo sich Daniela die Bilder auf den Prospekten zur Reise ansah. »Doch, doch, Schnabbel.«, erwiderte ihr Vater mit einem Lächeln. Obwohl er sich nicht annähernd so überzogen gekleidet vorkam, wie seine Frau, war er froh sich wieder mit Jeans und T-Shirt bekleidet im Spiegel zu sehen. Anja brauchte deutlich länger zum Umziehen, was nicht nur an dem Kleid lag, sondern mehr daran, weil ihr frischgebackener Ehemann die Finger nicht von ihr lassen konnte.
Als Daniela zum Verlassen die Tür der Kabine aufriß, stand dort eine verdutzte junge Frau mit zur Faust geballter Hand. »Oh, heh. Hallo. Da kann ich mir das Klopfen ja sparen. Ich bin Melanie Brink und wollte mich noch kurz bei ihnen vorstellen.« Anja erkannte das Gesicht sofort: »Sie sind die Kinderbetreuerin, nicht?« »Ja, genau. Wenn Daniela Lust hat kann sie Morgen um 9 die anderen Kinder an Bord beim Frühstück kennenlernen.« Der Blick den die Kleine zu ihren Eltern hoch warf, hatte auch ohne Worte nur einen Inhalt: »Darf ich?« »Gibt es eine Möglichkeit das Ganze bis zum Mittag auszudehnen?«, fragte ihr Vater ohne direkt eine Antwort zu geben.
»Eigentlich sollte Vormittags auch die große Schiffsführung stattfinden, aber wegen dem Seegang verschieben wird das. Es wäre zu gefährlich. Wir bieten daher als Ersatz Malen und Basteln an.« Danielas Blicke, die zwischen ihren Eltern wechselten, wurden immer hektischer. Malen! Das war genau ihr Ding. »Das klingt doch gut.«, war auch Anja einverstanden. »Gut, wir holen sie um Neun Morgen in der Früh hier ab und bringen sie um Punkt 12 Uhr direkt an ihren Mittagstisch. Sie müssen sich um nichts kümmern. Dann wünsche ich noch einen schönen Aufenthalt.«
»Da bist du ja wieder. Das hat ja ewig gedauert.«, merkte Tori an, der mit Nim und May an der Landestelle auf seine Freundin wartete. »Es gab einen Notfall. Ich musste nochmal zur Station und wieder zum Schiff zurück.« Mays Blick wurde ernst. Warum hatte sie niemand informiert? Suki deutete ihr Gesicht auf Anhieb richtig: »Keine Panik. Es ging nicht um unsere Gastgeber.« Sie schnappte sich Tori und verkündete lautstark jetzt bis zum Umfallen tanzen zu wollen. May blickte den beiden stumm hinterher, während Nim sie nur schweigend ansah. »Was geht gerade in dem Schlaukopf meiner wunderschönen Freundin vor?«, holte er sie schließlich in die Realität zurück. »Alles verändert sich so schnell.« »Verrätst du mir Details, oder soll ich raten?« Nim zog die Augenbrauen hoch und legte seine Stirn auf ihre, damit sich die Augenpaare direkt ansehen konnten.
»Naja, es wird nicht mehr so sein wie früher. Mergy wird weniger auf der Station sein.« »So ist das nun einmal. Das Ray Team ist genau genommen eine Arbeitsstelle, wie jede andere auch. Menschen werden kommen und gehen um ihre Träume zu erfüllen.« Das Mädchen im schulterfreien Lila Kleid sah tief in seine Augen. So hatte sie das noch nie gesehen. Für sie war es immer ein Zuhause gewesen. Ein Hafen, der ihr Zuflucht bot. In dessen Etablissements sie ihre Freunde und Familie traf. Es kam ihr nie wie Arbeit vor. Es war mehr Berufung, Schicksal oder einfach nur eine Art die Zeit zwischen dem Leben sinnvoll auszufüllen. Ihr Freund hatte recht. Das Ray Team war eigentlich nur eine große Firma.
Durch die vermieteten Labors verdienten sie jetzt sogar Geld, aber viele ihrer Kollegen waren einfach nur dort, weil es nichts anderes für sie gab. Dankbarkeit, das Gefühl die Welt zu verbessern, oder einfach nur Abenteuer zu erleben, motivierten ihre Freunde. So war es auch Mergy gegangen. Jetzt nach vielen Jahren im Weltraum stand sein Traum auf einem recht soliden Fundament. Die eigene Familie war von einer Unmöglichkeit zur Realität geworden. Egal ob nun Belohnung des Schicksals für herausragende Dienste, oder nur die Dreistigkeit oder das Glück noch einmal in den Topf greifen zu können, hatte er seinem Leben ein neues Ziel gegeben, welches eben nicht mehr nur auf der Station lag, sondern auch in einem echten Zuhause auf dem Planeten.
»Komm, ich möchte den Leuten nochmal vor Augen führen, welche Traumfrau ich heute mit nach Hause nehmen darf.«, grinste Nim. Kaum hatten sie sich in Bewegung gesetzt, musste May nachfragen: »Plötzlich gefällt es dir, wenn mich die Jungs so ansehen?« »Nur ansehen, nicht anfassen!« »Und der Bikini?« »Kommt nicht in Frage!« Schlagartig war Nim wieder ernst. Er vergaß sogar den Tanz und blieb ruckartig stehen. Grabbler und Solange kollidierten mit dem plötzlich statischen Hindernis und setzten die musikalische Fahrt in eine andere Richtung fort. »Du kannst mir meine Kleidung nicht vorschreiben! Du weißt das, oder?« Nim wurde schlagartig klar welche Linie er gerade überschritten hatte. Egal wie eng sie beide verbunden waren, diese Macht hatte er nicht über sie. Niemand, abgesehen von Eltern vielleicht, sollte derartig über andere Menschen bestimmen dürfen. »Tut mir leid. Das kam jetzt befehliger raus, als es gemeint war. Ich möchte es einfach nicht.«, drehte Nim die Lautstärke und die Stufe der Forderung deutlich zurück. May lächelte: »Und ich ziehe ihn nicht mehr an, weil es dir wichtig ist.« »Nicht böse?« »Nein, obwohl ich nicht so recht verstehe, wieso du heute morgen so geschaut hast. So verpackt bin ich nicht einmal an Weihnachten.«
»Das hatte doch nichts mit der Bikinisache zu tun. Ich hatte erwartet dich in einem deiner üblichen Kleider zu sehen. Nur mit kleinen festlichen Änderungen eben. Als die Tür aufsprang stand da nicht das wunderschöne Mädchen, sondern eine komplett andere, unglaublich gut aussehende Frau, in die ich mich sofort wieder verliebt habe.« »Ich wollte nicht absichtlich wie diese Spielfigur aussehen.« »Tust du ja auch nicht. Es ist, als hättest du die elegante May in deinem Kleiderschrank gefunden, die weniger von sich zeigt und doch noch anziehender auf mich wirkt.« »Und welche ist besser?« »Keine! Hier finde ich diese Version wirklich passend, aber an normalen Tagen, ist mir die flippige Version lieber.« »Ich hab nicht vor diesen Typ Kleid im Einsatz zu tragen.«, lachte May: »Da kann man ja nicht mal richtig drin sitzen.« »Sitzen sollst du ja auch nicht.«, setzte sich Nim wieder in Bewegung, standen sie nun schon fast zwei Lieder lang, unbeweglich umschwirrt von den anderen Tänzern. »Befehliger ist übrigens kein richtiges Wort.«, lächelte May und folgte wieder seinen einstudierten Schritten.
»Wenn du ein Problem hast, dann sagst du das einfach dieser Melanie, ok?«, erklärte Anja. Daniela nickte. »Wir sind immer in der Nähe. So groß ist das Schiff nicht.« »Was ist wenn die anderen Kinder mich nicht mögen?«, blickte sie unsicher zu ihren Eltern hoch. Thomas ging in die Hocke: »Ich erzähl dir mal eine Geschichte. Sie handelt von einem kleinen Mädchen. Sie war sogar noch ein wenig jünger als du. Das Mädchen wollte nicht in den neuen Kindergarten, weil sie Angst hatte, sie würde keine Freunde finden und niemand würde sie mögen. Trotzdem ist sie mutig hineingegangen und als die Eltern sie Mittags wieder abgeholt haben, hatte sie sogar schon eine beste Freundin.«
»Das war ich.« »Echt? Oh! Also was soll dann jetzt noch schief gehen?«, lächelte Thomas. Anja öffnete die Tür auf das Klopfen hin. »Guten Morgen.«, begrüßte Melanie die Familie, die bis auf die Tochter noch im Bademantel war. »Morgen. Wir haben noch ein wenig Lampenfieber.«, erklärte Thomas. »Ach, das ist völlig normal. Das geht den anderen Kindern genauso. Komm. Das wird lustig.«, reichte die junge Frau Mitte 20 Daniela ihre Hand entgegen. »Schön brav sein.«, ermahnte Anja noch auf den Gang hinter her.
»Hoffentlich geht das gut.«, war nun auch Anja unsicher. »Sie ist Astronaut und war auf dem Mond. Welches Kind würde da nicht gerne die Freundin oder der Freund sein.«, grinste Thomas. Anja lächelte: »Das mit der Geschichte war gut, Papa.« »Man wächst mit seinen Aufgaben. Die Idee, die Adoptionsgeschichte in die Hochzeitszeremonie einzubauen, war auch ziemlich gut, Mama.« »Wir haben jetzt drei Stunden. Was machen wir da?«, fragte seine Frau mehr fordernd als fragend. »Also ich hatte da gerade diesen unglaublich schönen Traum. Ich hatte meine Traumfrau geheiratet. Auf dem Mond! Ist das zu glauben?«, witzelte Thomas: »Und gerade als wir in die Flitterwochen aufgebrochen sind, ging der Wecker. Vielleicht kann ich nochmal schnell einschlafen und ihn genau da fortsetzen?«
»Das ist ja irre! Mir ging es genauso.«, lächelte Anja: »Vielleicht sollten wir auf das Einschlafen verzichten und trotzdem genau da weitermachen.« Thomas schnurrte und zog seine Frau ins Schlafzimmer, wo beide eng umschlungen aufs Bett fielen.
Auch auf der Station waren May und Nim bereits auf den Beinen. Als May das Frühstück herrichten wollte, lag mitten auf ihrem Wohnzimmertisch ein Geschenk. Halb Weiß und halb Pink eingewickelt. Es war recht schwer wie sie schnell feststellte. Es war keine Karte daran. Vorsichtig legte sie es beiseite und kam ihrer eigentlichen Aufgabe nach. Während sie den Tisch mit den üblichen Zutaten eines gemeinsamen Frühstücks belud, fiel ihr Blick immer wieder auf die magisch anziehend wirkende Box. So müssten sich die Kinder an Weihnachten fühlen, wenn sich die Geschenke unter dem Baum stapeln und man sie nicht anrühren darf.
Als Nim eine gefühlte Ewigkeit später aus dem Schlafzimmer trat, gab er May einen innigen Kuss und setzte sich. »Ein Geschenk? Ist das für mich?«, fragte ihr Freund, als er die Schachtel auf dem Nebenplatz entdeckte. »Ich dachte du hättest das Päckchen für mich hier auf dem Tisch platziert?«, war May enttäuscht und erstaunt zugleich. »Ich würde ja gerne behaupten es wäre von mir, aber leider ist es das nicht.«, beteuerte Nim: »Gestern Abend war es noch nicht hier. Da hab ich noch meine Jacke auf den Tisch geworfen, damit ich meine Freundin so küssen konnte, wie es auf der Feier nicht angemessen gewesen wäre.«
»Also an den Kuss und das was danach kam, kann ich mich mehr als deutlich erinnern.«, wurde May leicht rot: »Jaque, woher kommt das Paket?« »Daneen hat es heute Morgen dort hin transportieren lassen.« »Seltsam.« »Fragen wir nach. May an Daneen. Was ist das für ein komisches Paket?« Nim konnte nur sehen, wie die Augen von May parallel zu den Augenbrauen wippten, als die Worte in ihren Kopf wanderten. »Nein, hat er nicht. – Ist ja typisch. – Mache ich.«
»Und?«, war Nim jetzt mindestens genauso neugierig wie besagte Kinder am Weihnachtstag. »Das ist schräg. Das ist ein Hochzeitsgeschenk von Mergy.« »Wir haben doch gar nicht geheiratet. Haben wir doch nicht, oder?«, war Nim jetzt verwirrt. May lachte los und brauchte einige Momente: »Ich kann mich nicht daran erinnern, aber wir sollen das Geschenk übergeben. Sadi und Honk haben geheiratet und Sophie wurde getauft.« »Das erklärt dann auch das zweifarbige Papier. Hochzeitsweiß und Mädchenpink.«, merkte Nim an.
»Frau Merninger, sie haben es Faustdick hinter den Ohren.« »Oh, ich denke da sind wir gar nicht so unterschiedlich, Herr Merninger.«, lachte Anja und kuschelte sich halb auf ihm liegend an ihrem Mann. »Darum passen wir so gut zusammen.« Mergy legte seine Arme auf ihren Rücken und begann sanft darüber zu streichen. »Eine Menge Leute sind da wohl anderer Meinung.« Anja hob weder den Kopf, noch machte sie eine andere Bewegung, während sie die Worte aussprach. »Ich hatte meiner Frau doch verboten diesen Schund zu lesen.«, kniff Mergy sanft in ihren Hintern. Anja hob ihren Kopf von seiner Brust und sah ihn direkt an: »Die Auslage beim Bäcker war nicht zu übersehen.« »Die sind nur sauer, weil sie keine Bilder von der Hochzeit bekommen. Ich habe die Frau und die Familie, die ich immer wollte und bin glücklich. Was andere denken oder erfinden ist mir egal.« Mergy's Kopf schnellte nach oben und küste seine Frau auf die Stirn.
»Hey, Herzlichen Glückwunsch ihr drei.«, begrüßten May und Nim, die Frischvermählten und das Kleinkind. Nach einer Umarmung überreichte May die Schachtel und erklärte die sei von Mergy. Sadi erzählte, sie hätten Mergy gefragt ob sie sich den Pfarrer nach der Zeremonie »ausleihen« dürften. Er hatte, sofern dieser keine Einwände hätte, nichts dagegen, forderte aber einen anderen Ort für ihre Hochzeit. Der Mond würde an diesem besonderen Tag nur seiner Familie gehören.
Das verstanden die Beiden und hatten ihren eigenen romantischen Tag im kleinen Rahmen am Strand in Sor's Holoraum. Die Schachtel enthielt einen Datenträger und ein Fotoalbum, in dem die Bilder der Feierlichkeiten festgehalten waren. Daneen hatte die heimlich gemachten Aufnahmen in Mergy's Auftrag zusammengestellt und einen Film zusammen geschnitten. May und Nim hatten von Jaque eine kleine Badeente replizieren lassen, um selbst nicht ganz ohne Geschenk dazustehen. Das gelbe Tier war bereits nach Sekunden im Würgegriff des kleinen Mädchens.
»Und wann seid ihr dran?«, lachte Sadi. May war sprachlos. Darüber hatte sie noch nie wirklich nachgedacht. Nicht einmal als Nim sie vorhin unsicher gefragte hatte, ob sie geheiratet hätten. Nim heiraten? Eine Familie mit ihm gründen? Was würden ihre Eltern, speziell ihr Vater wohl dazu sagen? »Ich denke ich bin noch nicht bereit für's Heiraten.«, war es Nim, der May aus der Bredouille half: »Und wo es gerade mit ihrem Vater gut läuft, will ich nicht gleich wieder mein Leben aufs Spiel setzen.« May lächelte nur zustimmend.
»Schau, der Zwerg hat schon Bekanntschaften geschlossen.«, fand Mergy den ihnen zugeteilten Mittagstisch im großen Speisesaal als erster. Daniela saß mit zwei anderen Paaren an einem angemessen dimensionierten Tisch und erzählte. »Ich hoffe sie ist ihnen nicht auf die Nerven gegangen.«, schob Anja nach der Begrüßung gleich eine angedeutete Entschuldigung entgegen. »Ach, woher? Jetzt wo wir sie sehen, ergibt fast alles, was sie uns erzählt hat, sogar einen Sinn. Nur das mit dem Abonnieren verstehe ich anscheinend nicht richtig.« Anja und Thomas setzten sich und lachten laut auf. Sie fragten sich schon lange woher sie das Wort »Abonnieren« überhaupt kannte, welches sie regelmäßig für »Adoptieren« benutzte.
»Das war nett.« »Fand ich auch. Die sind wirklich schon eine richtige kleine Familie.« »Bist du sauer?« »Sauer?« May war verwundert. Das passte jetzt gar nicht in den Kontext. »Naja, weil ich die Sache mit der Hochzeit so abgewiegelt und auch noch deinen Vater vorgeschoben habe.« May stoppte und drehte ihren Freund in Position: »Es war süß von dir unseren Altersunterschied zu überspielen. Ich weiss nicht wann ich bereit bin zu Heiraten, aber bisher bist du meine erste und einzige Wahl.« Nach einem, für einen Fahrstuhl viel zu heftigem, Geküsse trennten sich ihre Wege vorerst wieder, denn die Pflichten riefen und sie waren mehr als nur etwas spät dran.
»Was willst du mit der Lupe und dem Fernglas?«, stellte May unverfroren eine Frage, die sich die anderen Kommander am Tisch wohl schon länger still und in Gedanken fragten. Mergy grinste nur auf seine unvergleichlich süffisante Art: »Das werdet ihr schon sehen!« »Sorry, kleinerer Notfall.«, prustete der Doc, der sich anscheinend alle Mühe gegeben hatte die verlorene Zeit in den wenigen zu laufenden Metern zwischen Krankenstation und Kommandodeck wieder aufzuholen.
»Was ernstes?«, fragte Trish gerade heraus. »Nein. Tennisunfall. Komplizierter Armbruch. Den wollte ich Jiyai noch nicht alleine überlassen.« Seit einigen Tagen schon war Sandra nicht auf der Station. Sie hatte sich einige Zeit frei genommen und erkundete die blaue Welt zu ihren Füßen. Neben solchen kleineren Unfällen gab es sowieso meist nichts zu tun und vieles davon konnte Jiyai schon selbst übernehmen. »Gut fangen wir an. Die Seem haben uns eine Warnung geschickt. Sie befürchten die Draken könnten einen Großangriff auf die Erde planen.«, startete Sab die verspätete Sitzung.
Mergy, der gerade mit der Lupe vor dem Fernglas über das Kommandodeck hinweg zum Fenster hinaus sah, stellte schlagartig seine kindische Spielerei ein und ließ seine Spielzeuge dabei unsanft und lautstark auf dem Tisch aufschlagen: »Wie kommen sie darauf?« »Die Draken weichen aktiv Kämpfen aus und die Seem haben mehrere Flotten von jeweils über 200 Schiffen ausfindig gemacht, die sich an verschiedenen Orten sammeln.« »Das macht Sinn. Es hilft ihnen nichts die Seem oder ein anderes Volk anzugreifen, weil sie nie genau wissen, ob wir sie daran hindern werden. Uns zu vernichten ist der einzige Weg für die Draken, zumindestens in unserer Gegend, wieder das alte Machtgefüge herzustellen.«, musste auch Trish der Analyse der Seem zustimmen. »Was machen wir? Sollen wir sie angreifen?«, schlug Sab wie immer den direkten Weg ein, um das Problem zu lösen.
»Wir wissen nicht was sie vor haben. Wenn wir sie ohne Grund angreifen sind wir auch nicht besser als die Draken.«, warf das Stationsgewissen ein. »Das finde ich auch.«, stimmte May zu: »Wir sollten die Mystery kontaktieren und sie warnen.« »Die sollten sowieso wachsam sein.«, gab Sab zu verstehen. »Ich mein ja nur. Bisher waren die Draken sehr zurückhaltend und der Dienst da draußen mehr langweilig. Das führt zu Nachlässigkeit.« »Guter Punkt. Ich werde sie nachher über die Lage informieren.«, erklärte Trish. »Was haben wir sonst noch?«, setzte Sab die lockere Sitzung fort. »Ich würde gerne noch einen Test mit dem Joluh-Scanner durchführen.«, war es Tin, die normalerweise zu den Stationsaufgaben und Alltagsproblemen sehr wenig beizutragen hatte, wenn es nicht um Fehlfunktionen oder Erweiterungen der Technik ging.
»Yes!«, triumphierte Mergy und griff sich erneut Fernglas und Lupe: »Ich bin bereit.« »Du bist fies!«, verstand May jetzt warum Mergy die Spielzeuge dabei hatte und auch die Anderen schmunzelten deutlich sichtbar. »Ich gebe es ja zu. Die ersten Versuche waren nicht wirklich erfolgreich, aber andere Dinge wie Waffenforschung und die Sicherheit des Personals haben eben Vorrang.«, erklärte Tin ohne auch nur einen Hauch von Ärger oder Wut auf Mergy in ihrer Stimme. Die letzten Versuche waren wirklich eine Katastrophe gewesen. May hatte den Einwand erhoben, so ein Scanner würde die Privatsphäre von Menschen untergraben und ein Test sollte nur unter Aufsicht und mit Erlaubnis der Beteiligten stattfinden. Zuerst verstanden die anderen Mitglieder nicht so recht was der junge Kommander damit bezweckte, aber als May fragte ob alle damit einverstanden wären, wenn Trish ihre Augen immer zum Erkennen von Lügen einsetzen würde, änderten sie plötzlich ihre Meinung.
Trish selbst war nicht weniger erstaunt, hatte sie doch nie auch nur an die Möglichkeit gedacht mit ihren Thermosensoren etwaige Lügen ihrer Mitmenschen zu enttarnen. May konnte da aus eigener Erfahrung berichten. Sie hatte lange Zeit ihr Geheimnis gewahrt. Nicht weil sie ihren Freunden nicht traute, sondern weil sie selbst damit klar kommen musste. Es war ihr Körper und ihre Privatsache. Ein Argument, dem auch der Doc nicht widersprechen konnte. So beschloss das Team die Tests nur auf Ansage hin zu machen. Die letzten drei Male bestand aber keine Gefahr für auch nur eine einzige Privatsphäre. Zweimal hatten die Sensoren Joluh mitten im All aufgespürt und einmal unter dem Konferenztisch. Das erklärte auch die Lupe und das Fernglas. Mergy erwartete wieder ein lustiges »Wo versteckt sich der Joluh?»-Spiel.
»Ich bin bereit.«, winkte Mergy mit den Instrumenten des Hohns, die Tin aber ignorierte. »Bevor wir den Scanner starten und Mergy glücklich machen, würde ich gerne noch einen Scan von May machen, um die Systeme zu kalibrieren. Wenn es dir recht ist?« »Klar.«, antwortete May schlicht. »Gut, ich hab das Hologrammsystem des Tisches aktiviert. Wenn es klappt müssten wir deine Fähigkeiten genau wie die Seem sehen können.«, ließ Tin ihren Joker fallen. »Wir können es sehen?«, fragte Trish erstaunt. »Die Seem haben angedeutet das Joluh sehen zu können. Ich habe ihre Augen analysiert und meine Sensoren auf das Spektrum kalibriert. Vielleicht klappt es auch nicht. Wäre ja nicht das erste Mal.«
»Ich starte den Scan.« Alle Augen waren auf May gerichtet, während Tin selbst auf dem kleinen Terminal tippte und Werte einstellte. »Wow!«, war Trish die erste Person am Tisch, die reagierte. Ein kleiner weißer Punkt war aus Mays Arm aufgestiegen und in einem Bogen wieder in ihrem Körper verschwunden. Immer wieder traten diese kleinen Punkte an verschiedenen Stellen von Mays Körper aus und verschwanden wieder. »Du nutzt das Joluh immer noch für dein Gleichgewicht, oder?«, brachte der Doc sein Wissen ein. May nickte. »Versuch mal Sabs Tasse schweben zu lassen.«, wies Tin an. May hob die Hand, obwohl das eigentlich für den Trick nicht nötig war. Sie verband die Haut ihrer Finger mit der Luft. Ein heller Strahl mit Streifen verschiedener Helligkeit zog sich leicht umwirbelnd, wie die Haare eines Zopfes, aus der Hand Richtung Tasse, während unzählige kleine Punkte dem vorgegebenen Pfad zu folgen schienen. Sie ritten förmlich den Linien aus Licht in beide Richtungen entlang.
»Es ist etwas langsam.«, merkte May an, weil es etwas dauerte, bis sie das was sie fühlte auch als Hologramm sehen konnte. »Die Sensorsysteme brauchen etwa 500 Millisekunden zur Berechnung und dann kommt noch das Hologitter und das eigentliche Rendern der Einheit dazu.«, erklärte Tin. Die Tasse schwebte buchstäblich am ausgestreckten Arm. »Beeindruckend.«, merkte sogar Mergy an, der seine Spielzeuge bei dem Anblick komplett vergaß. Schlagartig wurde der Raum weiß. Als wäre er mit dichtem leuchtendem Nebel gefüllt. »Was ist los? Ich sehe nichts mehr!«, hörte man Sab wenig amüsiert. Dann war der Dunst genauso schnell wieder verschwunden, wie er erschienen war.
»Was war das denn?«, fragte Tin erstaunt und glaubte an eine Fehlfunktion ihres Prototypen. »Tut mir leid. Das war mein Rundumblick.«, blickte May verlegen drein, während die anderen sie erstaunt und nicht minder beeindruckt ansahen: »Ich dachte ich probier einmal was dabei passiert.« »Dabei kannst du noch etwas sehen? Das war ja schon nicht einmal mehr Nebel.«, fragte Trish erstaunt. »Ich sehe ja nicht den Strahl, sondern nur den Punkt auf dem er auftrifft. Ein Strahl ist es genau genommen ja auch nicht wirklich. Es ist nur Luft und Luftdruck.«, erklärte May bereitwillig. »Das war toll. Ich hab die Sensoren entsprechend kalibriert. Ich hoffe ich kann Mergy dieses Mal enttäuschen.«, lachte Tin. Sie war sichtlich froh über den Erfolg mit ihrem Scan in kleinem Maßstab und auch der Tatsache, dass die Visualisierung weitere Details von Mays Kräften enthüllt hatte.
»Ich starte einen stationsweiten Scan.« Tin war angespannt. Dann erschienen die ersten Daten auf ihrem kleinen Display. »Ich erfasse drei Signale.« Über dem Tisch erschien das Hologramm einer schematischen Darstellung der Station, welches Tin schon die letzten Male zur Anzeige der Funde genutzt hatte. »May im Kommandoraum. Das ist Reiko im Dragon Fly, aber wer ist da im Sors?« Sab, nun selbst mehr als nur neugierig, forderte die Videoüberwachung des Lokals an. Es waren über 40 Leute beim Essen, Reden oder Spielen in dem Etablissement. »Kannst du den Scan, perspektivisch anpassen und über das Bild legen?«, fragte der Stationsparanoiker. Tin erfüllte den Wunsch von Sab. Eine mehr oder weniger ausgefranste Ellipse zeichnete sich transparent um einen Tisch ab. »Genauer arbeiten die Standardscanner nicht. Die Sensoren auf dem Kommandodeck habe ich heute morgen speziell für den heutigen Test gegen Prototypen ausgetauscht.«, erklärte Tin.
An dem besagten Tisch konnte man Suki und Tori beim Essen und Reden sehen. Immer wieder berührten sich die unbenutzten Hände der Liebenden und umspielten ihre Finger. »Also einer von beiden ist auch ein Joluh?«, fragte May unsicher. »Ja, vielleicht auch beide.«, erwiderte Tin. »Das finden wir raus.«, war Sab voller Tatendrang. Noch bevor jemand nach dem »Wie« fragen konnte, öffnete sie einen Kanal: »Suki! Sofort auf dem Kommandodeck melden!« Mit einem Schmunzeln sah May den Schrecken, den die Stimme in Sukis Kopf erzeugte. Das konnte sie sehr gut nachvollziehen. Suki gab Tori noch einen Kuss und spurtete los. »Das Signal ist unverändert.«, merkte Tin an. »Sab an Suki. Hat sich erledigt. Tut mir leid!«
»Das war grober Missbrauch einer fiesen Stimme.«, maulte May spielerisch. »Aber effizient.«, musste Trish zustimmen. »Ich mag es zu sehen, wie sie reagiert.«, lächelte Sab leicht verlegen und May prustete vor lachen: »Kann ich verstehen.« »Könnten wir uns jetzt wieder dem Ernst der Lage zuwenden? Wir hatten schon einmal ein Joluh Problem, bei dem beinahe Leute gestorben wären. Das darf sich nicht wiederholen.«, war Mergy ernst. Von dem lustigen Kerl mit Fernglas war nichts mehr übrig. »Ich mache das.«, eröffnete May ihren noch ganz frischen Plan: »Sab nimmt Tori aus dem Dienstplan und ich fliege mit ihm an einen ruhigen Platz, wo wir seine Kräfte aktivieren und kontrollieren. Das hab ich mir meiner Mutter auch so ähnlich gemacht.« Sab stimmte zu und auch die anderen fanden es deutlich beruhigender ihn nicht auf der Station zu haben, solange sich seine Fähigkeit jederzeit unkontrolliert entladen könnte.
May ließ Jaque ein drei mal vier Meter großes Floss bauen, welches zum Einen zusammengeklappt in einen Manta passen musste und zum Anderen mit Teppich bespannt sein sollte. Wegen der Bequemlichkeit. Da Tori sowieso gleich seine Schicht starten sollte, ließ orderte May ihn durch Jaque einfach in Hangar 3, um ihn von Suki zu trennen. May hatte gerade das wuchtige Holzgebilde von der Luft getragen in den Manta geschoben, als der potentielle Joluh–Neuling eintraf. »Hallo, wo ist mein Manta?«, fragte Tori erstaunt. »Das hier ist er. Wir haben eine kleine Sondermission. Steig ein, wir sind bereits abflugbereit.«
Der Kommander steuerte den Manta und Tori stellte keine weiteren Fragen. May war Kommander und wusste schließlich, wo es hin gehen sollte und was zu tun war. Sie würde es ihm schon die Details mitteilen, sobald sie wichtig würden. Mitten auf dem Meer stoppte sie schließlich und prüfte die Sensoren. Es war angenehm warm und das Wasser war fast eben. Kleinere Wellen von ein paar Zentimetern, die von der leichten Briese angetrieben wurden, waren alles, was es ringsum zu sehen gab. May senkte den Manta fast auf Meereshöhe und öffnete die Heckklappe. Sie hob ihre Arme und das undefinierbare, billig aussehende Holzgebilde rumpelte aus dem Schiff, klappte auseinander und klatschte unsanft auf das Wasser.
Tori sah nur fragend und mit erhobenen Augenbrauen aus dem Schott. »Und jetzt umsteigen.«, forderte May auf. »Da drauf?«, fragte Tori. Es war ihm sichtlich unwohl dabei das sichere Fluggefährt gegen ein paar Holzplanken zu tauschen, die knapp 20 Zentimeter über dem Wasser dümpelten. »Ja, da hinüber.«, wiederholte May und hüpfte aus dem Schiff. Tori folgte was ihm deutlich leichter viel, obwohl May einfach wieder in den Flieger zurück schweben konnte, wie ihm viel zu spät einfiel. Erleichtert nahm er die doch vorhandene Ernsthaftigkeit auf, denn May machte keine Anstalten zu verschwinden. Es war anscheinend kein Scherz oder schlechter Witz.
Der Manta verschwand unter seiner Tarnung. Tori konnte nicht sagen, ob er bereits weggeflogen war oder hoch über ihnen kreiste. Bis auf eine kleine Tasche, die May über der Schulter trug, waren sie ohne jegliche Ausrüstung auf dem Floss ausgesetzt. »Setz dich.« Tori folgte den Anweisungen. Was sollte er auch anderes machen? »Tin hat einen Scanner gebaut, mit dem man Personen mit Superkräften finden kann.«, begann May die Erklärung, ohne ihn mit Fachbegriffen wie Joluh zu verwirren: »Und wir haben außer meiner Mutter und mich noch jemanden auf der Station gefunden.« »Echt? Wen?« May lachte laut auf und blickte sich um, als würde sie jemanden suchen oder auf sein Eintreffen warten. Nach einigen Sekunden flüsterte sie leise: »Was denkst du?«
Es dämmerte Tori: »Ich? – Hah! – Nein! – Niemals! Das wüsste ich doch wohl!« »Naja, wir sind uns auch nicht wirklich sicher. Meine Mutter hat mal versehentlich den Stationskern aus den Verankerungen gerissen und wir würden gerne eine Wiederholung vermeiden. Genau darum sind wir hier draußen, wo du nichts kaputt machen kannst.« »Und wie funktioniert das?« »Das kann ich dir nicht genau sagen. Laut den Seem gibt es vier Kräfte. Feuer, Wasser, Wind und Erde. Naja, die Namen sind mehr ein Richtungsweiser. Ich kann mit meiner Kraft auch Dinge bewegen, fliegen, im Dunkeln sehen und hab einen Rundumblick.« »Cool.« Mehr brachte Tori nicht heraus. Diese Details kannte er von Mays Fähigkeiten noch gar nicht. »Bereit herauszufinden was für Kräfte du hast?« Tori nickte zögerlich. Er war hellwach und malte sich bereits die tollsten Dinge aus. »Eins noch vorweg. Diese Macht ist kein Spielzeug. Wir sind dadurch nicht besser als andere Menschen.« »Großer Macht entspringt große Verantwortung.« May hob erstaunt über diese wirklich weise Aussage fragend die Augenbrauen. Tori verstand ihren Blick sofort: »Spider-Man Band 1« May kicherte kurz: »Da haben die Comics bei dir ja wirklich mal ihren Sinn gehabt.«
»Ok, schließe deine Augen und konzentriere dich auf eine deiner Hände. Konzentriere dich auf die Haut. Spüre wie die Luft die Haut berührt und versuche mit dem Gefühl in die Luft hinüber zu springen.« Tori versuchte es einige Minuten, aber ohne Erfolg, wie May durch ihre Fähigkeit prüfen konnte. »Ich hab keine Superkräfte.«, bekräftigte Tori erneut. May nahm eine Tasse aus dem Beutel und schöpfte etwas Wasser aus dem Meer. »Genau wie gerade. Halte einen Finger hinein und versuche mit dem Gefühl auf das Wasser zu springen.« Die Minuten verronnen, aber es passierte nichts. Sie öffnete eine Tüte und ließ Sand, den sie aus einem Blumentopf ihrer Eltern gemopst hatte, in die bereits geleerte Tasse rieseln. Tori wiederholte die bekannte Prozedur nun mit den Fingern in der Erde. Erfolglos. Naja. abgesehen davon das die feuchte Erde an seinen Fingern klebte, die er nun mit einer schnellen Bewegung im Meer reinigte.
»Jetzt wird es gefährlich. Das wollte ich eigentlich vermeiden.«, brummelte May und zündete eine rote Kerze an, die sie im Sand der Tasse zwischen ihnen fixierte. Der leichte Wind ließ das Licht flackern und fast erlöschen. May stellte den eindringenden Wind mit ihren Kräften ab. Jetzt war es windstill und das Licht schwankte nur noch gegen die schwankenden Bewegungen des flachen Schwimmkörpers. Unsicher hob Tori seine Augenbrauen zu einem fragenden Blick: »Muss ich da jetzt auch meine Hand hereinstecken?« »Ich habe keine Ahnung. Vielleicht reicht es die Wärme zu spüren. Ich brauche ja auch nur Luft und keinen Wind.« Tori schob seinen Finger rechts neben die Flamme und schloss die Augen. Wenige Augenblicke später schoss eine mehrere Meter lange Stichflamme nach links weg, als hätte er mit einer Dose Haarspray in die Flamme gesprüht.
Erschrocken fiel Tori nach hinten und krabbelte von der Kerze weg. »Ist dir etwas passiert?« »Nein, alles gut. Feuer kann ich abwehren. Ohne Luft kein Feuer.«, kommentierte May: »Du kontrollierst also Feuer.« »Darf ich nochmal?«, fragte Tori unsicher, als ob er von seinen Eltern die Erlaubnis bekommen hätte eine Kerze anzuzünden. »Darum sind wir hier. Du musst deine Kräfte kennenlernen.« Tori versuchte es erneut. Diesmal ohne die Augen zu schließen. Die Kerze pulsierte mit einem Wup-Wup bevor sie erlosch und dunkler Rauch aufstieg. May wollte die Kerze wieder anzünden, aber Tori lehnte ab und zog seinen Arm zurück, während er sich wieder aufrecht hinsetzte. May beobachtete ihn nur. Dann verschwand Tori hinter einer Feuersäule, die von der Kerze aufstieg und wie bei einem Feuerspucker in der Luft kugelförmig verpuffte.
»Was macht deine Freundin mit meinem Freund auf einem Floss?«, war Suki sauer, während Nim keine Ahnung hatte wovon sie da redete: »Sie sind wo?« »Auf einem Floss! Romantisches Treffen auf dem Wasser. Die dachten wohl dort bemerkt sie keiner.«, setzte sich Suki ungefragt an seinen Tisch. Nim lachte laut auf: »Das glaubst du doch selbst nicht.« »Ich brauche es nicht zu glauben. Nibbler hat Sensordaten!« »Das ist lächerlich.« »Es macht dir nichts aus?« »Wenn es wahr wäre, dann schon. Aber ich vertraue May und du solltest Tori ebenfalls vertrauen.« »Das ist doch eindeutig.« Suki war außer sich und wütend. Wie konnte May ihr das nur antun?
»Also May hatte damals schon Gewissensbisse nur weil sie mir ihre Kräfte verheimlicht hat. So etwas würde sie nie tun. Sie ist deine beste Freundin. Traust du ihr das zu? Du solltest ihr schon ein wenig Vertrauen entgegen bringen und was Tori betrifft: Vertrauen der wichtigste Grundpfeiler in einer guten Beziehung.«, blieb Nim ruhig und gelassen: »Eifersucht ist jedenfalls pures Gift für jede Partnerschaft. Zumindest in der Dosis, die du hier gerade versprühst. Wenn du ihn genauso ankeifst, wie mich gerade, dann kannst du auch gleich mit ihm Schluss machen. Es gibt mit Sicherheit eine einfache Erklärung für das Ganze.« Grunzend und schnaubend warf Suki den Stuhl beim Hochspringen um und rannte aus dem Sors.
»Ich kann die Temperaturen um mich herum spüren.« Tori sah sich hastig um. Dann schaute er seltsam irritiert zu May hinüber: »Bist du das?« May schaltete. Er hatte seine Variante der Zuckergusswelt gefunden, die bei ihm wohl aus Wärmeinformationen bestand. Sie winkte mit beiden Händen, obwohl sie wieder einmal von sich selbst enttäuscht war. Was hatte sie damals lange gebraucht, um diese Welt mit offenen Augen betrachten zu können und sowohl Tori, als auch ihre Mutter konnten es sofort. »Ich komme nicht wieder raus.«, wurde Tori hektisch.
»Einfach die Verbindung zwischen Haut und Wärme abstellen.«, formulierte May die mit den neuen Fakten angereicherten Erklärungen. »Das war seltsam.« »Ja, das kenne ich. Es ist aber auch ungemein praktisch.« »Ob ich auch fliegen kann?« »Holla. Eins nach dem Anderen. Erstmal solltest du lernen niemanden versehentlich zu verletzen.« »Das passiert nicht. Versprochen.« »Das kannst du nicht versprechen. Ich bin einmal schwebend neben meinem Bett aufgewacht. Was passiert, wenn du im Schlaf das Bett anzündest und Suki neben dir liegt?«
Schlagartig war die Euphorie über die neue Fähigkeit verschwunden. An diese Konsequenzen hatte er überhaupt noch nicht gedacht. »Gab es in deiner Familie Ereignisse mit Feuer?« Tori überlegte. »Großvater Gregory. Er ist in seinem Lehnsessel verbrannt. Die Feuerwehr meinte damals er hätte wohl seine Zigarette im Schlaf fallen lassen, aber er hat überhaupt nicht geraucht.« »Er wusste wohl auch nichts von seinen Fähigkeiten.«, merkte May an: »Die Plattform kann hier im Wasser bleiben. Zum Üben ist es hier ideal. Ich lasse dich in den nächsten Tagen von der Einsatzliste nehmen, damit du hier üben kannst. Keine Feuerübungen auf der Station! Verstanden?« Tori nickte. Eines war ihm klar geworden. Es war toll eine Superkraft zu haben, aber jemanden, oder gar Suki, versehentlich zu verletzen wäre fürchterlich. »Ich fliege zur Station zurück und schicke dir einen Gleiter.« May verschwand im Lichtwirbel und ließ Tori zurück, der sich gleich wieder an seinen Fähigkeiten versuchte.
Als May sich wenig später in Sors Lokal den Tisch ihres Freundes setzte, zündete dieser gleich die vermeintliche Bombe: »Du hattest also ein romantisches Date mit Tori auf einem Floss, ja?« Mays Augen wurden groß. Sie hätte nie gedacht so schnell mit dem kleinen Treffen konfrontiert zu werden. »Ja, genau. Wir hatten sogar eine Kerze dabei.«, spielte sie dennoch lässig mit. »Suki hat hier jedenfalls den Laden zusammengebrüllt.« »Wer weiß den alles davon?«, war May nun noch unsicherer als zuvor. »Nach Sukis Wutausbruch?«, Nim legte eine kurze Pause ein und schaute sich demonstrativ um: »Alle würde ich sagen.«
May atmete laut schnaubend aus: »Mist.« »Muss ich mir jetzt Gedanken machen?«, stellte Nim erstmals eine Frage, die, obwohl er seiner Freundin vertraute, innerlich an ihm nagte. May pustete die letzte Luft aus ihren Lungen: »Wegen Tori? Nein! Niemals! Auf keinen Fall!« Still sahen sich beide einen Moment an. »Du bist doch nicht etwa eifersüchtig, oder?« Nim schluckte. Jetzt war er derjenige, der den Dämon der Eifersucht auf den Tisch geworfen hatte. Er versuchte lässig zu bleiben, was ihm aber nicht ganz gelang. »Ich vertraue dir.«, brachte er noch sauber heraus: »Aber du und Tori? Ein bisschen vielleicht.«
»Es gibt keinen Grund.«, lächelte May ihm mit ihrem süßesten Lächeln zu. Diesem Lächeln konnte er nicht widerstehen. Zu oft hatte May diesen Umstand schon bemerkt. »Ich liebe dich. Egal welche Gerüchte umgehen. Ok?« »Ok!«, lächelte Nim zurück: »Aber du willst mir auch nicht sagen was da passiert ist, oder?« »Das ist vorerst Geheimsache. Nur das Kommando weiß Bescheid. Naja, sollte Bescheid wissen. Ich bin ja gleich meiner Ankunft zu dir gekommen. Ich sollte mich da oben wieder mal blicken lassen. Alles gut?« Nim nickte. May erhob sich und drückte ihm einen Kuss auf, der auch dem Letzten im Lokal deutlich zeigte was Sache war und verschwand auf die Promenade. Nim schaute ihr hinterher, bis sich die Türen des Liftes hinter ihr schlossen.
»Und?«, fragte Mergy direkt, als May den Lift oben im Turm verließ. Der kleine Kommander vergewisserte sich das niemand außer dem Kommandopersonal auf dem Deck war: »Er beherrscht das Feuer. Wir sollten ihn aus dem Dienstplan nehmen, damit er seine Fähigkeit zu beherrschen lernt.« »Wird erledigt.«, warf Sab kommentarlos zurück. »Seine Fähigkeiten sind auf der Station tabu. Das hab ich ihm jedenfalls klar gemacht.«, erläuterte May weiter: »Außerdem sollten wir die Brandbekämpfung in seinem Quartier deutlich ausbauen.«
»Nichts gegen zusätzliche Sicherheit, aber ist das nötig? Können wir ihm nicht trauen?«, mischte sich nun auch Trish in die Unterhaltung ein. May saß bereits auf dem Stuhl vor der Waffenkonsole und drehte mit festem Schwung sich in Richtung Trish: »Mit Vertrauen hat das nichts zu tun. Ich bin damals schlafend im Zimmer geschwebt. Bei Feuer ist das nicht so lustig und bestimmt schmerzhafter als beim Aufwachen auf die Bettkante zu krachen.« »Du bist also ein Schlafschweber?«, war Mergys Neugier, genauso wie seine Fähigkeit Dingen einen blöden Namen zu geben, aktiviert.
»Ist nur zweimal passiert und schon Jahre her.« »May an Tin. Kannst du die Brandbekämpfungssysteme in Toris und Sukis Quartier aufmöbeln? Das sollte möglichst gleich passieren.« May stupste den Stuhl erneut an und rotierte noch einige Male um die eigene Achse, während sie Tin zuhörte: »Alles klar.« »Also ist etwas dran an diesem "Kraft der vier Elemente" Zeugs von dem die Seem berichtet haben?« »Ja, aber es ist mehr eine grobe Umschreibung. Ich kann ja mehr als Luft kontrollieren und Tori wohl auch mehr als nur Dinge in Brand zu stecken. Darum ist er noch auf dem Floss und experimentiert herum.«, erklärte May: »Oh, fast vergessen. Jaque schick Tori einen Gleiter.« »Wird erledigt Kommander.«
Jiyai steuerte ihren Flieger durch die farbigen Tore. Seit Wochen versuchten sie sich nun schon in jeder freien Minute an der Kunstflugstrecke. Die Säule mit den Anzeigen und die kleinen Plattformen, die holographische Durchflugmarkierungen ins All projizierten, waren nicht die einzigen Hindernisse. Zu viert oder zu fünft saßen die Kadetten in dem kleinen Gleiter, den Sab nur unter Murren und auf mehrfache Bitte von May für die kleine Gruppe herausgerückt hatte.
Der Kurs war schon länger im All aufgebaut und bot den Piloten vor und nach dem Einsatz auf der Erde eine Möglichkeit sich zu beweisen. Zwölf Namen standen auf der Liste, aber nur die ersten beiden waren wirklich fix. Immer wieder rutschten die anderen Piloten Plätze nach unten. Nur die ersten zwei Plätze waren seit dem ersten Tag fest in der Hand von May und Mergy, oder MAY und MGY, wie es die Tafel neben den Zeitinformationen anzeigte. Der Kampfgleiter der Jünglinge war klar im Nachteil. Im Gegensatz zu den anderen Piloten waren sie nie alleine unterwegs. Das brachte zusätzliche Nervosität und Unruhe in die zu lösende Aufgabe. Vom zusätzlichen Gewicht durch die Passagiere ganz zu schweigen. Die Tatsache nach jedem Flug in der engen Kabine die Plätze tauschen und sich dann zu allem Überfluss noch hinten an die Schlange der anderen Piloten hängen zu müssen nervte zusätzlich.
Die kleine Gruppe war froh, wenn mal kein Pilot wartete und sie Zeit hatten während der Schichten diese ruhige Phase zu nutzen. Jiyai wendete mehrfach hart, um trotz der Geschwindigkeit in der geforderten Fluglage durch die Tore zu kommen. Es war strickt vorgegeben wie zu fliegen war. Nicht nur die Flugbahn, sondern auch die exakte vertikale und horizontale Ausrichtung beim Durchflug durch die blauen und roten Hindernisse, die meist nur wenig Platz für Fehler ließen, entschied zwischen Sieg und Niederlage. Nur mit zwei schnellen und gültigen Runden konnten sie es auf die Säule der Helden, wie die anderen Piloten den Turm getauft hatte, schaffen.
Jiyai drückte das Pedal noch einmal voll durch und schoss über die letzte unsichtbare Linie: »Ich glaube beim zweiten Mal habe ich an Tor drei ordentlich was verloren. Welcher Platz?« Sorgsam konzentrierte sie sich auf den Flug und das Anstellen an die schon wieder anwachsende Schlange am Start. Eine Antwort bekam sie keine. Als der Gleiter vor der Startlinie zum Stillstand gekommen war, blickte sie von unten nach oben über die Säule, in der Hoffnung ihren Namen zu lesen. Aber am MGY angekommen, wich ihr Optimismus wieder purer Ernüchterung. »Wer ist jetzt dran? Shizuka glaube ich, oder?« Sie blickte zur Seite.
Meena schaute sie seltsam an und ein Blick nach hinten zu Shizuka brachte ein ähnliches Gesicht hervor. Song-Hee hinter sich konnte sie nicht sehen, aber von ihr kam ebenfalls keine Antwort. »Was ist los? Habt ihr keine Lust mehr?« »Hast du deine Zeit nicht gesehen?«, brachte Shizuka in einer Tonlage hervor, die mehr ehrfürchtig als fragend war. »Ich bin nicht auf der Tafel. Mehr muss ich nicht wissen.«, blieb Jiyai ruhig und verstand nicht so recht wieso ihre Kollegen so seltsam reagierten.
»Nicht auf der Tafel? Du hast Mergy geschlagen!«, brachte Meena es auf den Punkt. »Und wie nah du an May dran bist!«, hauchte Shizuka hinterher. »Was?« Jiyai blickte erneut aus dem Fenster. Dieses Mal konzentrierte sie sich nur auf die oberen Einträge der Heldenwand. Direkt unter dem »MAY« prangte ein »JIY« und die Zeitinformation deutete an, was Meena meinte. Sie lag nur 245 tausendstel hinter May und weit über drei Sekunden vor Mergy. Erschrocken starrte sie weiter auf die Tafel.
Aber sie änderte sich nicht. Die Zeit war gültig. »Ich war besser als Mergy!«, hauchte sie das Unfassbare noch immer ungläubig mit den Augen fixiert, hinaus. »Wie hast du das gemacht?«, fischte Shizuka direkt nach einer für ihren Flug hilfreichen Information. »Ich weiß nicht. Ich hab nur die Tore so angeflogen wie May es uns gezeigt hat und mich nur auf die perfekte Linie konzentriert.«, erklärte die Zweitplatzierte über sich selbst verwundert. »Ich bin dran.«, wachte in Shizuka neuer Mut und das wilde Gedränge zwischen den Sitzen begann von Neuem.
Abgesehen von den Piloten, die in der Schlange standen, hatten noch nicht viele Kollegen bemerkt, welche kleine Sensation sich gerade vor der Station abgespielt hatte. Einen Menschen gab es jedoch. Eigentlich hatte Sab mehr beunruhigt ihren Kontrollwahn ausgelebt und die Kadetten im Auge behalten, die sich schon zur frühen Morgenstunde vor der Station austobten, wie sie es immer wieder spöttisch nannte. Den Namen ihrer Ziehtochter vor dem von Mergy zu sehen, erweckte dennoch Stolz in der sonst stets zweifelnden und mürrischen Person.
Sie schwieg als Trish und Tin in den Saal kamen. Auch May wurde nur auf die normale Art begrüßt, aber als Mergy eintraf, fand sie es nur schade, den Doc noch in der Krankenstation zu wissen. Dieses Mal würde es sich für ihn rächen, immer nur pünktlich, aber auf den letzten Drücker einzutreffen, sofern es keinen Notfall gab. »Ah, der drittbeste Pilot der Flotte gibt sich die Ehre.« Sab war laut und deutlich. Mit einem Grinsen, welches Bände sprach setzte sie allen Anwesenden fragende Blicke auf.
»Was denn? Hat noch keiner von euch aus dem Fenster gesehen?« Unsicher bewegten sich die Anwesenden zu den gebogenen Scheiben, die das Kommandodeck halb umschlossen. Der Turm, wie auch die komplette Trainingsanlage waren bereits im Begriff durch die Stationsrotation aus dem Blickfeld zu verschwinden. »Wer ist J-I-Y?«, fragte Mergy laut in den Raum. Ihm gefielen diese kurzen Namen nicht. Er hätte lieber 10-15 Buchstaben gesehen, mit denen man alle Bezeichner im Klartext hätte lesen können, aber dann wäre der filigrane Turm zu einer breiten Wand geworden und würde weitaus mehr Energie benötigen, um die Position zu halten.
»Das ist Jiyai.«, war May nicht weniger stolz ihre Schülerin auf der Tafel zu sehen. Dazu noch in so prominenter Position. Mergy drehte sich fragend um. »Die Zeiten sind echt und noch warm.«, lächelte Sab: »Vielleicht solltest du bei May ein paar Unterrichtsstunden nehmen.« Mehrere Stationen begannen zu piepen und zogen die muntere Unterhaltung zurück in ernstere Bahnen. Stationsweit wurde der automatische Alarm ausgelöst. »Was ist los?« »Keine Ahnung.« »Der Kontakt zu 7 Ikarussatelliten ist abgerissen. Alle befinden sich im gleichen Sektor. Ich prüfe die letzten Sensordaten.« »An alle Piloten im All, sofort zur Station zurückkehren. Shizuka unverzüglich im Frachthangar 2 landen.« »Es ist eine ganze Flotte von Schiffen der Schon-Or.«
»Multiple Unterraumsignaturen. Wir bekommen ungebetenen Besuch.« Mehr als vierzig rote Trichter bohrten sich in den Raum und entließen die schon von der Bauform her bekannten Schiffe, die sofort das Feuer auf die Station eröffneten und die ihnen wohl unbekannte Trainingsanlage zerstörten. »Ich versuche die Schilde anzupassen, aber diese Waffen sind uns weit überlegen. Die haben offensichtlich aufgerüstet. Unsere Verteidigung zeigt kaum Wirkung.«, entfuhr es Tin. »Die Mystery hat bereits schwere Treffer einstecken müssen.« »An alle Gleiter im Stationsraum. Aus den Gefechten heraushalten.« Wieder wurde die Station schwer durchgeschüttelt. Die Piloten, die in den Hangars noch keine Startfreigabe hatten, saßen gebannt in ihren Schiffen. während die anderen darauf warteten, überhaupt erst einmal einen Gleiter zu bekommen, was aufgrund des Platzmangels aber nicht geschah.
»Was ist mit den Raumverbiegern?«, schlug Mergy einen Plan vor. »Das ist zu gefährlich!« »Tod zu sein halte ich für deutlich gefährlicher.«, erwiderte der einzige männliche Kommander des Teams mit Nachdruck und Tin pflichtete ihm bei. Wieder rumpelte die Station. »Schwerer Treffer im Kern. Noch so einer und das war es. Leite Evakuierung ein.« Endlich bekamen die Gleiter Startfreigabe, aber zeitgleich auch die Anweisung sich getarnt aus dem Kampfgebiet zu verdrücken. Medic One koppelte sich ebenfalls ab und verschwand. »Spacebender wird geladen.«, war Tin unter dem Getöse kaum zu verstehen. »Sofort abfeuern, wenn bereit.«, erklärte Mergy. Der Torpedo schoss aus dem Turm auf die feindliche Flotte zu. Die Schon-Or hatten schon unzählige davon ohne Schaden eingesteckt und so machten sie sich nicht einmal die Mühe ihn abzufangen. Die kleine Detonation weitete sich schlagartig aus und die gläserne Welle, die man nur durch die Trümmer der Raumschiffe ausmachen konnte, die sie überrollte und zerbarst, bewegte sich durch die komplette gegnerische Flotte hindurch.
Einem Schiff gelang es noch den Sprungantrieb zu aktivieren, aber dann zerfiel der Vortex zusammen mit dem durch die Biegungen zerbrechenden Schiffes in seine Einzelteile. Der Kampf war schlagartig vorbei. »Kari und Honk. Prüft den Unterraum.« Die beiden Gleiter lösten sich aus der unsichtbaren Flotte, um deren Position nicht zu verraten und öffneten abseits zwei Vortexe. »Das war ja einfacher als befürchtet.«, merkte Mergy an, während Tin die Sensoren prüfte. »Es stecken noch Leute im Lift fest.«, erklärte Trish: »Die Chinesen.«
»Das war so klar.«, muffelte Mergy. »Ich kümmere mich darum.«, bot May ihre Hilfe an und verschwand ohne auf eine Antwort zu warten im Lift. Sie hatte schließlich dank ihrer Kräfte keine Probleme eine steckengebliebene Gondel zu erreichen oder die Personen zu befreien. »Da stimmt etwas nicht.« Trish war sichtlich angespannt und verglich die optischen Aufnahmen des Kampfgebietes mit den Sensordaten. »Oh, musstest du das sagen? Jetzt passiert ganz sicher etwas richtig übles.«, erklärte Mergy frustriert. »Die Trümmer. Sie fliegen nicht wahllos, sondern beschleunigen alle auf einen Fixpunkt zu.«, bestätigte Trish ihren Verdacht. »Oh, nein.«, wurde jetzt Tin noch aktiver als zuvor.
»Das musste ja passieren. Wir haben einen Riss im Raum.«, erklärte Tin. »Das waren die Aliens, nicht wir.« »Das war unser Torpedo.« »Muss ja trotzdem keiner wissen.«, spielte Mergy die Lage herunter, als hätte nur jemand etwas Tapete mit Weltallmuster beschädigt. »Du verstehst nicht.«, wollte Tin ihn gerade auf den Ernst der Lage hinweisen, als Trish sich erneut zu Wort meldete. »Leute. Da ist ein Minivortex.« Sab legte den Punkt im All auf den Schirm. Deutlich konnte man das Rot des Unterraums sehen. Bruchstücke der feindlichen Raumschiffe verschwanden darin. »Geht es nur mir so, oder wird er größer?« »Das versuche ich die ganze Zeit zu erklären. Das Teil saugt alles auf und vergrößert sich immer weiter.«
»Die Trümmer sind doch bald alle weg, dann wird es sich schließen. Wo ist das Problem?«, kommentierte Mergy die offensichtlich einfache Lösung des Problems. »Es wird sich nicht schließen. Es bezieht seine Basisenergie von der anderen Seite. Aus dem Unterraum selbst. Darum habe ich die Versuche, den Unterraum als Energiequelle zu nutzen, eingestellt. Es ist einfach zu gefährlich.« »Das ist übel. Aber es wird nicht weiter wachsen, oder?« »Doch. Alles ist Energie. Vom sichtbaren Licht bis hin zur Unterraumstrahlung. In etwa vier Wochen saugt es die ersten Satelliten aus dem Erdorbit und danach die Atmosphäre und den Rest des Planeten. Ich vermute es wird ab einer bestimmten Größe kollabieren, aber sicher bin ich mir da nicht. In dem Fall dürfte die entstehende Energiewelle gigantisch sein. Wie auch immer, wenn wir nichts unternehmen ist unser Sonnensystem ist Geschichte.«
Vibrationen breiteten sich über der ganzen Station aus. »Was passiert jetzt noch?« »Wir werden von dem Ding angezogen.« »Fallen wir auf der anderen Seite nicht einfach wieder aus dem Unterraum?« »Wir kommen auf der anderen Seite nicht an. Alles was in den Vortex gezogen wird, ist verloren. Es ist kein vollständiger Durchgang. Ich starte die RAM Triebwerke. Hoffentlich ist die Station ist nicht zu sehr beschädigt und bleibt in einem Stück!« »Da sind Schon-Or in einen Trümmerteil. Es scheint das Brückensegment eines ihrer Schiffe zu sein.« Nim und eine kleinere Gruppe Gleiter kehrte gerade von der normalen Schicht auf der Erde zurück. Mergy erklärte ihm die Sachlage und beorderte die anderen Gleiter zu der immer noch getarnten Flotte.
»Warum aktiviert er seine Waffen?« »Verdammt! Wieso hab ich daran nicht vorher gedacht? Mergy an Nim. Egal was du vor hast, überlege dir gut, was May nach einer derartigen Aktion von dir denken wird!« Trish und Sab sahen Mergy fragend an und dann schalteten sie. Diese Wesen hatten seine Freundin entführt und gequält. Er war augenscheinlich auf Rache aus. Tin bemerkte das neuerliche Problem erst gar nicht, war sie doch in ihrer Aufgabe und der Analyse der Daten vertieft. Nim schoss weiter auf das Modul zu, welches nicht wesentlich größer als ein Standard Frachtcontainer des Ray Teams wirkte.
Erst kurz vor dem Aufprall zog er seinen Gleiter hoch und ließ ihn kräftig mit der Unterseite auf die Kiste knallen, um den Insassen wenigstens kurz einen Schreck einzujagen. Schließlich aktivierte er den Greifstahl und klinkte den Kasten ein. »Ich aktiviere die Zusatzreaktoren. Die Standardenergie reicht nicht, um ihn zu bewegen.«, meldete der Pilot sich über Funk, als wenn der versuchte Angriff auf das unbewaffnete Alienwrack nur Einbildung gewesen wäre.
Langsam gelang es ihm die Wesen in ihrem mit Fenstern versehenen Gefängnis aus dem Einflussbereich des immer mehr anwachsenden Vortexes zu ziehen. »Ich habe die gesamte zur Verfügung stehende Energie in die Triebwerke geleitet. Wenn das jetzt nicht klappt, dann sind wir geliefert.«, merkte Tin an: »Ich richte die Station neu aus.« Der riesige Kreisel schien im All zu taumeln. Seine Unterseite mit dem Hangarring deutete nun auf den Vortex. Wie eine Rakete, die versuchte der Gravitation eines unsichtbaren Planeten zu entkommen, versuchte Tin die Station aus dem Sog zu befreien. Es rumpelte. Die Station bewegte sich nicht. »Wir stehen. Das ist gut.«, merkte Trish an. »Nein es ist nicht gut. Die Triebwerke laufen bereits auf Maximum. Wir werden gleich wieder angezogen.« Unmerklich für das Auge beschleunigte die Station wieder entgegen der eigentlichen Schubrichtung. »May an Ray Team One, ich habe die Wissenschaftler in einem Transporter von der Station gebracht.« »Verstanden!«
»Wir müssen hier raus.«, erklärte Sab, obwohl ihr selbst nicht gefiel, was sie sagte. »Oh, nein! Wir werden nicht noch eine Station verlieren.«, stellte sich Mergy mit Worten in den Weg: »Wir haben nicht genug Energie um eine Neue zu bauen.« »Es gibt keine andere Lösung.« »Es gibt immer einen Weg. Können wir den Vortex nicht mit einem Unterraumemitter komplett öffnen? Dann würde er sich doch wieder schließen, oder?« »Das ist es.«, triumphierte Tin. »Manchmal habe eben auch ich eine gute Idee.«, lächelte Mergy. »Ich leite die Energie in die SSEs im Turm. Wir springen am Vortex vorbei.« »Wir haben aber keine Energie mehr für die Emitter. Außerdem ist die Station noch nie als Ganzes gesprungen.« »Eine andere Lösung sehe ich nicht. Der Sog bringt uns auf Geschwindigkeit. Wir müssen den Vortex nur so spät wie möglich öffnen.« »Hey, das ist ja gar nicht mein Plan.«, muffelte Kommander Mergy, wurde aber nicht weiter beachtet.
Die Energie wurde zu den SSEs in den oberen Sektionen der Türme, des Kerns und zum Quartierring geleitet. Als die Station damals vorzeitig in Bauteilen zur Erde transportiert wurde, hatte Tin sie genutzt, um die einzelnen Komponenten im Unterraum zu halten. Auch wenn die sechs Türme nie selbst im Unterraum waren, und erst später gebaut wurden, so hatten die Repligen dennoch strickt nach dem ursprünglich vorgegebenen Plan gearbeitet. Nun war dieser Umstand ihre potentielle Rettung. Untermalt von lautem Knarzen ließ Tin die Station erneut um ihre Achse rotieren.
Jetzt, mit dem oberen Ende zuerst, nahm sie deutlich schneller Schub auf. Die Vibrationen und das gröbere Gerumpel ließen keinen Zweifel daran welche gigantischen Kräfte hier auf ihre weiße Heimat einwirkten. Tin prüfte abermals die Konfiguration und aktivierte die Emitter in der letzten Sekunde. Direkt vor dem alles fressenden Vortex öffnete sich ein neuer, der die komplette Station verschluckte. Eine knappe Sekunde später tauchte die Station einige hundert Kilometer hinter dem Vortex wieder auf.
»Kein Sog von dieser Seite.«, bemerkte Sab. »Nein, ein Vortex ist immer nur von der Seite seiner Entstehung zugänglich. Bei einem Riss ist das genauso.« »Dann sollten wir jetzt einen Weg finden das Mistding zu schließen. Ich hänge nämlich an diesem Planeten.«, merkte Mergy an. »Ich richte eine Flugverbotszone um den Vortex ein und hole unsere Leute zurück an Bord.«, erklärte der Kontrollfreak. »Haltet euch aus der Nim Sache heraus. Speziell du Sab. Es ist nichts passiert und ich werde Nim dazu verdonnern es May selbst zu sagen.«
Der sonst so muffelige Kommander willigte sofort ein. Mergy hoffte nur Sab hatte auch verstanden, worum es ihm ging. »Was machen wir mit den Aliens?«, erkundigte sich das Stationsgewissen nach dem weiteren Vorgehen. »Auf die Station holen wäre wohl sehr eine schlechte Idee.« »Da ist, sofern ich die Technik richtig einschätze, eine Art Datenspeicher in dem Brückenteil. Soll ich?«, fragte Tin vorsichtig. »Also die haben uns angegriffen, da haben wir ja wohl das Recht unsere Gefangenen zu durchsuchen.«, erklärte Mergy.
Auch Trish und Sab stimmten zu. Jaque bekam die Anweisung sich die Daten zu holen und an die eigenen Datenbanken anzupassen und einzupflegen. Einige Repligen sollten für die nötigen Lebensbedingungen in dem Kasten sorgen. »Stationssitzung um 15 Uhr. Diesmal haben wir wirklich etwas zu bereden.«, ordnete Mergy an und verschwand im Lift.
»Dann sind wir uns also einig. Wir werden ihrer Heimatwelt einen Besuch abstatten und ihnen die Gefangenen zurückbringen.«, fasste Sab die gemeinsam getroffene Endscheidung noch einmal zusammen. »Die Mystery soll sich das Ding unter den Bauch schnallen und den Kasten dort einfach abwerfen. Tins neuerliche Anpassungen an Waffen und Schilden sollten dem Schiff zumindest die Möglichkeit geben schnell wieder zu verschwinden.«, formte Mergy den Plan weiter aus: »Willst du das Kommando?« Der Kommander sah seine deutlich jüngere Kollegin fragend an.
May überlegte kurz: »Nein, Solange schafft das schon alleine. Sie ist gut.« »Einen Punkt überseht ihr dabei.«, warf Tin ein und hatte die komplette Aufmerksamkeit. »Tun wir?« »Sie sehen zwar aus wie die Schon-Or, sind es aber nicht. Jaque hat bereits große Teile der Daten entschlüsselt. Die sind ziemlich paranoid und verschlüsseln jeden Informationsblock ihrer Datenspeicher mit anderen Mustern.« »Keine Schon-Or?«, war May jetzt bei der Sache. Sie hatte die Typen schließlich auch für genau die Rasse gehalten, die sie noch vor wenigen Monaten gefangen genommen, verschleppt und gefoltert hatte.
»Dank der neuen Sensoren konnte ich unsere Gefangenen auf Joluh scannen. Ich bin mal davon ausgegangen, in diesem Fall keine Erlaubnis von euch zu benötigen. Die Werte aus der Datenbank stimmen mit denen des Scans von Tori überein. Sie kontrollieren das Feuer.« »Alle?« »Ja, und jetzt kommt es. Vor vielen Jahrhunderten haben sich die Schon-Turak, so nannte sich das Volk früher, gegen die Normalen ohne Superkräfte gestellt.« »Genozid an der eigenen Rasse?«, war Mergy sprachlos. War es doch sein Land gewesen, welches vor vielen Jahren einige Millionen Menschen wegen angeblicher Unreinheit vernichtet hatte.
Dazu kam noch die Tatsache mit der unfreiwilligen Zeitreise in eben genau diese dunkle Epoche, bei der er keine Leben hatte retten können ohne die Zeitlinie zu verändern, obwohl er mit nur einem Kampfgleiter jede Möglichkeit dazu gehabt hätte. »Ja, aber dabei ist es nicht geblieben. Die verschiedenen Parteien der Kräfte, – die Schon-Turak besaßen offensichtlich alle vier – haben dann begonnen auch untereinander einen erbitterten Krieg zu führen, der erst beendet wurde, als sich die Parteien auf verschiedene Welten zurückgezogen haben. Die Feuerwesen nannten sich von da an Schon-Tar, was wohl grob übersetzt Volk des Feuers bedeutet.« »Und was bedeutet Schon-Or, dann? Volk der Luft?«, fragte May neugierig. »Ja, oder Volk des Windes. Der Übersetzer frist sich noch durch die vielen Daten. Ursprünglich nannten sie sich wie gesagt Schon-Turak. Volk der Einigkeit.«
»Mal eine ganz blöde Frage, die mich schon seit Jahren beschäftigt. Könnten Aliens wie die Schon-Tar nicht auch an unsere Daten genauso einfach herankommen, wie wir es mit ihren gemacht haben?«, erkundigte sich May. Selbst Mergy schaute jetzt mit recht ernstem Gesicht zu Tin hinüber. Er hatte anscheinend ebenfalls keine Ahnung und sich über diese Sicherheitslücke wohl auch nie wirklich Gedanken gemacht. Obwohl es ja die Transportblocker an prominenten Stellen gab, dürfte es wohl ein leichtes für diese Völker sein diesen Mechanismus zu überwinden, zumal er nur für die eigene Technologie entwickelt worden war. Es war das erste außerirdische Volk, welches auch über einen funktionierenden Transporter verfügte, wie May aus erster Hand wusste.
»Ich denke wir sind da sehr sicher. Der optische Speicherkern und die kleinere Version im Würfel von Jaque sind sehr fragil. Wenn die Energiezufuhr nur minimal instabil wird, ist alles weg. Das Licht ist buchstäblich aus.«, erklärte Tin: »Ich hatte damals eine Art interne Pufferung für Notfälle vorgesehen, sie aber nach einiger Überlegung weggelassen und lieber auf eine sichere und regelmäßige Datensicherung gesetzt.« »Wir können Jaque doch transportieren, ohne das er Schaden nimmt.« »Ja, Jaque selbst besitzt einen kleinen Puffer, der gerade mal ausreicht um den minimalen Energieausfall beim Zerlegen vor dem Transport zu überbrücken. Es wird auch nur Jaque gesichert, nicht sein komplettes Wissen. Das besorgt er sich jedesmal erneut aus dem Zentralarchiv des Speicherkerns.«
»Und wo sind diese Sicherungen?«, fragte May munter weiter. Tin lachte: »Du sitzt darauf. Das ist das coole. Sie sind überall. Jaque repliziert die Daten in Materie. Auf molekularer Ebene. Jede Bodenplatte, jeder Träger, Kampfgleiter, Tisch, Stuhl und Terminal enthält die Informationen komprimiert, verschlüsselt und in Millionen von Teilen zerhackt. Selbst wenn man wüsste wo man nach den Daten suchen müsste, solange man nicht alle Teile in der richtigen Reihenfolge und ohne Fehler zusammenbringt, hat man keine Chance da ran zu kommen. Da die Orte ständig wechseln gibt es aber noch deutlich mehr, nicht passende, Puzzleteile.«
»Selbst wenn die Station gesprengt wird, kann Jaque daraus noch die Daten wiederherstellen. Das hat er ja auch schon mehrfach machen müssen.« May erinnerte unweigerlich an die Momente, wenn die Station im Dunkeln lag, oder als sie von den Draken vernichtet wurde. »Im schlimmsten Fall verliert Jaque beim Transfer etwa drei Minuten aus seinem Kurzzeitspeicher.« »Davon hatte ich keine Ahnung. Das ist brillant.«, war selbst Mergy erstaunt über diese Fakten, war er doch immer von einem Puffersystem ausgegangen. »Dann war die Frage also gar nicht so dumm.«, blickte May verschmitzt in Richtung Mergy.
»Die neuen Ikarussatelliten sind bereits unterwegs, um die Löcher im Gitter zu stopfen und die Vanquist ist im Sonnensystem unterwegs um etwaige feindliche Schiffe zu finden, während die Hope ganz normal ihren Einsatz fliegt. Gibt es Neuerungen bezüglich unseres Raumlochs?« »Nein, ich habe einige Sparx in den Unterraum geschickt und Scans machen lassen. Die Bruchstelle erzeugt dort massive Energieentladungen, die schon aus einigen Kilometern Entfernung die Helferlein zerstört haben. Ich habe zwar einige Daten gewonnen, aber noch keine Lösung gefunden. Wir haben maximal 28 Tage, bevor der Vortex den Planeten berührt und die Hülle absaugt wie bei Spaceballs. Wahrscheinlich weniger. Wenn die Materie der Satelliten und Raumstationen absorbiert wird, wird das Wachstum wieder rapide ansteigen.«
Niemand versuchte Tin mit weiteren Worten zu ermuntern oder zur Eile anzutreiben. Der Planet war zwar in Gefahr, aber es war letztendlich auch ihre Heimat. »Was soll ich den Regierungen und der Presse antworten? Das wachsene Ding ist den Menschen auf dem Planeten nicht entgangen.«, erkundigte sich Daneen. »Wir können es nicht auf die Schon-Tar schieben.«, erklärte Trish. »Warum nicht?«, war Mergy anderer Meinung. »Es war nicht ihre Schuld. Tin hat schon damals, nach dem Zerlegen der Drakenflotte, vor dem erneuten Einsatz dieser Waffe und den möglichen resultierenden Konsequenzen gewarnt.«, stellte sich auch May auf die Seite der Aliens, die doch eigentlich Feinde waren. Sie sahen vielleicht aus wie kleine unfreundliche Versionen von Sor und wie ihre Entführer, aber sie waren es nicht. Selbst wenn es Schon-Or gewesen wären, wäre es unfair die Taten von einigen auf ein ganzes Volk zu beziehen.
»Und was sollen wir dann sagen? Es hat sich durch die massiven Explosionen der feindlichen Schiffe ein Riss im Erdraum gebildet, der wächst und den Planeten zerstören wird, wenn wir keine Lösung finden?« »Klingt doch gut.«, merkte Daneen an: »Darf ich dich zitieren?« Mergy schaute fragend in die Runde. Er hatte es mal wieder geschafft ein hochkomplexes Problem in seiner simpel gestrickten Art zu verpacken. Selbst ein Kind würde die Erklärung verstehen und alles ohne jemanden zu belügen oder anzuschwärzen, was selbst May sehr gut gefiel. »Dann hätten wir das geklärt.«, nahm Sab jede weitere Antwort vorweg: »May was war mit den Chinesen?«
»Die Chinesen haben aktiv gegen unsere Richtlinien verstoßen. Sie haben es nicht zum Evakuierungstransporter geschafft, weil sie damit beschäftigt waren Technologie aus der Station zu reißen. Sie haben die schweren Einschläge im Außenring genutzt, um einen Nahrungsverteiler aus der Wand zu entfernen und wollten ihn, in der Hoffnung das Fehlen würde durch weitere Schäden verschleiert, in einer Kiste von der Station schmuggeln.« »Wir haben allen Anwesenden Immunität gewährleistet, was ihre Experimente angeht. Damit wird es auch für uns Konsequenzen haben, weil du die Kisten durchsucht hast.«, merkte Trish an. May grinste: »So etwas würde ich doch nie tun. Sie haben sich verdächtig benommen, als ich meine Hilfe beim Tragen angeboten habe. Also habe ich meine Fühler in die Kiste gesteckt und den Verteiler und anderen Kleinkram aus der Wand gefunden.« »Und sie haben dir auf deine Vermutung hin den Inhalt gezeigt?«, war Sab ebenfalls interessiert an der kleinen Geschichte. »Ich hab ihnen gar nichts erzählt, aber ihre Kiste ist plötzlich – ich habe wirklich keine Ahnung warum – unten kaputt gegangen und all das geklaute Zeug ist über den Boden direkt vor meine Füße gepurzelt.«
»Plötzlich?« Mergy hob wissend eine Augenbraue. May nickte kräftig. »Ja, einfach so. Da war wohl zu viel Luft drin.« »Gut gemacht.«, musste selbst Sab schmunzeln: »Wir sollten Vorbereitungen treffen. Dererlei Vergehen muss auch in solchen Situationen verhindert werden.« »Ich könnte die Systeme mit einer Selbstzerstörung versehen, die aktiv wird, wenn etwas von der Station entfernt wird.« Mergy lachte laut auf: »Die Idee ist gut, aber der Ansatz ist falsch. Wir schalten die Scanner ein. Sobald ein Objekt mit unserer Technologie beim Verlassen der Schleuse erkannt wird, transportiert Jaque es raus und ersetzt es durch Asche, Glibber oder was auch immer.« »Damit würden wir die vertraglich zugesagte Immunität verletzen.«, merkte Trish an. »Nein. Es ist ja ein automatischer Prozess. Alle Geräte, die die Station illegal verlassen, zerstören sich eben selbst. Die werden ewig nach einer Selbstzerstörung in den Geräten suchen, die gar nicht existiert. Niemand wird etwas von dem eigentlichen Scan bemerken. Wir müssen ja auch niemanden auf den illegalen Inhalt seiner Taschen hinweisen und die Karten somit auch nicht aufdecken.«
»Also damit kann ich leben.« »Jaque, du weist damit was zu tun ist.« »Ja, Kommander.« »Ich hab noch nie so einfach eine Alarmeinrichtung verbaut.«, witzelte Tin. »Manchmal sind die eingebildeten Dinge doch die sichersten. Außerdem ist das Raumloch wichtiger und sollte deine volle Aufmerksamkeit haben.« »Was machen wir jetzt mit den Chinesen?« »Nun, derzeit sitzen sie in ihrem Quartier fest.«, erklärte May. »Sie haben gegen die Vorschriften verstoßen. Schicken wir sie zurück und kündigen mit sofortiger Wirkung den Vertrag mit ihrer Regierung. Daneen kann sicher Videomaterial zur Beweissicherung beisteuern.« »Das dürfte auch anderen Regierungen und Firmen eine Warnung sein.« »Auch wenn die Art und Weise wie wir es bemerkt haben sehr dilettantisch aussieht.« »Daneen kann ja noch ein paar Worte ergänzen und auf die molekulare Selbstzerstörung in unserer Technologie hinweisen.«, fügte Mergy hinzu. Tin lachte laut auf: »Eine nicht vorhandene molekulare Selbstzerstörung. Das gefällt mir wirklich sehr.«
»Wann ist die Station wieder komplett einsatzbereit?« »Ich denke spätestens morgen Abend kann ich den Außenring freigeben. Die meisten Schäden sind nicht schwer, aber die zusätzlichen Vibrationen durch den Vortex haben vielleicht Risse und Mikrofrakturen verursacht. Daher möchte ich die komplette Station vorsorglich durch Repligen prüfen lassen und noch einmal eine Dichtigkeitsprüfung vornehmen.« »Klingt vernünftig. Doc?« »Wir hatten einige Verletzte zu verzeichnen, weil sich einige Zivilpersonen um die Lifte geprügelt haben. Ein paar kleine Platzwunden, Prellungen und Brüche.« »Es scheint so, als wenn das Vertrauen in unsere Technik alleine nicht ausreicht, um für eine geordnete Evakuierung zu sorgen. Was meinst du, Trish?« »Ich denke wir sollten regelmäßige ungeplante Übungen ansetzen und einige vorgeschriebene Sicherheitsseminare für Zivilpersonen auf der Station ansetzen.«
»Wie sieht es aus? Neuigkeiten von Niesha?« »Jaque hat sie mit einem der Satelliten entdeckt. Sie ist auf dem Flugzeugträger notgelandet. Danach ist jeder Kontakt abgebrochen.«, führte Sab ihr Wissen aus. »Du glaubst doch nicht etwa sie ist übergelaufen, oder?«, fragte Trish ihre immer auf das Negative eingenordete Kollegin. Sab war irritiert. Sie hatte noch gar nichts zum Thema gesagt, aber so wie es aussah reichte dazu bereits ihr Gesichtsausdruck. »Die Möglichkeit besteht.« »Das ist doch Blödsinn.«, mischte sich Mergy ein: »Sie war eine der ersten hier auf der Station, immer vorbildlich und hat diverse Freunde hier.« »Das haben russische Schläfer in Amerika auch gehabt.«, warf Sab unbeeindruckt zurück. »Schicken wir ihr einen Gleiter zur Rettung? Sie ist immerhin schon über 2 Stunden dort. Würde sie sich melden können oder wollen, hätte sie es schon getan.«
»Wir schicken Sash.« »Sash? Hältst du das für sinnvoll?« »Das sagte ich doch gerade.« »Sie hat seit ihrem Unfall keinen Einsatz geflogen.« »Das ist der Punkt. Doc ich nehme an ihre Einsatzfähigkeit steht immer noch außer Frage?« »Körperlich ist sie gesund, aber sie hat noch immer Probleme ihre Prothese zu akzeptieren. Das Mädchen versteckt sich hinter Ausflüchten.« »Läuft sie immer noch ohne künstliche Haut herum?«, mischte sich nun auch Trish ein. »Ja, sie glaubt anscheinend, wenn sie den Arm vergessen würde, dann wären Menschen in Gefahr.« »Das ist doch Bull-Shit. Mit aktiver Sperre ist der Arm genauso stark wie ihr Linker. Das weiß sie.«, war Mergy ungewohnt hart: »Ich hab da eine Idee. Aber ich brauche dabei Hilfe.«
Sash konnte sich denken, warum sie auf das Kommandodeck beordert wurde. Schon länger hatte sie sich geweigert den Einsatzplänen zu folgen und bisher hatte man immer stillschweigend zugestimmt. Anscheinend versuchte das Kommando jetzt etwas anderes. »Hallo Sash.«, begrüßte Mergy sie. »Hi!« »Wie geht es der seelenlosen Roboterbraut?« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Robotermonster war es glaube ich.« »Probleme mit der künstlichen Haut? Ich hatte anfangs da so meine Probleme mit der Haltbarkeit und der Farbe, aber diese Fehler dürfte ich schon für dich ausgemerzt haben.« »Nein, ich muss den Arm sehen wie er ist.« »Damit er nicht normal wird?« »Ich will niemanden verletzen.«
»Selbst wenn du es wolltest und die Sperre nicht aktiv wäre, würde es ziemlich viel Willen und Konzentration erfordern deine neue Superkraft versehentlich zu entfesseln. Glaubst du ich würde damit meine Frau oder gar meine Tochter umarmen, wenn er nicht sicher wäre? Der Arm ist jetzt ein Teil von dir. Mit der Haut wirst du ihn nach einiger Zeit vergessen und gar nicht mehr wahrnehmen.« Sash schwieg. »Das ist wie mit einer Brille. Die bemerkt ein Brillenträger auch erst, wenn sie kaputt geht und bis auf den kleinen Finger sind unsere Prothesen mittlerweile wirklich perfekt. In Wahrheit willst du deine Mitmenschen durch den Roboteranblick nur auf Abstand halten, oder?«
»Vielleicht.« »Willst du dich selbst damit bestrafen oder die anderen? Mich vielleicht?« »Nein!«, war Sash entsetzt: »Ich sehe dich als einen meiner ältesten Freunde.« »Was ist es dann? Du hast nichts falsch gemacht? Der Arm ist jetzt ein Teil von dir. Für immer. Ich trage ihn schon so viele Jahre. Am Anfang gab es große Probleme. Die Technik war noch relativ neu. Tins Beine waren zwar schon vorhanden, aber Arme und speziell Hände und Finger waren eine neue Herausforderung und sind es teilweise ja sogar immer noch. Du musst die Maschine nur noch einklinken und benutzen. Die Stärke, das Waffenangebot und die anderen Funktionen sind da nur willkommener zusätzlicher Bonus, der zumindest manchmal über den eigentlichen Verlust hinwegtröstet. Laut Doc bist du seit Monaten einsatzbereit. Laut Sab sträubst du dich aber gegen jeglichen Einsatz. Als dein Freund habe ich keine Ahnung, wie ich dir noch helfen soll.«
Sash schluckte sichtbar. »Ich brauche nur mehr Zeit.« »Und dann? Der Arm ist der Selbe, die Situation ist die Selbe. Das Einzige was sich ändern wird sind die Ausflüchte. Wir brauchen jeden Piloten da draußen. Du gehörst zu den besten.« »Ich kann nicht.«, erklang es schon fast verzweifelt aus ihrem Mund. Punktgenau und durch Mergys mit seiner Hand befohlenem Signal, öffnete sich die Tür. »Bisher kein weiteres Signal von Niesha. Schicken wir einen Rettungstrupp?«, hing Trish nur den Kopf in den Raum steckend, weil sie offensichtlich nicht lange stören wollte.
»Frühestens in zwei Tagen. Wir haben durch die Grippewelle und der beiden Träger im Sonnensystem sowieso nicht genug Personal. Wir brauchen jeden verfügbaren Piloten in der Nähe der Station, falls wir noch einmal angegriffen werden.«, erklärte Mergy und Trish verschwand nickend und ohne Widerspruch wieder auf dem Kommandodeck. »Was ist mit Niesha?« »Ehrlich gesagt wissen wir es nicht. Es gab einen Notruf. Die Satellitenbilder zeigten ihren Gleiter auf einem Flugzeugträger der Amerikaner. Danach verliert sich ihre Spur.« »Und ihr wollt sie einfach im Stich lassen?« »Natürlich nicht.«, spielte nun Mergy den entrüsteten, dabei war genau das sein Plan: »Die Vanquist und die Mystery sichern das System. Die meisten Piloten auf der Station haben nach dem Angriff Doppelschichten geschoben oder sind Krank geschrieben. Die Kadetten kann ich ja wohl kaum schicken, oder?«
»Du könntest selbst fliegen.«, machte Sash einen Vorschlag, den er zwar hatte kommen sehen, aber in seiner gedanklichen Version hatte seine Kollegin deutlich mehr Subtilität an den Tag gelegt. »Ich bin seit Tagen nicht Zuhause gewesen und werde zu meiner Familie fliegen.« Die Augen von Sash sprangen auf. »Also lässt du sie doch im Stich.«, platzte es aus der Pilotin heraus. Ohne es zu wissen, war sie Mergy in die Falle gegangen. Er machte zwar immer einen tollpatschigen und schusseligen Eindruck, aber wenn es um Worte ging, war er mehr als nur Kompetent. »Ich? Ich habe in den letzten zwei Tagen 4 Stunden geschlafen. Diesen Schuh solltest du dir selbst anziehen. Du bist gesund, ausgeschlafen und seit Monaten einsatzfähig. Wenn jemand Niesha im Stich lässt, dann ja wohl du.«
»Ich kann nicht.« »Ich auch nicht. Normalerweise wäre ich der Erste, der sich für diese Mission melden würde. Nicht nur weil mir das Mädchen wichtig ist, sondern weil mir der Arm einen Vorteil verschafft, den andere Piloten nicht haben. Weil er dann mehr wird, als nur Mittel zum Zweck. Er wird zu meiner Geheimwaffe und der Schmerz ihn verloren zu haben, weicht einem höheren Sinn.« Sash hatte ihn noch nie so über seinen Verlust reden hören. Der Kommander auf der anderen Tischseite machte keine Anstalten das Gespräch fortzusetzen. Er wartete ab. Es arbeitete in Sash. Sie konnte ihre Freundin retten. Ihr Freund hatte recht. Von allen Menschen auf der Station war sie die einzige, die auf das Schiff gehen, wie ein Trojanisches Pferd die Lage von Innen sondieren und ihre Kollegin befreien konnte.
»Ich mache es.« »Wie war das?« »Ich mache es!« »Du machst was?« »Ich fliege den Einsatz und hole Niesha zurück.«, formulierte sie ihren Satz so um, wie Mergy ihn hören wollte. Dieser lächelte: »Ich wusste doch in ihnen steckt ein Kämpfer, Pilot. Die Planung überlasse ich dir. Du machst das schon.« Mit einer Wischbewegung beorderte er sie lautlos aus dem Büro. Gerade als sie zwischen den gläsernen Türelementen stand, ergriff er doch noch einmal das Wort: »Wenn die unsere Pilotin wirklich gewaltsam festhalten, kann es nicht Schaden der Wut mit ein wenig Zerstörung Ausdruck zu verleihen. Auf so einem Schiff gibt es bestimmt eine Menge Dinge auf die man draufhauen kann, um sich abzureagieren. Ich würde es jedenfalls so machen.«
Auf dem Weg zur Promenade musste Sash schmunzeln. Hatte er ihr wirklich aufgetragen auf dem Flugzeugträger ein wenig zu randalieren? Viel Zeit hatte sie nicht um darüber nachzudenken, denn sie musste einen Plan für die Mission entwickeln. Zuerst jedenfalls brauchte sie die künstliche Haut für ihren Arm. Das ging schneller als erwartet, denn der Doc hatte in seinem Lager bereits ein fertiges Ersatzmodell. Es war ungewohnt. Nicht nur die Haut an sich, sondern auch die Tatsache, auf dem Handrücken das kleine Muttermal zu sehen. Es war nicht einfach nur künstliche Haut auf ihrem Arm, sondern es war ihre Haut. So wie sie einmal war. All die Monate hatte sie sich geweigert den Arm auch nur zu probieren und jetzt wirkte es als wäre sie wieder komplett, als wäre all das überhaupt nicht passiert.
Dank der Koordinaten hatte Sash den Flugzeugträger schnell gefunden. Die Sensoren bestätigten, was Sab ihr in einem kleinen Briefing mit auf den Weg gegeben hatte. Es gab ein Störfeld über dem Schiff. Sie konnte keinerlei Signale von Niesha oder ihrem Gleiter empfangen. Es war nicht einmal möglich ihre Anwesenheit zu prüfen. Ganz im Sinne ihres altertümlich wirkenden Vorbildes, erbat sie um Landeerlaubnis und setzte auf. Die Lage auf dem Schiff war nur Verdächtig, weil nichts verdächtiges passierte. Der Pilot verließ den Gleiter und schloss die Tür hinter sich. »Bringen sie mich zu ihrem Kapitän.« Der Matrose musste sie für ziemlich dämlich halten. Er führte sie durch die Gänge tief ins Innere des Schiffes, die niemals auf die Brücke führen konnten, und öffnete eine Tür in einen hellen Raum. Kaum war Sash eingetreten, fiel die Tür hinter ihr zu.
Ihren Kampfgleiter konnte sie selbst mit dem aktiven Sender in ihrem künstlichen Arm nicht erreichen. Das Störfeld war einfach zu stark. Nach geschlagenen 20 Minuten, in denen Sash nur den kargen Raum mit Tisch und Stuhl, sowie den zwei Kameras in gegenüberliegenden Ecken an der Decke anstarren konnte, schrillte ein Alarm durch das Schiff. Sash lächelte wissend: »Habt ihr euch also gefunden.« Ihr Gleiter hatte wie gewünscht nach dem Zweiten gesucht und eine Kommunikationsverbindung hergestellt. Das war zumindest Plan A und der war jetzt in vollem Gange. Auf der Außenhaut beider Gleiter war nun ein zehnminütiger Countdown zu sehen, der rot hinterlegt nichts gutes vermuten ließ.
Die metallene Tür sprang auf. Drei Uniformierte stürmten hinein. Zwei Soldaten griffen sofort nach ihren Armen, während sich der Dritte vor Sash aufbaute: »Was ist das für ein Countdown?« »Ich sehe keinen Countdown!« Ein harter Schlag traf Sash im Gesicht, der allerdings zu großen Teilen vom Körperschild abgefedert wurde und gerade mal so ausreichte, um eine adäquate Reaktion ihres Kopfes zu erzeugen. »Was ist das für ein Countdown?« »Ich nehme an sie meinen die Selbstzerstörung meines Kampfgleiters. Das passiert, wenn der Pilot zu lange von seiner Maschine getrennt ist. Der Reaktor wird explodieren. Etwa auf eine halbe Meile Radius wird alles um ihn herum sofort pulverisiert. Im Umkreis von etwa 2 Meilen, wird eine Druckwelle alles zerfetzen was sich ihr in den Weg stellt.« »Stellen sie das ab!« »Warum sollte ich?« Wieder traf Sash ein Schlag. Diesmal in der Magengegend. »Das reicht jetzt.«, gab sie unbeeindruckt zu Protokoll, richtete sich lässig auf und riss den rechten Arm mitsamt dem Soldaten in die Luft, um mit ihm als Waffe den anderen Wächter niederzustrecken.
Das blanke Entsetzen in den Augen sprang ihr Angreifer hastig durch die Tür nach draußen und drückte selbige ins Schloss. Sash verlor keine Zeit und drückte die Tür ihrerseits komplett aus der Wand in den Gang. Die Scharniere barsten und verteilten ihre Einzelteile auf dem Boden, während der angesäuerte Pilot seine Armkanone aktivierte, mit der er die im Gang alarmierten Wächter zu Boden beförderte. Ganz in Mergys Sinne drückte sie diverse Türen aus ihren Rahmen, um zu sehen ob Niesha sich dahinter befand.
Den nächsten angreifenden Soldaten befragte sie mit etwas nachdrücklicher Gewalt nach dem Aufenthalt ihrer Kollegin und erfuhr sie wäre ein Deck tiefer. Die Schüsse, die auf sie abgefeuert wurden, nahm sie gar nicht wahr. Der Arm mit seiner aktiven Energieversorgung schützte sie ohne die sonst üblichen Nebeneffekte für Stunden oder gar Tage. Sie nahm sich vor die Anleitung lesen, um ihre Lage in Zukunft besser einschätzen zu können. Die Soldaten, die sich ihr in den Weg stellten, wurden aus sicherer Entfernung gewaltlos mit der kleinen Kanone niedergestreckt und ins Reich der Träume geschickt. Ansonsten verwendete sie den Arm, um alles was nach wichtiger Technik aussah nach belieben zu beschädigen.
Als sie die Tür erreichte, hinter der Niesha sein sollte, stand diese bereits offen. Ein Soldat hielt ihr eine Waffe an den Kopf. Das Mädchen wirkte schwach. Ihr Schild hatte in den letzten Stunden wohl schon einiges einstecken müssen und deutlich an ihren Kräften gezehrt. »Ein Schritt näher und ich schieße.« Sash hob langsam die Arme, als würde sie folge leisten, feuerte aber unvermittelt eine Salve Betäubungsnadeln auf ihren Gegner. Dann schnellte sie nach vorne, um ihre Freundin zu fangen. Es gab kaum Zeit zu verschnaufen, denn auf dem Gang waren deutlich hörbar wieder Aktivitäten zu vernehmen. »Hinsetzen, ich räum da draußen auf!«
Kaum trat Sash in den Gang, da schlugen auch schon die Projektile in ihren Schild. »Die Checken es einfach nicht.«, warf Sash mit finsterer Mine in den Raum: »Ich hab keine Lust zu spielen.« Es stürmten immer mehr Leute von beiden Seiten in den schmalen Gang und der Boden füllte sich mehr und mehr mit bewusstlosen Körpern, die die Pilotin mit ihrem Arm niederstreckte. Sash zog sich in den Raum zurück, drückte die Tür zu und verformte den Rahmen: »Heute geschlossen!«
»Und wie kommen wir jetzt hier raus?« »Mergy hat befohlen ein wenig kaputt zu machen, wenn man dich gegen deinen Wunsch hier festgehalten hat. Wurdest du gegen deinen Wunsch hier festgehalten?«, lächelte Sash. »Definitiv!« »Wenn das so ist, Dann machen wir uns einfach eine neue Tür.« Sash ließ den kleinen Lauf der Kanone in ihrem Arm verschwinden. »Mal sehen was die andere so drauf hat!« Ein deutlich anders aussehendes Waffenteil trat aus dem oberen Teil ihres Unterarms hervor. Mit einem gefährlich aussehenden roten Strahl malte sie eine Tür auf eine der Seitenwände, um mit der eigentlichen Hand den Rest zu erledigen. Der Nebenraum war nicht viel größer und die Geräusche ließen weiteres Schiffspersonal vor dessen Tür vermuten.
»Seit wann bist du denn so rambomäßig drauf?« Sash antwortete nicht und begann ein Loch in den Boden zu schneiden. Der dem Mantafeuer nicht unähnliche Waffenstrahl traf dabei nicht nur auf Stahl, sondern auch auf Leitungen und Rohre, die er wie Butter durchtrennte. Der Ray Team Pilot ließ sich durch die geschaffene Öffnung von etwa 80 cm Durchmesser nach unten fallen. Anscheinend ein Lagerraum, was die Sache deutlich vereinfachte, da sie nicht auf dem Boden, sondern etwas über einen Meter vom Boden entfernt landete, auch wenn die graue Kiste und die Folie darum jetzt etwas angekokelt war.
Niesha folgte ihr. Als sie den Boden berührte, hatte Sash schon die Tür zum Gang aufgebrochen und prüfte den Gang: »Alles klar?« »Ja, geht schon. Ich bin nur etwas wackelig.« »Bleib dicht hinter mir. Ich dehne meine Schilde aus.« »Du kannst uns nicht Beide schützen. Das schaffen wir nicht.« Sash tippte auf ihren Arm: »Aktiver Schild. Der hält einiges aus, ohne meinen Körper zu belasten.« Niesha folgte den Anweisungen und im Gleichschritt kamen sie nach einer kurzen Eingewöhnungsphase gut voran, während die Schiffsbesatzung sie noch einen Stock höher vermutete. Sash zerstörte auf dem Weg weiter Leitungen und Verteilerkästen. Mal durch eine Lichtsalve, mal drückte sie einfach mit der flachen Hand in die Schränke und kleinen Metallkisten oder riss Verkabelungen direkt aus der Wand.
Personal trafen sie wenig und das anfangs nur schwache und unvollständige Signal ihres Gleiters wurde langsam stärker. Als sie an einem Treppenhaus ankamen, hörte man deutlich die Aktivität über ihnen. Vorsichtig setzten sie ihren Weg durch das Schiff fort, bis sie an ein großes Schott kamen. Wie bei den Kleineren zuvor verschmolz sie die Luke hinter sich mit dem Rahmen, um etwaige Verfolger auszubremsen. Kampfjet neben Kampfjet parkte hier Seite an Seite angeleint auf dem Boden. Es war dem Ray Team Hangar nicht unähnlich. Es gab zwar keine Regale zum Einlagern, aber zuvor hatte es schon diverse Situationen gegeben, wo auch in ihrer Basis ein solches geordnetes Chaos herrschte.
Eine große Zahl von Soldaten wuselte wie Ameisen umher. Geschäftig gingen sie ihren jeweiligen Aufgaben nach. Sash lächelte als sie die von den optischen Sensoren des Gleiters ausgesandten Bilder in dem kleinen gerahmten Bereich ihrer Kontaktlinsen sah. Sie konnte sich am Ende der Halle selbst sehen. Die über ihren Arm hergestellte Verbindung war stabil und zeigte nur wenige Störungen. Man versuchte anscheinend die Plattform mit den beiden Gleitern wieder nach oben zu bekommen, um, wie Sash Niesha erklärte, die vermeintlichen Bomben über Bord zu werfen. Der aktive Antrieb ihres Gleiters verhinderte allerdings das sich der gigantische Lift auch nur einen Millimeter bewegte.
Geduckt hinter einem mit Spanngurten fixierten Turm aus Kisten, aktivierte sie die Steuerung. Schlagartig änderte sich die Lage im Hangar. Laute Schreie und Rufe ertönten, als der Kampfgleiter sich fauchend in die Höhe erhob und neben den Andockklammern auch seine Waffensysteme aktivierte. Gekonnt setzte die Pilotin ihren Gleiter auf dem beschädigten Fluggerät von Niesha ab und fixierte die Halterungen. »Jetzt wird es laut!«, grinste Sash ihre Kollegin an und dann begann der Gleiter aus allen Rohren auf die Einrichtung und das Inventar zu feuern, während er langsam zwischen den in Flammen aufgehenden Maschinen auf sie zu schwebte. Ein automatisches Feuerlöschsystem fing damit an dem Feuer den Sauerstoff zu entziehen.
Die Versuche der Besatzung den Kampfgleiter zu bekämpfen waren genauso halbherzig wie sinnlos. Die Handfeuerwaffen waren nicht einmal ansatzweise in der Lage bis zum Fluggerät durch zu dringen und größere Waffen wollte man wohl im Inneren des eigenen Schiffes nicht einsetzen oder aber waren nicht schnell genug verfügbar. So blieb ihnen nur die Flucht vor den Flammen, die schon wenige Sekunden später erste kleine Explosionen verursachten. Vor dem Kistenberg drehte Sash den Gleiter ein und die Piloten erklommen ihn, um den oberen Drachen zu besetzen. Angesichts der Störsignale war Sash der Einsatz des Transporters zu unsicher.
Ein Gravitationstorpedo öffnete die mehrwandige Seitenwand des Schiffes wie eine alte Konservendose und gab den Weg nach draußen frei. Das eindringende Wasser würde durch die Schotts im beschädigten Bereich gehalten und ein Sinken verhindern. Außerdem löschte es deutlich sichtbar die kleineren vom Öl und Treibstoff genährten Feuer am Boden. Versenken wollte die Pilotin das Schiff auf keinen Fall. Zu viele unschuldige Menschen waren an Bord und eine derartige Aktion würde neben der negativen Aufmerksamkeit auch noch eine gewaltige Rettungsmission nach sich ziehen.
Sorgsam fädelte Sash das dicke Paket durch die Öffnung ins Freie und zog steil nach oben »Sie sollten sich nicht mit Mächten anlegen, die sie nicht kontrollieren können.«, verkündete sie über einen Funkkanal. »Pass auf! Wir sind zu niedrig!«, erschrak Niesha noch, aber es war zu spät. Der untere Gleiter krachte mit voller Wucht in die Dachkonstruktion des Kontrollturms, während der obere die Aufbauten mit sich riss. Ohne den Schild hätte es wohl auch auf der Seite des Ray Teams massive Schäden gegeben, aber so blieb es bei einigen heftigen Stößen, denen die Piloten ausgesetzt wurden.
»Ups!«, lächelte Sash zu ihrer Freundin hinüber. »Du hättest mich ruhig warnen können.« Nach einer bewusst langsamen Wende betrachteten sie ihr Werk. Das Schiff war deutlich sichtbar beschädigt. Rauch aus dem Hangar zog über das Schiff, dessen vormals deutlich erhöhte Aufbauten nicht mehr wirklich gut aussahen und bestenfalls nur noch am Schiff baumelten. Raketen zweier Kampfjets schlugen ein, erzeugten aber keinerlei Unruhe oder anderweitige Reaktionen bei der Kampfgleiterbesatzung.
»Fliegen wir nach Hause.« Die Pilotin steuerte das Gleiterpaket noch einmal als kleine Machtdemonstration über das, im direkten Vergleich gigantische, Schiff und zog sanft nach oben Richtung All. Schon während des Anflugs auf die Station beorderte Sandra Niesha auf die Krankenstation. »Danke für die Rettung.«, verkündete Niesha mit einer Umarmung unterstützt, als die beiden Piloten im Lift standen. »Ich kann doch nicht auf meine Freundin verzichten.«, schmunzelte Sash.
Als sie aus ihrer Reisekiste ausstiegen, kam ihnen schon Mergy mitten auf der Promenade entgegen. »Und?«, fragte er ohne weitere Begrüßung. Sash verpasste ihm ohne die kleinste Vorwarnung eine saftige Ohrfeige: »Dafür das du Niesha einfach dort lassen wolltest.« Mergy rieb sich verdutzt die pochende Wange: »Gut das du jetzt deinen Arm einsetzt, ohne darüber nachzudenken. Besonders Positiv finde ich die unveränderte Position meines Kopfes! Er springt zumindest nicht blutverspritzend durch die Halle.«
Die Augen von Sash sprangen auf wie Mais in einer Mikrowelle. Erstarrt blickte sie auf ihre Handfläche. Sie hatte ihn wirklich mit ihrem künstlichen Arm geschlagen. »Nur fürs Protokoll. Ich hatte natürlich schon einen Piloten in Bereitschaft, der dich da herausgeholt hätte, wenn Sash nicht eingesprungen wäre. Wir würden nicht nur für einen Kommander durch das halbe Weltall fliegen, sondern auch für jeden unserer Piloten.«, wendete er sich an Niesha, die nicht so recht wusste was Sashs Reaktion zu bedeuten hatte.
Mergy verschwand im Lift, bevor Sash überhaupt die neuerlichen Fakten alle sortiert hatte. Nicht einmal als sie Niesha auf dem Flugzeugträger die Sache mit dem Schild erklärte, hatte sie an ihre Prothese gedacht. Sash hatte ihren künstlichen Arm auf jegliche erdenkliche Art genutzt, um ihre Freundin zu schützen, ihre Gegner zu bekämpfen und die Mission zu beenden. Der Arm war ein Teil von ihr geworden, genau wie Mergy es schon so lange vorhergesehen hatte. Erneut schnappten ihre Augen auf: Sie hatte ihn geschlagen!
Ohne es auch nur zu ahnen gab es auf dem Kommandodeck das gleiche Thema. Bereits als Mergy den Lift verließ fragte Sab nach dem Grund für die Aggression und wie er sich eine adäquate Bestrafung vorstelle. Mergy wiegelte gleich mit einer Wischbewegung ab: »Die Ohrfeige hatte ich verdient. Immerhin habe ich sie ziemlich fies hintergangen, um sie aus der Reserve zu locken. Setze sie einfach zur Strafe ab morgen wieder auf den Dienstplan.« Er lächelte zufrieden und rang mit seinem Wunsch auch Sab einen zufriedenen Gesichtsausdruck ab, hatte sie doch nun wieder einen weiteren Piloten zu ihrer Verfügung.
»Hallo Solange, wie ist es gelaufen?«, begrüßte Mergy den Kapitän der Mystery im Stationsbüro und deutete an, sie solle Platz nehmen. »Wie erwartet wurden wir nicht freundlich empfangen, aber die neuen Schildanpassungen haben Wirkung gezeigt.«, begann Solange die Erzählung, obwohl ja alles in ihrem Logbuch und den sonstigen Aufzeichnungen des Schiffes vermerkt war: »Wir sind mit dem Modul aus dem Unterraum gesprungen und haben sie wohl überrascht.« »Die Unterraumtarnung wirkt bei ihnen, also?« »Zumindest hatte es den Anschein. Wir wurden zwar unmittelbar angegriffen, aber nur von stationären Verteidigungsanlagen. Einige Schiffe am Planeten haben erst nach unserem Eintreffen den Kurs geändert.«
»Der Schildstatus war nie kritisch, darum habe ich das Waffenfeuer ignoriert und wir haben in angemessenem Abstand zum Planeten gestoppt, das Modul abgeworfen und den Schon-Tar wie angewiesen mitgeteilt, welche Konsequenzen ein erneutes Eindringen in unser Sonnensystem nachsich ziehen würde. Dann sind wir in einem langsamen weiten Bogen wieder abgeflogen.« »Mehr ist nicht passiert?« »Nein, die Plattformen haben weiter auf uns gefeuert, aber wir sind in den Unterraum gesprungen und mit Maximalgeschwindigkeit zur Erde zurückgekehrt.« »Das war gute Arbeit.«
»Ein Paket zustellen ist nicht wirklich schwer.«, klang Solange leicht ernüchtert überhaupt erst mit so einer trivialen Aufgabe betraut zu worden zu sein. »In dieser Situation nicht die Waffen aktivieren, Macht zu demonstrieren und alles platt zu machen, sondern Besonnenheit und Vorsicht walten zu lassen, zeichnen einen guten Kommandanten aus. Die passive Gewalt, die von der, allen Angriffen trotzenden, Mystery ausging, hat die gesprochene Botschaft nur noch einmal deutlich unterstrichen. Die werden es sich zweimal überlegen, ob sie sich mit einer Flotte dieser Schiffe anlegen wollen.«
Der amtierende Kommander ließ die Worte verhallen, bevor er erneut das Wort ergriff: »Kommander May hatte sich von Anfang an für dich als Kapitän eingesetzt. Die Art, wie du deine bisherigen Einsätze gehandhabt hast, spiegelt nur wieder, wie recht sie damit hatte. Ich hätte keines der anderen Schiffe auf diese Mission geschickt ohne nicht zumindest vorher den Kapitän zu ersetzen. Es war vielleicht nur eine Gefangenenübergabe oder ein Lieferdienst, wie du es siehst, aber es steckte deutlich mehr Bedeutung in der Mission, als es dir anscheinend selbst bewusst war.«
»Ich verstehe.«, erklärte Solange nachdenklich. »Und jetzt verschwinden sie Kapitän. Wir haben heute noch einen wichtigen Einsatz geplant und brauchen sie fit und voll Einsatzbereit.« »Ja, Kommander Mergy.« Mergy lächelte leicht über ihren französischen Akzent, der seinem Namen einen so unvergleichlich weichen - ja vielleicht auch erotischen - Touch gab, der so von ihr mit Sicherheit nicht beabsichtigt wurde.
»Wie sieht es aus?«, fragte Mergy in das Kommandozentrum, nachdem er Solange aus dem Büro gefolgt war. »Die Anzüge müssten halten.«, erklärte Tin sichtlich unsicher. »Das klingt aber sehr pessimistisch.« »Ich habe keine Ahnung wie sich der Energiesturm im Unterraum auf die Stationssysteme auswirkt und wieviel von der Energie hier hinein gelangt.« »Du siehst wirklich keine Möglichkeit die Station fernzusteuern?« »Nein, eine Fehlfunktion und nicht nur der Versuch, sondern auch die Station wäre verloren.« »Dann haben wir wohl keine andere Wahl. Um 14 Uhr beginnen wir mit der Evakuierung.«
Mergy machte sich auf den Weg in sein Quartier, um die bevorstehenden Stunden noch einmal zu durchdenken. Der Vortex wuchs immer noch bedenklich an und gefährdete nicht nur den Planeten, sondern auch seine noch junge Familie. Egal wie er es drehte und wendete, es gab nur eine Wahl, eine Lösung um seine Familie dauerhaft zu beschützen und so gab er Jaque entsprechende Anweisungen.
»Station vollständig evakuiert. Medic One und unsere Flotte sind in ihrer Parkposition angekommen.«, vermeldete Sab vom mobilen Krankenhaus, während Mergy in seinem Kampfgleiter saß und die Station von außen noch einmal kontrollierte. May hatte das Kommando über die Vanquist übernommen, die, wie die anderen Kreuzer der Flotte, auch mit Personal und Ausrüstung voll gestopft war. Dazu kamen noch die unzähligen Frachtboxen, die jeweils an einem Gleiter befestigt im All das Inventar der Quartiere und Lagerräume beherbergten.
Der Plan sah vor mit der Station in den Unterraum zu fliegen und von Innen ein Portal genau im Zentrum des Vortexes zu öffnen. Tin hatte unzählige Berechnungen und Versuche unternommen, aber das war die einzige mögliche Lösung. Die Idee eine entsprechende Sonde zu bauen, war aus zwei Gründen nicht durchführbar. Zum Einen weil sowohl Zeit, als auch Energie immer noch knapp war. Ausschlaggebender war allerdings die Unmöglichkeit in dem Gewittersturm, den der Vortex im Unterraum erzeugte, automatischen Sensoren zu vertrauen. Trish und Tin befanden sich als einzige an Bord der Raumstation und der Plan sah vor den exakten Unterraumpunkt anzusteuern. Dort sollte mit der Station der Vortex von Innen durchstoßen werden, um ihm dessen Energieversorgung kappen. So würde er sich von selbst wieder schließen. Das war zumindest die Theorie.
Kommander Mergy schwirrte immer noch mit seinem Kampfgleiter im Stationsperimeter umher, als Tin den Sprung in den Unterraum einleitete und sich ein beeindruckend großer Vortex vor der weißen Basis öffnete. »Mergy an Jaque. Jetzt!« Die Station war im Unterraum verschwunden. Tin und Trish sahen sich unsicher um: »Verdammt. Das kann doch nicht wahr sein.« Beide saßen in Kampfgleiter 1, während sie Mergy auf der Station vermuteten. »Trish an Sab, Mergy ist mit der Station abgehauen. Wir werden ihm folgen.« Jetzt gab es Einwände vom Beifliegersitz: »Das würde ich nicht riskieren.« »Was meinst du?« »Wenn Mergy, wie ich annehme, das Ding alleine durchzieht, wird es im erdnahen Unterraum ziemlich ungemütlich. Wir können nur abwarten.« »Warum macht er immer solche Alleingänge?« »Ich bin so ein Depp. Er hat mich so genervt mit seiner ewigen Fragerei. Darum wollte er bis ins Detail wissen wie alles funktioniert. Der Idiot hat nicht einmal einen Schutzanzug.«
Der Idiot, wie Tin ihn nannte, war allerdings nicht wirklich schutzlos. Jaque hatte ihm ebenfalls einen Anzug auf den Laib geschneidert, da er ja unmöglich in eine der kleineren Versionen der Zwillinge passte. Kaum hatte er die Metallrüstung angelegt holperte er an den Kommandostand für die RAM Triebwerke, in der Tin die Zielsteuerung bereits aktiviert hatte. »Dann wollen wir das Loch mal stopfen.«, gab er noch, mit sich selbst sprechend, von sich und setzte den Kurs auf die vordefinierte Stelle. Deutlich zeigten die Sensoren den Riss auch von dieser Seite an. Zu sehen war er jedoch nicht. Das Wabern des Raumes war hier nicht sanft und gleichmäßig. Die Farbwellen bewegten sich scheinbar ziellos, trafen aufeinander und prallten voneinander ab. Energiewellen und Blitze zuckten über die Hülle der Station, deren Systeme bis auf Sensoren, Schilde und Antrieb komplett abgeschaltet waren, um die nötige Energie für die Emitter zu erzeugen, die sie im Unterraum hielten.
»Wow, diese Straße muss dringend ausgebessert werden.« Wieder schepperte es, als würde die Station eine Bruchlandung mitten in einer Kleinstadt erleben. Ein Blitz zuckte über das Deck und schlug in der Metalltür des Liftes ein. Wo eben noch der Weg in den Fahrstuhl war, klaffte jetzt ein großes Loch ins All. »Wow! Das wird es interessant.« Der Unterraumsturm durchschlug die Wände der Station als wären sie nicht da und der Sauerstoff vermischte sich mit Plasma, welches durch die flackernden Schilde eindrang, und fiel teilweise, beim Verlassen der von den Emittern erzeugten Unterraumblase, zurück ins normale All. Mergy hörte in seinem Anzug nur sein Atmen und seine Bewegungen in dem Mantel aus Stahl, der ihn vor der luftlosen, nun aber durch das einströmende Plasma noch einmal deutlich gefährlicheren, Umgebung schützte. Daher bemerkte er nicht, wie ein gewaltiger Blitz mitten durch den Stationskern schoss und auf dem Weg rein und raus zwei der Stationstürme regelrecht absprengte.
»Wow!«, machte Trish eine heftige Ausweichbewegung mit dem Gleiter, als einer der Türme direkt vor ihnen auf der Rückseite des Vortex in den Normalraum zurück fiel. »Wir müssen auf Abstand gehen. Da kommen sicher noch mehr Trümmer an!« »Position erreicht. Ändere die Frequenz der Emitter.«, sprach der Kommander auf einsamer Mission zu sich selbst, um bloss keinen Fehler zu machen. Ein Blitz zuckte über das Kommandodeck. Instinktiv hob Mergy schützend seinen künstlichen Arm, der sofort zerfetzte und dessen Reste am Körper regelrecht glühten. Das Letzte was Mergy sah, war das Schließen des Risses auf dem Sensorschirm, dann wurde er von der Hitze des Arms und den Stromstößen, die über die Schnittstelle an seiner Schulter direkt in seinen Körper gelangten, ausgeknockt. Er ging, vom schweren Anzug zusätzlich gezogen, wie ein Stein zu Boden, wo der glühende Rest seines Armes mit dem Metal der Bodenplatte regelrecht verschmolz.
Das Portal begann zu wabern, ein dritter Turm und viele weitere Trümmerteile erschienen im Sichtfeld und auf den Sensoren der kleinen und großen Schiffe. May saß, zum Nichtstun verdonnert, auf ihrem Stuhl und starrte durch das Fenster nach draußen, wo sich der Vortex mittlerweile komplett geschlossen hatte: »May an Trish. Wo ist die Station? Wurde sie zerstört?« »Nein, dann wären hier deutlich mehr Trümmer aufgetaucht.« »Ikarus 9 meldet ein unbekanntes Objekt. Das könnte die Station sein. Interferenzen der, von hier ausgeströmten, Unterraumwellen stören dort anscheinend die Sensoren.« »Vanquist an Sab. Wir haben das Notfallteam an Bord und werden nachsehen. May an Sandra, Medizinisches Team bereit machen.« »Verstanden.«
»Kurs auf Ikarus 9.«, kommandierte May und der Koloss verschwand nach kurzer Beschleunigung. Der rote Raum war noch sehr aktiv und warf das lange Schiff immer wieder zu allen Seiten. Das Rot waberte wie nach einem Sturm. Der Wellengang war immer noch stark, aber er wurde mit jeder Welle schächer. Als das gewaltige Schiff das tosende Meer wieder verließ, lag das Schloss vor ihnen. Es hatte neben den Türmen auch sichtbar an Farbe verloren und eine deutliche Schräglage, wenn man die unsichtbare Definition von Oben und Unten nutze, um sich eine Art Horizont in das Weltall zu denken. Rauchschwaden traten aus den flackernden Schilden aus und durch diverse Stellen konnte man hindurchsehen. »Voller Scan.« »Registriere ein schwaches Lebenszeichen auf dem Kommandodeck. Keine Atmosphäre.« »Alle verfügbaren Repligens auf die Station schicken. Primärziel das Kommandodeck. May an Notfallteam. Mergy ist auf dem Kommandodeck. Keine Gravitation und keine Atmosphäre.« »Verstanden, wir sind unterwegs.« »May an alle Gleiter und Mantas. Start einleiten und Umgebung sichern. Vanquist an Trish und Sab. Wir haben die Station gefunden. Sie ist in einem schlimmen Zustand. Ein Transport ist derzeit ausgeschlossen.«, feuerte May Salven von Kommandos über die verschiedenen Kanäle in alle Richtungen.
»Sandra an Vanquist. Wir können ihn nicht erfassen und gehen an Bord.« May ließ sich den Ausschnitt mit dem Kommandodeck vergrößern. Der weiße Manta näherte sich vorsichtig der Station und dem Kommandodeck, dessen massive Scheiben fast alle geborsten waren. Die ersten Repligens begannen damit die Löcher zu stopfen. »Bereit, Jiyai?« »Ja!«, antwortete die Ärztin in Ausbildung leicht unsicher. Das würde ihr erster richtiger Weltraumspaziergang werden, bei dem sie vorher nicht durch ein Loch gesaugt wurde. Beide hatten sich in die weißen Anzüge gepellt, die lediglich mit Reflektorstreifen um Arme, Beine und Bauch, sowie einem großen roten Kreuz vor der Brust und auf dem Rücken verziert waren. Der Transporter setzte sie mit ihrer Ausrüstung direkt im Kern ab.
Sogleich schwebten sie vom Boden weg, bis das Einschalten des, in der Anzugstechnik verbauten, Gravitationsmodus sie wieder auf die Füße setzte. »Die Steuerkonsole ist dahinten.«, wusste Jiyai von ihrer noch frischen Ausbildung zu vermelden. Sandra machte sich von der anderen Seite auf den Weg um das Hindernis. Der Kommander lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Der fest mit dem Boden verschmolzene Arm fixierte ihn dort. Die vielen Löcher in den Wänden und die fehlenden Fenster hätten den Kommander ohne diese Verbindung ins All gesogen oder zumindest hinausgetrieben, wie die kleineren Dinge, die sie bereits beim Anflug neben der Station geortet hatten.
»Versuch ob du seinen Arm im Anzug ausklinken kannst. Dann können wir seinen Anzug an der Schulter versiegeln und ihn einfach mitnehmen.«, erklärte Sandra, während Jiyai auf dem mitgebrachten Terminal versuchte eine Verbindung zum künstlichen körperteil herzustellen. »Der Arm ist hin. Ich bekomme keine Verbindung. Wir müssen ihn manuell trennen.« Sandra überlegte. Das schützende Metall des Anzugs sollte ihn vor Verletzungen schützen, verhinderte aber jetzt eine einfache Rettung, da sie den kleinen Hebel unter seiner Achsel nicht erreichen konnten, ohne die Rüstung zu öffnen und ihn der Kälte des Alls auszusetzen, was in seinem schwachen Zustand keine gute Idee war und selbst bei einem gesunden Menschen nur die letzte Option darstellen würde.
»Wir müssen den Boden um den Arm aufschneiden und die Platte mitnehmen.«, erklärte Sandra. »Wie machen wir das? Wir haben kein Werkzeug?« »Der Wundschließer kann auch Metall schneiden, wenn man ihn umprogrammiert. Gib mir den Autodoc. Ohne die Medi-Konfiguration ist er ein normaler, aber leistungsschwächerer, Replistick.« Sandra öffnete das holographische Menü tippte durch einige Menüpunkte, die sie durch ihre Hand auf der Lichtwand anwählte, bis sie in einem Servicemenü landete, wie in dicken Buchstaben geschrieben stand. Sie wählte den Wundschließer an, wo sie unter den Optionen auch Schneiden fand. »Hier, aber vorsichtig. Das Ding ist jetzt richtig gefährlich.« Jiyai nahm das Gerät und prüfte mehrfach die richtige Position in ihrer Hand, bevor sie es einschaltete.
Der weißliche Strahl fraß sich durch den Boden, wie durch Butter. Sandra hob Mergy an, was durch die Schwerelosigkeit recht einfach war, damit Jiyai den Kreis um den verschmolzenen Arm schließen konnte. Endlich war der Patient befreit. An einen direkten Transport war dennoch nicht zu denken. Der Anzug verhinderte sowohl das Anklemmen des Autodocs, als auch eines Transportringes und der interne Chip in seinem anderen Arm war durch den Energiepuls genauso zerstört worden, wie die restliche Technik in Anzug. »Beeilen wir uns.«, erklärte Sandra, die jetzt einen Blick auf das altertümliche Instrument an der Vorderseite von Mergys Anzug werfen konnte. Tin hatte bewusst auf rein mechanische Technik gesetzt, um einen Ausfall der Systeme durch die Energiespitzen zu verhindern. Sein Sauerstoffvorrat war bereits im roten Bereich.
Beide Ärzte griffen sich jeweils einen Arm und drückten sich vom Boden ab. Sandra stoppte am zerborstenen Fenster, wo ein Repligen gerade mit der Reparatur beginnen wollte. Die Ärztin verpasste ihm einen Schlag und er schwebte ins Innere. Der weiße Manta wurde von Sandra mit geöffnetem Heck via Fernsteuerung zu ihnen dirigiert. Vorsichtig drückten sie Mergy durch und folgten ihm, bevor die Luke sich hinter ihnen wieder schloss. »Kannst du fliegen und uns auf Medic One landen?«, fragte Sandra ohne weitere Worte direkt nachdem sie ihren Helm abgenommen hatte. Jiyai nickte. Das würde nicht nur ihr erster Flug mit einem echten Manta, sondern auch der erste Unterraumflug und die erste echte Punktlandung. »Mergys Leben hängt von dir ab. Konzentriere dich.«, motivierte sie sich innerlich.
Nach einem kurzen Flug im wieder fast ruhigen roten Raum zwischen den Vortexen rauschte das Medizinerschiff wieder in den Normalraum in Erdnähe, wo Jiyai sofort die Landeerlaubnis einholte und ohne den geringsten Patzer aufsetzte. »Wir sind da.«, sprang sie nach hinten, wo sich Sandra während des Fluges weiter um Mergy gekümmert hatte. Sie hatte schon seinen Helm und den anderen Arm freigelegt, an dem nun der Autodoc hing. Noch bevor sich die Luke komplett geöffnet hatte, standen der Doc und Honk schon am Heck des, nur von einer Schildglocke geschützten, Landedecks und halfen ihnen beim Umladen der, durch die externe Gravitation nun deutlich schwereren, Fracht auf die Schwebetrage.
Über 70 weitere Mantas und Gleiter trafen im neuen Stationsgebiet ein. Sab hatte so gleich drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Sie hatte nicht nur für die zusätzliche Sicherheit der Station gesorgt, sondern auch den Piloten eine Aufgabe zugeteilt, die gerade nicht im Schichtdienst arbeiteten. Die anderen kreisten wie immer in Bereitschaft um den Planeten, um auf Notrufe und Meldungen des Orakels hin zu reagieren. Zudem war somit auch mehr Platz auf den restlichen Schiffen, die ja nun auch der Zivilbevölkerung als Notunterkunft dienten, sofern sie nicht sowieso vor der Mission ausgeflogen worden waren. Ein weiterer Manta mit einem Frachtcontainer und dem Technikteam folgte der kleinen Flotte mit etwas Abstand. Grabbler und Tin sorgen damit für weitere Repligens, deren Einsatz sie sofort auf der Station koordinierten, um die Station so schnell wie möglich wieder in ihren sicheren Heimathafen zurück bringen zu können. Die großen Grablings, die statt zu zweit ein Raumschiff, nun anscheinend allesamt die Station bewegen sollten, suchten bereits ihre vordefinierten Greifpunkte auf.
Auch weitere Sensorabtastungen der Umgebung zeigten neben den unzähligen Schiffen des Ray Teams keinerlei fremde Kontakte. Die Spähschiffe, die weit nach draußen ins All geschickt worden waren, meldeten ebenfalls keinerlei Sichtungen von feindlichen Schiffen, die eine potentielle Gefahr für die schutzlose Station darstellen würden. May saß jetzt schon eine halbe Stunde untätig herum. Ihre Mannschaft, wie auch die Besatzungen der Mantas und Gleiter waren hoch konzentriert. Diese intensive Beschäftigung war nicht nur der Tatsache geschuldet, weil einmal mehr ihre Heimat und ihr Zuhause in Gefahr war, sondern auch wegen der Abwechslung, die diese neuerliche Situation in den Alltag des Teams brachte.
»Charlie, übernimm das Kommando der Vanquist. Koordiniere die Bergung mit Tin, wenn sie soweit ist. Ich fliege zu Medic One, bin aber jederzeit erreichbar, sollte es Probleme geben.«, erklärte der Kommander und Charlie entfuhr nur ein kurzes: »Verstanden!« Er brauchte gar nicht nach einem Grund fragen, denn er war offensichtlich. Jeder wusste wie May und Mergy zueinander standen und wenn er sich vorstellte, in ihrer Situation zu sein, hätte er diese Entscheidung wohl viel früher getroffen. May hatte das Gebiet standhaft gesichert und erst jetzt, wo sie relativ sicher waren und keine Gefahr drohte, zog es sie zu ihrem väterlichen Freund.
Mit einem der letzten Mantas schoss May wenige Minuten später aus dem Schiff und verschwand. Sab stellte keine Fragen und machte keinerlei Anmerkungen. Entweder verstand sie May, oder sie biss sich einfach nur auf die Zunge. Der kleine Kommander landete auf der Krankenstation und war schnell auf der markierten Platte angekommen, die sich ins Innere der kleinen und unbeschädigten Stationsecke absenkte und mit Wänden versehen als Liftkabine weiter fuhr. Im Warteraum vor dem großen Behandlungssaal fand sie Trish und Daneen vor, die schweigend durch die Scheibe blickten. Mergy lag auf dem Tisch. Seine großen Füße ragten wie Monumente in die Höhe, während der Doc und Sandra sich die Untersuchungsergebnisse auf dem Schirm ansahen, die wohl von der Maschine unter dem Tisch aufgezeichnet worden waren.
Auf einem kleineren Tisch lag sein künstlicher Arm. Anscheinend hatte man ihn mit dem Anzug zusammen abgeschnitten. Jiyai hatte, so sah es jedenfalls aus, die Aufgabe den restlichen Arm aus dem Metallmantel zu schneiden. Mit einem Replistick schnitt sie vorsichtig der Länge nach an dem Anzugstück entlang, an dessen Ende noch immer ein Stück des Stationsfußbodens festgeschmolzen war. Mergy selbst war nur noch mit T-Shirt, Hose und Socken bekleidet. Das war wohl genau die Kleidung, die er unter dem Anzug trug, denn May konnte keine anderen Kleidungsstücke im Behandlungsraum ausfindig machen. Einzig der restliche Anzug lag neben dem Tisch an dem die kleine Arztanwärterin werkelte. Sie stellte den Stick ab und legte ihn beiseite. Dann hob sie den Anzugteil, den sie durch die beiden Längsschnitte wie einen Deckel abgetrennt hatte, nach oben ab.
Ihr Blick sprach Bände, als sie in die Öffnung schaute und anschließend etwas zum Doc sagte. May konnte das Gesicht vom Doc nicht sehen, aber das Mädchen machte sich sofort wieder an die Obduktion der Maschine. Die Tischteile erhoben sich und rotierten um Mergy, während die beiden Ärzte sich erstmals dem Arm zuwendeten. Ihre Gesichter waren nicht weniger schockiert als der von Jiyai vorher. Dann wurde der Schild des Tisches aktiviert. Unweigerlich erinnerte sich May an den Tag, an dem sie von Mergy und seinem Arm erfahren hatte. Es war genau so ein Tisch gewesen, im dem der Arm von selbst wie wild gezuckt und um sich geschlagen hatte. Was war damit? Wieso schauten sie, als hätten sie noch nie einen mechanischen Arm gesehen? Die Maschine stoppte und alle drei wendeten sich nun der Schnittstelle an seiner Schulter zu.
Nach einem weiteren Blick auf die Konsole blickte der Doc zum ersten Mal seit Mays Ankunft zur Gruppe der stillen Beobachter. Er sagte etwas zu Sandra, die sich sofort Richtung Vorraum bewegte, während der Doc sich wieder der Maschine und ihren Anzeigen widmete. Als Sandra vor ihnen stand, fragte niemand. Es gab schließlich auch nur eine Frage und die kannte die Ärztin zu genau.
»Für den Moment ist er stabil.«, erklärte sie vorsichtig, ließ aber keinen Zweifel am Folgen weiterer, nicht so guter, Informationen: »Anscheinend ist eine Art Energieblitz direkt in seinen Arm eingeschlagen. Er muss regelrecht geglüht haben und ist beim Auftreffen auf den Boden mit ihm verschmolzen. Der Arm hat ihm das Leben gerettet. So viel ist klar. Wäre es der Andere gewesen, hätte er keine Überlebenschance gehabt. Die Energiepuffer an der Schnittstelle zu seinem Körper haben einen Großteil der Energie aufgenommen und gespeichert. Trotzdem hat er einen heftigen Stromschlag und schwere Verbrennungen erlitten. Selbst von seinem künstlichen Arm ist nicht mehr viel übrig.« May blickte unweigerlich durch das Fenster.
Verbrennungen waren ihr nicht aufgefallen. »Die Verbrennungen sind innerlich.«, nahm Sandra ihre Frage vorweg: »Außerdem wurden Muskeln speziell am Herzen schwer geschädigt. Aber keine Sorge, wir konnten alle Schäden reparieren und kontrollieren ihn ständig.«
»Er wird also wieder komplett gesund?« May war froh, weil Trish diese heikle Frage gestellt hatte, vor deren Antwort sie sich so fürchtete. »Das können wir zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Sein Hirn ist auch betroffen. Wir haben die Schäden behoben, aber wie sich das Trauma auf ihn auswirkt, können wir erst sagen, wenn er wieder wach ist.« »Und wie lange dauert das?« »Zwei Tage werden wir ihn noch mindestens im Koma halten. Erst dann können wir neue Tests machen.«
Erst jetzt bemerkte May wie besorgt Sandra wirklich war. Sie hatte versucht professionell zu wirken, aber die Mauer, die sie künstlich geschaffen hatte, bröckelte mit jedem Wort langsam weiter in sich zusammen. Sandra selbst bemerkte ebenfalls ihre zunehmend an die Oberfläche vordringenden Gefühle und zog sich hastig wieder in den Behandlungssaal zurück.
»Dieser Idiot hat uns das Leben gerettet.«, merkte Trish an, während sie auf den Mann blickte, der schon so lange mehr als nur ein Kollege war. »Wieso?«, fragte Daneen. »Eigentlich wollten Tin und ich die Station steuern. Bei uns wäre der Blitz direkt in den Körper gegangen und nicht von einer Art Armantenne angezogen worden. Bei mir wäre er wohl bestenfalls direkt in die Augen geschlagen.«, hatte der Kommander die Situation schon mit einer alternativen Realität verglichen und eine eigene Schlussfolgerung gezogen.
Unweigerlich dachte auch May über die Mission nach. Trish und Tin hätten nicht nur doppelt so viele Ziele abgegeben, sondern wären ohne diesen Puffer gewesen. Ok, Tin hatte die gleiche Technik in ihren Beinen, aber der Blitz wäre wohl kaum um eine Konsole herum in die Beine geschlagen und nachdem sie von dem Arm gehört hatte, wollte sie sich gar kein Bild von Trish machen, wenn der Energiestoß direkt ihre künstlichen Augen zerfetzt hätte.
Trish verschwand einige Minuten später. Vielleicht ging sie zu Sab auf die Brücke, oder sie musste das Ganze auch erst einmal selbst verdauen. Daneen zog sich nach einiger Zeit ebenfalls zurück, nicht ohne May zu fragen, ob sie nicht mitkommen oder weiterhin Gesellschaft möchte. Ohne es selbst zu wissen stand der kleine Kommander nun schon fast 30 Minuten alleine dort und beobachtete das Ärzteteam hinter der Scheibe, als sich der Duft von heißem Kakao in ihrer Nase verteilte.
Als sie zur Seite blickte stand dort Nim mit einer Tasse, die er demonstrativ neben ihren Kopf hielt, um sie aus ihrer Trance zu holen. »Oh, Du bist lieb. Danke!«, lächelte sie ihn leicht an: »Solltest du nicht auf der Hope sein?« »Ich hab Sab gebeten mich an Bord zu lassen. Wie geht es ihm?« »Nicht so gut. Er hat wohl eine Art Hirnschlag bekommen und sie wissen nicht, ob Schäden zurück bleiben werden.« May setzte die Tasse wieder ab und legte ihren Kopf an die Seite ihres Freundes, der schon seinen Arm um sie gelegt hatte.
»Darum war Sab so leicht zu überzeugen gewesen.«, dachte Nim, während er mit der freien Hand ihren Kopf streichelte: »Er ist ein Stehaufmännchen, auch wenn die großen Füße da nicht so ganz in das Bild passen.« Der kleine Kommander schwieg, obwohl sie das Bild eigentlich ganz lustig fand. »Hat schon jemand Anja Bescheid gesagt?« May riss den Kopf hoch und etwas vom Kakao schwappte durch die heftige Bewegung auf die Untertasse. »An Anja und Daniela hab ich noch gar nicht gedacht.«, murmelte May mit aufgerissenen Augen.
Die Beiden waren erst gerade eine Familie geworden und schon jetzt stellte das Schicksal ihnen eine so schwere Prüfung. May wagte es nicht einmal das Wort Schicksalsschlag zu denken. So weit wollte sie selbst in den Gedanken nicht gehen. »May an Sab. Hat schon jemand Anja Bescheid gesagt?« Sab meinte das man bereits darüber gesprochen hätte und abwarten wollte, bis sich die Lage etwas entspannt hätte. »Ich denke wir sollten es ihr zumindest mitteilen und sie auf die Station holen, wenn sie will.«, hörte Nim seine Freundin sagen, ohne die jeweiligen Antworten des meist muffeligen Kommanders zu hören. »Ja, das mache ich.«
»Bleibst du bei Mergy, während ich mit Anja rede?«, fragte May mit erwartungsvollen Augen. »Nein!«, erklärte Nim. May war irritiert. Wie konnte er ihr diesen Wunsch in dieser Situation verweigern? »Nein?« »Nein! Du bleibst bei Mergy und ich rede mit Anja. Dein Platz ist hier und du willst hier doch eigentlich gar nicht nicht weg.« May war erleichtert. Seine Antwort war nicht böse gemeint, sondern ein ungewöhnlich direkt vorgebrachter Vorschlag, dessen Antwort nur ein Annehmen vorsah.
»Das würdest du machen?« »Mergy ist auch mein Freund und Anja kennt mich. Du bist doch jetzt schon durch den Wind. Wenn du bei Anja die Kontrolle über deine Emotionen verlierst, ist das nicht hilfreich.« May drückte ihm einen Kuss auf die Backe: »Danke.« Nim verschwand wieder in der Tür zum kleinen Treppenhaus, wo er den breiten Lift aufs Dach nahm. Sab fragte weiter nicht nach, als Nim einen Flug zur Erde anforderte.
Sie wollte nicht einmal das Ziel wissen. May hatte einmal gesagt, Sab und Mergy würden sich sehr nahe stehen. Auch wenn er es als schwer nachzuvollziehen fand, Sab als Freundin zu haben, konnte er sie verstehen. Es war einfacher sich im Kommandozentrum der Arbeit hinzugeben, als mit der Realität auf der Krankenstation klar zu kommen. Diesen Punkt würde sie spätestens erreichen, wenn sie Müde ins Bett steigen würde. Da die Station aber noch weit entfernt von einer Nutzbarkeit war, würde ihr das, zumindest auf Mergy bezogen, entgegen kommen.
Im leisen Tarnflug stoppte Nim über dem Haus. Er war noch nie hier gewesen und überlegte. Er konnte sich nicht direkt ins Haus transportieren. Das wäre zu direkt und unhöflich. Eine Prüfung mit den Sensoren des Mantas zeigte nur eine Person im Haus. Das musste Anja sein, denn die Größe passte nicht zu einer vierjährigen.
Er machte eine Lücke im Vorgarten aus, die von keiner Seite direkt einzusehen war. Es war perfekt für einen, wenn auch nicht mit visuellen Effekten verzierten, Transport. Noch einmal tief Luft holend betätigte er die Taste neben der Tür. Anja war im oberen Stockwerk, soviel hatte er auf dem Sensorbild gesehen. Daher würde es etwas länger dauern, bis sie die Tür öffnen könne. Mit einem Rumpeln bewegte sich die massive Holztür aus dem Rahmen und gab den Blick ins Innere frei. »Hallo Nim. Thomas ist nicht da.«, begrüßte Anja ihn direkt.
Der Pilot fühlte sich geschmeichelt. Sie waren erst einige Male zusammengetroffen und hatten, mal von der Gratulation direkt nach der Hochzeit, nicht viele Worte gewechselt und doch nannte sie ihn beim Namen. »Das weiß ich. Kann ich hereinkommen?« »Natürlich. In den Nachrichten sagen sie ihr hättet das Unterraumloch erfolgreich gestopft. Damit ist die Gefahr für die Erde abgewendet, oder?« »Ja, bisher scheint es geschlossen zu bleiben. Tin hat aber einige Sensoren positioniert, die den ehemaligen Übergangspunkt kontinuierlich überwachen.« »Aber du wolltest nicht darüber mit mir sprechen, oder?«
»Leider nein.«, wurde Nim ernster: »Es geht um Mergy, also Thomas. Er wurde bei der Aktion verletzt und befindet sich gerade in Behandlung beim Doc.« Anja wurde kreidebleich. An einen derartigen Grund für seinen Besuch hatte sie nicht einmal ansatzweise gedacht, als sie den jungen Piloten vor der Tür vorfand. »Was ist passiert? Wie schlimm ist es? Kann ich zu ihm? Nein, ich kann nicht zu ihm. Gleich kommt Daniela nach Hause.«, sprudelten die Fragen und Gedanken nur so aus der Frau.
Nim legte einen Arm auf ihre Schulter und blickte ihr starr in die Augen: »Er ist stabil und in guten Händen. Es besteht kein Grund zur Eile. Wir haben Zeit und finden auch eine Lösung für Daniela. Jetzt setz dich erst einmal hin und atme tief durch.« Anja folgte den Anweisungen schweigend. »Wo ist Daniela denn jetzt?« »Sie ist bei einer Freundin. Um 18 Uhr soll sie wieder Zuhause sein.«
»Kann die Mutter des anderen Mädchens vielleicht auf sie aufpassen?« »Ich denke schon. Vielleicht kann sie über Nacht dort bleiben? Morgen ist ja Samstag und sie muss auch nicht in den Kindergarten.« »Dann rufen wir die Frau jetzt an und packen ihr ein paar Sachen für Nacht zusammen.«, blieb Nim weiter gelassen und übernahm die Planung, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Langsam färbte seine Ruhe auch auf die Frau seines Chefs ab.
Schnell war telefonisch alles abgeklärt. Anja erzählte nur etwas von einem Unfall ihres Mannes und am anderen Ende wurden alle Weichen auf Grün gestellt. Sie brauchten nicht einmal etwas zusammenpacken. Zahnbürste und Schlafanzug wären bei der Freundin vorhanden. Der Transport ging direkt aus dem Haus in den Manta, den Nim gleich beschleunigte. Das Bild im All war für Anja genauso ungewohnt wie für Nim.
Von der Station war nur das Kuchenstück der Krankenstation übrig. Es war fast wie damals. Nur die Hope, die Mystery und die deutlich größere Zahl von Gleitern und Containern wichen von den, in ihren aufkeimenden, Erinnerungen ab. Selbst der Grund für die Reise war identisch. Thomas war schwer verletzt. Nim selber wusste nicht viel über seinen Zustand oder er sagte nicht viel, um keine falsche Aussage zu machen.
Als sie im Inneren der Krankenstation ankamen, war von May und Mergy nichts mehr zu sehen. Sandra fing die Beiden ab und bat Anja zum Doc ins Büro, während sie Nim direkt ins Krankenzimmer leitete, wo May am Bett ihres Freundes saß und seine Hand hielt. »Wie lief es?«, fragte May direkt los, als sie Nim in der Tür sah. »Sie war recht gefasst. Der Doc spricht gerade mit ihr.« »Und Daniela?« »Sie ist bei einer Freundin.« Schweigend stellte sich Nim hinter seine Liebste und legte seine Hände behütend auf ihre Schultern. Es dauerte einige Minuten, bis Anja den Raum betrat. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. Der Doc war niemand, der mit den Tatsachen hinter dem Berg hielt und so wie sie ausschaute, hatte er ihr reinen Wein eingeschenkt und die Prognose nicht mit abmildernden Worten eingerahmt.
Mit einem Satz sprang May auf und Nim konnte gerade noch einen Satz zurück machen, um nicht ihren Kopf an den Unterkiefer zu bekommen. Wortlos nahm Anja die Geste auf und setzte sich auf den vormals besetzten Stuhl. »Komm, lassen wir Anja mit ihrem Mann alleine.«, formulierte Nim leise und distanziert. Er drückte May vorsichtig Richtung Tür. Er brauchte einige kleinere Anläufe, um sie aus dem Raum zu befördern, aber schließlich standen sie im Vorraum. »Wir sollten etwas essen und dann schlafen gehen. Es war ein anstrengender Tag.« »Ich will Mergy nicht alleine lassen.« »Er ist nicht alleine. Es wird immer jemand für ihn da sein.« »Nein.«, lehnte May ab. »Mergy würde es wollen.«, bekräftige Nim seine Forderung nach einer Mahlzeit und schlaf.
»Glaubst du das wirklich?« »Nein, ich weis es.« Seine Freundin schaute ihn ungläubig und fragend an. »Erinnerst du dich daran, als er deinen Wecker damals verstellt hat?« »Natürlich erinnere ich mich daran. Was hat das hiermit zutun?« »Ich fand seine Methode auch falsch, aber seine Beweggründe waren richtig. Ich hab dir damals auch gesagt du sollst schlafen gehen.«
»Das hier ist anders.« »Ja, hier ist nicht klar wann er wieder aufwachen wird. Es ist nicht einmal klar wie es dann weiter geht. Du kannst nicht Tagelang bei ihm sitzen. Was glaubst du wie er sich fühlt, wenn er neben einem Zombie aufwacht? Außerdem muss du doch wohl auch Arbeiten und ein unausgeschlafener Kommander ist gefährlich für alle.« Es begann in May zu Arbeiten. Seine Argumente leuchteten ihr ein. Es ging ihm nicht darum sie vom Krankenbett wegzubekommen, sondern um ihre Gesundheit und ihre Aufgabe. Mergy würde in den nächsten Wochen und vielleicht Monaten seinen Aufgaben nicht nachkommen. Vielleicht würde er das nie wieder. Das Ray Team war sein Ding, sein Vermächtnis und so gut die Idee an seinem Bett zu verweilen auch gemeint war, sie würde damit alles in Gefahr bringen, was er mit dieser Aktion gerettet hatte.
»Wo sollen wir denn schlafen? Ist doch sicher wieder alles überfüllt?«, fragte May unsicher, hatte sie von der damaligen Situation nach dem Angriff der Draken doch nur gehört und keinerlei Informationen zur aktuellen Lage. »Sab hat Manta X für die Kommandoebene auf dem Dach geparkt. Da können wir drin schlafen.«, verteilte er sein aktualisiertes Wissen, welches bei der Rückkehr von Sab erhalten hatte: »Essen holen wir uns oben. Dann kannst du auch noch mit Sab und Trish sprechen. Vielleicht gibt es ja schon neue Informationen zur Lage auf der Station.« May nickte und hakte sich bei Nim ein, der sie hinaus führte.
Als Anja nach 30 Minuten aus dem Krankenzimmer kam, stand der Doc schon in Bereitschaft. Er wusste es hatte sie hart getroffen und die Situation im Zimmer, wo sie mit ihren Gedanken alleine war, machte die Sache nicht besser. Sie war bleich und wirkte schwächlich. Der Stationsarzt dirigierte sie direkt in den Scanner. »Ist alles in Ordnung?«, fragte Anja ängstlich. »Ja, aber du musst in deinem Zustand mehr und vor allen Dingen regelmäßig etwas essen. Jiyai besorge uns die medizinische Notration Nummer 7 aus dem Verteiler!« Das Mädchen tat wie angewiesen und wenige Momente später stand sie mit einer kleinen Untertasse und fragendem Blick neben ihnen. Auf dem Teller befand sich nur eine Praline aus dunkler Schokolade, die mit hellen Streifen verziert war. »Essen!«, kommandierte der Doc. Anja griff zur Süßigkeit und war nur froh das er nicht gleich ein großes Menü angefordert hatte. »Deckt den kompletten Tagesbedarf eines Erwachsenen.«, erklärte der Doc und warf mit einem Lächeln ein »Eine ganze Schachtel sollte man davon also nicht essen.« nach.
Die Tage im Schloss waren lang geworden. Mergy war nicht mehr der Selbe. Als der Doc ihn vor ein paar Tagen aufgeweckt hatte, flogen buchstäblich die Fetzen. So hatten sie ihn noch nie gesehen. Er hatte Todesangst, ließ niemanden an sich heran und verstand nicht was passiert war. Die Sache mit dem fehlenden Arm war für ihn wohl der größte Schock. Die Erinnerungen an sein halbes Leben hatte er verloren und nun wachte er ohne seinen Arm an einem fremden Ort mit fremden Menschen auf. Als May dazu kam, rappelte sich der Doc gerade vom Boden hoch, während Sandra versuchte zu erklären, wer sie waren und was sie taten.
Mergy, immer noch auf seinem Bett, verpasste ihr einen Tritt und sie flog im hohen Bogen durch den Raum. May konnte den Aufprall auf dem Boden gerade noch verhindern und setzte die für einen Moment verwirrte Ärztin wieder auf die wackeligen Füße. May drückte ihren Freund auf die Matte zurück und Sandra aktivierte den im Bett eingelassenen Schild, der ihn in seiner Position fixierte. Mergy war schockiert. Hilflos war er den Anwesenden ausgeliefert und obwohl sein Mund nur die Kraftanstrengung wiederspiegelte, die er aufbrachte, um der unsichtbaren Fessel entgegenzuwirken, waren seine Augen voller Angst. Der kleine Kommander schickte die beiden Ärzte hinaus und versuchte alleine die Lage zu klären.
So erfuhr sie von dem Verlust seiner Erinnerungen. Es dauerte einige Zeit, bis sie ihrem väterlichen Freund davon überzeugt hatte, nicht entführt worden zu sein. Auch die Amputation seines Armes konnte sie erklären, auch wenn sie selbst nie erfahren hatte, wie es damals dazu gekommen war. Es war wohl eine Landmine gewesen und Mergy hatte versucht Kindern zu helfen. Diese Erfahrungen hatten dann zur Entwicklung des Körperschildes geführt, der nun jedem Ray Team Mitglied zur Verfügung stand und schon so oft nicht nur ihr Leben gerettet hatte. Erst ein Spiegelbild konnte ihren väterlichen Freund die fehlenden 23 Jahre plausibel machen und von den Gedanken an eine Zeitreise abbringen.
Innerlich musste May schmunzeln. Dieser Typ war so gar nicht der Mergy, den sie kannte, aber die Idee mit der Zeitreise hätte auch Wort für Wort vom gesunden Kommander stammen können. Langsam stellte sich eine gewisse Ruhe ein und May schaltete den Schild ab, um ihrerseits etwas Vertrauen zu zeigen. Erstmals fragte Mergy nach seiner Familie. Der Tod seiner Großeltern traf ihn hart. Er hatte wohl immer schon mehr Bezug zu ihnen gehabt, als zu seinen Eltern, obwohl er sie weniger oft sah. Außerdem erfuhr er von seinen Geschwistern und deren Kindern. Das interessierte ihn aber nur für einige wenige Sekunden, denn der vermeintliche Spiegel hatte seine Aufmerksamkeit erhascht. May hatte den Terminal vom Spiegelmodus zurück in den normalen Modus gestellt und zeigte ihm Familienfotos.
Fasziniert faselte er von Bildröhren und Batterieverbrauch, als May erklärte das wäre ein Computer. Schnell waren seine Zweifel abgeklungen und er navigierte wie ein kleines Kind durch das Gerät. Erst als May seine eigene kleine Familie erwähnte, hielt er wieder inne. Heiraten stand wohl nicht auf der Liste eines 22 Jährigen und als der Lila Kommander ihm half die Bilder von der Hochzeit zu finden, wurde er still. Die junge Dame kannte den Blick, der kurz in seinem Gesicht aufflackerte und dann wieder kaschiert wurde. Er war entsetzt und konnte sich nicht vorstellen mit dieser Frau verheiratet zu sein. Klar, aus seiner jetzigen Sicht war sie deutlich älter, aber die ganze Optik passte ihm nicht. May erklärte ihm die Adoption von Daniela und konnte nicht umhin zu erwähnen, ihren Freund noch nie so glücklich gesehen zu haben, wie am Tag seiner Hochzeit. Der neue Mergy, konnte sich nicht im Entferntesten vorstellen, wieso er auf diese Frau so lange gewartet hatte.
May wollte und durfte ihn nicht überfordern. So erzählte sie ihm anfangs nichts vom Ray Team und korrigierte ihn nicht, wenn er meinte er wäre in einem Krankenhaus. Das kam erst einige Tage später. Nachdem er seine Frau getroffen hatte. Für Anja war es schrecklich. May konnte es in ihrem Gesicht lesen. Es sprach förmlich Bände. Sie hatte es auch gesehen. Diese Ablehnung. Dieses Unverständnis. Der kleine Kommander versuchte alles, um sie zu beruhigen. Ein Teil des Pakets war verloren gegangen. Der Teil, der ihn zu dem Mergy machte, den sie beide so liebten. Durch Anjas Beruf hatte sie natürlich deutlich mehr Hintergrundwissen über seine Lage, aber dieses schien ihr momentan nicht zugänglich. Erst als May die in Tränen zerfließende Frau im Sors in den Arm nahm, wurde sie langsam wieder ruhiger. Es bestand schließlich immer noch Hoffnung die verlorenen Jahre, den verlorenen Ehemann und auch den Kommander wieder zu bekommen.
In den ersten Wochen besuchte Anja ihn oft. Dann brachte sie es nicht mehr fertig. Zu schwer lastete die Aufgabe die kleine Familie zusammenzuhalten auf ihrer Seele. Immer wenn Daniela fragte wo Thomas sei, konnte ihre Mutter nur auf ein Krankenhaus in weiter Ferne verweisen. Das junge Ray Team Mitglied konnte es ihr nicht vorhalten. Sie musste Daniela versorgen und die Identität ihres Mannes, und damit auch die Reste ihrer kleinen Familie, auf der Erde schützen. May übernahm ihren Teil im großen Schloss. Wären da nicht die vielen kleinen Dinge gewesen, hätte May es selbst nicht geglaubt. Der neue Mergy war ungehobelt, spitz und oft obszön. Einige Male hatte er sogar versucht sie anzubaggern. Nunja, er fühlte sich wie 22 und sie wäre somit im passenden Alter, wie May sich eingestehen musste.
Dann wieder spielte er an dem Terminal, dessen Fähigkeiten er immer mit Dingen verglich, die May nicht kannte. Erst als das Wort Manta fiel, sprang sie darauf an und schaute aktiv auf dem Bildschirm, der ein Computerspiel zeigte, in dem der Spieler einen sehr rudimentär und pixelig aussehenden Manta über nicht weniger grobe Raumstationen fliegen musste. Die Erlaubnis vom Doc hatte sie schon. Der Kommander war, abgesehen von seiner Wissenslücke, wieder gesund und drängte schon seit Tagen endlich nach Hause zu dürfen und May hatte diverse Fragen zu seiner verlorenen Zukunft nicht beantwortet, um ihn nicht zu überfordern.
Der Manta war ein Wink, eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, den May nutzen musste. Seine Lieblingsweste im Schrank erkannte er sofort. Als Mergy aus dem Bad kam, sah er aus wie immer. Als wäre nie etwas passiert. »Herr Merninger, ich denke es ist an der Zeit ihren Kopf mal etwas auf Trab zu bringen. Lust auf einen Ausflug? Bereit dazu?« Mergy nickte und wunderte sich, weil seine neue Freundin nicht einmal Richtung Tür zuckte. »Jaque, es kann losgehen.« Momente später standen beide im Korridor vor Hangar 3 und seine Reisebegleitung musste helfend eingreifen und ihn festhalten, da er zu schwanken begann.
Thomas sprach fließend Technobabbel. Das hatte May nicht zum ersten Mal bemerkt. Aber anstatt Worte zu benutzen, wie der alte Mergy, verwendete dieser ihr komplett unbekannte Begriffe. Als würde er einen fremden Dialekt sprechen. Da sie sowieso nicht verstand, wie er den gerade erlebten Transportvorgang technisch beschrieb, drückte sie die Tür zum Hangar auf und stellte ihn schlagartig ruhig. Der Hallenkran war gerade dabei einen Manta abzusetzen. »Ich hab mich immer gefragt, wie du auf das Äußere gekommen bist.«, lachte May und stieß ihm gegen die Schulter: »Geklaut. Einfach nur aus einem Videospiel geklaut.« Schweigend folgte ihr Begleiter in den Hangar und in den Manta. Die in der Pilotenrolle angekommene May holte derweil die Starterlaubnis ein.
Sie konnte deutlich sehen, wie die Stimme von Sab ihn zusammenzucken ließ. Er hatte ihr nur von einer gruseligen blonden Frau erzählt, die ihn öfter besuchen würde und May konnte sich ihren Teil denken. Mit ihr gut befreundet zu sein, war ihm genauso abwegig erschienen, wie die Ehe mit Anja. Das Raumschiff rauschte aus dem durch Schilde gesicherten Ende des Tunnels. Das Gesicht ihrer Begleitung wurde immer starrer. Er realisierte, er war im Weltall und nicht in einem Krankenhaus auf der Erde. Er war auch nicht in einer geheimen Basis auf dem Planeten gewesen. In mehreren Kilometern Abstand rollte May den Manta um seine Achsen und erstmals zeigte sich die Station vor ihnen. »Darf ich vorstellen. Ray Team One. Deine Station! Die größte von Menschenhand gebaute Struktur im All.«
Sein Gesicht sprach Bände. Nicht nur das er in seinem Spielzeugraumschiff saß, sondern nun auch die Raumstation und das All forderten seine ganze Aufmerksamkeit. Minutenlang sog er den Anblick des langsam rotierenden Gebildes auf. Schließlich wollte er wissen ob es wirklich seine Station war und May erklärte wie es zur Station und zum Ray Team kam. Die ersten Missionen und seine Rettung von May blieben nicht unerwähnt. Es waren viele Informationen, die sein Kopf eigentlich schon gespeichert hatte, aber nicht mehr zu finden vermochte. Nach einer Stunde, in der sie sich unterhaltend im All von den minimalen Gravitationswellen hatten treiben lassen, setzte May wieder Kurs auf ihre Heimat.
Mergy brauchte seine Zeit um die ganzen Informationen zu verarbeiten und so beschloss May im Sors etwas zu essen. Sie saß nun schon über 20 Minuten hier und dachte über die letzten Wochen nach. Es war nicht nur Mergy, sondern auch Nim, der sie beschäftigte. Der Streit gestern war ihr sehr nahe gegangen. Mergy hatte sie über ihre Fähigkeiten ausgefragt und meinte, wenn sie ein Alien wäre, dann wäre er mehr als nur bereit ihren Planeten neu zu bevölkern. Nim war explodiert und machte einen unüberhörbaren Sprung nach vorne, der vom Wegfliegen seines Stuhls in die entgegengesetzte Richtung nur noch unterstützt wurde. May konnte gerade noch dazwischen gehen. Nim war außer sich und May beförderte ihn am Arm ziehend direkt über die Promenade in den Lift, den sie aber nur als Sprachbox nutzte, in dem sie ihn direkt nach dem Schließen der Tür sofort stoppte.
Noch nie hatte sie ihn so derbe und hart angeschrien. Die Beengtheit des Liftes warf den Schall, der Nim nicht traf direkt, zurück, um ihn von hinten zu erwischen. Nim hatte keine Chance und seine Argumente blieben unausgesprochen. Bis hoch zum Kommandodeck hörte man die Explosion des Kommanders. Dann wurde es still. May verließ den Lift, während Nim erstarrt stehen blieb. »Deinen Freund kann man ja anknipsen wie eine Lampe.«, kommentierte Mergy die Lage bei ihrer Rückkehr. May schaute finster und Sekunden später schwebte ein Stuhl über dem Tisch. »Mach das noch einmal und das passiert mit dir.«, fauchte sie ihn an und der Stuhl wurde schlagartig zu einem Klumpen Metal verformt.
May prüfte die Uhr. Eigentlich hätte Nim schon lange da sein müssen. Sie schaute sich um. Ihr Freund war auch an keinem der anderen Tische zu sehen. Nach dem Streit gestern wäre es kein Wunder gewesen, wenn er sich zum Essen hereingeschlichen und woanders einen Platz gesucht hätte. »Jaque, wo ist Nim?« »Nim hat die Station vor zwei Stunden verlassen.« Hatte er eine zusätzliche Schicht angenommen, um ihr fern zu bleiben? May erhob sich zögerlich. Den normalen mittäglichen Trubel nahm sie gar nicht war. Auch Wrecker, der seit unzähligen Wochen mal wieder auf der Station verweilte, wurde nur ansatzweise von ihr wahrgenommen. Sie antwortete automatisiert auf seinen Gruß. Mehr nicht.
Die Müdigkeit nahm mehr und mehr die Kontrolle über ihren Körper und leitete sie direkt ins Schlafzimmer. Ein Ballen aus lila Stoff, der am Fußende auf dem Bett lag, fiel direkt in ihr Blickfeld. Es sah aus wie ein längliches Handtuch. In einer Ecke war ein kleines Bedienfeld und eine Anzeige. Auf Nachfrage erklärte Jaque, es sei eine Heizdecke. Während May sich noch über das ungewöhnliche Gerät wunderte, vermeldete der Bildschirm im Wohnzimmer lautstark eine neue persönliche Nachricht, die May zum Raumwechsel zwang. »Abspielen« May erstarrte, als sie Nim auf dem Bildschirm sah. »Hallo May. Wenn du diese Nachricht erhältst, bin ich bereits weg.« May fiel rückwärts auf das Sofa, während ihr älterer Kollege eine kurze Pause einlegte, als hätte er es genau so vorausgesehen.
»Alle haben in den letzten Wochen versucht dich wieder in die Spur zu bekommen, aber du hast es nicht zugelassen. Es sind Dinge passiert, die ich meiner May nie zugetraut hätte. Hässliche Dinge. In den letzten Tagen habe auch ich versucht zu dir durchzudringen, aber auch mir ist es nicht gelungen. Ich will nicht zusehen, wie du dich kaputt machst und wie du Mergys Traum zerstörst. Du sagst du willst ihm helfen, aber tust das Gegenteil. Suche nicht nach mir. Leb wohl.« Das Bild sprang wieder auf das hüpfende Logo zurück. May starrte auf das wippende Symbol. Er war weg. »Jaque, wo ist Nim hin?« »Er ist mit dem morgendlichen Ziviltransport abgereist und in Huston ausgestiegen.«
»Orte ihn mit den Satelliten.« »Ohne seine Transponderchips ist das nicht möglich.« »Er hat keine Chips mehr?« May kippte der Länge nach auf das Sofa. Er war wirklich weg. Ohne die Option ihn mit der Technik zu lokalisieren, wäre es unmöglich ihn zu finden. Sie könnte ihre Superkräfte einsetzen, aber was sollte sie machen, wenn sie ihn finden würde? Ihn zur Rückkehr zwingen? Er sah so traurig aus. Von Satz zu Satz konnte sie den Schmerz sehen, der in ihm wütete. Er wollte nicht gehen. Das Team war auch sein Ding. Er liebte die mit seiner Arbeit verbundenen Aufgaben und jetzt war er da unten alleine auf der blauen Kugel.
Er war nicht auf Entdeckertour. Er war nicht von Aliens entführt oder in einem Mediblock eingefroren. Es war nicht ein Moon Schuld an der ganzen Situation. Es war ihre Schuld. Sie versuchte sich an die letzten Momente mit Nim zu erinnern. Es gab nur Bruchstücke. Schon der Streit im Lift war kaum mehr als ein Aufflackern von Bildern, untermalt von Wortfetzen. Die letzten Wochen waren wie eine defekte Datenbank. Da war nichts brauchbares. Nicht einmal die Treffen mit Mergy waren vorhanden. Die, wie mit einer billigen oder kaputten Kamera gemachten, Bilder schmerzten, pochten und klopften in ihrem Schädel. May schwankte ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Die Gedanken an Nim, das Video und die immer wieder gestarteten Versuche ihrem Kopf doch noch Informationen zu entlocken, trieben sie nach ein paar Minuten in den Schlaf.
Nur wenige Stunden später weckte Jaque sie, wie zuvor definiert. Nim war nicht da. Mays Blick fiel auf die Heizdecke. Träge erinnerte sie sich an das Video. Bruchstücke. Schmerzen durchfluteten ihren Schädel schon nach wenigen Sekunden. In ihrer zerknautschten Kleidung wankte sie hinaus zum Lift. Als sich die Krankenstation vor ihr auftat, konnte sie sich schon nicht mehr an den Weg dahin erinnern. Sandra war zur Stelle, als May schwankend und Kreidebleich in den Behandlungssaal der Weltraumklinik trat und sie zu einer der Liegen beförderte. »Mir ist schwindelig, mein Kopf tut weh und ich kann mich schlecht erinnern.« Der Doc trat an den Tisch: »Wow, du hast wirklich lange durchgehalten. Willst du unsere Hilfe?«
»Ja, warum sollte ich sonst hier her kommen?«, erklang die Antwort unfreundlich und mit geschlossenen Augen, um ihre Schmerzen besser zu kontrollieren. Sandra zog sie auf die nächste Liege, klemmte ihr einen Autodoc an und die akustischen Vitalzeichen des Gerätes hämmerten in Mays Kopf. »Soll ich?«, fragte Sandra. Der Doc nickte und kaum hatte sie einige Tasten gedrückt, war May weg. »Ich schätzte mal sie ist auf dem Boden angekommen.«, merkte die Ärztin an. »Es war nötig. Bringen wir sie ins Krankenzimmer.«
Zwei Tage war May weggetreten. Sie brauchte einige Momente um zu realisieren, wo sie aufwachte. Wohl durch die Sensoren angelockt kamen Sandra, Doc und Jiyai ins Zimmer. »Das komplette Team. So schlimm? Was ist passiert?« »An was kannst du dich denn erinnern?« »Kopfschmerzen, Schwindel.«, May riss die Augen auf: »Nim ist weg!« Sandra warf einen Blick auf die Anzeigen: »Sieht gut aus. Noch Kopfschmerzen?« »Nein.« »Tja, was etwas Schlaf so ausmacht.« Der Doc leuchtete in ihre Augen, während Jiyai ungewohnt unsicher am Autodoc hantierte, ihn zittrig entfernte und noch in der Drehung versehentlich fallen ließ. Lautstark knallte das Gerät auf den glatten harten Boden. Das Mädchen schreckte mit einem Sprung zurück, als würde May ihr dafür persönlich den Hintern versohlen.
»Was ist denn mir dir los?«, fragte May erstaunt. »Das fragst ausgerechnet du? Sie hat Angst vor dir.«, erklärte Sandra beim Aufheben der Maschine: »Und da ist sie wahrlich nicht die Einzige.« »Du kannst dich nicht daran erinnern, oder?« Der Doc sah sie fragend an und May spulte in ihrem Kopf umher, aber die Datenscherben gaben keinerlei sinnvolle Informationen preis. Bildfragmente, die wie Puzzleteile aufflackerten. Tonfetzen. »Ich sehe nur Schrott.« »Das wird wohl auch so bleiben. Der Körper ist eine Maschine, die man pflegen und versorgen muss. Du hast in den letzten Wochen nur Raubbau betrieben. Dein Hirn hatte schlicht keine Energie mehr, um alle Informationen zu verarbeiten. Dein Körper hat sich auf die Lebenserhaltung konzentriert.«
Sandra reichte ihr einen Terminal, der vergrößert zeigte, wie sie in die Krankenstation torkelte. Bleich, schwankend und schwach. May verarbeitete die Informationen, während Sandra eine andere Aufzeichnung suchte. Anscheinend das Flugtraining mit ihren Schülern, die versuchten einen havarierten und rotierenden Gleiter im Vorbeiflug anzudocken. Die Schiffe kollidierten, die Mission schlug fehl und die Simulation schaltete wieder auf Anfang. May riss die Tür auf und brüllte in das Gefährt. Sie konnte sich sehen, aber nicht glauben was sie sah. Das Video endete damit das Jiyai heulend aus dem virtuellen Hangar flüchtete.
»Wieso machen die Kadetten Dockingflüge? Die sollten erst einmal die Torübungen perfektionieren. Das ist viel zu früh.« »Sie haben gesagt wir sollen das machen, Kommander.«, erklärte Jiyai distanziert und vorsichtig, um bloß nicht eine weitere Brüllattacke auszulösen. »Da sind noch einige Aufzeichnungen mehr. Du hast bis Morgen strikte Bettruhe.« May sah sich die verfügbaren Videos an. Auch die Aufzeichnung von Nim, an die sie sich kaum mehr erinnern konnte. Tränen stiegen in ihr auf und flossen die Wangen herunter, als sie Nim dort so traurig sah. Er war weg. Würde sie ihn je wiedersehen? Sie hatte so viel Schaden und Schmerz verursacht. Wie konnte sie ihren Freunden, ihrer Familie, nach all dem noch unter die Augen treten.
Trish hatte wohl vom Doc den aktuellen Zustand des kleinen Kommanders erfahren und stand plötzlich schweigend im Zimmer. May hatte sich in ihrem Leben noch nie so für etwas geschämt: »Es tut mir leid.« »Wenn dein Herz die Kontrolle übernimmt, wirst du gefährlich. Mergy hatte letztlich recht mit seiner Aussage, auch wenn er wohl deine Superkräfte als die eigentliche Gefahr in diesem Zustand angesehen hat. An selbstzerstörerische Tendenzen und die Konsequenzen für Dritte hatte er wohl nie gedacht.« May schniefte. Schweigend blieben beide Parteien einige Minuten ruhig. »Ich wollte Mergy helfen. Er ist gefangen. Genau wie ich damals.«
»Wie du?«, war Trish erstaunt über den seltsamen Vergleich: »Bei den Schon-Or?« »Nein, früher. Auf der Erde. Ich war alleine und hab im Müll geschlafen. Ich habe Müll gegessen. Schließlich war ich kein Mensch mehr, ich war Müll und die Menschen haben mich wie Müll behandelt. Wie ein altes Ding, dass niemand mehr will. Mergy hat mich nie so gesehen und aus mir wieder einen Menschen gemacht. Jetzt hat er ähnliche Probleme. Er kann nicht zurück auf die Erde und hier gehört er in seinem Zustand auch nicht wirklich dazu. Er soll sich nicht vorkommen wie unnütze Einrichtung, ein altes Museumsstück. Wie Müll!«
Die Tränen brachen aus May heraus. Trish konnte nicht anders als sich auf die Bettkante zu setzen und sie in ihre Arme zu schließen. May hatte noch nie so offen über ihre damaligen Gefühle gesprochen. Klar hatte sie einige Details von ihrem Leben auf der Straße erzählt, aber dieser offene Ausbruch von durchlebten Gefühlen und Erfahrungen machte selbst Trish sprachlos und traurig. Natürlich hatte sie sich mit Mergys Situation beschäftigt, aber die Beweggründe ihren Kollegen vor ähnlichen Erfahrungen zu bewahren musste sie bewundernd anerkennen. May hatte alles andere beiseite geschoben, um ihrem Freund nicht das Gefühl zu geben ungewollt und abgelegt worden zu sein.
Viel hatte auch das Kommando in letzter Zeit nicht mit Mergy zu tun. Er war einfach da, wurde gegrüßt und man ging seiner Arbeit nach, während er krampfhaft versuchte sich zu erinnern oder sich anzupassen. Ihre junge Kollegin hatte unwissend ihre Gesundheit riskiert. Tagsüber bei Mergy und danach kam die eigene Arbeit. Für Schlafen, Essen und das Privatleben war da kein Platz gewesen und sie hatte letztendlich den Preis dafür bezahlt.
»Doc? Wie bist du eigentlich zum Ray Team gekommen? Wurdest du auch von Mergy gerettet, wie die meisten hier?«, fragte Jiyai ihren älteren Kollegen, der zusammen mit ihr in seinem Büro saß und über das Terminal Informationen aus der ganzen Welt aufsog. Es war mittlerweile ein kleines Ritual zwischen den Beiden. Wann immer sie zusammen Dienst schoben und es nichts zu tun gab, zogen sie sich für einige Zeit in das kleine Zimmer zurück. Jiyai lernte und der Doc beantwortete ihr Fragen zum Unterrichtsstoff oder anderen Dingen aus ihrem Leben. Heute war augenscheinlich er selbst das Ziel ihrer Wissbegierde.
»Höchstens vor der Monotonie und der Langeweile.«, schmunzelte der Arzt in seinem hohen Schreibtischstuhl mit den gepolsterten Armlehnen: »Mergy hat mich auf seine unnachahmliche Art und Weise überredet hier mitzumachen.« »Erzählst du mir davon?« »So spannend wie deine Geschichte ist meine sicherlich nicht, aber wenn es dich interessiert, gerne.« Der Doc legte den Terminal klappernd auf den Tisch, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und begann mit seiner Erzählung. Die dunklen Flecken in seiner Karriere ließ er dabei aus. Mergy, oder besser dieser Thomas Merninger, hatte ihn mehrfach per Mail angeschrieben und reichlich verlockende, aber auch ziemlich schwammige Aussagen zu einer möglichen zukünftigen Arbeitsstelle gemacht.
Schließlich saß er in der Lobby eines Mittelklasse Hotels, um die Angelegenheit persönlich zu klären. Das Rumgeeiere und die vagen Fakten auf elektronischem Wege brachten sie beide nicht weiter. Mergy wollte auch keine weiteren Details in den unverschlüsselten Mails nennen. Wegen der Sicherheit, wie er meinte. »Ob er nicht mehr für die Menschheit tun wolle?« Das war die letzte Frage die Mergy ihm gestellt hatte. Die Antwort darauf konnte er nicht geben. Wie sollte dieses »mehr« aussehen und wieso überhaupt dieses hochgestochene »Menschheit« in der Frage? Trend Ingrim, so nannte sich der Doc, als er noch auf der Erde wohnte, wartete geduldig auf seinen Gastgeber. Er wohnte gleich um die Ecke und wenn dieses Treffen nur dazu dienen würde ihm kostenlos den Magen zu füllen, dann wäre das eben so. Das zumindest hatte er sich vor dem Spiegel in seinem heimischen Flur noch einmal eindringlich zugeflüstert.
Er war zu früh. Jedesmal wenn ein Herr in einem Anzug aus dem Lift stieg, fragte er sich ob das dieser Thomas Merniger war, mit dem er seit mehreren Monaten über Gott, die Welt und medizinische Fragen diskutierte. Nur eins war ihm klar. Er hatte keine Ahnung von seinem Beruf. Fachkenntnis konnte man ihm nicht vorgaukeln. Herr Merninger hatte auch nicht versucht ihn dahingehend zu täuschen. Das war in Pluspunkt. Trotzdem war es irritierend. Trotz all der niedergeschrieben Gespräche hatte er keine Ahnung, was seine eigentliche Aufgabe wäre, wenn er den Job annehmen würde.
Ein großer Typ in Jeans und einem Pullover, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, trat aus dem Lift. »Wieder nicht.«, dachte Trend, doch genau dieser Mann trat direkt auf ihn zu. »Hallo, ich bin Thomas Merninger.« Dem Arzt blieb keine Gelegenheit seine Verwunderung hinter einer professionellen Maske zu verstecken. »Wenn man alle Menschen gleich behandeln will, dann sollte man nicht zu sehr auf ihre Art sich zu Kleiden fixiert sein.«, deutete Thomas seinen Blick richtig.
Ja, damit hatte er recht. Seine Patienten behandelte er auch stets gleich, ohne ihrer Herkunft oder der Qualität ihrer Kleidung besondere Bedeutung beizumessen. Egal wie das Treffen heute ausgehen würde. Mit dieser Aussage hatte der noch mehr oder weniger Unbekannte bereits einige weitere Pluspunkte gesammelt. »Zum Restaurant geht es dort entlang.«, deutete Thomas nach einer echten Begrüßung auf einen Eingang zwischen Lift und einer größeren Pflanzenansammlung, die wohl nur dazu diente den Blick vom Eingang auf die Rezeption zu fokussieren, anstatt auf eine nur einseitig geöffnete Doppeltür des Restaurants.
Eine Dame am Eingang wies ihnen rasch den vorbestellten Tisch zu und reichte die Karten. Thomas brauchte nicht einmal seinen Namen zu nennen. Die junge Frau wusste um den Hotelgast und seine Reservierung. Diese Professionalität wiederum mussten beide Gäste, wenn auch still schweigend, anerkennen. »Ich weiß. Sie haben viele Fragen und ich war immer sehr vage.«, lächelte Thomas verschmitzt. »Das kann man wohl sagen.«, erklärte der Mediziner in mehr gelangweilter als neugieriger Stimmlage. Er verzog dabei keinen Muskel seiner Mine.
»Glauben sie mir, wenn ich direkt mit der Tür ins Haus fallen würde, dann würden sie sofort lachend aus dem Saal rennen. Daher fange ich klein an und arbeite mich langsam zum Finale hoch. Denken sie einfach nur an die gratis Mahlzeit und ziehen sie es durch. Egal wie verrückt ich nachher klingen werde.« »Das klingt fair.« Innerlich musste der Mediziner grinsen. Damit hatte er wieder einen Punkt getroffen, der ihn schon vor dem Verlassen der Wohnung beschäftigt hatte und wieder waren sie einer Meinung. »Gut. Gleich vorweg. Ich kann später bei Bedarf alles beweisen, um jeglichen Zweifel auszuräumen. Es macht ja auch keinen Sinn ihnen etwas vorzumachen.«
Damit hatte er natürlich abermals recht. Welchen Sinn sollte es haben eine Organisation, Firma oder was auch immer und einen Job zu erfinden, den es gar nicht gab? Die Bedienung in formeller Hoteluniform nahm die Getränkebestellung auf und unterbrach die monotone Unterhaltung für einen kurzen Moment. Beide hatten feste Vorstellungen von ihrer Mahlzeit und so diktierten sie gleich die Essenswünsche. »In dieser Welt dreht sich alles ums Geld. Medikamente werden nicht entwickelt, weil die geringe Zahl von Erkrankten nicht rentabel ist. Forschung, die innerhalb von einem fixen Zeitraum nicht erfolgreich ist, wird eingestellt, obwohl man nur ein wenig mehr Zeit oder eben Geld gebraucht hätte.«
Trend nickte. »Sollten sie die Arbeit aufnehmen, bekommen sie eine eigene Klinik, ein Labor und unbegrenzte Ressourcen.« »Und wo ist der Haken.« »Oh, es gibt einen. Einen dicken Fetten mit fiesen Widerhaken.«, erklärte Thomas: »Aber in erster Linie, ich will hier nichts überstürzen, sind sie für die Gesundheit unserer Leute zuständig.« »Unbegrenzte Ressourcen? Sie meinen Geld.« »Nein. Im Gegenteil. Wir haben kein Geld. Sie würden auch kein Geld verdienen, sondern nur für die Sache arbeiten. Erster Haken.«
Nach einer Pause legte Thomas nach: »Wir bauen gerade eine geheime Basis. Gewissermaßen eine Stadt, in der einige hundert Menschen leben und arbeiten sollen. Es wird eine eigene kleine abgeschottete Welt. Sobald wir von einem Notfall erfahren, fliegen die Piloten die Orte an und retten Menschenleben.« »Eine Geheimorganisation? Und woher kommt das Personal?« »Geheim nur so lange, wie nötig. Wir holen die Leute buchstäblich von der Straße. Junge Menschen die durchs Raster gefallen sind. Sie bekommen ein Zuhause, eine Ausbildung und eine Aufgabe. Kurz: Sie bekommen eine Zukunft.« »Gegen ihren Willen?« »Natürlich nicht. Sie haben die Wahl. Natürlich werden wir vor dem Kontakt die Personen durchleuchten, so wie ich es bei ihnen getan habe.«
»Sie wissen?«, stellte der Arzt nun eine halbe Frage, die eine dunkle Wolke in seiner Vergangenheit betraf. »Ja, aber keine Sorge. Ich wäre nicht hier, wenn ich glauben würde es befände sich nur ein Hauch von Wahrheit in der Aussage dieser Person. Heute schon Zeitung gelesen?«, schien Thomas das Thema zu wechseln. »Ja, natürlich.« Mergy schaute sich um. Am Nebentisch wurde er bereits fündig: »Dürfte ich mir ihre Zeitung mal kurz ausleihen?« Auf das Nicken des Herren im edlen Zwirn am Nebentisch hin, dessen weibliche Begleitung nicht weniger der gehobenen Klasse angehören zu schien, nahm Thomas die Zeitung und legte sie mit dem Titel nach oben so auf den Tisch, damit Doktor Ingrim ihn lesen konnte: »Was haben sie gedacht, als sie darüber gelesen haben?« Er blickte auf das Archivbild einer gesunkenen Partyjacht. »Das es eine Tragödie ist. All diese jungen Menschen.« »Wissen sie was ich gedacht habe?« Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. »Ich habe gedacht: Nur einer unserer Flieger und ein Pilot und es wäre niemandem etwas passiert.«
Thomas ließ die Worte sacken und reichte die Zeitung zurück. »Aber wie kommen sie ohne Geld an die nötigen Ressourcen.« »Eine gute Frage. Sie hören noch zu. Sehr gut. Einfach gesagt, wir haben eine Maschine, die nur den Bauplan und Energie benötigt und schon hat man das Objekt.« »Einfach so?« »Naja, so einfach ist es aktuell noch nicht, aber wir noch arbeiten daran es zu verbessern. Wenn sie sich ein Fantasiegerät für ihre Arbeit wünschen könnten, was wäre das?« Thomas war neugierig in welche Richtung der Wunsch gehen würde. Helfen oder Forschen? »Eine Möglichkeit universelles Kunstblut herzustellen, welches die Abhängigkeit von Blutspenden komplett eliminiert. Blut ist immer ein knappes Gut.« »Haben wir schon.«, lehnte sich sein wunderlicher Tischpartner weit aus dem nicht vorhandenen Fenster.
Die Bedienung brachte die Vorsuppe und verhinderte abermals eine direkte Antwort. »Sie können verträgliches Kunstblut herstellen?« »Nein, aber wir können aus dem Bauplan eines Tropfen Blutes der Gruppe 0 so viele Blutkonserven herstellen, wie nötig. Oder wir vervielfälltigen direkt das Blut eines Unfallopfers und füllen es nach, während er noch aus den Wunden blutet.« »Warum gibt es diese Wundermaschine dann noch nicht zu kaufen?« »Zweischneidiges Schwert.«, legte Thomas einen bedauernden Gesichtsausdruck auf: »Die zugrundeliegende Technologie ist sehr mächtig. Stellen sie sich vor die Maschine wird zum Erstellen von Geld genutzt. Damit kann man ganze Länder ins Chaos stürzen. Die Maschine könnte als grausame Universalwaffe genutzt werden. Die ekeligen Details erspare ich ihnen lieber. Schon die Energiequelle alleine könnte als Waffe missbraucht werden und ganze Städte einebnen.«
»Und sie denken bei ihnen ist die Maschine sicher?« »Naja, niemand, abgesehen von ihnen, weiss bisher davon und warum sollten wir einen Krieg anfangen, wenn die Maschine uns alles herstellt, was wir benötigen. Ich sagte ja bereits: Reichtum ist obsolete.« »Und wer bezahlt ihnen das Essen und das Hotel?« »Erwischt. Wir haben einen Geldgeber, der derzeit alle externen Kosten deckt. So hoch sind die ja nicht, zumindest verglichen mit dem Bau einer Raumstation.« »Einer Raumstation?« Das Gesicht von Trend entgleiste förmlich. Thomas war eins sofort klar. Er hatte sich nicht nur verplappert, sondern auch von einer wenig glaubwürdigen Person zu einem Volldepp gewandelt. »Oh, heh. Spoileralarm. Ja, nun ist der Vogel aus dem Sack oder wie sagt man?« »Katze, heißt es.« »Ah, richtig. Nun ja, wir bauen eine Raumstation und die Flugzeuge sind in Wahrheit kleine Raumschiffe. Das war wieder einer der Widerhaken. Ein Großer.«
Die leeren Teller mit der Suppe wurden abgeholt und wenige Sekunden später durch neue mit der Hauptmahlzeit ersetzt. »Sie sind immer noch nicht hinausgestürmt. Das werte ich dann mal Positiv.« »Das Essen ist vorzüglich.« Augenscheinlich brauchte es mehr um ihn zu überzeugen. Thomas zog sein Telefon aus der Hosentasche und aktivierte ein kleines Ohrteil: »Ins Ohr damit und auf Abspielen drücken.« Thomas hatte es vorsorglich aufgenommen. Es war kein echter Beweis, aber eben doch auch so gut, dass es wahr sein könnte. Gleich am Anfang hieß er den Besuch in der Bathöhle willkommen. Tina steckte sogleich ihren Kopf ins Bild und korrigierte auf »Labor« um.
Thomas schwenkte durch den ersten Raum und drehte die Kamera immer wieder auf sich, wenn er etwas erklärte. Er konnte nicht sehen, an welcher Stelle das Video angekommen war, aber als Trend die Augen öffnete und näher an das Display ging, wusste er, es war die Stelle, wo er mit der Hand den getarnten Schrank zum Wabern brachte. Weiter ging es nach hinten, in den großen Raum, wo jetzt ein Raumschiff stand. Naja, es war immer noch mehr ein Frachtcontainer, aber Oberfläche, Lackierung und die Fensterfront machten es deutlich raumschiffiger, wie Mergy diese Verbesserung bezeichnete. Der hintere Teil war offen. Patricia nahm noch einige Änderungen an der Ausstattung vor. Es gab vier Betten an den Seiten und ein kleines Bad, dessen Tür offen stand. Viel mehr konnte man auf dem kleinen Schirm nicht sehen. Dann klapperte eine Metallspinne aus einer Verkleidung und blieb vor Patricia auf dem Boden stehen, wo sie ihre Beine einrollte. »Ich liebe diese Dinger.«, lachte sie laut, während sie mit dem nun scheibenförmigen Käfer winkte.
Der Arzt starrte förmlich auf das Display. Thomas fragte nach einem kleinen Flugtest, für das Video. Seine Kollegin stimmte zu und verschwand nach hinten, wo sich aus der Kameraperspektive das Cockpit befand. Thomas sprang aus der Maschine und hielt die Kamera unter das Raumschiff. Deutlich sah man wie es abhob. Dann stellte er sich auf einen Stuhl und filmte mit ausgestreckter Hand die Oberseite. Schließlich drehte er die Kamera zurück auf sich und merkte nur: »Ich hoffe ich konnte sie zumindest ein wenig überzeugen.« an. Da er beim Filmen oben und unten verwechselt hatte und die Kamera verkehrt herum hielt, stand er dabei jetzt auf dem Kopf.
Trend blickte sein Gegenüber fragend an. »Das mit dem verdrehten Ende wollte ich eigentlich noch schneiden, aber Videobearbeitung ist nicht so mein Ding.« »Das waren doch nur billige Tricks!« »Nein. Alles was sie gesehen haben ist genau so passiert.« »Die Frau war doppelt. Sie hätten wenigstens eine zweite Darstellerin engagieren können. So wirkt das Video lächerlich, trotz der eindrucksvollen Spezialeffekte.« Thomas lachte. »Ja, die zwei sehen sich wirklich sehr ähnlich.« Er nahm das Telefon wieder an sich und öffnete ein Bild. Darauf war er mit drei Damen seitlich vor dem Raumschiff zu sehen: »Sehen sie: Es sind Zwillinge und übrigens auch unsere Geldgeber! Ich sagte ihnen ja, ich kann alles beweisen.« »Sie können Dinge unsichtbar machen?« »Ja!« »Sie können Dinge schweben lassen?« »Ja!« »Und diese Spinne?« »Das ist eine Art Wartungsroboter. Wir nennen sie Repligen. Ihr Kern enthält die besagte Maschine.« »Der hat das Raumschiff gebaut?« »Nein, er könnte es. Aber es würde zu lange dauern. Dafür haben wir etwas größeres. Funktioniert vom Aufbau her wie eine Waschanlage für Autos. Nur eben ohne Wasser.«
»Mit dem Schiff wollen sie ins All fliegen?« »Das ist der Plan.« »Und wie bauen sie die Raumstation?« Er schaute sich unsicher um. Entweder, weil er jetzt nicht selbst vor anderen Gästen wie ein kompletter Idiot dastehen wollte, oder weil er bereits um das potentielle Geheimnis besorgt war. »Das machen die Spinnen-Dinger!«, blieb Mergy bei den einfachen Worten. »Aber ich dachte es dauert schon bei einem Raumschiff ewig?« »Gut aufgepasst. Wir haben ja mehr als einen Repligen, so lautet die offizielle Bezeichnung, und ohne Gravitation ist es für sie leichter und braucht deutlich weniger Energie. Außerdem werden wir im All die Zahl deutlich erhöhen. Bei kleinen Dingen stehen sich die Maschinen oft selbst im Weg, wenn man die Anzahl zu sehr erhöht, um schneller zu bauen.« »Und welchen Teil spielen sie in dem Projekt? Außendienstmitarbeiter des Personalbüros?«
Thomas lachte schallend auf: »Momentan komme ich mir oft so vor, ja. Der Gravitationsantrieb des Schiffes ist von mir entwickelt worden. Außerdem habe ich eine künstliche Intelligenz gebaut, die später als Stationscomputer fungieren soll. Tin, die erste Dame im Video ist Experte für Energiesysteme und Tarnung. Trish und Tin haben auch die Repligentechnologie entwickelt. Erst seit kurzem ist Sab dabei. Sie ist für Computerdesign, Strategie, Kommunikation und Überwachung zuständig. Die Gebiete überschneiden sich alle ein wenig. Die Repligentechnologie ist sehr flexibel, aber auch gefährlich. Vielleicht kann man damit später auch Beamen!«
»Sie meinen einen Transport von Menschen und Objekten in Energieform?« »Ja, genau. Aber das ist noch nicht aktuell. Momentan bekommen die Beiden nicht einmal eine einfache asiatische Nudelsuppe kopiert. Optisch perfekt aber sie schmeckt wie eingeschlafene Füße.« Bis zum Dessert wurde die Unterhaltung zunehmend lockerer, was nicht nur an der gestiegenen Glaubwürdigkeit lag. Der Doc fand gefallen an dem Menschen auf der anderen Seite des Tisches. Seine Vorstellungen, von Weltverbesserung und Menschen eine Zukunft zu geben, gefiel ihm, trotz des noch nicht erbringens eines echten Beweises. Bisher war er nur gut mit Worten und hatte für alles eine plausible Erklärung gefunden. Es war weniger die eigentliche Begründung, sondern die Geschwindigkeit und Art wie er diese vor trug. Dieser Thomas glaubte zumindest selbst an die Wunder von denen er berichtete.
Im Lift kehrte zum ersten Mal wieder Schweigen ein. Das änderte sich erst als Thomas den Arzt in seine Unterkunft bat und das »Bitte nicht stören« Schild an die Tür heftete. Es war kein kleines Hotelzimmer, wie er erwartete, sondern eine Suite. Der potentielle Mitarbeiter hatte keine Ahnung von den Zimmerpreisen, aber diese Unterkunft war mit Sicherheit eine der teuersten im ganzen Hotel. »Setzen sie sich. Möchten sie etwas trinken?«, fragte er höflich, aber Trend lehnte ab. So konnte er schnell die Kurve kratzen, wenn es ihm zu lächerlich würde.
Thomas öffnete eine Tasche und zog eine kleine Satellitenschüssel heraus, die er ohne Umschweife an die große Scheibe klebte. Nicht zum ersten Mal, wie der runde Fleck des Saugnapfes an der Glaswand verriet. Ein Kabel steckte er in die Steckdose direkt neben dem Fenster. »Damit das Zimmermädchen nicht denkt ich würde jemanden ausspionieren. Aufmerksamkeit ist nicht was wir wollen.«, erklärte Thomas beim Aufstellen der Hardware. Dann stellte er seinen Laptop auf den Tisch und setzte sich neben seinem Gast auf das Sofa im Wohnbereich der Suite.
Er öffnete seinen Computer und gab ein Kennwort ein. Ein kleines Antennensymbol auf dem Desktop war sein nächstes Ziel. Wieder wurde ein Kennwort verlangt. Ein Fenster mit Wellenformen wie bei einem Herzmonitor erschien und dann bewegte sich die kleine Antenne am Fenster. »Sie stellt sich auf unseren Satelliten ein.«, erklärte Thomas. »Sie haben einen eigenen Satelliten im Orbit?«, war der Skeptiker überrascht. »Ja, aber erst seit einer Woche. Wir mussten ja den ganzen Weltraumflugkram testen und ein kleiner Satellit ist dafür perfekt.«
Die Signale auf dem Schirm schlugen wild aus und eine Stimme ertönte und fragte nach einem Sicherheitscode. »Stimmidentifizierung Ray Team 4187629 Mergy Alpha One« »Zugang gewährt!«, verkündete die Stimme. »Hallo Jaque. Wo stehen wir?« »Meine Sensoren können nicht bestimmen wo sie stehen, aber die Satellitenausrichtung deutet darauf hin sie stehen in London, England. Ich bin physisch nicht in der Lage die Tätigkeit 'Stehen' akkurat auszuführen, Kommander.«
»Ist das die künstliche Intelligenz, die sie geschaffen haben?«, fragte der Doc ungläubig der eigenwilligen Unterhaltung lauschend. »Darf ich vorstellen. Jaque, das ist Doktor Trend Ingrim. Doktor Trend Ingrim, Jaque unser zentrales Computersystem.« »Hallo«, brachte der Arzt nur erstaunt. »Mr. Ingrim. Ich habe schon viel von ihnen gehört. Füge Stimmprofil den Daten hinzu. Soll der Status auf 'Mitglied' geändert werden?« Thomas lachte: »Ich denke dazu ist es noch zu früh. Ist Kommander Tin schon wach?« »Positiv. Sie versucht seit einiger Zeit in diese Unterhaltung einzudringen, wie soll ich weiter vorgehen?« Thomas stieß einen lauten Lacher aus. »Also an den Feinheiten und Benimmregeln arbeiten wir noch.«, erklärte er schließlich: »Stell eine Bildverbindung her.«
Auf dem Schirm erschien Tin, die angestrengt auf der Tastatur herum tippte. »Du kannst dich nicht einfach so in mein System hacken.« »Ich hab ihn gebeten uns zu verbinden. Er hat abgelehnt. Ist das zu fassen.« Thomas zog die Mundwinkel hoch und öffnete den Deckel des Laptops ein wenig mehr, damit ihre Köpfe nicht oben abgeschnitten wurden. »Tin ich möchte dir Trend Ingrim vorstellen. Er ist noch nicht geflüchtet, also besteht ein wenig Hoffnung für seinen Einstieg.« »Sehr erfreut.«, begrüßte der Doc die bisher nur einmal auf einem Telefondisplay gesehene Frau, setzte aber gleich einen unsicheren Blick auf. »Die erste Dame aus dem Video. Die Andere würde niemals einen Kittel während einer Telefonkonferenz anziehen.«, lass Thomas förmlich seine Gedanken.
»Trish musste heute morgen zu einer Vorstandssitzung. Das kann sich noch einige Stunden hinziehen.«, erklärte Tin die Abwesenheit ihrer Schwester. »Herr Ingrim würde gerne den getarnten Schrank mal sehen.« Tin konnte sich einen wissenden Blick nicht verkneifen: »Er ist echt.« Sie nahm den Laptop und bewegte sich nach hinten. »Das hier ist aber viel eindrucksvoller.« Sie stellte den Laptop ab und verschwand aus dem Blickfeld. Es war nur das Raumschiff zu sehen, welches schon in dem Handyvideo eine Hauptrolle hatte. Es begann zu wabern und schließlich war es verschwunden und gab den Blick die dahinterstehende Tin frei. »Wie ich sehe hast du den Fehler gefunden.«, merkte Thomas an. »Ja, es waren die Scheiben, wie du schon vermutet hattest. Die bringen die Umlenkmatrix des Navigationsschildes durcheinander. Es ist mir gelungen den Effekt zu kompensieren.«, klang Tin deutlich dumpfer, was dem immer noch unsichtbar zwischen Kamera und Person parkenden Schiff geschuldet war, welches die Schallwellen umschwingen mussten.
Mit der Hand zog Tin eine Linie, die nicht nur sie selbst, sondern auch die Luft im kompletten Blickfeld der Kamera wabern ließ, die immer wieder Teilstücke des unsichtbaren Metallkörpers preis gab. »Beeindruckend.« Tin marschierte zurück um das nicht sichtbare Objekt. Hinten öffnete sich eine Tür und Sab trat hervor und kam mit einem deutlichen »Morgen.« in den Raum. »Vorsicht.«, rief Tin noch, aber es war zu spät. Als die wabernde Oberfläche des Raumschiffs wieder klar wurde, konnte man deutlich sehen, wie Sab sich den Kopf hielt, stöhnend auf eine Taste hämmerte und hinter dem robust wirkenden Gebilde verschwand. »Hiermit bestelle ich offiziell Absperrband und Warntafeln. Dreimal ist definitiv dreimal zu viel.«, muffelte Sab in englischem Akzent am Laptop vorbei.
»Hier stand seit deiner Ankunft immer ein Raumschiff. Es passt nicht durch die Tür und auch nicht in einen Schrank. Wo sollte es also sein?«, erklärte Tin nach hinten und wendete sich wieder dem Bildschirm zu. »Sehen sie. Wir brauchen schon auf der Erde dringend einen Arzt. Wie sollen wir da im All ohne einen Mediziner auskommen?«, kommentierte Mergy die Lage. »Hört einfach auf Dinge verschwinden zu lassen.«, tönte dumpf Sabs Antwort von der anderen Seite hinüber. »Sind sie nun bereit für einen Besuch im Wunderland?«, fragte Mergy grinsend.
»So war das damals.«, berichtete der Doc: »Ich hab mir das Labor angesehen und der Rest ist Geschichte. Jetzt unterrichte ich neugierige kleine Schülerinnen.« Jiyai lächelte: »Ich bin froh, dass du mitgemacht hast.« »Es ist hier zwar manchmal ziemlich anstrengend, aber alles in allem kann ich mir keine bessere Arbeit vorstellen. Wenn keine Notfälle zu behandeln sind und ich forschen kann, ist es nicht einmal richtige Arbeit, sondern einfach nur Spaß. Erzähl das bloß niemandem, sonst muss ich noch Einsätze fliegen.«, ermahnte der Doc mit einem Lachen.
Die folgenden Wochen waren hart für May. Es waren weniger die unzähligen Entschuldigungen, die sie verteilen musste, als die viele freie Zeit. Zeit, die sie früher mit Nim verbracht hatte. Jede dieser Sekunden erinnerte sie jetzt nur noch schmerzhaft an die schönen Stunden. Sie versuchte diese Lücken im Tag mit Sinnvollem zu stopfen, ohne gleich wieder in alte Muster zu fallen. Mergy bekam seine Zeit, aber eben nur in kleinen Dosen.
Morgens trieb sie der Sport um den Quartierring. Die Kadetten, die ihr in die Quere kamen sprangen hastig zur Seite. Auch wenn May ihnen persönlich nichts getan hatte, so haftete ihr jetzt eine Aura an, die wohl nur mit der von Sab zu vergleichen war. May musste es sich selbst eingestehen. Der gummellige Kommander hatte nie so direkt und so unfair gegen das Personal geschossen, wie sie es gemacht hatte. Den Jungkadetten in ihrem Kurs hatte sie die Gelegenheit gegeben, sich bei Trish zu melden, wenn sie nicht länger mit ihr zusammen trainieren wollten. Sie waren geblieben, auch wenn die Leichtigkeit und Unbeschwertheit ihrer Beziehung komplett verschwunden war. Alle waren jetzt distanziert und zurückhaltend.
Wie hatte Sab diesen Zustand nur all die Jahre ausgehalten? Sie war umgeben von Menschen und doch einsam. Ihre Eltern und das Kommando waren die einzigen Menschen, bei denen sie mehr oder weniger genauso wie vorher behandelt wurde. Suki, Kati und Tori gaben sich zwar ebenfalls recht normal, aber sie hatten mit Nim auch jemanden verloren, der ihnen am Herzen lag und das spürte May deutlich.
Ein Klappern riss May aus ihren Gedanken. Ein zweites Tablett war auf dem Tisch gelandet. Als sie aufblickte, sah Moon sie fragend an: »Was dagegen wenn ich mich setze? Oder bekommt die Station dann Schlagseite, weil sich die Achse des Bösen auf diese Seite verschiebt?« »Ich denke die RAM-Triebwerke können das kompensieren.«, erklärte May erstaunt. Ausgerechnet Moon setzte sich an ihren Tisch? Sie beklagte sich über ihre Situation, aber er hatte es wohl nicht weniger schwer. May hatte vielleicht den fiesen und unfairen Kommander heraushängen lassen, aber Moon hatte wirklich Leben in Gefahr gebracht. Er hatte einen Punkt erreicht, den sie, dank Nim und den Anderen, nicht ansatzweise erklommen hatte.
Vor ihr hatte man schlimmstenfalls Angst gehabt. Es waren sogar Pläne geschmiedet worden, wie man gegen sie vorgegangen wäre, wenn es hart auf hart gekommen wäre und May ihre Kräfte gegen andere eingesetzt hätte. Laut dem Doc hatte man sich dazu entschieden ihr etwas ins Essen zu mischen und sie dann in einem erweiterten Quartiermodul im All auszusetzen, bis sich die Lage entspannen würde, um nicht auch noch ihrer Rache ausgesetzt zu werden. Nachdem was sie in den Videos gesehen hatte, konnte sie ihren Kollegen deswegen keinen Vorwurf machen. Wäre sie nach dem Aufwachen mit der Atemluft in Kontakt getreten, hätte sie sich ohne Probleme befreien können. Der Schild an den Betten wäre kein großes Hindernis gewesen und ihr Zorn auf diese Aktion wäre wohl mit großer Zerstörung einhergegangen.
Nim hatte sich aus dem Spiel genommen, um May auf den Grund der Tatsachen zurück zu holen. Wie einen Drogensüchtigen, der erst am Boden im Dreck liegen muss, um den Bedarf an Hilfe zu erkennen. Es hatte funktioniert. Sein Opfer hatte sie sehr mitgenommen und ihre Denke so gefordert, wie es nötig war. Es hatte sie regelrecht überfordert und nach Hilfe suchen lassen. Selbst Moon hatte von ihrem Verhalten gehört, obwohl er kaum Kontakt zu anderen Piloten hatte. Zu groß lastete die Vergangenheit auch auf seinen Schultern. Sash hatte ihren Arm verloren und sie hatte noch Glück. Viele hatten in den Stunden auf der Mystery einfach nur Glück.
Sie wäre auf dem Weg Mergys Traum zu zerstören, hatte Nim in seiner Nachricht gesagt. Er hatte recht. Das musste sie sich selbst eingestehen. Sie hatte bereits damit begonnen aus dem Zuhause ihrer Freunde einen Ort der Unbehaglichkeit zu machen und ihr geistiger Zustand wäre im Ernstfall wohl nicht weniger gefährlich geworden, als es damals bei Moon der Fall war. »Unsichere Piloten in einem Kampf sind tote Piloten.«, hatte May in ihrem Flugtraining öfter erklärt und jetzt erzeugte schon ihre Anwesenheit alleine Unbehagen. Jiyai war vor Angst nicht einmal in der Lage gewesen ihr den Autodoc abzunehmen, ohne einen Fehler zu machen. Was wäre da in einem Gefecht passiert? May wollte sich das Ergebnis gar nicht erst ausmalen.
»Wir haben wohl jetzt beide unser Paket zu tragen.«, brach May die Stille. »Es tut mir leid, wie das auf der Mystery gelaufen ist.« Moons Stimme klang ehrlich und schuldbewusst. »Und, um die anderen Piloten hier in Schutz zu nehmen, du kannst einem schon eine Höllenangst einjagen. Als du da vor mir gestanden hast, so Blutverschmiert und sauer, da lief es mir schon kalt den Rücken herunter. Das ich nur Sekunden später an die Wand geklatscht wurde, hatte ich mehr als verdient, auch wenn es mir damals nicht klar war.« »Es scheint, als wären wir beide schon ein wenig zur Einsicht gekommen.«
May erhob sich und griff nach dem leergefutterten Tablett. »Das sollten wir bei Gelegenheit mal wiederholen.«, merkte sie an und marschierte auf Sors Tresen zu. Etwa ein Meter vor ihrer Haltestelle blickte sie in die Halle und da stand er. Das Tablett glitt ihr aus den schlagartig zittrigen Fingern und verteilte in der Luft rotierend Teller, Besteck und Tasse. Das laute Knallen der Tablettecke nahm sie genauso wenig wahr, wie das ebenfalls auf dem Boden aufschlagende und scheppernde Porzellanimitat. Die kleine Untertasse umrundete einmal ihre zum Stillstand gekommenen Füße, bevor sie sich kopfüber auf den glatten Boden legte.
Die unzähligen Piloten im Raum waren schlagartig still. Als hätte das scheppernde Geräusch ihnen befohlen die Klappe zu halten, um sich optimal zu verbreiten. Es war Nim. Da stand er einfach so auf der Promenade und schaute ins Sors. May war unsicher. Sollte sie auf ihn zu gehen, oder in den Resten ihrer Mahlzeit stehen bleiben? Nim nahm ihr die Frage ab und trat von sich aus auf sie zu. »Hallo May.« »Hallo!« Das einfache Wort quälte sich förmlich aus ihrem Mund und hatte kaum noch genug Energie um bis zu Nim vorzudringen.
»Sor, machst du mir Nummer 3 und eine Schale Pommes mit Dips?« »Kommt sofort.« »Ich bin heute noch nicht zum Essen gekommen. Wollen wir uns setzen?« May war nur zu einem Nicken fähig. Nims Hand, die sie für einen winzigen Moment in ihrer Hüfte zu einem der freien Zweiertische dirigierte, durchzuckte sie wie ein Blitz. Die Heizdecke hatte in der gesamten Nacht nicht soviel Wärme produziert, wie diese Hand in den paar Sekunden an ihrer Seite. Das verunsicherte Mädchen setzte sich und Nim nahm auf dem anderen Stuhl gegenüber platz. »Du siehst gut aus.«, lächelte er. »Du auch.«, war May zu keiner anderen Reaktion fähig, als seinen Satz einfach umzukehren.
Sor stellte Nim das Tablett vor die Nase. Ein großes Schnitzel mit Soße, Kartoffeln, Erbsen und Möhren. Dazu ein kleiner Salat in einer gläsernen Schale, eine Cola und ein heller Pudding als Nachtisch. Ein zweites Tablett mit einer Schale Pommes und Dips wanderte aus Sors grauen Händen direkt vor May auf den Tisch, die fragend zwischen ihrem Gegenüber und der grinsenden Bedienung wechselte. Die Stäbchen neben der Mahlzeit waren eindeutig und Sor hatte die Bestellung richtig verstanden. Nim grinste ebenfalls: »Danke Sor.« May sah ihn immer noch fragend an. »Wenn du nervös bist, brauchst du etwas zum Festhalten.« May betrachtete ihre Hände, die sich schon jetzt an das Tablett klammerten. Er kannte sie wirklich gut. Man könnte meinen sogar besser als sie sich selbst.
»Es tut mir so leid was passiert ist. Ich war total daneben.«, versuchte May das bisher mehr hölzerne und peinliche Gespräch aufzunehmen, während Nim sich ein großes Stück Schnitzel in die Backen schob und es durchkaute. »Das kann man wohl sagen. Es hat wohl seit dem Bestehen der Station noch nie so viel Anbrüllerei gegeben, wie in den knapp drei Wochen. Obwohl ich gerne gesehen hätte, wie du Sab zusammengefaltet hast, war die ganze Situation ziemlich unerträglich.« »Sab auch?« »Ja, bei einer Stationssitzung. Das hat mir der Doc jedenfalls vor meinem Abflug erzählt.« »Ich kann mich kaum an die letzten Wochen erinnern. Es herrscht nur ein wildes Durcheinander von Bild- und Tonfetzen.« Nim schob sich gerade ein Blatt Salat in den Mund, als sich ihre Augen trafen. May zuckte leicht, als hätte sie etwas verbotenes getan. Als würde der Blick von Nim versuchen ihren zu erstechen. Dabei war er ganz normal und schaute wie immer.
»Sind wir noch Freunde?«, fragte May vorsichtig mit von Unsicherheit geprägtem Vibrato an. Nim stoppte seinen aktuellen Kauvorgang schlagartig, ohne den direkten Blick auch nur für einen Bruchteil einer Sekunde zu senken. »Ich dachte wir könnten vielleicht wieder mehr als Freunde sein.«, erklärte er und zuckte kurz mit dem Mundwinkeln: »Wenn du mich noch willst?« May blieb starr und stumm. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Bilder, Worte und Gefühle schwirrten wie Geister durch die von Schuld und Unsicherheit gefüllten Gehirnwindungen. »Nach all dem willst du immer noch mein Freund sein?«, fragte May ungläubig.
»Ich habe die alte May vermisst und wie es scheint ist sie jetzt wieder da.«, lächelte Nim und wendete sich wieder seinem Essen zu: »Auch wenn einige meinen es schmecke eintönig auf der Station, so hat mir das Essen auch sehr gefehlt.« »Wo warst du denn eigentlich?« »Du hast mich gesucht, oder?« »Ich hab es probiert, aber so viele Menschen mit der Luft zu prüfen ist nicht machbar. Alle bewegen sich durcheinander. Drakenschiffe über den Städten zu lokalisieren ist dagegen trivial.« »Ich war im Südpolarmeer und habe Wale gerettet.« »Genau, ich hab Wrecker gesehen, aber mir nichts dabei gedacht.« »Ihm hat der Zwangsurlaub gar nicht gefallen. Er hat sich in die Quartiermeisterin verliebt.« »Wrecker und ein Erdweibchen?«, lachte May, der dieser Begriff nur schwer über die Lippen ging. Er hatte sich nach der Hochzeit von Mergy gebildet, als Sab immer öfter zur Erde flog, um sich mit einem Freund von Mergy zu treffen, den sie auf der Feier kennengelernt hatte. Trish hatte ihn als Erdmännchen bezeichnet und so nahm die Definition seinen Lauf.
»Und für dich war keine dabei?«, war May immer noch unsicher über ihren aktuellen Beziehungsstatus. »Also Florentina hätte wohl nichts dagegen gehabt. Sie ist Deckhelferin auf dem Schiff und hat sich gleich wie ein Ray Team Groupie an mich dran gehängt.« May sagte nichts und wartete nur gespannt an seinen Lippen klebend, was er nun erzählen würde. »Naja, bis einer der anderen Deckhelfer ihr ein Magazin mit einem Foto von uns Beiden bei deiner Preisverleihung gezeigt hat. Unwillkürlich schossen May die damit verbundenen Bilder durch den Kopf. Daneen hatte sie eines Morgens abgefangen und ihr unterbreitet, sie wäre von einem großen Magazin in einer internationalen Abstimmung zur einflussreichsten Person unter 21 Jahren gewählt worden und nun zusammen mit den anderen Gewinnern der verschiedenen Kategorien zur großen Preisverleihung eingeladen.
»Gut das niemand von meinem Aussetzer erfahren hat, sonst müsste ich das Teil wohl auf der Stelle zurückgeben und vor noch mehr Menschen zu Kreuze kriechen.«, fuhr es May durch den Kopf. Mergy war noch auf seiner Hochzeitsreise gewesen und die anderen vom Kommando zwangen sie förmlich an diesem Event teilzunehmen. Wenigstens durfte sie Nim mitnehmen und je mehr sie an den Abend dachte, desto mehr musste sie Nim zustimmen. Sie brauchte etwas um sich festzuhalten, wenn sie nervös war. An diesem Abend war es Nim gewesen, den sie vom Auto bis zum Sitzplatz in dem riesigen Ballsaal nicht mehr los ließ. Auto war eigentlich der falsche Begriff, war es doch mehr eine lange Limousine, die in Wahrheit ein verlängerter Kampfgleiter war, wie die staunende Menge erst beim Einfahren der Räder und dem fauchenden Abheben erkannte.
An diesem Abend war sie von hunderten Menschen umgeben, die sie allesamt nicht kannte. Nim war ihr Fixpunkt. Er wich nicht von ihrer Seite. Schon vor dem großen alten Gebäude mit den prunkvollen und geschichtsträchtig wirkenden Steinsäulen, wo viele Menschen nur einen Blick auf sie werfen wollten, hielt er ihre Hand. Daneen hatte Karten mit dem Bild von May darauf gemacht und Nim reichte ihr einige, damit sie die Bitten nach einem Autogramm stilvoll erwidern konnte, denn Taschen hatte sie keine. Ihr rotes knielanges Kleid mit dem tiefen Ausschnitt auf dem Rücken machte ihren Anblick wieder so unwirklich wie auf der Hochzeitsfeier von Mergy. Trotz all der Unsicherheit, die Beide in diesem Moment verband, wurde es ein schöner Abend. Besonders die Kinder, die mit ihren Eltern am Rand der Absperrung standen, um nach einem Autogramm zu fragen, ihnen etwas zu zurufen, oder sie einfach nur einmal mit eigenen Augen zu sehen, hatten für May den Abend schon vor der eigentlichen Veranstaltung zu einem bewegenden Erlebnis gemacht.
»Danach war sie zwar immer noch überfreundlich, aber hat wohl eingesehen, keine Chance mehr bei mir zu haben.«, lachte Nim: »Du sahst aber auch unverschämt gut in dem Kleid aus.« May musste an ihre Rede an diesem Abend denken. Sie hatte deutlich hervorgehoben, wie die anderen Menschen in ihrem Leben an ihren Taten beteiligt waren. Zu gerne hätte sie auch Michael Vanquist erwähnt, aber die Veranstaltung sah einen engen Zeitrahmen vor. So beschränkte sie sich auf Mergy und Nim. Beide waren eine große Stütze für sie. Die letzte Stütze hatte Nim mit seiner Flucht zur Erde entfernt und May war hart aufgeschlagen. Diesen Treffer hatte sie mehr als verdient.
»Sind wir denn noch ein Paar?«, fragte May nun forsch nach. Die Ungewissheit, die sich zusammen mit der Unsicherheit um ihre Kehle legte und sie zuschnürte, ließ nur diesen einen Satz zittrig über ihre Lippen streichen. »Also ich möchte keine Andere als dich. Aber dieses Ausrasten will ich nicht nochmal erleben.«, erschallten die ersehnten Worte aus seinem Mund. Mays Arme verlängerten sich schlagartig über dem Tisch und hatten nur ein Ziel: Seine Hände. Als wollten sie ihre Mahlzeiten umarmen saßen sie beide da und schauten sich tief in die Augen. »Versprochen.«, erklärte May voller Zuversicht und neu gewonnener Sicherheit. »Dann hätten wir das ja geklärt.«, lächelte Nim und wendete sich wieder seinem Essen zu.
May hatte es gar nicht bemerkt, aber die Schüssel vor ihr hatte auch schon deutlich an Inhalt verloren. Wie von Nim prophezeit hatte sie sich in den Gesprächspausen unsicher dem Teller zugewandt und trotz des vorherigen Hühnerfilets mit Gemüse und Pudding in sich hineingefuttert. Die Anwesenheit von Nim hatte ihrem Magen auf magische Weise zur Aufnahme einer weiteren Mahlzeit verleitet. »Es sieht wohl so aus, als hätten alle etwas aus der Situation gelernt.«, erklärte Nim und erzeugte einen fragenden Blick im Gesicht seiner Freundin. »Alle?« »Naja, du hast gelernt Prioritäten zu setzen und dir deine Zeit und Kraft sinnvoll einzuteilen. Das Kommando dürfte jetzt beruhigt sein, weil du deine Kräfte trotz all der düsteren Gefühle nie unkontrolliert hast ausbrechen lassen und ich bin ohne dich nur noch ein halber Mensch, wie ich schmerzlich feststellen musste.«
May wurde rot und griff unbewusst wieder nach einem Kartoffelstück. »Als Trish mir das Video geschickt hat, wäre ich am liebsten sofort zurückgeflogen, um dich in den Arm zu nehmen, aber ich durfte nicht. Ich musste mich fern halten.« »Welches Video?« »Eine Aufzeichnung aus dem Krankenzimmer. Du hast Trish erzählt, wie du dich damals auf der Erde gefühlt hast. Du sollst dich niemals wieder so fühlen.« Nim lief bei dem Gedanken an die Aufnahme eine Träne die Wange hinunter. May hatte ihn noch nie Weinen gesehen. Niemals hätte sie gedacht ihre Geschichte würde ihn selbst so intensiv berühren. May drückte seine Hand fest und streichelte mit dem Daumen über seinen Handrücken: »Das ist lange Vergangenheit.« Schweigend sahen sich beide minutenlang in die Augen und ließen die Liebe, die sie verband, durch beide Arme zirkulieren, wie bei einem Stromkreis.
»Oh, ich bin soetwas von zu spät dran!«, fuhr es May in die Knochen: »Flugtraining mit den Kadetten.« »Dann mal los. Kommen sie ihren Pflichten nach, Kommander. Ich werde ihr Bett warm halten. Die letzten 24 Stunden waren ziemlich anstrengend, aber das schaffe ich noch. Wenn es genehm ist?«, witzelte Nim schon wieder als wäre nichts gewesen. »Oh, das wäre sehr genehm, Pilot!« »Dann haben wir ein Date.«, lachte Nim, während May ihr Tablett nahm und in Richtung Tresen marschierte. »Sor, tut mir leid wegen dem Durcheinander eben.« »Ah, du bringst immer selber dein Tablett zurück, da kann ich doch wegen einem kleinen Malheur nicht gleich sauer sein.« May lächelte und wünschte ihm einen schönen Tag.
Die Kadetten waren bereits im virtuellen Einsatz und ließen die Tore nur so liegen, obwohl der Schwierigkeitsgrad hoch eingestellt war, wie der Kommander auf den ersten Blick erkannte. Meena setzte auf und erstmalig gab die ganze Projektion auch aus Mays Sicht einen Sinn, da sie nicht mehr wie ein statischer Asteroid im All stand, sondern auf dem Boden des künstlichen Hangars. »Gut geflogen, Meena.«, lobte die Lehrerin die Schülerin, die trotz der Schwierigkeit alle Tore gemeistert hatte, auch wenn es zeitlich nicht für einen der vorderen Plätze in der Liste mit den Rekorden reichte, wenn man auch die Geschwindigkeit dazu nahm.
»Jaque, lade das Gleiterandockprogramm. Stufe leicht.« Die Blicke der anderen Kadetten, die sich aus dem kleinen Gleiter schälten, entgleisten. Dunkle Erinnerungen stiegen in ihnen hoch. »Keine Panik. Wir machen es diesmal richtig und ruhig! Ohne Rumgebrülle. Versprochen!« Sofort entspannten sich die Gesichter und May setzte ihren Kurs fort. Sie erläuterte wie man die Orientierung behält und am einfachsten die Flugbahn beider Flieger angleichen kann. In Zeitlupe und Schritt für Schritt erläuterte sie ausführlich das, in verschiedenen Sequenzen zerlegte, Manöver. Dann waren die Kadetten dran, während May sich einen Stuhl und eine Terminal ins virtuelle All projizieren ließ, um zu erfahren was und vor allen Dingen wie sie in der Sitzung mit Sab umgesprungen war. Noch immer war ihr nicht klar, warum Sab nichts gesagt hatte. Kein Spruch! Kein Seitenhieb! Gar nichts! So etwas sah ihr überhaupt nicht ähnlich.
Es dauerte eine Weile, bis Sab die Freigabe der Sitzung erteilte. Entweder hatte sie keine Zeit gehabt, oder sie hatte sich überlegt diese nicht zu erteilen, was aber angesichts von Trish und Tin nicht viel bringen würde. Beide würden den Zugriff auf die Information direkt und ohne Rückfrage zulassen. Die Zwillinge hatten aber frei und darum ließ May Jaque direkt bei Sab anklopfen. Sie schaute sich die Aufzeichnung mehrmals an und war froh schon zu sitzen. Es war heftig. Sie wäre eine miese Freundin und würde Mergy einfach im Stich lassen, war der grobe thematische Hintergrund. Laut und mit allerlei nicht minder tief einschlagenden Argumenten ausgestattet vorgetragen. Mergys Zeitreise und seine Bestrafung für ihre Rettung war der letzte herausgebrüllte Sargnagel. Dann beendete May die Sitzung und verschwand tobend aus dem Raum.
Wieso war Sab nach all dem noch so ruhig? Warum hatte sie nicht wenigstens um ein klärendes Gespräch gebeten? Sie wusste doch von Mays großer Tour der Entschuldigung, wie Suki das nannte. »Sanft einlenken. Es muss zwar schnell gehen, aber eine zu starke seitliche Bewegung des Gleiters und du schneidest den Andockpunkt.«, kommentierte May schon fast robotermäßig die Übungen der Schüler, während die Gedanken weiter um das Video und Sab kreisten. Es war fast erleichternd, als die nächste Trainingsgruppe das künstliche Weltall betrat und den Raum für sich beanspruchte. Auf der Treppe über Sors Lokal lobte May ihre kleine Truppe für die schon recht gut aussehenden Manöver. Diesmal nicht wegen ihrer Leistungen, sondern mehr aus Schuld, denn keiner der Kadetten hatte auch nur ansatzweise ein komplettes Ankoppeln zustande gebracht, was aber aufgrund ihrer wenigen Erfahrungen und der Komplexität der Aufgabe zu erwarten war.
Als sich die Lifttür auf dem Kommandodeck öffnete, saß Sab an ihrer Konsole. Eigentlich war das schon immer so gewesen. Das mehrfach geteilte Panoramafenster, die Konsolen, die Stühle und Sab mit ihrer Teetasse. »Inventar«, war wohl die beste Bezeichnung, auch wenn May es, der Höflichkeit wegen, nie so formulieren würde. Der sich schuldig fühlende Kommander holte noch einmal tief Luft und trat aus dem Lift, die Stufen herunter und griff sich den Stuhl der Nachbarkonsole, den sie direkt neben Sab rückte und Platz nahm. »Es tut mir so leid. Warum hast du denn nichts gesagt?«, eröffnete sie das in der letzten Zeit schon fast zur Gewohnheit gewordenen Entschuldigungsgespräch. Sab drehte sich zur Seite und hob leicht die Mundwinkel, was May irritierte.
»Du warst nicht du selbst. Du warst Krank. Unsere May wäre nie so fies und direkt gewesen.«, erklärte Sab mit noch ungewohnterer sanfter Stimme. »Aber du hättest nicht schweigen müssen. Was ich da gesagt habe war einfach nur fies.« »Ich hab dich damals bei der Flugprüfung vor allen anderen Kadetten als Kind bezeichnet, dich der Lüge und des Schummeln besichtigt und doch hast du mich nie um eine Klärung oder Entschuldigung gebeten. Der Stolz stand mir wohl im Weg und nach all den Monaten hatte ich den Zeitpunkt, den üblichen Zeitrahmen, verpasst, aber du hast mir auch da nie einen Vorwurf gemacht. Sagen wir einfach die beiden Ereignisse heben sich auf.« »Nein. Das was du gemacht hast, war richtig. Naja, teilweise. Ich war ein Kind und du hast mich geprüft. Ein Pilot muss besonnen handeln und reagieren. Er darf nicht einfach die Flucht ergreifen. Was ich getan habe, war einfach nur beleidigen. Ganz übel beleidigen.«
»Naja, du hattest ja auch teilweise recht. Ich hab mich auf die Erde verzogen, um Mergy aus dem Weg zu gehen. Er ist mein bester Freund und da ist jetzt so gar nichts mehr von dieser Freundschaft.«, erklärte Sab mit traurigem Unterton: »Und immer wenn ich auf der Erde bin, fragt Marcel immer wieder nach Thomas und ob das Ray Team ihm nicht helfen kann. Was soll ich ihm da sagen?« May machte einen Satz nach vorne und umarmte ihre ältere Kollegin: »Wir bekommen ihn wieder. Er ist noch da drin.« »Ich hoffe du hast recht. Ich vermisse ihn so.«
Die Umarmung dauerte deutlich länger als von May ursprünglich erwartet. »Und wie ist es mit Nim gelaufen?« May löste die Verbindung. Sie ging wieder auf Abstand und ließ sich zurück auf den Stuhl fallen. Sie brauchte einige Momente um die noch frischen Geschehnisse zu verarbeiten: »Ich denke ganz gut.« »Sorry, wir haben dich da wirklich übel auflaufen lassen. Wir mussten sogar Jaque austricksen, damit er nichts ausplaudert.« »Den Tritt habe ich gebraucht.«, schmunzelte May mit hochgezogenen Augenbrauen. »Geh´ zu ihm. Ich schiebe den Laden auch alleine.« »Ernsthaft?« May war erstaunt über das freizügige Angebot.
»Ich muss morgen zwei Stunden früher los. Marcel hat mich zu einer Familienfeier eingeladen. Zwei Stunden Autofahrt.« Sab rollte genervt mit den Augen, könnte sie doch diese Entfernung mit Hilfe von Technologie in Bruchteilen von Sekunden zurücklegen. »Du verbringst die Zeit mit ihm alleine. Genieße sie!« Sab hob die Augenbrauen. »Vielleicht hast du recht.« »Und versuche sie nicht gleich alle zu verschrecken.«, lachte May und zauberte auch ein seltenes Lächeln auf das Gesicht ihrer älteren Kollegin.
Als May in ihrem Quartier ankam, musste sie vor der geschlossenen Schlafzimmertür inne halten. War er wirklich da? Vorsichtig näherte sie sich und der Sensor öffnete leise die Luke. Er war da! Auf Zehenspitzen schlich May hinein und beobachtete wie sich die Decke abwechselnd mit der Haarsträhne in seinem Gesicht auf und ab bewegte. Sie zog den Stuhl vor das Bett und beobachtete ihn im Sitzen weiter. Noch heute morgen hatte er ihr wieder so schmerzhaft gefehlt und schien unendlich weit weg. Jetzt war er wieder da und schlief friedlich in ihrem Bett, als wäre es das normalste auf der Welt. Eine Ewigkeit saß May dort, und wirkte als würde sie die spannendsten Fernsehsendungen verfolgen. Nim regte sich.
Langsam öffnete er die Augen und erst viel später erkannte er May in dem dämmrigen Nachtlicht. »Hey. Warum sitzt du da? Beobachtest du mich etwa?« Der Kommander war etwas verlegen und hatte sich nicht einmal überlegt, was er in dieser Situation sagen würde. Ja, nicht einmal die Situation selbst hatte sie vorhergesehen, obwohl sie zu erwarten war. »Jemand hat mal gesagt, man könne das wahre Gesicht eines Menschen nur im Schlaf sehen.«, fiel ihr spontan ein. »Und gefällt dir mein Schlafgesicht?« »Sehr!«, hauchte May. Nim lächelte. »Nun hüpf rein. Ich bin mit dem Aufwärmen mehr als fertig.«
May kniff den Mund zusammen. »Das mit der Heizdecke habe ich verstanden.«, erklärte sie mit leicht unterwürfigem Ton, während sie ihre Kleidung auf dem Boden um das Bett verteilte und unter die Decke schlüpfte. »Das hatte ich gehofft!«, erklärte Nim, während May die Wärme mit dem Körper aufsaugte. Eine Wärme, die, obwohl es ja eigentlich nicht sein konnte, so viel schöner, besser und kuscheliger war, als die von der Maschine generierte. Es war seine Wärme.
»Es macht dir wirklich nichts aus?« Nim lächelte schelmisch und streckte ihr den Finger entgegen. Mit einer sanften Abstreifbewegung nahm er die Marmelade von ihrem Mundwinkel auf und schleckte sie ab: »Nein, wir wollten zusammen einen Tag verbringen, und es interessiert mich, wen du auf der Erde so kennst.« May kaute das letzte Stück ihres Brötchens ordentlich durch und schluckte es runter. »Dann lass uns aufbrechen. Jaque, stell uns einen Manta bereit.«, kommandierte May zu ihrem Gegenüber und in ihren Arm. Eng umschlungen marschierten beide in Richtung Hangar. Sie waren schon lange nicht mehr zusammen auf dem Planeten gewesen und auch wenn May noch eigene Pläne hatte, so war es doch die gemeinsame Zeit, die sie beide so schätzten.
Nim hatte keine Ahnung wohin es gehen sollte, aber er wusste es war May sehr wichtig, diesen alten Freund zu besuchen. May selbst war ihre Begleitung sehr wichtig, auch wenn der kleine Kommander es nicht besonders hervor hob. Nim sollte auch diesen Teil von ihr erfahren. Von Geheimnissen hatte sie schon lange genug. Die schlechten Erfahrungen mit der Geheimhaltung ihrer Fähigkeiten war ihr eine Lehre gewesen und sie wollte nicht, Nim könnte auch nur denken, sie würde etwas oder gar jemanden vor ihm verbergen. Der Transportstrahl setzte die Beiden an einer ruhigen Straßenecke ab. So blieb ihr Transport gänzlich unbemerkt und sie konnten ihren Weg zu Fuß fortsetzen. Es ging einige Meter an der viel befahrenen Straße entlang. Große Lastwagen brummten laut in beide Richtungen an ihnen vorbei. May war nicht zum ersten Mal hier. Das erkannte Nim sofort.
Vor einem Blumenladen blieb sie stehen und schaute sich die Auslagen an. Ihr Begleiter war neugierig, stellte aber keinerlei Fragen, sondern folgte seiner Freundin schweigend. Das Klingeln der Ladentür war zu vernehmen und eine Frau betrat die Straße. Augenscheinlich hatte sie einen kleinen Blumentopf mit einer Pflanze gekauft, die kunstvoll als Geschenk in eine Folie eingepackt war. May betrat nun selbst mit ihrem Anhang den Laden, wo sie einen Strauß Blumen kaufte. Vergissmeinnicht hatte sie von der Gärtnerin verlangt und diese verzierte den kleinen Strauß noch mit etwas Grün.
Nim fand den Strauß aus den ungewöhnlichen Pflanzen nicht besonders hübsch. Selbst die Bedienung wollte ihr von der Wahl abraten. May aber bezahlte und ohne wirklich mehr Informationen bekommen zu haben, waren sie nach wenigen Minuten wieder auf der Straße. Die Beiden wanderten Händchen haltend weiter schweigend nebeneinander her. Erst ein großes, schwer anmutendes Gittertor zog May an. Nim konnte gerade noch vorpreschen um das kleinere türförmige Teil zu öffnen. May quittierte diese altmodische Geste mit einem ebenso altbackenen Nicken.
Es war ein großer Friedhof. Ein Schauder der Erinnerung lief May den Rücken herunter, als sie die kleine Kapelle sah, während sich bei Nim weitere Fragen auftaten. Ohne Probleme fand der kleine Kommander seinen Weg durch das wandlose Labyrinth. Schließlich blieb sie vor einem Grab stehen. Der Name auf dem Grabstein, beantwortete endlich die Frage nach dem eigentlichen Ziel: Michael Vanquist. May entfernte eine auf das Grab gewehte Eistüte und zupfte einige der Pflanzen zurecht. Eine der dunklen Vasen war bereits leer und so wurden die frischen Blumen dort platziert. Mit einer großen Kanne, die sie am Ende des Weges aufnahm und mit Wasser füllte, kam sie zurück ans Grab. Sorgsam befüllte sie die ganzen Vasen und goss den Rest des Wassers über die im Erdreich gepflanzte Begrünung.
Nim hielt weiterhin inne und schaute einfach nur aufmerksam zu, um gegebenenfalls helfen zu können, ohne gleich aufdringlich zu wirken. Seine Freundin stand schweigend noch eine ganze Weile da und dachte an die wenige Zeit, die sie mit Michael verbracht hatte. Nach einigen schweigenden Minuten, wendete sich May, die dem Anlass entsprechend ungewohnt dunkel gekleidet war, wie ihrem Freund erst jetzt auffiel, an selbigen: »Gehen wir?« »Wir können noch bleiben, wenn du willst.«, erwiderte Nim und erntete mehr als nur einen dankbaren Blick. May war froh, dass er so verständnisvoll mit der Situation umging und sie nicht mit Fragen bombardierte.
Gerade als sich beide Richtung Rückweg gedreht hatten, fiel ihr Blick auf eine ältere Frau, die wohl schon eine Weile dort mitten auf dem Weg stand. May erkannte sie sofort: »Frau Vanquist, wie geht es ihnen?« »Kommander May! Ich war mir nicht sicher, ob sie es sind. Es ist das schön sie gesund und munter zu sehen.« »Das ist mein Freund Nim.« »Es freud mich sehr. Ich habe sie beide zusammen im Fernsehen gesehen. Das war letztes Weihnachten. Glaube ich jedenfalls.« »Ja, das war damals so nicht geplant.«, schmunzelte May bei dem Gedanken an ihren verkorksten Kurzurlaub. »Darf ich sie beide auf Kaffee und Kuchen einladen?« »Also eigentlich wollten wir noch – Es ist unser freier Tag, wissen sie.«, war May unsicher wie sie reagieren sollte.
Zum ersten Mal meldete sich Nim zu Wort und meinte, es spräche nichts dagegen. Elisabeth ging voran und geleitete die kleine Gruppe in ein kleines Café, wo sie eine Runde Kuchen bestellten. Nim und Frau Vanquist nahmen Kaffee. May blieb bei der bewährten heißen Schokolade. »Wollen wir die Förmlichkeiten nicht einfach lassen? Einfach Nim und May, ja?« »Das wäre nett. Elisabeth. Mein wurde Michael nicht vergessen. Das ist so schön zu wissen. Er wollte so viel erreichen und die Welt verbessern. Schade das er keine Gelegenheit hatte sich diesen Traum zu erfüllen.«
»Das hat er.«, entgegnete May: »Vielleicht nicht ganz so wie er sich das vorgestellt hat, aber ohne ihn wäre ich heute nicht hier. Als ich mich aufgegeben hatte und am Boden lag, hat mich jemand an Michaels Stärke erinnert. Daran, wie er für jeden einzelnen Tag gekämpft und niemals aufgegeben hat. Er konnte vielleicht nicht die Welt zu einem besseren Ort machen, aber er hat mich zu einem besseren Menschen gemacht. Jedesmal wenn ich ein Leben retten kann, dann hat Michael daran seinen Anteil.« Michaels Mutter rannen die Tränen von den Wangen hinunter. Nim reichte ihr ein Taschentuch. »Dieses Raumschiff?«, waren die einzigen klaren Worte, die ihr über die Lippen kamen. May verstand schnell.
»Das war die Idee von Kommander Mergy. So wird sein Name auch ins weite All getragen. Die Vanquist hat schon einige große Schlachten geschlagen. Unsere Verbündeten nennen den Namen mit Ehrfurcht und unsere Feinde fürchten ihn. Ich denke es würde ihm gefallen.« »Ja, das würde es.«, konnte Elisabeth immer noch die Tränen bekämpfend nur zustimmen. »Elisabeth! Ist alles in Ordnung?«, gesellte sich plötzlich auch die Bedienung besorgt dazu. »Alles gut, Gaby. Das sind Freunde meines Sohnes und sie haben mich gerade sehr glücklich gemacht.«, strahlte Elisabeth trotz Tränen in ihren Augen.
May und auch Nim erzählten von ihren Abenteuern und Elisabeth lauschte gebannt. Schneller als gedacht, waren einige Stunden vergangen und diverse Stücke Kuchen verdrückt. Wie versprochen übernahm die Tischälteste die Kosten für das kleine Festessen. »Das war sehr schön. Danke.« »Das nächste Mal laden wir dich zu uns ein, ja?«, forderte Nim schon fast. »Auf die Raumstation? Geht denn das?«, wurde die Gastgeberin des Tages unsicher. »Wir haben doch beide eine Freundin in gehobener Position.« Nim zog die Mundwinkel an und schunkelte leicht gegen May. »Natürlich geht das. Wir machen da keinen Unterschied zwischen Präsidenten und guten Freunden.«
Die beiden Ray Team Mitglieder nahmen ihre ältere Freundin zum Abschied in den Arm. »Wie kommt ihr weg? Habt ihr ein Raumschiff dabei?«, fragte Elisabeth neugierig nach. »Ja, haben wir. Da kommt es schon.«, deutete May in den schon leicht dämmrigen Nachmittagshimmel und ließ den Manta beim Anflug enttarnen. »Bis zum nächsten Mal.«, sprach May noch aus und Beide verschwanden in einem Wirbel aus Licht. Zurück blieb eine Frau, deren Tag nicht mehr ganz so dunkel war, wie er begonnen hatte.
May sprang ihrem Freund direkt in die Arme: »Du bist der tollste Freund, den man sich wünschen kann. Danke!« »Die Frau war traurig und einsam. Es geht nicht immer nur darum die Welt zu retten. Manchmal reicht es schon aus jemanden einfach nur glücklich zu machen.« »Ich wusste nicht das mein Freund so weise ist?« »Bin ich überhaupt nicht. Habe ich alles von meiner Freundin gelernt und einem gewissen Michael.« May nahm ihren Freund erneut in die Arme und küsste ihn innig auf den Mund, während der Manta auf seinem voreingestellten Kurs einfach nur geradeaus flog. »Ich liebe dich so sehr.«, flüsterte May ihm ins Ohr und wollte gerade zu einen weiteren Kuss ansetzen, als Nim seinen Mund vorsichtig zurück zog.
Jetzt berührten sich nur Stirn und Nasenspitze. May schaute ihrem Freund fragend in die braunen Augen. »Ich bin ein Monster!« Nims Stimme war schlagartig ernst. »Du? Niemals!« May lächelte ihn an, aber seine Miene schien sich nur noch mehr zu verfinstern. »Als die Schon-Or nach ihrem Angriff so hilflos im All trieben, wollte ich sie einfach nur vernichten.« »Du hast sie gerettet. Das habe ich vom Transporter aus selbst gesehen.« »Nur weil Mergy mich über Funk davon abgehalten hat.« »Wie weit warst du von den Wrackteilen entfernt, als Mergy dich angefunkt hat?«
»Keine Ahnung. Zwei Kilometer vielleicht.« May lächelte: »So ein mieser Schütze bist du nicht. Du hättest nicht dichter als vier Kilometer heran fliegen müssen, um ein Ziel dieser Größe ohne Zielkontrolle zu vernichten.« Nim ließ seine Gedanken noch Revue passieren, aber May legte schon nach: »Das was dich angetrieben hat, war deine dunkle Seite. Jeder Mensch hat so eine und wenn sie sich zeigt, dann hat man die Wahl, ob man ihr folgen oder sich gegen sie stellen will.«
Nims Augen funkelten im Licht des, von der Decke beleuchteten, Mantas: »Du hast keine dunkle Seite. Du bist so perfekt.« May entlud ihre Luft in einem Lacher: »Muss ich dich schon jetzt an meine Ausraster erinnern? Glaub mir, ich hab auch meine Dämonen zu bekämpfen.« »Du bist nicht sauer?« »Nein, letztendlich hast du dich richtig entschieden. Das ist alles was zählt.« Erstmalig zeichnete sich wieder ein Lächeln auf Nims Gesicht ab. »Es waren übrigens keine Schon-Or.« »Natürlich waren es waren diese Mini-Sors. Ich habe sie doch durch die Fenster gesehen.«
May zog die Mundwinkel wieder leicht nach oben. »Sie haben vielleicht so ausgesehen, aber es war ein anderer Zweig der selben Rasse.« May konnte förmlich sehen, wie er wieder in seinen Gedanken verschwand und das Gewissen an seiner Seele nagte. Er hätte nicht nur andere Lebewesen der gleichen Rasse bestraft, sondern an dieser Tat völlig Unbeteiligte. Seine Freundin breitete einladend ihre Arme aus. Es dauerte einige Augenblicke, bis Nim wieder klar genug war und begriff was sie von ihm erwartete. Dann versunken sie erneut in eine tiefe Umarmung und weitere Küsse.
»Was ist mit dem Himmel los?«, fragte May plötzlich und löste sich diesmal selbst aus der Umklammerung. Der Himmel änderte seine Farbe. Fast als würde er noch farbloser und trüber. Die Änderung war nicht natürlich. Sie war aber auch nicht spontan und schlagartig, sondern breitete sich wie eine Plane aus, die man zum Schutz der Erde im All ausrollte. »Vielleicht wird der neue planetare Schild getestet?«, suchte auch Nim nach einer Erklärung. Der Schild war kein echtes Geheimnis. Die Arbeiten an den 48 Satelliten des Ray Teams, die den Planeten im großen Abstand umkreisten, waren unübersehbar gewesen. Für normale Wartungsarbeiten, waren diese Änderungen aber eben auch zu umfangreich. Es war jedenfalls schnell klar: Man hatte dem Verteidigungssystem ein zusätzliches und nicht gerade kleines Schildmodul verpasst.
»Der kann nicht einfach getestet werden. Wegen der Energieknappheit reicht es nur für einen einzelnen Start. Es muss etwas ernstes sein. Lass uns mal Nachsehen,« Nim sprang auf den aktiven Pilotensitz und änderte den Kurs Richtung All. Der Kollisionsalarm des Mantas rebellierte lauter und lauter je näher sie der fast unsichtbaren Wand kamen. Es war also tatsächlich der neue Erdschild, der das einfallende Licht reduzierte. Was sie dann sahen, ließ sie erschaudern. Einige tausend Drakenmutterschiffe waren im All vor der Erde und spuckten ihre tödliche Fracht aus. Ray Team Schiffe aller Bauarten verwickelten sie bereits in Kämpfe. May konnte nicht zwischen den echten und den holographischen Maschinen unterscheiden, aber eins war sofort klar, es mussten alle sein.
»Wir müssen da raus.«, forderte May, aber sie sahen keinen Weg. Der Schild filterte jegliche Kommunikation und sogar Teile des sichtbaren Lichtspektrums. Eine Eigenschaft die laut Tin sehr viel Energie einsparte. Die Satelliten selbst waren nur von außen zu erreichen. Wie eine Fliege in einem Glas, suchte Nim mit dem Manta nach einem Ausweg, aber es gab keinen. »Die werden überrannt!«, brachte May in verzweifelter Stimmlage raus: »Es werden immer mehr.« Wieder und wieder öffneten sich die wabernden roten Löcher in den Unterraum und gaben Dutzende Drakenschiffe frei, die sich sofort den Kampfhandlungen anschlossen. »Warum springen die nicht direkt zur Erde?«, fragte Nim einerseits neugierig, andererseits um May etwas auf andere Gedanken zu bringen. »Die Emitter der Draken werden durch die Gravitation eines Planeten gestört. Sie können daher nicht einmal in die Nähe der Umlaufbahn springen, darum war die Installation der Schilde so wichtig.«, sprang May sofort auf den Zug auf: »Wir können aber auch nicht rausspringen, weil Tin genau diese Taktik bei anderen Rassen verhindern wollte.«
»Die Energiemenge überschreitet alle Puffer. In spätestens einer Minute fliegt uns der Laden um die Ohren.«, rief Tin über das von Tonsignalen, Funksprüchen und Einschlägen mit Geräuschen überflutete Kommandodeck. »Erst haben wir zu wenig Energie und jetzt haben wir zu viel davon.«, gab Sab zurück. »Das ist es doch. Gibt es noch die alten Repligenräume neben den Hangars?«, fragte Trish laut in den Raum. »Willst du Gleiter bauen?«, gab Sab barsch zurück. »Ich dachte mehr an eine größer angelegte Tiniumproduktion!« »Das könnte funktionieren! Leite Energie über die Ringe zu den Frachträumen. Wenn die Kupplungen die Energiemenge aushalten, dann sollte es funktionieren.« »Das wird nicht reichen um den Überschuss abzubauen. Ich aktiviere die Nahrungsverteiler und Hologrammsysteme auf der gesamten Station.«
»Da bringen sich gerade zwei weitere Schiffe in Stellung. Wenn die feuern sind wir erledigt,« »Ich brauche noch 20 Sekunden für die Rekonfiguration der Energiekupplungen.« »Wir haben keine 20 Sekunden mehr.«, wurde Sab in ihrem Stuhl unsicher und wartete auf die Mantas, die das Problem durch externe Verteidigung lösen sollten, aber die hingen in anderen Gefechten fest. »Sie feuern!«, hörte man Trish noch aufschreien, als die Lichtstrahlen ihren Weg aus den Drakenschiffen suchten und direkt in den Schild eines Manta strahlten, der sich ihnen in den Weg stellte. »Und Los. Komm schon! Yes! Die Energieumleitung steht.« »Sab an Palladium, Blockade auflösen, wir sind bereit.«, konnte der Kommander gerade noch über den Stationsfunk vermelden, als der Manta vom massiv wirkenden Strahl durchbohrt wurde und in gleißendem Licht explodierte.
»Oh mein Gott. Die Station!«, war es wieder May, die beobachtete, wie gigantische Blitze über die Außenhaut der Ringe zuckten, während die Schlachtschiffe weiter auf die Station feuerten. Viele eigene Schiffe hatten sie schon explodieren sehen, konnten aber nicht genau sagen, ob es die Holographischen Sonden oder doch eins der drei echten Schiffe waren, in denen sich ihre Freunde befanden. »Tiniumproduktion läuft auf Hochtouren. Sab an Alle! Die Mutterschiffe, die auf die Station feuern, nicht angreifen.« »Wir können nicht einfach hier sitzen und Energie sammeln. Das ist eine Übermacht da draußen. Wir haben schon fast die Hälfte unserer Mantas und Gleiter sowie 32 Überraschungspakete verloren. Ich lasse auch Mantas herstellen, aber dadurch steigt unser Energieüberschuss wieder.«
»Wir sollten da draußen kämpfen und nicht hier sinnlos warten.«, war May ungehalten über ihre Situation. »Meine Freundin hat einmal gesagt der Typ, der die Zahnräder des Schicksals dreht hat immer einen Plan.«, warf Nim eine ihrer Weisheiten zurück. May blieb Stumm und versank in Gedanken. Das hatte sie bisher auch immer gedacht, aber was wäre, wenn der Typ gerade auf dem Klo hockte, oder Party machte?
»Ich bin in Hangar 1, Gleiter und Mantas sollen einfliegen und sich einen Energieschub holen. Wir haben ja jetzt genug davon.«, spuckte Tin noch aus und verschwand im Lift. Kaum im Hangar eingetroffen, foderte sie ungewohnte Hilfe an und ließ einen Sor erscheinen. »Los gehts.«, rief sie mehr sich zu, als der aus nur einer Person bestehenden Gruppe, die genau genommen nicht einmal eine Person war. »Sor ich mache es beim ersten Gleiter vor, dann kannst du es bei den anderen genauso nachmachen.« »Ich bin kein Techniker. Ich bin Lokalist!« »Lokalist?« »Na Yeon, hat die Berufsbezeichnung erfunden. Ich fand sie treffend.« »Tin an Sab schick die ersten Gleiter zum Auftanken rein.«
Draußen tobte eine wilde Schlacht. Erfahrene und unerfahrene Piloten taten ihr bestes um die eigene Basis und somit auch den Planeten zu beschützen. Für die frischen und eigentlich noch nicht einmal fertig ausgebildeten Piloten war es die erste richtige Schlacht. Sie machten ihre Sache ziemlich gut, auch wenn Jiyai erstmal erschrak, als Sab sie zur sofortigen Landung aufforderte. Keine zwanzig Sekunden nach dem Aufsetzen war ihr Gleiter wieder abflugbereit und sie wurde mit Maximalenergie wieder ins All entlassen. Gleiter wie Mantas wurden an Bord geholt und der Drakenprozedur nicht unähnlich aufgetankt. Shizuka änderte gerade die Flugrichtung in Richtung der einwinkenden Lichter, als ein Drakenjäger an ihr vorbei in den Hangar schoss. Entschlossen und nach Vorne feuernd, was ihr schon recht schlapper Gleiter noch hergab, folgte sie ihm unverzüglich.
Deutlich sichtbar sausten die Feuerstöße des Feindes in den ungeschützten Hangar. Für Bruchteile einer Sekunde konnte die junge Pilotenanwärterin zwei Personen im Hangar ausmachen, bevor die Explosion des Drakenschiffes den kompletten Hangar vor ihr ausfüllte. Wie in Trance wies sie den Computer an jegliches Personal im Umfeld in den kleinen Drachen zu befördern, während sie das kleine Schiff wendete und der Detonationswelle voran zurück Richtung All steuerte, was schwerer war, als ursprünglich von ihr angenommen. »Oh, Gott. Ich dachte ich wäre erledigt!«, hörte der angehende Pilot eine Stimme neben sich, konnte aber nicht reagieren, da gewaltige Trümmerteile, des oberen, vom Hangar abgerissen Turmes, ihre Flugbahn kreuzte. »Nicht Denken! Machen!«, feuerte sie sich leise murmelnd selbst an, während sie mit wilden Flugbewegungen einen Weg aus den Trümmerteilen und Explosionen suchte.
Erst einige Würgegeräusche ließen sie wieder in die Realität zurückkehren und sie blickte erstmalig kurz zur Seite, wo sich Tin gerade auf den Boden erbrach. »Alles Ok?«, fragte sie vorsichtig. »Ja, lande in Hangar 2.«, kam es nur knapp und mit einem ekligen Würgeunterton aus dem Kommander. Shizuka änderte den Kurs und blickte kurz hinter sich. Es war niemand auf dem Rücksitz. »Die Anderen!«, blickte sie entsetzt in die Augen von Tin, die sich mit dem Ärmel gerade den Mund abwischte.
»Welche Anderen?« »Die Anderen im Hangar. Ich konnte nicht alle retten!«, war der Kadett auf dem Pilotensitz deutlich verzweifelt und eine Träne ran ihm die Wange hinunter. »Es war niemand sonst im Hangar!«, versuchte Tin sie zu beruhigen. »Ich hab noch jemanden gesehen. Ganz kurz, aber da waren mindestens zwei Personen!« Tin überlegte, während der Gleiter in die Hangarluke eintauchte: »Ach, das war Sor. Dem geht es gut!« »Sor?« »Ja, Sor!« Shizuka fiel ein Stein vom Herzen. Um nichts in der Welt wollte sie schon wieder Fehler machen und das Leben anderer Menschen ruinieren.
Kaum hatte der Gleiter auf dem Deck aufgesetzt, da war Tin auch schon draußen. »Jaque mach den Fußraum des Gleiters sauber und reaktiviere Sor.« Shizuka krallte sich immer noch an das Steuerhorn und starrte nach vorne, während Sor sich an dem Gleiter zu schaffen machte und ihm den gewissen Bums verlieh, wie Tin es anderen Piloten auf die Schnelle erklärt hatte. Ihr war die Unsicherheit der jungen Kollegin aber nicht entgangen und so trat sie an die offene, aber unbenutzte Luke auf der Pilotenseite: »Du machst das super! Ich hab einen Spezialauftrag für dich. Du wirst den Eingang bewachen. Ballere einfach alles weg, was nach Draken aussieht. Wir hatten Glück. Wenn der Jäger einen der Tiniumwürfel getroffen hätte, wäre es für die Station aus gewesen. Das darf auf keinen Fall nochmal passieren! Verstanden?«
Mit einem Nicken bestätigte Shizuka ihre neue und wenn man es genau nahm erste richtige Mission. »Einmal explodieren reicht. Diese Erfahrung möchte ich nicht noch einmal machen!«, hörten die beiden deutlich Sor aus der Ferne kommentieren: »Ich bin Lokalist und kein Bastelheini!« »Abflug!«, wies Tin an und Shizuka schloss die Tür und sauste aus dem Hangar, um ihrer neuen Aufgabe nachzukommen.
Mergy sah aus dem Fenster. Explosionen und Feuerstöße erhellten den leeren Raum. Blitze zuckten über die Außenhaut der Station. Bilder schossen ihm in den Kopf. Eigentlich wollte er etwas anderes fragen, aber die Würfel, die Sor aus seinem Nahrungsverteiler nahm und neben dem Tresen stapelte, ließen ihm keine Ruhe. »Was ist das?« »Ich denke das sind Energiewürfel. Essen kann man sie jedenfalls nicht.«, antwortete Sor und ließ keinen Zweifel. Was auch immer das für Würfel waren, sie waren unerwünscht. Wieder blitze es in seinem Kopf. Waren das Erinnerungen, die ihm fehlten? Da waren Menschen, die er schon gesehen hatte, Explosionen und Lichtblitze, die in seinem Kopf schmerzten. Mergy krampfte sich mit beiden Händen am Tresen fest, um nicht umzufallen.
»Was mache ich normalerweise wenn so etwas passiert?« »Du bist auf dem Kommandodeck oder da draußen. Denke ich jedenfalls.«, erklärte der graue Barmann während er wieder einen der dunklen Würfel von etwa 20 Zentimeter Kantenlänge aus dem Verteiler nahm und wie ein rohes Ei zu seiner bereits stattlichen Sammlung hinzufügte. Der Verteiler leuchtete sofort wieder auf und begann damit einen weiteren Quader zu bauen. »Dann werde ich mich da mal umsehen. Du bist gar nicht so übel!«, merkte Mergy noch an, während er sich auf den Weg zur Tür, des ansonsten komplett leeren Lokals machte.
Ein Gleiter, der gerade ins Hangardeck abbiegen wollte, schoss schräg und in leichte Rotation geratend am deutlich größeren eckigen Loch der Station vorbei. »Oh, nein! Nicht jetzt!«, versuchte Suki mit festen Schlägen auf die Konsole und die Scheibe wieder Leben in die Maschine zu prügeln, aber sie war tot. Mit erschrecken sah sie zwei weitere Drakenjäger auf sich zufliegen. Ohne Energie gab es keine Schilde und sie war schutzlos wie eine Zielscheibe auf dem Rummelplatz.
Shizuka feuerte aus allen Rohren und ließ die beiden Feinde in gleißendem Licht aufleuchten, wie sie es im Training gelernt hatte. Die Trümmer näherten sich weiter bedrohlich dem ausgefallenen Gleiter. Shizuka sprach sich noch einmal Mut zu: »Los wie in der Simulation, aber diesmal klappt es!« Der Rotation des anderen Gleiters angepasst, setzte sie mit einem lauten, im Inneren deutlich wahrnehmbarem, Rumpeln auf und schnallte sich das Paket unter, während ihr, jetzt beide Schiffe umhüllender, Schild die Trümmer abwehrte.
»Shizuka an Tin. Ich werfe einen energielosen Gleiter in den Hangar.«, waren ihre Worte kurz und knapp. Ihre Aufgabe war es den Eingang zu beschützen und so konnte sie nicht selbst in den Hangar hineinfliegen. Ohne auf Bestätigung zu warten, klinkte sie den Gleiter aus und zog ihre Maschine direkt vor dem Hangartor nach oben. Ein oder zwei Rumpler machten ihr dabei deutlich, wie dicht sie bei diesem Manöver wirklich an der Station dran war. Nach einem abgeschlossenen Looping konnte sie sehen wie der Greifstrahl im Inneren den beschädigten Gleiter in die Halle zog.
»Verdammt. Ich dachte jetzt ist es aus.«, waren die ersten Worte die Suki fand, als sie die Tür des Gleiters öffnete: »Der Notfalltransporter geht nicht! Egal wie tief ich diesen verdammten Knopf gedrückt habe, es passierte nichts.« Es gab keinen Ersatzgleiter im Hangar, aber ohne die Sicherungssysteme wollte Tin die Pilotin auch nicht wieder in die Schlacht schicken, so zog sie sie am Arm und recht unsanft aus dem Schiff. Momente später schleuderte der Sitz über den Boden, während Tin im Inneren bastelte.
Suki hatte schnell erkannt, was sie machte. Sie hatte den Beifliegersitz nun als Pilotensitz montiert und ein Knopfdruck beförderte sie aus dem Sitz direkt einige Meter neben den Gleiter: »Der geht! Abflug!« Suki sprang in ihren Flieger und schoss mit eigenem Antrieb wieder aus der Station. Jetzt hatte sie endlich die volle Feuerkraft und der Antrieb reagierte deutlich agiler und flinker. Keine Spur mehr von Sparflamme, wenn man mal von dem fehlenden Sitz neben ihr absah.
»Ein weiterer Vortex öffnet sich direkt über uns.«, vermeldete Trish. »Einer mehr oder weniger ist wohl auch egal.«, war Sab leicht gereizt. »Es ist die Mystery. Trish an Mystery. Wir dachten schon wir hätten euch verloren.« »Es war ziemlich knapp, aber wir haben Verstärkung mitgebracht.«, erklärte Solange nur kurz. »Die paar Mantas bringen uns auch nicht in die Überzahl.«, muffelte Sab weiter als sie die kleinen Schiffe ins All strömen sah. »Die hab ich auch nicht gemeint.«, erwiderte die Französin schnippisch.
»Da weitere Unterraumtore. Es kommen noch mehr Schiffe!« Jetzt konnte auch Nim seine Verunsicherung und Besorgnis nicht länger verstecken. Das spürte selbst May, die immer noch intensiv nach einer Lösung für ihr Problem suchte. »Das – Das sind keine Draken!«, erkannte May als erstes die ungewöhnliche Form. »Das sind die Stri! Eine ganze Flotte von Stri Schiffen.«, konnte auch Nim mit seinem Fachwissen glänzen. »Sie sind hier um uns zu helfen?«, brachte May die offensichtlichen Fakten unsicher fragend auf den Punkt, denn die über 30 kantig und massiv wirkenden Schiffe feuerten bereits auf die Draken. »An alle Mantas, mit den Stri Gruppieren.« Jeweils zwei Mantas oder Gleiter nahmen eines der Stri Schiffe in die Mitte und begannen mit kombiniertem Angriff auf die großen Schiffe. Hoffnung auf ein gutes Ende keimte gerade in May auf, als sich über vierzig weitere Löcher öffneten.
»Da sieh! Seem! Dutzende von Seemkreuzern!«, klang Nim plötzlich regelrecht euphorisch. »Sie sind alle gekommen um uns zu helfen?«, konnte May immer noch nicht glauben was da gerade passierte. Verwundert mussten sie mit ansehen, wie die Draken ungehindert auf die Station feuerten, während die Ray Team Schiffe und selbst die Station diese Angreifer komplett zu ignorieren schien. Von der genialen Idee den Energiehaushalt durch Feindfeuer aufzubessern, hatten sie auf der anderen Seite der trüben Wand keine Ahnung. Die Draken sahen es wohl ähnlich. Von kleineren Explosionen, die Sab holographisch nach intensiven Energieeinschlägen projizierte, erhoffte sich Sab weiteres kontinuierliches Waffenfeuer und der Plan ging auf.
Mergy, schon vor einer Weile auf dem Kommandodeck eingetroffen, schaute dem Treiben zu und musste sich setzen. Immer wieder fuhren Gedanken und Erinnerungsblitze in ihn. Er zuckte vor Schmerz zusammen und schwankte. Durch die neuerlich eingetroffenen Schiffe und die gesteigerte Feuerkraft der kleineren Schiffe ließen sich die Draken mehr und mehr in die Defensive drücken. Schließlich waren nur noch eine Hand voll Schiffe über. Die Kreuzer, die unablässig auf die Station gefeuert hatten, aktivierten ihren Antrieb. Ihr neuerlicher Plan war offensichtlich die Station zu rammen, aber die Waffenplattformen im äußeren Ring verhinderten die Einschläge unsanft.
Dann war die Schlacht um die Erde zu Ende. Vereinzelte, aus den Trümmern auftauchende, Jäger wurden von den zu hunderten im All fliegenden Schiffen der noch jungen Allianz vernichtet. Keines der großen Schiffe versuchte auch nur zu entkommen. Die Draken kämpften buchstäblich bis zum letzten Krokodil. May entdeckte ein auf die Erde zu taumelndes Seemschiff. Es war nur noch wenige Kilometer vom Erdschild entfernt. Ihr war sofort klar, sollte das mit Wasser gefüllte Ei auf den Schild krachen, würde es zerbrechen. Die fragilen Körper der Seem würden in ihrem Element in wenigen Sekunden erfrieren. Aber alle Rufe über Funk blieben ungehört. Auf einer der Konsolen sah Mergy ebenfalls das beschädigte Seemschiff. Instinktiv versuchte er den Schild zu deaktivieren, aber die Konsole nahm seine Befehle nicht an, ganz so wie man es vorgesehen hatte, um etwaige Probleme mit dem gedächtnislosen Kommander zu vermeiden.
»Sektor 9 des Erdschilds deaktivieren. Der Seemkreuzer wird wie ein rohes Ei zerbrechen, wenn er aufschlägt.«, rief Mergy laut über das Kommandodeck, auf dem man seine Anwesenheit bisher nicht einmal bemerkt hatte. Sab schaltete den Sektor auf den großen Schirm und deaktivierte das Schildsegment. Trish war schon einen Schritt weiter: »Sieht so aus als wärst du wieder da!« Erst jetzt bemerkte Sab ihre Gewohnheitstat und drehte sich mit fragendem Blick zu Mergy, der ebenfalls erst jetzt selbst bemerkte das seine Erinnerungen an die vergangenen Jahre wieder da waren: »Scheint wohl so!« »Trish an alle Ray Team Schiffe. Trümmer am Sprungpunkt zusammentreiben und nach Verletzten suchen. Jaque, Harvester starten und auf den Sammelpunkt ansetzen.« »Verstanden, Kommander.«
May kommandierte die Mantas, Gleiter und Transporter, die in der Kugel gefangen waren, zu den Anderen vorzustoßen, um bei Rettungs und Bergungsmissionen zu helfen, während sie das Seemschiff beobachtete. Es begann mehr oder weniger unkontrolliert in die Atmosphäre einzutreten und dem Paar war sofort klar, sie würden eine Bruchlandung hinlegen. May aktivierte den Antrieb des Mantas und setzte zum parallelen Sturzflug an. Als würden sie miteinander Tanzen, rotierten die beiden Schiffe durch die Schichten, die den Planeten umgaben. Nim war zur Untätigkeit gezwungen. Er hatte keine Ahnung was seine Freundin im Sinn hatte und so kontrollierte er nur die Mantafunktionen und führte einen Scan des kugeligen Schiffes durch, der aber abgesehen von einigen winzigen Löchern, Rissen und beschädigter Technologie nur die üblichen drei Fische und Unmengen von Wasser zeigte.
Die Heckklappe rumpelte trotz Sturzflug auf. »Du übernimmst!«, hörte Nim seine Liebste noch sagen, dann war sie auch schon aus dem flachen Drachen gesprungen. Nim drehte sich wieder nach vorne und brachte nur noch ein unflätiges »Scheiße!« zu Protokoll. Dann knallte das gewaltige Heck des massiven Alienschiffes direkt in seinen Manta. Nim hob es aus dem Sitz und er schlug hart gegen die Frontscheibe. Der Besinnungslosigkeit nahe sank er zwischen den Sesseln, an der Konsole hinuntergleitend zu Boden und blieb unten liegen.
Stöhnend und mit schmerzverzerrtem Gesicht fasste er sich an die Stirn, die neben der Schmerzproduktion nun auch noch seine Kleidung vollblutete. Mühsam rappelte der Pilot sich hoch und prüfte die Anzeigen. Der Manta trudelte und rotierte, ließ sich aber nicht mehr steuern. Die Konsolen flackerten und waren deutlich sichtbar mit der kompletten Front in das Fluggerät gedrückt worden. Die Scheibe hatte diverse spinnennetzartige Rissmuster und zeigte durch die resultierende schlechte Sicht nach draußen, es war mehr als nur eine kleine Reparatur fällig. Immer noch wackelig und mit heftigem Pulsieren im Schädel setzte sich der Pilot zurück in den Sessel und aktivierte den Notfalltransporter, dessen Aktivierungstaste tief in das Möbel eingelassen war.
Als Nim wieder in der Realität angekommen war, schwebte er etwa 50 Zentimeter über dem Meeresspiegel. »Wie in einem Avery-Cartoon!«, schoss es ihm noch durch den pochenden Kopf, da setzte auch schon die Gravitation ein und er versank im Meer. Kaum nach Luft schnappend wieder aufgetaucht, traf ihn eine kleine Wellenfront des ansonsten Spiegelglatten Meers und er sah den Manta etwa 50 Meter entfernt in den Fluten versinken. Unsicher prüfte er den Himmel und suchte nach May und dem gewaltigen Seemschiff. Es hätte eigentlich längst, wie der Manta auch, im Wasser einschlagen müssen. Nur Augenblicke später tauchte ein strahlendes Bündel durch die Wolken. Erst war Nim unsicher, ob das eine Explosion oder eine Reflexion war, aber je größer das Objekt wurde, desto deutlicher konnte er Details erkennen.
Streifen in allen Farben, umströmten May und wickelten das Raumschiff ein. Als hätte jemand einen Regenbogen filetiert und an einen Stock gebunden, um damit rhythmische Sportgymnastik zu betreiben. Hell leuchtende Punkte schienen Mays Körper zu verlassen und an den Bändern entlang zum Schiff hinüber zu gleiten. Er musste sich regelrecht zwingen zu paddeln, sonst wäre er vor lauter Bewunderung wie ein Stein abgesoffen. In einigen dutzend Metern Abstand durchstieß das eierförmige Objekt mit den glubschigen Bullaugen die Wasseroberfläche.
Sofort kämpfte sich Nim zu dem neuen Ziel durch. Die Wellen der Landung schlugen ihm hart entgegen. Er konnte sehen wie May sanft auf dem kugeligen Metallberg landete. »Soll ich dir helfen?«, fragte sie unsicher. Sie wollte ihn nicht wieder ungefragt in eine unangenehme Lage bringen, aber das kalte Wasser war sicherlich auch so schon unangenehm genug. »Ja, bitte!«, flehte Nim schon fast nach oben. Die farbige Streifen schlugen nun ihm entgegen und wickelten ihn ein. Wie zuvor das Raumschiff, wurde auch er von den regenbogenartigen Bändern erfasst und getragen.
Aber etwas war anders. Die Streifen waren jetzt blass. Sie wirkten faserig und abgenutzt. May schnaufte und schwankte, was nicht an den Bewegungen des übergroßen Floßes unter ihren Füßen lag. Mit einem lauten Plätschern tauchten die riesigen Fische neben dem Schiff auf und schwammen hastig hin und her. »Seit ihr unverletzt?«, stellte nun May stark schnaufend eine Frage, während sie auf die Knie sank. »Ja, die Seem wurden gerettet. Wieder schulden wir Kommander May unseren Dank!« »Es ist noch nicht vorbei!«, wurde Nim laut, als er die Kampfjets am Himmel auf sie zudröhnen hörte. »Die werden uns nicht angreifen!«, war May zuversichtlich. Nim war skeptisch und sollte recht behalten. »Raketen!«, brüllte er nur. May sammelte ihre Energie und ließ die Waffen noch in sicherer Entfernung durch den Aufprall auf die faserigen Bänder explodieren.
Wild schnaufend fiel sie nach hinten um und blieb liegen. »Hier, deine Powertabletten. Der Doc meinte Frauen hätten ja nie Taschen und es wäre gut, wenn ich auch immer welche einstecken würde!«, war Nim besorgt seine Freundin so schlapp und hilflos auf dem kalten Metall liegen zu sehen. Seine eigene Kalte und nasse Kleidung spürte er schon lange nicht mehr. May schluckte einige der Pillen. Wieder waren die Flugzeuge zu hören. May rollte sich auf die Seite: »Ihr müsst tauchen. Sofort! Ich kann euch nicht mehr beschützen!«
Die Seem verstanden und versanken im Meer. »Du auch!« »Ich lass dich nicht alleine! Du kommst mit!« »Ich bekomme jetzt schon kaum Luft. Geh! Das ist ein Befehl!«, brachte May die Worte mit letzter Kraft schnaufend heraus. Nim bewegte sich nicht. »Geh!«, wurde May wieder lauter. »Nein! Ich lass dich nicht zurück.« Nims Ton war hart und unerbittlich. Er würde nicht freiwillig von ihrer Seite weichen, soviel machte er überdeutlich klar.
May hob ihre Hand und stemmte alle Energie, die sie Sammeln konnte gegen die Brust ihres Freundes, der immer noch unbeirrt neben ihr kniete, um ihn weit ins Meer hinauszuschleudern. Dann sackte der kleine Kommander ohnmächtig zusammen. Nim spürte den luftigen, aber dennoch wuchtigen, Schlag an den Rippen und in seiner Magengrube. Er fiel unsanft auf seinen Hintern und rutschte etwas über die Länge der Schiffhülle. Neue Raketen waren bereits in der Luft und so legte er sich schützend über seine Freundin, um ihr mit seinem Körper und dem eigenen Körperschild Deckung zu geben, auch wenn es eigentlich aussichtslos war. Der Schild konnte Kugeln aufhalten, aber keine derartige Sprengkraft kompensieren.
Eine warme Welle umschmeichelte ihn fast zeitgleich mit den lauten Explosionen der Waffen. Eigentlich hätte sein Schild die Wucht der Einschläge niemals halten können. Nim war unsicher und öffnete vorsichtig die Augen. »Wow, Uh!«, waren die einzigen Geräusche, die er neben dem Donnern von Jetturbinen über ihm vernahm. Als er sich schließlich umsah erblickte er Tori, der ziemlich wackelig zur Landung ansetzte. Seine Füße und Hände schienen durch Triebwerke ersetzt worden zu sein. Gleißend gelbe Strahlen hielten ihn in der Luft. Tori umgaben die gleichen Farben und bunten Strahlen, wie schon bei May zuvor. Das war also der Grund für die Heimlichtuerei der letzten Wochen. Dann waren sie schlagartig verschwunden und er stand sicher, wenn auch ohne Schuhe, auf dem treibenden Schiff der Seem. »Was ist mit ihr?«, zeigte sich nun auch ihr Retter besorgt, als er die leblose May unter Nim entdeckte.
»Ich denke sie ist erschöpft. Sie hat das Raumschiff mit ihren Kräften gelandet.«, fasste Nim nur kurz zusammen: »Du hast nicht zufällig auch einen fliegenden Untersatz dabei?« »Doch, ist aber außer Reichweite.« »Noch ein Joluh!«, brachten sich plötzlich auch wieder die Seem von der Wasserseite in die Unterhaltung ein, die neugierig, wohl von den bunten Strahlen angelockt, aufgetaucht waren. »Hallo«, erschrak Tori und machte einen Satz zurück. Noch nie hatte er die außerirdischen Fische so direkt gesehen. Sie waren groß und obwohl er um den eigentlichen Sinn der Zähne wusste, zuckte er bei dem Anblick zusammen. »Keine Angst, wir sind die Seem!«, schallte die Übersetzung durch seinen Schädel. »Ich weiß, ihr seit nur deutlich größer als ich es gedacht hatte.«
Es war seine erste Alienbegegnung und der gruselige Anblick war schon heftig. »Das ist Tori. Er gehört auch zum Ray Team!«, stellte Nim die unterschiedlichen Lebensformen einander vor, als wieder Waffen auf das harmlose Schiff zu schossen. Wieder waren die Jets beim Anflug zu hören. »Ich kümmere mich darum und hole meinen Manta. Jetzt wird es richtig cool!«, grinste der Joluh–Neuling und drückte eine Taste auf seinem seltsam klobig wirkenden Armband. Holographisch breitete sich eine Rüstung über ihm aus und sofort war Nim klar, hier schlug wieder die Nerdseite von Tori durch, als sich die eindeutig von Iron Man inspirierte Rüstung aktivierte.
Tori hielt seine Hände flach nach unten und mit dem Geräusch einer zündenden Lötlampe stieg er langsam auf, nur um nach einigen Metern auch unter den Füßen jeweils ein Triebwerk zu aktivieren. Er schoss in die Luft und ließ die Raketen explodieren, während er zwischen den Jets hindurch flog, deren Piloten irritiert wendeten und ihn suchten. Deutlich hörte Tori den Funkverkehr der beiden Piloten in den Cockpits und eines Offiziers, der wohl von einem Flugzeugträger in der Nähe Anweisungen gab.
Der neue Superheld spielte seine Karte aus und tauchte direkt zwischen den beiden Fliegern auf. Die Piloten waren gleichermaßen überrascht und verwirrt. »Ich mag es gar nicht, wenn man meine Freunde bedroht!«, ließ Tori über Funk durchblicken, während die Parteien noch überlegten was man jetzt machen sollte: »Jetzt könnt ihr euch erst einmal etwas abkühlen!« Tori konzentrierte sich und ließ die frische Seeluft über den Flügeln gefrieren. Schnell zog sich eine dicke Eisschicht über das Gefährt und die Kanzeln. Lediglich die Naht zwischen Flugzeugrumpf und Pilotenkuppel ließ Tori frei, damit der sichere Ausstieg gewahrt blieb.
Die Jets begannen durch den Strömungsabriss an zu trudeln und wenige Momente später stiegen die Piloten nach einem Notruf aus. Die Maschinen explodierten in schneller Folge beim Aufschlag auf dem Meer. Tori prüfte ob sich die Fallschirme auch öffneten, drehte noch eine Runde der Überlegenheit um die ehemaligen Ziele und schoss davon. Der Flugzeugträger war ihm schon vorher aufgefallen, aber die potentielle Gefahr hatte er unterschätzt. Cool wie die Helden in den Comics machte er eine Dreipunktlandung auf der Startbahn des gewaltigen Schiffs und erntete verwirrte Blicke der Decksbesatzung. Mit einem Entermanöver hatte wohl niemand gerechnet, sonst wäre schon auf ihn gefeuert worden. Die Superheld in Rüstung konzentrierte sich und ließ die Luft um das Schiff herum gefrieren. Erst nur ganz dünn, aber dann immer dicker und dicker. Er ließ das Wasser um das Stahlgebilde verdampfen, um es dann in der Luft zu einen gewaltigen Eisberg zu verschmelzen.
Wie in einem Vulkan aus Eis war das Schiff nun eingeschlossen. Nur die Hubschrauber waren noch in der Lage zu starten, um die Piloten einzusammeln. Tori salutierte noch einmal, schoss durch die Kuppel des Eiskraters in die Höhe und setzte Kurs auf seinen Manta, der immer noch getarnt über dem einfachen Holzfloß schwebte. Als er hinten im Heck des kleinen Schiffes aufsetzte, bemerkte er, wie die intensive Nutzung seiner Superkräfte auch an seinem Körper, an seiner Kraft, zehrte. Das war also vorhin May passiert. Er deaktivierte seine Lichtrüstung und setzte sich an die Konsole.
Bruchteile von Sekunden später war er auf dem Rückweg zu seinen Kollegen und setzte einen Hilferuf an die Station, mit der Bitte um Verstärkung, ab. Mit leisem Fauchen parkte er den Manta rückwärts am, immer noch antriebslos im Wasser treibenden, Seemschiff. Die übergroßen Seem waren jedoch nicht zu sehen. Vielleicht hatten sie mit der Reparatur begonnen, oder sie versteckten sich wieder. Nim nahm May auf den Arm und legte sie hinten auf die seitliche Bank des kleinen Ray Team Kampfschiffes. »Ist sie wirklich ok?«, zeigte sich Tori sichtlich besorgt.
»Ihr Puls ist normal. Sie hat sich abgeschaltet. Ist wohl normal.«, war Nim sichtlich abgeklärter, hatte er von May doch alles über ihre Fähigkeiten erfahren: »Hier, wirf davon zwei ein. Du siehst auch schlapp aus. Ich will nachher nicht euch Beide schleppen müssen.« Er konnte die Schwächung seiner bunten Strahlen, wie bei May zuvor, deutlich sehen. Das Pillendöschen flog durch den Raum und Tori schaute unsicher drein. »Joluh Doping! Hätte May früher einwerfen sollen. Besorge dir später eigene Tabletten vom Doc!«, setzte Nim seine kleinen Erklärungen weiter fort.
Tori folgte den Anweisungen, während er draußen nach dem Rechten sah. Ein Hubschrauber hatte die Piloten eingesammelt und war bereits auf dem Rückweg. Eigentlich hätten auch sie los fliegen können, aber man wollte die Seem nicht schutzlos zurücklassen.
»Was sagen die Scans?« »Da ist ein Flugzeugträger in einem Eisberg.« »Was für eine blöde Tarnung soll denn das sein?« »Da ist noch ein Signal. Tiefer. Ein U-Boot.« »Die dürfen nicht Feuern. Manta 1 und 2. Kümmert euch um das U-Boot. Kanal öffnen! Hier spricht Kapitän Solange vom Ray Team Schlachtschiff Mystery. Wir haben heute hunderte von Alienschiffen vernichtet und sind etwas angeschlagen aber dennoch voll einsatzbereit. Wollen sie sich wirklich mit uns anlegen? Sollten sie erneut Angriffe auf uns oder unsere Verbündeten starten, werden wir ohne weitere Warnungen das Feuer erwidern!«
Zeitgleich brach das mächtige Schiff durch die dichten Wolken und die beiden Mantas schossen senkrecht durch die Wasseroberfläche in die Tiefe, wo sie sich dem Feind unter Wasser näherten. Kleinere Lichter an der Oberfläche des großen Raumschiffes zeugten von den Repligens, die ihre Reparaturarbeit bereits aufgenommen hatte. Die Mystery stoppte direkt über dem Seemschiff, während die beiden Mantas mit wie Fächer ausgebreiteten Schilden für einen entsprechenden Schutzwall unter Wasser sorgten. Weitere Mantas wurden ausgesandt, um den Flugzeugträger, der sich bereits mit Waffengewalt einen Weg aus dem Eis gebrochen hatte, im Auge zu behalten und einzuschüchtern.
Grabbler landete im Lichtwirbel des Transporters auf dem Seemschiff. »Solange lässt euch ausrichten die Mystery übernimmt ab jetzt die Sicherung des Seemkreuzers.«, erklärte er der Mantabesatzung, während er sich den nun wieder an der Oberfläche neugierig umherschwimmenden Seem zuwendete: »Ich bin Grabbler. Wenn es ihnen recht ist, werde ich helfen ihr Schiff zu reparieren.« Die Seem willigten ein. »Ihr seit bei ihm in guten Händen.«, gab Nim noch abschließend zu Protokoll. Dann setzte sich ihr Manta langsam in Bewegung und stieg ins All auf.
Sanft strich Nim seiner Freundin die Haare aus dem Gesicht. »Hast du es Suki schon gesagt?«, fragte er nach einer Weile nachdenklich. »Das mit meinen Superkräften? Nein! Das wäre zu früh!« »Glaub mir. Es gibt kein zu früh. Suki kann man Vertrauen. Sie hat Mays Geheimnis auch gehütet. Etwas ist im Busch. Das weiss sie bereits. Sie hat Angst dich zu verlieren.«, plauderte Nim weiter aus seinem Wissensschatz: »Ich habe es mehr oder weniger zufällig erfahren und daran wäre beinahe alles kaputt gegangen.« »Vielleicht hast du recht.« »Klar hab ich recht!« Tori antwortete nicht und leitete den Anflug zur Station ein. Das All war trotz der bereits gestarteten Aufräumarbeit immer noch übersät von riesigen Trümmerbergen, die es zu umfliegen galt.
Jiyai wartete bereits in der Halle. Sie untersuchte May noch im Manta. »Kann ich sie mitnehmen? May hasst es im Krankenzimmer aufzuwachen.«, fragte Nim vorsichtig an. Der jungen Arztanwärterin gefiel es von Nim mit soviel Respekt behandelt zu werden. Er hatte nicht nach einem richtigen Arzt gefragt oder auf andere Art ihre Kompetenz in Frage gestellt. Das Mädchen ließ sich aber dennoch nichts anmerken. »Was ist mit deinem Kopf?«, fragte sie ohne näher auf die freundliche Bitte einzugehen, als sie das angetrocknete Blut an seiner Stirn sah.
»Ich hab versucht die Mantascheibe mit dem Kopf zu spalten. Hat nicht so richtig funktioniert!«, grinste er frech, während sein jüngeres Gegenüber mit dem Scanner auf deinen Kopf zielte und die Anzeigen auf dem holographischen Monitor des Autodocs betrachtete. »Du hast eine Gehirnerschütterung. Eine ziemlich Heftige sogar.« Bevor Nim etwas sagen konnte hatte er, wie May auch, ein medizinisches Armband an der dafür vorgesehenen Stelle am Handgelenk. »Ihr meldet euch beide morgen auf der Krankenstation zum Check. Keine Einsätze und kein Sport!« »Ja, Frau Doktor.«, witzelte Nim leicht, um nicht zu viel von dem Respekt gegenüber der jungen Kollegin aufzubrauchen.
Nim hob seine Freundin von der langen Bank und trug sie aus dem Manta. Tori und Jiyai folgten. Die breite Tür schob sich ungewohnt weit vor ihnen auseinander, weil Suki sich ungewollt in ihren Weg stellte. Entsetzt musste sie ihre Freundin regungslos auf Nims Armen erkennen: »Was ist mir ihr passiert? Wie geht es ihr?«, waren alle Fragen die Tori betrafen schlagartig in den Hintergrund gerückt. »Sie wird wieder!«, war es Tori der Nim zuvor kam und seiner angstvoll dreinblickenden Freundin zusprach. Nim trug seine Liebe den ganzen Weg, bis in ihr Quartier und legte sie sanft auf das breite Bett.
Vorsichtig entfernte er die Schuhe und Socken von ihren Füßen und zog ihr Jacke, Pulli und Jeans aus. Die kuschelige Decke umhüllte das unscheinbare Wunder, als wäre sie eine in Watte gepackte Puppe. Anders konnte er es nicht umschreiben. Die Kräfte waren eine Sache, aber diese Lichter und Farben waren etwas ganz anderes. Es war einfach nur magisch oder kosmisch gewesen. Nim nahm eine heiße Dusche und wechselte die immer noch klammen Kleidungsstücke gegen frische Ware aus dem schon länger gemeinsam genutzten Schrank.
Immer wieder schossen ihm die unglaublichen Bilder durch den Kopf. Der einzige Vergleich, der ihm einfiel, waren die unzähligen Mangacomics und Fernsehserien. Dort hatte er immer wieder die seltsam farbenfrohen Effekte der Helden belächelt, aber jetzt hatte er es mit eigenen Augen gesehen. Hatten die ersten Zeichner dieser Effekte eine ähnliche Erfahrung gemacht und es war als Stilrichtung so geblieben oder war alles nur ein dummer Zufall? Endlich war ihm wieder richtig warm. Die Gedanken an das kalte Wasser ließen ihn dennoch noch einmal erschaudern. Plötzlich fielen ihm die Eltern seiner Freundin ein. Die Beiden würden bestimmt hören was passiert war und sich Sorgen machen. Er stellte im Wohnraum eine Verbindung mit Reiko her und erzählte ihr grob was mit May los war. Ihre Eltern hatten von alledem noch nichts gehört, waren aber sichtlich beruhigt von ihm zu hören, wie es ihr ging.
Sorgsam prüfte er wiederholt den Puls seiner Freundin. Er war normal und gleichmäßig. Zufrieden zog er sich einen Kaffee aus dem Automaten neben der Quartiertür und wärmte sich nun auch innerlich. Den Stuhl vom Schminktisch rückte er ans linke Nachtschränkchen und setzte sich Gedankenversunken neben das Bett. Lange Ruhe hatte er nicht, denn die Wohnungstür meldete sich. Der Doc machte einen Hausbesuch und war zufrieden mit beiden Patienten. Jiyai hatte ihm also, wie von einem guten Arzt zu erwarten, auch von seiner Kopfverletzung berichtet. Er wiederholte noch einmal den schon von der Auszubildenden ausgesprochenen Wunsch nach einem Besuch der Krankenstation und ordnete auch für Nim Ruhe an. Keine zwei Minuten nach seinem Eintreffen, war er wieder durch die Tür verschwunden.
Aber kaum hatte sich Nim wieder seinem Kaffee gewidmet, unterbrach die Tür abermals seine Ruhe. Nim war nur froh die klimpernde Tonfolge auf seinen Kopf beschränkt zu haben. Sollte May von ihrem Tiefschlaf in normalen Schlaf übergehen, wollte er sie nicht sofort durch ein banales Türklingeln wecken lassen. »Hier ist ja mehr los als an der Hochbahn zur Mittagsstunde.« murmelte er, während er die Taste an der Tür abermals zum Öffnen drückte.
Vor der Tür standen Jin und Reiko. »Hallo, kommt rein.«, blieb Nim höflich, obwohl er doch eigentlich angenommen hatte sie würden sich nach dem Gespräch zurückhalten. »Wir wollen nur einmal kurz nach ihr sehen.«, versicherte Reiko und Nim hatte das ungute Gefühl seine Gedanken vielleicht doch versehentlich laut ausgesprochen zu haben. Im Pulk ging es zur Besichtigung der Prinzessin, von der man nur den Kopf sehen konnte, der unter der Decke hervorschaute. Beide blieben stumm ein paar Sekunden stehen und schauten zu wie sich die wärmende Schutzdecke langsam hob und senkte.
»Der Doc hat sie gerade noch einmal untersucht. Es ist alles in Ordnung mit ihr.«, beschwichtigte Nim noch einmal die Lage. Mit warmen Worten fügte er noch eine kurze Erklärung hinzu, um einfach nur die drückende Stille zu verdrängen: »Ihr hättet sie da unten sehen sollen. Eure Tochter war einfach unglaublich.« Jin erblickte den Kaffee auf dem Nachttisch und den Stuhl, der in dieser Position den Weg ins Bad versperrte und offensichtlich nicht immer dort stand: »Du wachst hier über sie?«
Seine Stimme klang überrascht. Hatte er immer noch nicht begriffen, wie wichtig ihm seine Tochter war? Nach all dem was in der letzten Zeit passiert war? »Natürlich. Ich kann doch nicht seelenruhig schlafen, während sie da so liegt.«, brachte Nim ebenso überrascht mit leicht entrüstetem Unterton heraus. »Komm Reiko. Lassen wir die Beiden in Ruhe. Unsere Tochter ist hier in guten Händen!«, schob Jin seine Frau Richtung Tür. Noch einmal warfen sie beide einen Blick auf ihre Tochter und verschwanden so schnell wie sie aufgetaucht waren. Jin hatte offensichtlich immer noch ein Problem damit seine Irrtümer gegenüber Nim direkt auszudrücken, aber das kleine Lob versöhnte den Piloten sichtlich und nahm ihm etwas von der Anspannung, die er immer noch jedesmal verspürte, wenn er auf Mays Vater traf.
Nim nahm seine ursprüngliche Aufgabe wieder auf und wachte. Einige Minuten und wenige kleine Schlücke der wachhaltenden Flüssigkeit später, schoss ihm Mergy durch den Kopf. Eigentlich wäre er der Erste gewesen, der sich hier eingefunden hätte, aber in seinem Zustand konnte er ihm keinen Vorwurf machen. Umso überraschter war er, als der Kommander unvermittelt vor der Tür stand und sich nach seiner Ziehtochter erkundigte. Noch bevor er eintrat, entschuldigte er sich nicht nur wegen der fortgeschrittenen Stunde, sondern auch wegen der Situation auf der Krankenstation. Er war wirklich wieder ganz der Alte und verhielt sich genau wie vor dem Blitzschlag. Wie die Anderen auch blieb er nur kurz und wünschte eine gute Nacht.
»Das waren jetzt wohl alle!«, dachte Nim als er im Türrahmen gelehnt seine Freundin betrachtete. Tori und Suki würden bestimmt nicht um diese Zeit noch vorbeischauen. Die anderen Kommandomitglieder würden sich dezent im Hintergrund halten und frühestens am nächsten Tag auf der Matte stehen. Das mit Tori war auch eine Nummer für sich. Er hatte Superkräfte genau wie May. Woher kamen die? Gab es noch mehr Menschen mit seltsamen Kräften? Erst die Stimme von Sab riss ihn aus dem Gedankenstrudel, der sich um die vergangenen Stunden und die Freunde in seinem Kopf drehte.
Sab orderte ihn zum Bildschirm im Wohnraum und Nim aktivierte die eigene Bildübertragung durch Tippen der entsprechenden Fläche in der Ecke auf dem Bild, obwohl er eigentlich keinen Wunsch hegte sich mit Sab zu unterhalten. Er hatte den Manta zu Schrott geflogen und die Situation damit erst so dramatisch verschlimmert. Egal wie er es die letzten Stunden auch gedreht hatte. Mit dem Manta hätte er die Angreifer ohne Probleme abwehren können und May hätte sich nicht verausgaben müssen.
Er ließ sich nichts anmerken und fragte mit vorsichtigem »Ja?«, nach, was der dunkle Lord der Station von ihm wollte. »Mit May alles in Ordnung?«, stellte sie eine Frage, die er nicht erwartet hatte. Ok, eigentlich war der Gedanke fies, aber Sab war sonst immer so kalt und berechnend. »Ja, sie ist nur weggetreten. Wie üblich, wenn sie ihre Kräfte zu sehr nutzt!«, versuchte Nim die Lage im Quartier etwas zu beschwichtigen. »Zuerst einmal möchte ich dich auf dem Kommandodeck sehen, sobald sich die Situation bei euch geklärt hat.«, folgte der Hammer, den Nim zwar erwartet hatte, aber dennoch ohne Ausweichmanöver einschlagen ließ.
Sie hatte also die Daten gesichtet und seinen Fehler bemerkt. Das war zu erwarten gewesen. »Dann wollen die Seem mit May sprechen und sich verabschieden.« Hatte sie nicht zugehört? May war dazu nicht in der Lage. »Das geht nicht!«, erwiderte Nim leicht unerfreut. »Ja, ich habe es ihnen auch erklärt, aber sie wünschen mit ihr oder jemandem aus ihrem Schwarm zu sprechen. Ich nehme nicht an sie meinten damit Reiko oder Jin. Keine Panik sie wollen sich nur verabschieden. Das bekommst du hin. Ich stelle durch.«
Nim hatte kaum Zeit zu begreifen was gleich passieren würde, da waren die Fische auch schon auf seinem Schirm, der so, auch ohne Sab, nicht an Gruseligkeit verlor. Wie bei der gruseligen Version eines Bildschirmschoners schaute er in ein Aquarium. »Wir sind die Seem und möchten uns bei Kommander May bedanken!«, trällerte die Übersetzung aus dem Lautsprecher des Bildschirms. »Es tut mir leid, aber Kommander May erholt sich noch von ihrem Einsatz.«, versuchte Nim zu umschreiben ohne seine Freundin als schwach oder hilflos aussehen zu lassen: »Was den Dank angeht, so sind es wohl die Menschen, die sich bei den Seem und auch den Stri bedanken müssen. Ohne ihre Hilfe wären wir wohl nicht so unbeschadet davon gekommen.« Wie schon zuvor versuchte er seine Worte einfach zu wählen. »Eine falsche Wortwahl hat schon Kriege ausgelöst.«, schoss es dem jungen Mann beiläufig durch den Kopf.
Ein lautes Quieken war plötzlich zu vernehmen, welches sich wie eine Fehlfunktion anhörte, aber der Übersetzer folgte direkt im Anschluss mit »Ahh, so ist das bei Freunden. Man hilft sich gegenseitig.« Hatte er wirklich versucht eine menschliche Geste nachzumachen? Der Schwarm hatte keine Zeit sich darüber groß Gedanken zu machen, denn er musste jetzt etwas bedeutsames sagen. May würde das tun. Unbemerkt von den Seem schossen ihm tausende Floskeln durch den Kopf und dann sprach er es aus: »Ich wünsche ihnen eine gute und sichere Heimreise. Leben sie lang und in Frieden!« Hatte er das jetzt wirklich laut gesagt oder nur gedacht? »Leben sie lang und in Frieden!«, hörte er die Antwort der Seem bevor sich die Verbindung schloss. Mit offenem Mund stand Nim vor dem Schirm, der nun wieder das wippende Ray Team Logo zeigte, bis er sich nach einigen Minuten abwandte.
In Gedanken versunken machte er sich wieder auf den Weg ins Schlafzimmer, wo seine persönliche Prinzessin immer noch still schlummerte. Die Stunden verronnen, bis ein leises Stöhnen ihn aus seiner Starre riss. May öffnete die Augen und er konnte sehen, wie sie sich, nur die Augen bewegend, umsah, bis sie Nim erblickte. Dann schoss ihr Oberkörper nach oben und ihr Kopf drehte sich in seine Richtung: »Geht es dir gut?« »Ja.«, blieb Nim kurz. Er wusste es kam noch mehr. Dafür kannte er den Schlaukopf, wie Mergy May immer nannte, schon zu gut. »Die Seem! Was ist mit den Seem?«, kam die nächste Welle Worte auf den Wächter der Nacht zu. »Allen geht es gut! So ist sie meine May. Denkt immer nur an andere. Wie geht es dir selbst?«, wurde Nim aktiv. »Ich fühl mich schlapp, aber das ist normal.«, war sie sich ihrer Lage bewußt.
»Was ist passiert?«, war ihr Kopf schon dabei das Puzzle zusammen zu setzen. »Du wolltest mich wegschleudern. Das hat nicht funktioniert, also habe ich meinen Schild aktiviert und mich über dich gelegt. Gerade als ich dachte wir sind erledigt, kam da so ein Joluh–Typ und hat den bösen Jungs mächtig in den Hintern getreten.«, erklärte Nim einfach, aber unvollständig was passiert war. »Ah, Tori!«, entfleuchte es May. Darauf hatte Nim nur gewartet. »Tori hat auch Superkräfte?«, entfuhr ihm geschockt, als wäre das die Nachricht des Tages. Er konnte sehen wie es in seiner Freundin arbeitete, bis schließlich ein fragendes »Wer denn noch?« aus ihrem Mund ins Freie trat. Nim erwiderte nur mit einem Grinsen. Erst jetzt schaltete May. »Oh, du hast mich reingelegt und meine Situation schamlos ausgenutzt.« Ihr Kissen flog auf Nim zu, der es vor dem Einschlag auffing und auf seinem Schoss unter seinen Armen fixierte: »Ihr Joluh–Leute seit ziemlich schweigsam. Ich dachte ich probiere mal so an weiterreichende Informationen zu kommen. Gab aber wohl keine.«
Nim setze vom Stuhl auf die Bettkante über: »Es tut mir leid. Hätte ich den Manta nicht zu Schrott geflogen, wären wir erst gar nicht in diese Situation gekommen.« »Das war doch nicht deine Schuld. Ich bin ohne Vorwarnung und ohne darüber nachzudenken herausgesprungen. Ich hätte dich umbringen können!« So hatte Nim das Ganze noch gar nicht gesehen: »Sab sieht das wohl anders.« »Überlass Sab mir. Was hab ich noch verpasst?« »Den Doc, Mergy, übrigens wieder ganz der Alte, und deine Eltern.«, fasste er die Besucher kurz zusammen: »Die Seem richten ihren Dank aus und sind bereits abgeflogen.« »Mergy ist wieder da?« »Voll und ganz!« »Die Seem haben uns doch geholfen!«, war May entrüstet und wechselte mit ihren Antwortsätzen von Fakt zu Fakt. »Ich hab das schon geklärt. Ihre Worte waren, und ich zitiere fast Wörtlich "Ahh, so ist das bei Freunden. Man hilft sich gegenseitig.".«
May kicherte: »Hast du gut gemacht!« »Nicht ganz.«, erwiderte Nim und berichtete von seiner Serienverabschiedung. »Das hast du nicht gemacht!«, lachte May laut. »Doch hab ich. Ich wollte etwas bedeutsames sagen, so wie du es gemacht hättest und da ist es mir einfach herausgerutscht.« May drückte ihrem Liebsten einen Kuss auf: »Hey, auch wenn die Worte auf der Erde abgedroschen wirken, ist es die Bedeutung, die zählt und nicht die Häufigkeit mit der sie genutzt wurden. Meine Worte wären bestimmt nicht so stark und voller Respekt gewesen. Hast du toll gemacht, mein Schwarm. Jetzt aber ab in die Falle. Du siehst ja noch schlimmer aus als ich mich fühle.« Nim folgte dieser Anweisung nur zu gerne, denn der Kaffee verfehlte komplett seine Wirkung, was kein Wunder war, denn er enthielt ja kein Koffein.
May wachte spät am Morgen auf. Nim schlief noch tief und fest. Er war regelrecht weggetreten. Eine Strähne auf der Stirn bewegte sich von der an der Matratze reflektierenden Luft getrieben hin und her. Einige Momente beobachtete May ihren schlafenden Helden, bis sie schließlich vorsichtig aus dem Bett hüpfte und ihr Bein übel an dem ungewohnt platzierten Stuhl stieß. Auf dem anderen Bein und mit der Hand fest vor dem Mund hopste sie ins Wohnzimmer, wo sie erst nach dem Schließen der Tür rumpelnd zu Boden ging und sich unter lautem Stöhnen das pochende Bein hielt.
Erst nach einigen Minuten machte sie sich wieder vorsichtig auf. Sie umschiffte die neuerliche Gefahrenstelle und griff sich den weißen Mantel aus ihrem Bad, um ihre Unterwäsche zu verbergen, wenn sie gleich auf den Gang trat. Um nichts auf der Welt wollte sie ihren Liebsten jetzt wecken. Ohne es zu verlangen war er wieder für sie da gewesen. Wenn es bedeutete sie müsse sich bei ihren Eltern für den Tag fertig machen, dann war das eben so.
Sie erwischte beide Elternteile noch Zuhause und berichtete bei einem kleinen Frühstück, welches ihre Mutter kontinuierlich anwachsen ließ, die wenigen Details, die Nim ihr in der Nacht schon hatte zukommen lassen. Nach einer intensiven Dusche und dem Ankleiden machte sie sich auf den Weg zum Kommandodeck, wo die obligatorische Stationssitzung an stand. Obwohl May fünf Minuten zu früh eintraf, war die Sitzung schon im Gange. »Schau an, die Kriegerprinzessin ist wieder auf den Beinen.«, begrüßte Mergy sie direkt und mit dem üblichen Humor. Nim hatte recht, er war wieder ganz der Alte.
»Schau an, Kommander Komisch hat seinen Verstand wieder gefunden.«, war May nicht weniger schlagfertig. »So viel Verstand war da ja nicht zu verlieren.«, warf Tin ein. Die Stimmung war ausgelassen. Nach den massiven Ereignissen der vergangenen Stunden war wohl alle Kommander froh, ihr gegenüber gesund und munter zu sehen. Speziell Mergy, dessen Zustand auch seine Familie sehr belastete, war wie ausgewechselt. Bis auf den fehlenden Arm war er wie immer. Ihn da nach all den Wochen wieder so normal in der Gruppe sitzen zu sehen, gefiel ihr sehr.
»Wir haben gedacht du würdest die Sitzung auslassen. War nicht böse gemeint.«, versuchte Sab sich in ungewohnter Diplomatie. »Ist schon gut.« »Hast auch nicht viel verpasst, aber gut das du jetzt da bist, dieses Thema schreit nach deiner Meinung.«, war auch Mergy sichtlich froh sie wieder auf den Beinen zu sehen. Seine Ziehtochter hatte keine wirklichen Verletzungen davongetragen, was er natürlich wusste, aber ob er es wollte oder nicht, sie war immer noch ein wichtiger Teil seines Lebens. May setzte sich an den Tisch und erzeugte ungewollt ein lautes Knallen. Den Armreif vom Doc hatte sie seit dem Ankleiden komplett vergessen. »Gesund, Frei und immer noch an den Doc gefesselt. Das kommt mir bekannt vor.«, schmunzelte Mergy und hob schüttelnd seinen verbliebenen Arm, an dem auch eines der Überwachungsgeräte klemmte.
»Sab möchte Shizuka eine Art Tapferkeitsorden zu verleihen.«, fasste Trish die vorherige Unterhaltung kurz zusammen. »Okay.«, sprach May überdeutlich und sehr lang gezogen ihre Verwunderung in Richtung Sab aus. »Hatten wir schon! Ja, die böse Sab hat es vorgeschlagen.«, muffelte Sab gleich, wohl wissend diese Art der Behandlung verdient zu haben, gespielt unfreundlich zurück. »Böse hast du jetzt gesagt!«, warf May mit einem Grinsen zurück: »Und wo genau ist das Problem?« »Mergy möchte Shizukas Eltern auf die Station holen, damit sie der Zeremonie beiwohnen können.« »Aber das geht nicht, sie dürfen doch nicht erfahren, was ihre Töchter machen.«, brachte May das Dilemma auf den Punkt.
»Und wer hat's erfunden?«, Mergy grinste wie eh und je und bestätigte einmal mehr seinen wiederhergestellten Geisteszustand: »Ich hab das damals so festgelegt, weil wir nicht öffentlich waren. Es gab uns schlicht zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht. Daher hatte ich keine andere Wahl. Was hätte ich ihren Eltern damals also sagen sollen? Suki wird im Weltall arbeiten, mit Raumschiffen fliegen und Leute retten? Die Beiden haben es verdient endlich zu erfahren, was für Menschen, ja sogar was für Helden, ihre Töchter geworden sind.« Dieser Punkt leuchtete May ein. Suki hatte die Situation und Mergys damalige Entscheidung einfach als Faktum hingenommen und nie in Frage gestellt, obwohl der eigentliche Grund für das Geheimnis lange verschwunden war und mittlerweile nichts mehr dagegen sprach.
»Wenn niemand plausible Grunde vorbringt, die dagegen sprechen, werde ich gleich bei ihnen vorbei fliegen, ihnen alles erklären und sie abholen. Ich hab es verbockt, also werde ich es wieder gerade biegen.« »Shizuka und auch Suki können eine Aufmunterung brauchen und es ist bestimmt auch gut für den familiären Zusammenhalt. Speziell wenn man die Vergangenheit der Familie betrachtet dürfte es für alle beteiligten mehr als nur Positiv sein und nicht nur für Shizuka.«, wusste May doch wie gerne Suki schon immer ihren Eltern von ihrer Arbeit erzählen wollte. Insgeheim ärgerte es sie aber doch, nicht selbst auf diese Idee gekommen zu sein. »Gut! Aber ich denke wir sollten die Zwei damit überraschen. Ich liefere ihre Eltern hier nachher ab und bin dann erst einmal auf Heimaturlaub. Meine Frau erwartet mich spätestens zum Abendessen.«, erklärte Mergy: »Wenn ich später aufbreche, dann schlafen die Jamamotos schon.«
Als Nim in Mays Bett erwachte, war er alleine. Er prüfte hastig Bad und Wohnzimmer, um sicher zu gehen, dass seine Freundin nicht umgekippt in der Gegend herumlag, aber anscheinend war sie bereits aufgestanden und hatte ihn schlafen lassen. Da er schon vor dem Schlafen geduscht hatte und die Klamotten, die sich vor dem Bett auf dem Boden verteilt hatten, praktisch ungetragen waren, zog er diese einfach wieder an, richtete seine Haare und verließ die Wohnung. Sein Magen rebellierte bereits lautstark und verlangte nach einer großen Mahlzeit. Noch leicht schläfrig und in Gedanken versunken hörte er plötzlich Jins Stimme hinter sich. Er war augenscheinlich hinter ihm aus seinem Quartier gekommen und hatte den Freund seiner Tochter gerade noch erblickt, bevor er durch die Krümmung des Ganges außerhalb der Sichtweite war.
»Morgen Jin.«, erwiderte der Pilot die Begrüßung und wartete höflich, damit der Vater seiner Freundin aufholen konnte. »May hat uns erzählt was passiert ist.«, begann dieser gleich eine Unterhaltung. Nim schluckte. Er hatte seine Tochter in Gefahr gebracht und Jin wusste es? Aber warum sollte May ihm davon erzählen, wenn sie selbst es doch ganz anders sah? Noch bevor Nim seine Gedanken ordnen und der Situation einen Sinn geben konnte, hatte Jin ihn schon geschnappt und buchstäblich in eine Umarmung verwickelt. »Du hättest dein Leben für sie gegeben.«, setzte Jin die bisher mehr monologmäßige Unterhaltung in den richtigen Kontext. Nim löste sich aus der Umarmung und schaute seinem dankbaren Gegenüber in die Augen: »Ich dachte diesen Teil hätten wir schon damals auf der Vanquist geklärt?«
»Es ist eine Sache etwas derartiges zu versprechen. Es dann aber auch zu tun steht auf einem ganz anderen Blatt. Auch wenn ich es bisher nie so deutlich ausgesprochen habe, so bin ich sehr froh das May dich gewählt hat. Willkommen in der Familie!« Noch bevor Nim, immer noch mit Müdigkeit und Situation rangelnd, die gefallenen Worte verstand, hatte Jin ihn schon wieder umklammert. Er hieß ihn in seiner Familie willkommen. Eine Familie, die er selbst nie hatte. Klar hatte es eine gewisse Verbundenheit untereinander gegeben, aber die Ereignisse der Vergangenheit und sein altes Leben konnte man mit dem Wort Familienleben nicht in Einklang bringen. Das Wohnen unter einem Dach war da schon das Maximum. Jin hatte keine Ahnung wie tief seine Worte den jungen Piloten in diesem Moment innerlich bewegten.
»Jemand vom Kommando sollte Moon besuchen. Sobald es der Doc erlaubt natürlich. Freiwillige vor.«, warf Sab fordernd den nächsten Programmpunkt in den Raum. »Was ist mit Moon?«, schaute May unsicher in die Runde. »Ach, das kannst du ja nicht wissen. Ihn hat es schwer erwischt. Ohne ihn wären die meisten hier wohl nicht mehr am Leben.« »Er hat mit seinem Manta das Drakenfeuer blockiert und uns damit Zeit gegeben zu handeln.« Unweigerlich wanderte der Blick von May zum Doc hinüber. »Wir halten ihn momentan noch im künstlichen Koma, müssen ihn aber wohl in ein paar Stunden wecken. Etwa 90% seines Körpers wurden durch einen Draken Waffenstrahl verbrannt. Ohne die Erfahrungen, die wir damals mit deinen Verletzungen gesammelt haben, hätten wir ihm sicher nicht schnell genug helfen können.«, erklärte dieser die Lage. May schluckte. Sie wusste zu gut was das für ein Gefühl war. Was für Schmerzen musste er gehabt haben? Obwohl er so viel Mist gebaut und niemand ihm so eine Tat auch nur zugetraut hätte, hatte er sich absichtlich in das feindliche Feuer gestürzt, um die Station zu beschützen.
Egal wie sehr sie seine vorherigen Taten verachtete, er tat ihr leid. Das hatte niemand verdient. Auch Moon nicht! »Ich mache das!« »Ernsthaft?«, war es Mergy, der sich als erster und ohne Verzögerung verwundert zeigte. »Du hast mir damals gesagt, ich soll ihm eine Chance geben und er wäre vielleicht nicht so schlimm, wie ich es befürchte. Auch wenn er viel Mist gebaut hat, so zeugt die Tat doch von einer möglichen Änderung seiner Einstellung. Zumindest sollten wir das berücksichtigen.« »Das macht seine Rücksichtslosigkeit und sein Fehlverhalten nicht automatisch wieder gut. Egal wie man das dreht.«, war es ausgerechnet Trish, die klar gegen steuerte. »Ich sag ja nicht das wir ihm auch einen Orden geben sollten. Aber wir sollten ihm zumindest wieder etwas mehr Verantwortung zuteilen, damit er wenigstens etwas Anerkennung für seine Tat erfährt. Er hat es unter den anderen Piloten nicht leicht und täglich mit Anfeindungen zu tun. Trotzdem hat er sich mit seinem Leben für alle Anderen eingesetzt.«
»Ich denke das können wir so stehen lassen.«, stimmte Sab Mays mehr oder weniger unausgesprochenem Vorschlag zu: »Erstmal muss er wieder auf die Beine kommen. Wenn sonst nichts anliegt beende ich die Sitzung.« Es gab keine Einwände und bis auf May erhoben sich die Anwesenden von ihren Stühlen: »Sab, kann ich dich kurz unter vier Augen sprechen?« »Natürlich.«, war Sab leicht irritiert, setzte sich aber sofort wieder in ihren Sessel und wartete auf das vollständige Schließen der Tür hinter den anderen Kommandomitgliedern: »Was gibt es denn?« »Ich weiß das du immer die Logdaten der Gleiter und Mantas auswertest. Speziell der beschädigen oder zerstörten. Nim trifft keine Schuld an dem Crash. Ich übernehme die Verantwortung dafür.« »Dein Freund sollte schon selbst den Mut aufbringen hier vorzusprechen und nicht seine Freundin vorschicken.«, war Sab erstaunt über den plumpen Versuch Nim vor einer Bestrafung zu schützen.
»Er hat keine Ahnung von diesem Gespräch. Ich will ihn auch nicht beschützen oder bevorzugen. Ich bin zu dicht an den Seem Kreuzer herangeflogen und dann ohne Vorwarnung hinten hinausgesprungen. Nim hatte überhaupt keine Chance zu reagieren. Ich selbst habe ihn dabei in Gefahr gebracht und mache mir die größten Vorwürfe. Wenn du also unbedingt jemanden bestrafen und maßregeln willst, dann ausschließlich mich.« May erhob sich vom Stuhl. Das war ihr Standpunkt und sie würde keinen Millimeter davon abweichen: »Das war alles.« Sab stand, für ihre Verhältnisse sichtlich unsicher und verwirrt, auf, sagte aber kein Wort mehr.
Als Sab deutlich später als May, die schon im Lift verschwunden war, in den Kommandoraum trat, richteten sich alle Augen auf sie. Zu groß war die Neugier auf das was die Beiden privates zu besprechen hatten. »Ich bin im Büro.« »Was hatte das denn zu bedeuten?« »Keine Ahnung. Das bekommen die schon selbst hin. Stelle mir einen Transporter nebst Piloten bereit. Ich zieh mich um und erstatte den Yamamotos einen Besuch ab.« »Steht in 20 Minuten bereit.«, bestätigte Trish den Wunsch ihres Kollegen, der schon auf dem Weg zum Lift war und darin verschwand: »Mach 45 daraus! Ich brauche auch noch einen Haarschnitt.«
Der stets muffelig wirkende Kommander sichtete die Daten aus dem geborgenen Manta erneut. Diesmal aber auch das Material der internen Sensoren, welches eigentlich nie angetastet wurde, schließlich wollte man das eigene Personal nicht überwachen oder dessen Gespräche belauschen. Normalerweise hätte sie dafür die Bestätigung eines zweiten Kommanders benötigt, aber die Daten erschienen ohne jegliche Einschränkung oder Sicherheitsabfrage. Ein Tipp auf die Zusatzinformationen bestätigte ihre Vermutung. May hatte dem Eingriff in ihre Privatsphäre bereits im Vorfeld selbst zugestimmt und hatte die Daten schon selbst freigegeben.
»Jaque, wo befindet sich Randolph Denton?«, fragte May im Lift ihre Hand. »Er befindet sich derzeit mit Air Force One über dem Atlantik. Ich nehme an durch die weltweite Einstellung des Flugverkehrs ist er das Risiko eines Fluges nicht eingegangen und so während des Angriffs im Ausland geblieben.« »Promenade. Stelle mir meinen Gleiter bereit. Da gibt es noch etwas zu klären. Ich muss mir vorher noch beim Doc die Fessel abnehmen lassen.«
Sab sah nun mit eigenen Augen wie Nim auf dem rechten Sitz saß und May gleichermaßen besorgt und wie fragend hinterher schaute, die hinten aus dem Manta sprang. Ein Fluchen später knallte Nim auch schon in die Frontscheibe. Sie hatte die Sensordaten komplett falsch interpretiert. Nim hatte definitiv keine Chance gehabt den Manta vor dem Einschlag zu kontrollieren. May hatte ihn buchstäblich auf dem sinkenden Schiff alleine gelassen und machte sich zu recht Vorwürfe.
Der jüngste Kommander schoss derweil mit ihrem Gleiter in die Atmosphäre. Die große Maschine mit ihren beiden Begleitflugzeugen war schnell ausgemacht. »Kampfmodus aktivieren.« Der Ton des Gleiters senkte sich zusammen mit der Helligkeit der Lackierung. Das böse dreinblickende Mädchen auf dem Gleiter wirkte so noch fieser. Zeitgleich teilten sich die vier Flügel und verdoppelten die nach vorne gerichteten Waffen. »Einer unserer Kampfgleiter hat gerade in den Kampfmodus geschaltet.«, merkte Trish an. Tin tippte unsicher auf ihrem Terminal herum: »Es ist May. Was hat sie nur vor?« »Oha, da ist jemand sauer.« Tin sah ihre Schwester fragend an. Dann schaltete sie: »Glaubst du sie wird – Soll ich die Kontrolle übernehmen?« »Nein, ich denke nicht. Wir können nicht immer auf sie aufpassen. Das Risiko müssen wir wohl eingehen.« Air Force One und seine Begleitflugzeuge machten ein hartes Ausweichmanöver, als May auf sie zuflog. Kaum hatte sie das Flugzeug passiert, legte sie eine langsame Wende hin. Die eingehenden Funksprüche ignorierte sie genauso wie die wenig später auf dem Gleiterschild explodierenden Raketen.
Mergy stoppte an der Tür. »Salon Sash« prangte in kleinen Lettern unter der ehemaligen Konferenzraumtürnummer in einem kleinen Plastikhalter. Er drückte die Taste und die Tür verschwand leise in der Wand: »Du könntest ruhig mal –« Mergy stockte und schaute sich um. Er drehte sich auf der Stelle wieder zur Tür und trat zurück auf die Promenade. Erneut blickte er auf das Schild an der automatischen Pforte, die sich hinter ihm wieder schloss. »Salon Sash«, murmelte er und drückte wieder auf das Aktivierungsfeld. Sash schaute ihn mit fragender Miene an. »Was ist das hier?« Sash blickte sich noch einmal selbst um: »Ein Friseursalon.« »Ernsthaft! Was soll das hier wirklich darstellen?« »Salon Sash«, erklärte die Inhaberin: »Ich bin Sash.« »Das ist der einzige Teil den ich verstehe, aber wo ist der Salon?«
»Mehr gibt es nicht.« Der Raum wahr kahl. Der große Konferenztisch des ursprünglichen Designs war verschwunden. Drei der alten Drehstühle parkten an der rechten Wand als Wartezone und flehten förmlich nach einem Arbeitstisch. An der anderen Seite ein großer Spiegel mit Waschbecken und davor ein lederner, höhenverstellbarer Drehstuhl, wie jeder Frisör auf der Erde ihn nutzte. Ein Gestell, welches man wohl nur als Metallkorb auf Rädern bezeichnen konnte, beinhaltete ihr Werkzeug und andere Utensilien. Hinten fehlten einige Meter des ursprünglichen Konferenzraumes. Eine dunkle, blickdichte aber billig wirkende Gardine diente als Raumteiler.
»Wir wollten gerade zumachen. Heute ist nicht viel los.«, versuchte Sash die Lage zu ergründen. »Wir?« Mergy blickte sich um. Hatte ihr Arm jetzt schon eine eigene Persönlichkeit? Der Kommander war sichtlich irritiert. »Meena ist hinten. Sie sortiert und überprüft das Lager. Meena?« Unsicher blickte das asiatische Mädchen durch den Vorhang, der offensichtlich Lager von Salon abtrennte. »Hallo Meena.« »Hal – Hallo Kommander.«, brachte sie unsicher heraus. Mergy blickte irritiert um sich. »Vielleicht sollten wir den Doc rufen?«, flüsterte Meena Sash zu, die wohl durch den wenig effektiv vor Schall schützenden Vorhang den bisherigen Gesprächsverlauf mitbekommen und, wie Sash wohl auch, bereits ähnliches im Sinn hatte. Erst jetzt verstand Mergy ihre Unsicherheit. Beide wussten noch nichts von seiner Genesung! Mergy lachte laut auf: »Ich bin nicht verrückt, Roboterfrisöse.« Die Augen von Sash schnappten auf. »Du kannst dich wieder erinnern?« »Bin wieder ganz da! Brauche aber dennoch umgehend einen schnellen Haarschnitt, da mich meine Frau sonst nicht erkennt.«
»Dann bist du hier richtig!«, lächelte Sash. »Bin ich das? Sieht mir nicht danach aus. Ich denke hier läuft etwas schon sehr lange sehr falsch. Hati und du arbeitet hier? In diesem Raum?« »Ja, schon seit Jahren, wieso? Hati ist zwar gut in ihrem Job und eine hilfreiche Aushilfe, aber sie hat nicht mehr wirklich Spaß an der Arbeit.«, begann sie zu berichten: »Daher wollte ich in einer der nächsten Stationssitzungen fragen ob ich Meena ausbilden darf. Naja, soweit ich das kann.« »Soweit du das kannst?« Mergy setzte einen fragenden Blick auf. »Naja, ich habe meine eigene Ausbildung ja nie komplett abgeschlossen.« Der Kommander lächelte: »Du meinst du hast nie eine Prüfung abgelegt.« »Ja!« »Also vom Doc kamen keinerlei Beschwerden wegen abgetrennter Gliedmaßen und mir ist auch nicht aufgefallen, übermäßig viel Personal mit, durch Mützen verdeckten, Haaren gesehen, also scheinst du dein Handwerk zu beherrschen.« Sash quittierte das Lob mit einem Lächeln.
»Du willst also Haarschnippserin werden, ja?« Meena entwich ein lächeln. Nicht nur wegen der ungewöhnlichen Wortwahl, sondern weil endlich ihr Wunsch offiziell auf den Tisch kam. »Ja, Kommander. Ich mag es mit Haaren zu arbeiten.« »Ist mir nicht entgangen.«, grinste Mergy und das Mädchen verstand nicht. »Naja, niemand auf der Station hat sich bisher mit so vielen verschiedenen kunstvollen Frisuren gezeigt. Ich habe manchmal den Eindruck du änderst deine Haare stündlich.« »Nur Morgens!«, erklärte Meena mit einem Lächeln, welches mehr als nur positiv ausdrückte, von ihm bereits vorher beachtet worden zu sein. »Also wenn dein sonstiger Unterricht nicht darunter leidet, dann kann dich Sash sicher offiziell unterweisen. Ich regele das mit der Obrigkeit.« »Danke Kommander.«, wippte Meena auf ihren Zehenspitzen glücklich auf und ab.
»Wieso braucht ihr ein Lager? Ihr habt einen Nahrungsverteiler. Der kann trotz seines Namens alles replizieren, was größenmäßig in die Projektionsmulde passt.« »Er stellt nur Getränke bereit. Ich habe damals auf dem Kommandodeck angefragt. Wir stellen Listen zusammen und bekommen das Benötigte dann später von Jaque geliefert.« »Sab?« »Ja!« Mergy grummelte. »Und wieso muss Meena Inventur machen?« »Hier kann jeder rein und oft verschwinden Dinge.« »Da kann ich nicht einmal jemandem einen Vorwurf machen. Ich würde auch lieber die Schere klauen, als hier zu sitzen um auf meinen Termin zu warten. Warum Hati die Arbeit keinen Spaß macht kann ich ebenfalls nachvollziehen. Das hier ist ein Zustand, aber sicherlich kein Arbeitsplatz. Sab sollte froh sein, euch im Team zu haben, euch unterstützen und dann macht sie so etwas.«
Seine Stimme sprach Bände. Er war wütend. »Jaque, aufgepasst. Den Nahrungsverteiler in »Salon Sash« für Ausrüstung freischalten. Zugriff auf Sash und Hati beschränken. Einen Repligen für genannte Personen auf Abruf bereitstellen. Türsystemkontrolle der Räumlichkeiten an Sash übergeben. Schriftliche Nachricht an Sab: Wie du sicher bereits bemerkt hast, habe ich einige Rechte bzgl. Sashs Salon geändert. Ich erwarte die Beibehaltung dieser Änderungen. Des weiteren wird Meena auf eigenen Wunsch eine Ausbildung bei Sash machen. Argumente, die dagegen sprechen, gibt es ja wohl nicht.«
Schweigend standen die Mädchen im Raum und lauschten seinen wütenden Worten. »Warum ich dir das nicht persönlich sage? Weil du ja anscheinend alles schriftlich und überkompliziert brauchst. Ich verstehe nicht wieso hier alle weggesehen und diesen Zustand stillschweigend hingenommen haben. Statt dankbar für die Arbeit von Sash und Hati zu sein, legst du ihnen auch noch Steine in den Weg. Eine Bestellliste? Das geht gar nicht. Vertrauen kennst du wohl nicht? Sollte es noch ähnliche Verfehlungen dieser Art auf der Station geben, bringst du die besser in Ordnung bevor ich meinen Urlaub beendet habe, oder du bekommst deine laute persönliche Aussprache. Ja, ich bin wirklich sauer! Ende! Kopie an die anderen Kommander.«
»Noch ein Platz frei für einen Patienten?«, lächelte der Kommando urplötzlich. Sash war gleichermaßen irritiert von seinem plötzlichen Stimmungswechsel und den ungewöhnlichen Worten: »Patienten?« »Ist doch hier steril wie in einem Operationssaal. Ich brauche eine Haar-OP und zwar zackig.«, lächelte Mergy: »Oder muss ich mir wegen der Schere in der bösen Hand doch sorgen machen?« Mit schmerzverspieltem Gesicht rieb er sich die linke Backe. Die Augen von Sash schnappten erschrocken auf. Mergy setzte sich in den massiv wirkenden Ledersitz und Sash warf ihm den Umhang über und fixierte ihn mit einer kleinen Krause am Hals. »Es tut mir leid wegen der Ohrfeige.«
Sashs Stimme klang ehrlich, sanft und schuldbewusst. Ihr schon fast nach einer Entschuldigung flehender Blick im Spiegel alleine sprach Bände: »Es hat sich nie ein passender Moment ergeben und dann – naja – warst du nicht mehr du selbst.« »Da gibt es nichts zu entschuldigen. Ich hab dich schließlich angelogen, um dir den nötigen Tritt verpassen zu können.« »Ja, der Tritt war auch dringend nötig. Wie soll ich es schneiden?«
»So wie immer!« Sash blickte irritiert drein. »Du warst doch noch nie hier?« »Ist dir aufgefallen, ja? Wäre aber wohl besser gewesen ich hätte früher mal hereingeschaut. Einfach genauso wie ich sonst immer herumlaufe. Ohren frei. Koteletten gerade ab und relativ kurz.«, erklärte der Kommander auf ihrem Stuhl sitzend: »Ich bin leider gezwungen meinen Stammfrisör auf der Erde aufsuchen, um wenigstens ein wenig Plausibilität in meine Erdexistenz zu bringen. Hier wäre es mir auch lieber. Trotz OP Flair und seelenloser Roboterfrisöse.« Sash entfuhr ein Kichern, welches Mergy noch einmal deutlich zeigte, wie es um den Gemütszustand seine Pilotin stand. Sie hatte mit der Sache abgeschlossen, den Arm akzeptiert und konnte schon darüber lachen.
»Danke für das eben.« »Ich danke dir. Oder besser euch. Jeder andere hätte wohl mit Streik gedroht oder gleich den Umhang hingeschmissen.« »Es hat immer ausgereicht.« »Ausreichend ist nicht genug. Du musst dich wohl fühlen und deine Patienten auch.« »Kunden!« »Ja, die Kunden auch.«, schmunzelte Mergy: »Und bringt ein großes Schild über der Tür an. Salon Sash muss weder hinter dem Sors, noch dem Dragon Fly zurückstehen. Das ist ein Befehl!« Sash begann mit ihrer Arbeit. »Vielleicht auch eine Werbetafel und eine Glastür mit einem Geschlossen–Schild zum Umdrehen.«, sprach Mergy ihr direkt in die Augen, als sich ihre Blicke im Spiegel trafen.
Nach drei weiteren Anflügen stoppte der dunkle lila Kampfgleiter abrupt über dem Flugzeug. Die kleinen Flugzeuge waren nicht mehr im Stande zu feuern ohne den großen Vogel zumindest zu beschädigen. May transportierte sich direkt in die Maschine des Präsidenten und streckte ihre Luftfühler aus. Schnell waren die ersten Wachleute auf sie aufmerksam geworden und stellten sich dem Eindringling in den Weg. Sie hatten keine Chance. Die Waffen wurden ihnen entrissen und sie selbst flogen wie Puppen umher, bevor May sie auf einen Sitz drückte, die Sicherheitsgurte einschnappen ließ und den Schlossmechanismus mit ihren Fähigkeiten blockierte.
Die Waffen schwebten vor ihr den Gang entlang, als würde eine Gruppe unsichtbarer Bodyguards ihr Leben beschützen wollen. Als sie in den großen offenen Raum kam, den sie noch aus alten Zeiten kannte, saß dort der Präsident, mit Frau und Tochter sowie einigen weiteren Anzugträgern ängstlich in den Sitzen. »Meine Familie hat nichts damit zu tun.«, warf sich der Präsident verbal in die Schusslinie. »Womit zu tun?« May war sauer. Nichtmal der ängstliche Blick des kleinen Mädchens konnte bis zu ihr durch dringen.
»Was auch immer ihr Problem ist!«, wand sich der Mann weiter, während May hinter sich zwei weitere Beamte mit Waffen spürte, die sich vorsichtig vom Gang aus der Tür näherten näherten. Der wütende Kommander riss sie an den Armen in die Lounge, entwaffnete und fixierte sie wie die anderen Sicherheitsleute, während sich die Waffen zu den Anderen in den Pulk gesellte, als hätten sie gerade die Seite gewechselt. »Als sie unsere Pilotin gefangen gehalten und gefoltert haben, um unseren Gleiter und unsere Technologie zu stehlen, haben wir noch Milde walten lassen.«, ließ May auch im Ton keinen Zweifel an ihrer Stimmung: »Aber auf meine Familie, meine Freunde und Verbündete zu feuern, kann ich nicht mehr tolerieren. Klingelt es?« »Das Schiff ist in internationale See gestürzt! Wir hatten jedes Recht.« »Recht? Die Mannschaft umbringen, um an die Technologie zu kommen? Klingt für mich mehr nach Piraterie. Und was waren die Menschen an Bord für sie? Nur ein Kollateralschaden?«
»Die hatten dort nichts zu suchen. Das war unser Raumschiff!« Wut stiegt in May auf. Sie zog den Führer aus seinem Sessel und ließ ihn zappelnd vor sich in der Luft schweben. »Vielleicht sollte ich dieses Flugzeug nehmen und sie alle herauswerfen. Ist ja dann wohl das Selbe und hier über dem Meer gelten ja anscheinend weder Moral und Anstand, noch irgendwelche Gesetze.« »Nein, das können sie nicht machen.« »Kann ich nicht? Die Seem sind nur abgestürzt, weil sie geholfen haben den Planeten zu verteidigen und als Dank sitzen sie in ihrem Bunker und versuchen sie umzubringen, um ihre Technologie zu stehlen! Was für ein Anführer sind sie eigentlich. Johnson hatte sicherlich seine Fehler, aber er war ein Mann, der für seine Fehler ein und zu seinem Wort stand. Sie sind nur eine lächerliche Witzfigur mit Machtkomplex.«
Der Kampfgleiter meldete neue Statusinformationen, die sich in ihrem Sichtfeld einblendeten. Weitere Maschinen waren zur Verteidigung der Präsidentenmaschine im Anflug. Trish, Tin und nun auch Sab beobachteten die Lage weiter beunruhigt. Sie konnten nicht eingreifen. Egal was sie tun würden, es würde auf die eine oder andere Art Folgen haben. May war alt genug sich richtig zu verhalten und sie vertrauten darauf. Sie hofften das Mädchen würde sich nicht von ihrem Herz zu einer Aktion hinreißen lassen, die nachher nicht mehr zu entschuldigen war. »Was erwarten sie jetzt von mir? Das ich mich entschuldige?« »Dafür ist es wohl zu spät. Die Seem sind mit dem bestätigten Wissen um die brutale und rücksichtslose menschliche Rasse bereits abgereist. Ich erwarte ihren sofortigen Rücktritt. Außerdem werden sie sich öffentlich für die Taten verantworten.«
May ließ die im Hintergrund drohenden Waffen in alle Einzelteile zerfallen. Wie eine schematische Darstellung schwebten die Verteidigungswerkzeuge für einige Sekunden in der Luft, bevor sie zu einem großen Haufen Metallschrott auf dem Boden zusammen fielen. Dann enttarnte sie den Sparx, der schon seit ihrer Ankunft alle Aktionen in seiner Umgebung aufzeichnete: »Ihr Geständnis habe ich ja schon. Sie sind sowieso erledigt.« Erstmals wendete sich May an den Rest seiner Familie, der immer noch zitternd, die Hände haltend auf den beiden nebeneinander liegenden Sitzen saß und der Unterhaltung folgten: »Tut mir leid. Ich wollte sie nicht erschrecken. Es gab keinen anderen Weg.« May verschwand zusammen mit dem Sparx in einem Lichtwirbel und lauschte weiter der Unterhaltung im Flugzeug. Eigentlich war es keine Unterhaltung. Es war Präsident Denton, der brüllend den Abschuss der Schlampe, wie er May selbst vor seiner Familie nannte, über Funk befahl. May enttarnte einen zweiten Sparx im Flugzeug und erschien als kleines Hologramm, nur aus Kopf mit Schultern bestehend, oben auf der kleinen schwebenden Maschine: »Ich wusste doch sie würden sich noch einmal so richtig hereinreißen.«
Einer der Sicherheitsleute hatte sich bereits aus dem Sitz befreit und griff nach dem Überwachungsgerät, blitzte aber buchstäblich ab, als er den Schild berührte und landete unsanft auf dem Boden. May holte den zweiten Sparx in den Gleiter zurück und trat aufs Gas. Kaum hatte sie das Flugzeug passiert, da tauchten auch schon wieder Raketen und kleine Projektile auf, die ihren Gleiter zerstören sollten. May rotierte das kleine Schiff mehrmals. Die Waffen waren nicht auf Wärmequelle, sondern wohl direkt auf ihr Fluggerät programmiert, denn sie folgten ihr unbeirrt weiter. Den Gleiter senkrecht stellend, ließ sie die Waffen einschlagen und explodieren. Wie zu erwarten war, hatten die Waffen keine Chance ihr Fluggerät auch nur ansatzweise zu erreichen, geschweige denn zu beschädigen und so tauchte May direkt auf ihre Feinde zufliegend aus der Feuerwolke auf, bevor sie hinter ihnen in einem Vortex im Unterraum verschwand.
Mergy fühlte sich mal wieder in seiner Jeans und dem roten Pullover deutlich unsicherer als hinter der gut gemachten und funktionierenden Tarnung mit Weste und Sonnenbrille. Die Schlinge, die seinen leblosen Arm in Position hielt, war auch nicht in seinem Sinne. Hoffentlich hatte Jiyai seine Wünsche verstanden und würde den anderen Arm für seinen eigentlichen Landurlaub korrekt präparieren. Er klingelte am Eingang der Wohnung. Zögerlich öffnete sich die neutral lackierte graue hölzerne Pforte. Anscheinend hatte man ihn vorher schon durch das kleine Loch in der Tür begutachtet. »Ja? Was kann ich für sie tun?«, fragte die Frau höflich, aber auch unsicher und zurückhaltend. Mergy war deutlich größer als die zierliche Frau vor ihm.
»Sie erkennen mich vielleicht nicht, aber ich war schon einmal hier. Vor einigen Jahren habe ich Suki abgeholt.« Die Augen wurden groß und der erschrockene Blick fiel auf den offensichtlich verletzten Arm: »Ist etwas mit unseren Töchtern passiert?« »Oh, nein. Tut mir leid. Ich wollte sie nicht erschrecken. Den Beiden geht es gut, aber das sollten wir drinnen besprechen, wenn das geht?« Mergy erkannte beim Eintreten sofort die Schuhgeschichte, wie er diese für seine Begriffe ungewohnte Handhabung des Schuhwerks immer simplifizierte, folgte den Regeln aber unaufgefordert und schlüpfte in die Puschen, die für seine großen Füße nicht komplett ausreichten. »Das ist mein Mann Kenji und ich bin Kagami.«
»Bevor ich mich vorstelle und die Sache unnötig verkompliziere, möchte ich ihnen für ihr Vertrauen danken. Sie haben mir das Wertvollste anvertraut, was es für Eltern gibt, ohne mich zu kennen oder mir Fragen zu stellen. Das rechne ich ihnen hoch an und darum würde ich ihnen heute gerne zeigen, was ihre Töchter so machen.« »Sie wollen es uns zeigen?«, war Kenji sichtlich irritiert, wie man eine Tätigkeit eines Agenten mal eben so zeigen konnte. »Es gibt einen Haken. Sie dürfen niemals jemandem davon erzählen, oder sie bringen sich und alle die sie kennen in große Gefahr. Sind sie bereit diese Verantwortung zu tragen?« Kurz schauten sich die Eltern an und waren sich wortlos einig. Zeitgleich bestätigten sie die Frage identisch. »Gut, dann will ich mich richtig vorstellen. Ich bin Kommander Mergy vom Ray Team.«
Für einen Augenblick waren beide erstarrt. »Heißt das?«, stellte Kagami als erstes eine, wenn auch nur halbe, Frage. »Ja, ihre Töchter sind Piloten beim Ray Team. Damals waren wir noch im Aufbau. Was hätten sie gedacht, wenn ich ihnen gesagt hätte ihre Tochter wird im Weltall auf einer Raumstation arbeiten, Raumschiffe fliegen und Leben retten? Ich hoffe daher sie können mir diese Notlüge verzeihen.« »Unsere Töchter fliegen Raumschiffe?«, war nun auch Kenji wieder zu Worten fähig. »Sie können sehr stolz auf ihre Töchter sein und das ist auch der Grund warum ich sie aufsuche. Ich würde sie gerne für ein paar Tage auf die Station einladen.«
»Wir sollen mit ins Weltall kommen?«, schien die Familie nur Fragen formulieren zu können. »Klingt gefährlicher als es ist. Wir machen täglich mehr Flüge ins All als die restliche Menschheit bisher zusammen. Es besteht kein Grund zur Sorge.« »Dann müssen wir unsere Koffer packen.« »Auf der Station steht alles für sie bereit. Unterkunft, Kleidung, Medizinische Versorgung. Wir können sofort aufbrechen, wenn es ihnen recht ist.« Beide schauten sich noch einmal unsicher an und blickten dann fragend zu Mergy hinüber, der auf der ausgebreiteten Handfläche seines unversehrten Arms zwei Transportringe erscheinen ließ.
Ohne das es beabsichtigt war untermauerte er einmal mehr mit dieser Aktion seine bisherigen Ausführungen. Dieses kleine Wunder bestätigte ihn als Mergy vom Ray Team. »Legen sie es an ihren linken Arm und wenn sie bereit sind einfach den roten Knopf drücken.« Mergy schlüpfte am Eingang gemeinsam mit den Eltern der Schwestern wieder in seine Schuhe und verschwand genauso, wie die Ringe erschienen waren, in einem Lichtwirbel. Kaum waren auch seine Gäste im Transporter, schauten sie sich unsicher um. »Willkommen an Bord von Ray Team Multifunktionstransporter Nummer 2«, begrüßte Mergy das Ehepaar komplizierter als eigentlich nötig. Die Ringe an ihren Armen verschwanden wieder im Nichts. »Freie Platzwahl! Josh, es kann losgehen!« »Verstanden, Kommander.« Langsam setzte sich der fliegende Bus mit den staunenden Insassen in Bewegung. Die in Millionen Lichtern funkelnde Stadt verlor langsam ihren Schein und wurde zu einsamen Punkten, die ebenfalls langsam verblassten.
Wenige Augenblicke später stach das kantige Schiff ins All vor und die Station wuchs vor ihnen zu einem riesigen Monument an, welches sie bisher nur aus dem Fernsehen kannten. »Die Raumstation ist viel größer als ich sie mir vorgestellt hatte.«, merkte Kenji an. »Ja, es leben derzeit etwa 500 Ray Team Piloten und um die 100 Wissenschaftler auf der Station. Neben den Quartieren im mittleren Ring, gibt es Hangars, Lagerräume und Labore im Außenring. Im Kern befinden sich neben dem Kommandodeck, Konferenz und Schulungsräumen auch einige Restaurants, Schwimmbäder mit Saunen, ein Kino, ein Frisörsalon, Holoräume und natürlich weitere Technik und Lagerräume für den Stationsbetrieb. Die Kuppeln in den Türmen sind Aussichtsplattformen. Die Türme selbst dienen zum direkten Anlegen von größeren Schiffen.«
»Das ist beeindruckend.«, murmelte Kagami nur leise. »Innen gibt es noch viel beeindruckenderes!«, lächelte Mergy, während Josh den Transporter in das ihm vom Komandodeck zugewiesene Loch in der Seite steuerte und sanft aufsetzte. Trish erwartete die Gäste schon und Mergy stellte sie einander vor. »Josh, warte hier, ich bin kurz auf der Krankenstation und dann geht es wieder zur Erde.«, warf Mergy noch nach hinten und verschwand der kleinen Reisegruppe folgend durch die Tür.
In Gedanken versunken stieg Nim auf der Promenade aus und bestellte, immer noch die herzlichen Worte vom Vormittag in den Ohren, seine Mahlzeit bei Sor. Als er nach einem Platz Ausschau hielt, fiel ihm gleich Suki auf, die alleine an einem Fenster saß und nach draußen starrte. Eigentlich nichts ungewöhnliches, aber Suki war das All schon lange egal. Man hätte es abgestumpft nennen können, aber sie war jemand, den es mehr interessierte, was andere Personen machten. Auf der Erde wäre sie der Typ Mensch, der nur ins Straßencafé geht, um die Leute in der Fußgängerzone zu beobachten. Wenn sie so vertieft in die leere Gegend vor dem Fenster starrte, dann hatte es mit Tori zu tun.
Ungefragt setzte er sich zu ihr an den Tisch und begann zu essen. Suki nahm ihn gar nicht wirklich wahr. Natürlich hatte sie ihn bemerkt, aber sie ignorierte ihren Kollegen komplett. »Ist etwas nicht in Ordnung?«, eröffnete Nim die Fragestunde. »Tori hat mir das mit seinen Kräften erzählt!« »Und das ist jetzt schlimm?« »Das verstehst du sowieso nicht.«, drehte sie ihren Wuschelkopf erstmalig zu Nim. »Oh, wirklich? – Da hatte ich dann wohl fälschlicherweise angenommen ich wäre die einzige Person auf der gesamten Station, die dich ganz genau versteht.« »Du?«, fragte Suki in deutlich abwertendem Ton. »Meine Freundin hat auch Superkräfte, schon vergessen?« »Oh, ja stimmt.«
»Lass mich raten: Du fragst dich ob Tori immer noch die Person ist, in die du dich verliebt hast, oder?« »Ja.«, war Suki sichtlich erstaunt über diese Aussage. »Hat sich deine Freundschaft zu May verändert, als sie dir die Wahrheit gesagt hat?« »Nein, natürlich nicht!« »Und warum sollte es bei Tori anders sein? Mir hat damals jemand gesagt, ich solle meine Gefühle abstellen und mich fragen, ob May die ganzen Probleme Wert ist. Ist Tori es Wert?« Suki schaute ihn mit großen Augen an: »Natürlich ist er es wert!« »Und warum sitzt du dann hier und starrst ins Nichts? Er hat bestimmt genauso Angst dich zu verlieren, wie du ihn.«, führte Nim weiter aus: »May und mich hat diese Beichte näher zusammengebracht und ihre Superkräfte vergesse ich sowieso ständig.«
»Ich glaube du hast recht.« »Klar habe ich recht. Nim hat immer Recht. Hab ich bereits als Naturgesetz beantragt.«, grinste ihr gegenüber. »Vielleicht sollte dir öfter jemand etwas über den Schädel ziehen, wenn du danach so Clever bist.« »Ich zeige nur sehr selten wie Schlau ich wirklich bin, damit kein Neid aufkommt.«, lachte Nim quer über den Tisch, während Suki sogar schon wieder ein kleines Lächeln entfleuchte.
Als Mergy auf der Krankenstation eintraf begutachtete Jiyai gerade ihr Werk, einen um 90 Grad gewinkelten Arm, der mit Gips umwickelt und von einer Strebe zusätzlich fixiert wurde. Sie verglich es mit einer Darstellung auf dem medizinischen Terminal. »Das sieht doch gut aus!«, lobte Mergy, der von der kleinen Doktorandin gar nicht bemerkt worden war, das Werk. »Du hast noch nie einen Gipsarm gesehen, oder?«, fragte Mergy direkt. »Nein. Der Doc meinte auf der Erde würde man die Knochen so heilen.« »Naja, heilen müssen die Knochen von alleine. Das Ganze ist ziemlich nervig und juckt. Ich hatte mal einen gebrochenen Arm als ich 7 war. Witziger Weise war es der Selbe. Naja, die selbe Seite!«, grinste Mergy und klinkte ihn ein, nachdem er seinen losen Arm auf der Arbeitsplatte abgelegt hatte.
Es war ungewohnt von dem Körperteil keine Zuckungen und Kalibrierungssequenzen zu spüren. Genau genommen spürte er rein gar nichts. Es war als würde der Arm immer noch fehlen. »Stimmt etwas nicht?«, fragte der Kadett. »Nein, ist nur ungewohnt so komplett ohne Funktion.« »Die Daten sehen gut aus. In ein paar Wochen können wir die funktionslose Schnittstelle in der Schulter gegen die echte Version tauschen.«, erklärte das junge medizinische Personal professionell, fühlte sich aber dennoch unwohl mit dieser Aussage: »Hat der Doc gesagt.« »Ja, ich weis. Ich dank dir für die Mühe. Jetzt muss mir nur noch eine medizinische Fachkraft dieses Ding abnehmen.« Mergy wackelte mit dem wenig schmucken Armreif vor der kleinen Asiatin herum. Jiyai tippte einige Kommandos in ihre Konsole und der Armreif klickte deutlich hörbar.
Mergy reichte ihr den Ring: »Danke, Frau Doktor. Ich melde mich dann zum Heimaturlaub ab.« »Erholen sie sich gut, Kommander!«, entgegnete sein Gegenüber genauso höflich. Mergy salutierte noch einmal schlaksig mit zwei Fingern auf der Stirn und verschwand mit dem ungewöhnlichen Klumpen am Körper auf der anderen Seite der Promenade im Lift, wo er May nur um wenige Sekunden verpasste. Sie hatte die Daten der Sparx an Daneen geschickt und sie auch dem Kommandodeck zukommen lassen, um unsinnige Fragen gleich im Vorfeld im Keim zu ersticken. Es dauert einige Momente bis sie ihren Liebsten im Sors fand. Normalerweise saß er nicht mit dem Rücken zur Tür und wartete mit regelmäßigen Blick auf sie.
»Alles in Ordnung bei dir? Du sitzt falsch herum!«, kicherte May leicht künstlich, um ihre Besorgnis zu verbergen. Nim blickte mit einem Lächeln zu ihr hoch. »Nein, alles gut. Ich habe deinen Vater getroffen.« Mays Gesicht verfinsterte sich: »Ohh! Was hat er jetzt wieder angestellt?« »Er« Nim stockte kurz. »Er hat mich in seiner Familie willkommen geheißen.« Für einen Moment war May irritiert: »Nein! – Damit ist er zu weit gegangen. Lass ihn uns aus einem Hangar werfen. Du darfst ihn auch durch den letzten Schild schubsen.« Nim lachte verlegen. »Wo ist jetzt das Problem?« »Ich hatte noch nie eine richtige Familie.« »Mir hat mal so ein Typ mit Zottelmähne gesagt, ich wäre nicht mehr alleine. Das gilt wohl auch für dich.« Nim lachte: »Ja, der Typ hat es echt drauf. Wo warst du? Jaque meinte du wärst nicht auf der Station.«
»Erst Stationssitzung, dann beim Doc und danach habe ich diesem dämlichen Präsidenten gewaltig in den Hintern getreten, weil er meine Familie mit Raketen beschossen hat.«, lächelte May: »Also das Übliche!« »Heute ist gegen Abend ein großes Antreten auf der Promenade angesetzt, weißt du worum es geht?« »Ja, weiß ich!«, erwiderte May, ohne weitere Informationen preis zu geben. »Verstehe.« »Bist du noch länger hier? Ich muss noch einmal in die Krankenstation.« »Geht es dir nicht gut?« Schlagartig hatte nun Nim einen besorgten Gesichtsausdruck aufgesetzt. »Mir geht es gut. Rein dienstlich! Dauert nicht lange.« May beugte sich über den Tisch und drückte ihrem Liebsten einen Kuss auf, bevor sie aus dem Lokal verschwand.
»Hallo Sandra. Wie geht es Moon?«, fragte May direkt in das an das helle Heilungszentrum angrenzende Büro, wo Sandra sich ihren Forschungen widmete. »Wir haben ihn vor ein paar Stunden aufgeweckt. Er nimmt seinen körperlichen Zustand erstaunlich gut auf.« »Kann ich zu ihm?« »Bist du sicher? Das ist kein schöner Anblick.« May schluckte als sie die Worte hörte. Da musste sie nun durch. Sie hatte sich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet und jetzt konnte sie keinen Rückzieher mehr machen. »Ich bin mir sicher!« »Er liegt in Zimmer 2.« May holte noch einmal tief Luft, bevor sie die Tür mit dem Taster öffnete. So gewohnt das Bett mit seinem Folienbettzeug und den kühlenden Gelinnereien auch wirkte. Der Anblick von Moon war schlimm. Vom Kopf und den beiden Armen abgesehen war nichts von seinem Körper zu sehen, aber die wenigen Teile, die man sehen konnte reichten schon vollkommen.
Seine Haut war rot und wirkte mehr wie die von einer Echse. Schuppen, die sich teilweise zu lösen schienen standen wie Federn vom Körper ab. Einige Stellen des Bettes waren blutrot und es klebten Hautreste daran, obwohl das eigentlich durch die besondere Bettwäsche verhindert werden sollte. Sein Gesicht machte da keine Ausnahme. Sogar seine Augenlieder waren blutig und Haare hatte er auch keine mehr. »Dich hätte ich als Letzte hier erwartet. Hast wohl den schwarzen Peter gezogen, was?«, brachte das eigentlich nur als Monster zu beschreibende Wesen unter sichtlichen Schmerzen schnippisch heraus. May setzte sich an das Bett. Sie kannte es nur zu gut.
Naja, zumindest den wuchtigeren Prototypen. »Jetzt schau nicht so. Ich hab es verdient!«, war es wieder Moon, den sie unter der Hülle kaum zu erkennen vermochte, der das Wort an sie richtete. Seine Stimme vibrierte durch die zuckenden Schmerzen bei jeder Bewegung. »Niemand hat so etwas verdient.« Moon schluckte. May konnte sich gar nicht ausmalen, was er durch machte. Egal wie er sich bewegte oder welchen Muskel er auch nur anspannte, es mussten höllische Schmerzen sein, die er hatte, obwohl der Doc bestimmt alles Tat um es für ihn erträglich zu machen.
»Du hast selbstlos viele Menschen gerettet, obwohl die wenigsten davon in der letzten Zeit freundlich zu dir waren. Das rechne ich dir hoch an.« Die von Rissen umgebenen Augen weiteten sich sichtbar: »Da bist du wohl die Einzige!« »Das stimmt nicht. Im Kommando und auf der Station sehen das eine Menge Menschen so. Du kannst aber natürlich nicht die schlagartige Vergebung von allen erwarten. Dafür ist zu viel passiert.« »Die Station und das Ray Team ist alles was ich habe. Mein Zuhause. Vielleicht war ich ja trotz alledem nur egoistisch?« »Vielleicht. Aber ich denke wenn Egoismus so aussähe, wäre der Planet da unten schon ein deutlich besserer Ort.« May lächelte und Moon hustete, wohl durch das Lachen leicht angesteckt, heftig und mit deutlich sichtbaren Schmerzen.
»So, und du jetzt wirst schnell wieder gesund. Wir brauchen jeden Piloten da draußen. Das ist ein Befehl! Verstanden?«, kommandierte May in bewusst sanftem Ton und bekam ein trockenes »Verstanden« als Antwort. »Wenn du etwas brauchst, dann melde dich bei mir, ja? Das meine ich ernst.« Moon nickte, obwohl das wohl schmerzhafter für ihn war, als ein gehauchtes »Ja«. Als sich die Tür hinter May schloss, fiel sie gleich mit dem Rücken an die nun geschlossene Lücke und starrte in die Luft. Sandra brauchte drei Versuche, um Kontakt mit dem Kommander aufzunehmen, der sich sofort hastig auf den Weg machte. Die Ärztin war sich zunächst unsicher, fasste dann aber eine Entscheidung. »Sandra an Mergy.« »Kommander Mergy ist nicht auf der Station.«, tönte Jaque in ihrem Kopf. »Richtig, er ist bei seiner Familie.« Für einen Moment überlegte die Ärztin: »Sandra an Trish.« »Ja?« »May war gerade bei Moon und ich bin mir nicht sicher, ob sie damit klar kommt. Ich kann Mergy nicht erreichen, daher melde ich mich bei dir.« »Ich kümmere mich darum.« »Danke!« Trish verschwand schnell im Lift. Sab und Tin hatten keine Möglichkeit zu erfahren, worum es in dem Einseitig gehörten Gespräch überhaupt ging.
Trish erfuhr vom Stationscomputer um Mays Position im Sor und so definierte sie die Promenade als ihr Ziel im Lift. Ein Lächeln fuhr ihr über das Gesicht, als sie die beiden Rücken sah, die sich fest im Arm hielten. Als Sor nach ihrem Wunsch fragte, winkte sie nur ab und verschwand in der Krankenstation. »Und?«, war Sandra sichtlich neugierig was der Kommander zu berichten hatte. »Nim kümmert sich schon um sie.« »Nim! Stimmt. An ihn hatte ich gar nicht gedacht.« »May vorher wohl auch nicht. Anscheinend versteht sie langsam, wie das mit der Liebe so funktioniert.« Sandra lächelte und beide trennten sich wieder wortlos, um ihrer Arbeit nachzugehen.
Unerwartete Helden
Nach einer kurzen und unruhigen Nacht, die eigentlich keine war, wurden die Jamamotos von Trish in ihrem Gästequartier abgeholt. Es war früher Nachmittag auf der Station und die beiden hatten den Mittag zur übersprungenen Nacht gemacht. Ihre Töchter hatten immer noch keine Ahnung von ihrer Anwesenheit auf der Station und die anderen Piloten wussten nicht, wem sie da im Gang begegneten. Es gab mittlerweile so viele Menschen auf der Station, die in den Laboren arbeiteten, da traf man jeden Tag neue Gesichter oder eben auch Besucher, die sich einen Eindruck von den Möglichkeiten des Ray Teams verschaffen wollten.
Sab zweifelte immer an ihren Motiven, wenn jemand um einen Besuch bat. Es war erstaunlicherweise weniger die Möglichkeit zur Spionage, die sie antrieb. Sie glaubte die meisten Gäste wollten einfach mal für lau ins Weltall fliegen. Bei einigen potentiellen Kunden hatte sie durchaus recht, andere überraschten sie mit Verträgen im Millionenbereich. Als die Mannschaft sich auf der Promenade versammelte waren die beiden Elternteile im Dragon Fly. Jin und Reiko meinten es wäre besser sie würden warten, bis das Kommando die Aufmerksamkeit auf sich zöge. Worum es heute gehen sollte, wussten Mays Eltern aber auch nicht.
Bis auf Mergy, der für die nächsten Wochen auf der Erde verweilen würde, bauten sich alle Kommandomitglieder gegenüber den Treppen auf. Wieder war da diese sichtbare Kluft zwischen May und ihrem Liebsten. Nim machte es nichts aus, aber May wäre lieber in der Menge verschwunden, nur um seine Schulter unauffällig, für die anderen Piloten unbemerkt, mit ihrer zu berühren. Tin stellte sich vor, damit wohl auch die letzte Person wusste, welcher der beiden Kommanderzwillinge da nun zur Menge sprach. Sie war sichtlich unruhig. Zu selten war sie es, die das Wort an eine größere Anzahl Menschen richtete. Am Liebsten blieb sie in ihrem Labor mit sich alleine oder beobachtete Personen unauffällig und aus sicherer Entfernung. Dieses Mal stand sie allerdings auf eigenen Wunsch da vorne.
»Es gibt gute Traditionen und es gibt schlechte.«, begann sie die eigentliche Rede: »Aus meiner persönlichen Perspektive ist es mehr ein zweischneidiges Schwert. Die Tradition, alle paar Jahre mal wieder eine Nahtoderfahrung zu machen, brauche ich nicht unbedingt, aber mit der Tradition, in diesen Situationen von einem Kadetten gerettet zu werden, würde ich nur ungern brechen.« May grinste leicht, als sie Shizukas Gesicht in der Menge bemerkte. Sie hatte bereits erkannt von wem der Kommander da vorne redete, während ihre Eltern oben am Geländer nur entspannt und ahnungslos den Worten lauschten. Das änderte sich rasch, als Tin den jetzt komplett unsicheren Kadetten mit Rang und vollem Namen aufrief und nach vorne zitierte.
May war sich nicht sicher, aber Neela neben ihr schien sie leicht anzuschieben, bevor sich das Mädchen von alleine bewegte. Diese Art von Aufmerksamkeit mochte der kleine Kommander selbst nicht und konnte sich in allen Farben ausmalen, wie sich der unerfahrene Kadett gerade fühlte. Leicht wackelig baute sich Shizuka zwischen Kommando und der restlichen Truppe auf. Jetzt waren auch die Eltern auf der Balustrade deutlich sichtbar angespannt und hielten sich die auf dem Geländer abgelegten Hände. Um nichts in der Welt wollten sie nun auch nur ein Wort von dem, was da unten gesprochen wurde, verpassen. »Das Wort Held hat in der heutigen Zeit an Wert verloren. Es wird für belanglose Tätigkeiten eingesetzt, die der eigentlichen Bedeutung des Wortes nicht gerecht werden. Kadett Shizuka hat, obwohl ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist, wahren Heldenmut bewiesen und nicht nur mein Leben, sondern auch durch herausragende fliegerische Fähigkeiten und strategisches Denken, diese Station und das Leben vieler der hier anwesenden Piloten und Kommander gerettet.«
»Kadett Jiyai vortreten.« May spürte wie sich Sab ruckartig und mit fragendem Blick zu ihr und Trish drehte, aber augenscheinlich keine Antwort oder Reaktion bekam. Das hatte sie jetzt kalt erwischt. Jiyai brauchte eine Weile, bis sie aus der Menge nach vorne dringen konnte und stellte sich links neben Shizuka auf. »Kadett Jiyai hat in der relativ kurzen Zeit auf der Station viele Qualitäten bewiesen. Neben der Pilotenausbildung noch eine medizinischen Ausbildung zu starten, hielten viele für reichlich übertrieben. Mehrfach hat sie auch unter Gefechtsbedingungen mutig ihre Arbeit und ihre Aufgaben verrichtet. Aber auch ihre Leistungen als Pilot sind nicht zu verachten, hat sie doch, obwohl ethisch bedingt mit einem unbewaffneten Gleiter unterwegs, viele Piloten aus ihren havarierten Maschinen gerettet, einer medizinischen Versorgung zugeführt und dabei ebenfalls beachtliches fliegerisches Talent und wahren Heldenmut bewiesen.«
Tin setzte eine kleine Pause an. »Da wir traditionell keine große Bandbreite an Rängen und sonstigen Möglichkeiten haben, um derartige Leistungen zu belohnen, mussten wir diese schaffen.« Trish reichte ihrer Schwester eine breite Schatulle und öffnete sie so, das Tin den Inhalt der Menge zeigen konnte. »Auch wenn diese Medaille die Tapferkeit nicht annähernd ausdrückt, und die Gefühle der geretteten Personen in diesem Moment nicht ansatzweise wieder zu spiegeln vermag, so ist es die höchste Auszeichnung, die das Ray Team vergeben kann und wohl auch jemals wird.« Trish nahm die edel wirkende Schachtel zurück und Tin entnahm die erste der schweren Medaillen, an ihrem breiten Band heraus und trat vor Shizuka. »Es ist mir eine Ehre dir diese Auszeichnung im Namen des Kommandos und aller von Dir geretteten Personen zu überreichen.« Shizuka war starr vor Anspannung. Wäre sie größer gewesen, hätte Tin wohl ein Problem gehabt, aber so konnte sie ihrer jungen Kollegin das Band über den Kopf streifen und somit den Orden umhängen. Dann reichte sie ihrer jungen Kollegin gratulierend die Hand.
Der Kommander wiederholte den Spruch und die einstudierte Aktion bei Jiyai, die sich aber beim Anlegen der Medaille leicht vorbeugte und die Zeremonie für Tin noch zusätzlich vereinfachte, obwohl sie nicht einmal ganz die Größe von Shizuka erreichte. Wieder hielt Tin einen Moment inne. »Als kleinen Bonus befördere ich euch, stellvertretend und im Namen des gesamten Kommandos, hiermit beide, mit sofortiger Wirkung und mit allen damit verbundenen Pflichten und Vorzügen, in den Rang eines Piloten.« Shizukas Augen sprangen förmlich auf und blitzten. »Aber die Prüfungen müssen natürlich trotzdem noch bestanden werden.«, schien Tin ihren Gedanken mit leiseren und nur zu ihr gesprochenen Worten zuvor zu kommen, was Shizuka nur ein unsicheres Lächeln entlockte.
Dann gratulierten auch die anderen Kommandomitglieder. Sab liefen Tränen die Wange hinunter, als sie ihre Ziehtochter in den Arm nahm. »Du wusstest davon gar nichts?«, fand Jiyai schnell den wahren Grund für ihre Reaktion heraus. »Nein, davon hat mir niemand etwas gesagt.« Shizuka wurde derweil von May geherzt. Tin rief noch ein abschließendes lautes »Wegtreten« in die Menge. Eigentlich wollte May dem Mädchen von ihren Eltern oben auf der Balustrade erzählen, aber Neela fiel direkt nach dem Lösen der Umarmung in selbige und drückte Shizuka an sich. »Die beiden kennen sich? Ich hatte keine Ahnung.«, warf May zu Suki hinüber, die sich wohl auch in die Reihe der Gratulanten gesellen wollte. Dann wurde aus der Umarmung schlagartig ein Kuss und Suki verfiel in ein lautes Lachen, als sie das entgeisterte Gesicht von May sah.
»Kennen war wohl das falsche Wort.«, merkte May staunend an: »Du wusstest davon?« »Also von Neela selbst nicht. So richtig wundert mich deine Unwissenheit aber nicht.« »Was habe ich jetzt damit zu tun?« »So wie Shizuka dich immer angehimmelt hat, war mir schnell klar, was da Sache ist. Aber das hast du ja bei Nim auch nicht gecheckt.«, kicherte Suki. Aber die Reaktion der immer kleiner werdenden Menge bestätigte, was May vermutete. Bestenfalls einige wenige wussten davon. »Hey, was ist los?«, fragte Neela plötzlich und zog die Aufmerksamkeit zurück auf das Paar. »Schade das Mama und Papa das nicht gesehen haben.« »Das ist wohl besser. Papa wäre bei dem Kuss wohl aus den Schuhen gekippt.«, fiel Suki ihr von hinten direkt ins Wort. »Nicht den Kuss. Den Orden, die Beförderung. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich etwas auf die Reihe bekommen und sie werden es nie erfahren.«
May schielte noch einmal auf den oberen Bereich der Promenade, wo ihre Eltern immer noch mehr strahlend als lächelnd standen: »Also aus den Schuhen ist euer Vater definitiv nicht gekippt. Im Gegenteil eure Eltern sehen regelrecht stolz aus.« Fragend sahen jetzt beide Geschwister May an. May hob nur die Hand in Richtung des Überhangs, während ihre Augen jede Reaktion ihrer Freunde erfassten. Shizuka riss sofort die Hände vor den Mund und erstarrte. Suki fasste deutlich schneller wieder einen klaren Kopf: »Das geht doch nicht.« »Warum?«, fragte May. »Sie dürfen doch nichts von uns erfahren!«, legte Suki nach. »Warum?«, wiederholte May wie ein Kleinkind. »Weil – Weil.« Ihr fiel kein Grund ein und ihr Blick wechselte zwischen May und ihren Eltern hin und her. Shizuka war schon einen Schritt weiter und stürmte bereits die geschwungene Treppe nach oben.
Suki, May, Tori und auch Neela folgten mit deutlichem Abstand und gedrosselter Geschwindigkeit. Suki wurde gleich mit in die Umarmung geschlossen, während die anderen drei etwas ungelenk im Hintergrund blieben. »Das ist Kommander May, meine Freundin Neela und Sukis Freund Tori.«, stellte Shizuka die drei ihren Eltern vor. »Und May ist meine Beste Freundin.«, fügte Suki erklärend hinzu. »Schön sie wieder zu sehen.«, lächelte May und erntete fragende Blicke bei allen beteiligen Personen. Selbst Suki war verwundert. »Ich war doch schon bei euch Zuhause und ab dich abgeholt. Weniger Pink, schwarze Brille und ein anderer Name.«, erklärte May, obwohl ihr das mit dem Namen unangenehm war. »Natürlich! Und ich überlege schon den ganzen Tag wen ich sonst noch mit dem Namen Reiko kenne.«, war Kagami erleichtert diese Denksportaufgabe endlich abhaken zu können. Kenji erklärte sie könnten doch im Dragon Fly zusammen essen, als Suki ihre Schicht einfiel. »Das ist geklärt. Die wurde offiziell getauscht. Viel Spaß.«, erklärte May und verabschiedete sich.
Suki schnappte sich Tori und zog ihn der Familie hinterher. Neela blieb unsicher vor dem Lokal stehen. Shizuka hatte ihre Freundin in ihrer Freude ganz vergessen. Ebenfalls die Möglichkeit das Mädchen könne sich vielleicht ausgeschlossen vorkommen. Kenji kam einer Reaktion seitens seiner jüngsten Tochter zuvor: »Kommen sie? Wenn ich das richtig verstanden habe, dann gehören sie wohl auch zur Familie.« Neela lächelte erleichtert. Anscheinend war weder ihre Hautfarbe noch die Tatsache eine Frau und keine Asiatin zu sein, ein Problem für ihn. Wenn man es genau nahm war Tori ja auch kein Asiate, aber die Tatsache so schnell akzeptiert zu werden, fand sie dennoch erstaunlich. Shizuka hakte sich direkt bei ihrer Freundin unter, als diese aufschloss und sie im Lokal verschwanden.
»Das sind also Suki und Shizukas Eltern, ja?«, fragte Nim, als May wieder unten auf der Promenade ankam. »Ja, genau. Ich hab sie schon vor einigen Jahren kennengelernt.« »Verstehe. Das mit Shizuka und Neela ist ja der Hammer. Die haben sich ja einen tollen Zeitpunkt ausgedacht, um das unter die Leute zu bringen.« Nim kicherte sichtlich amüsiert. »Sie stand offensichtlich vorher auf mich.«, platze May heraus und Nims Miene wurde schlagartig ernst, was May jetzt laut los lachen ließ. Sie boxte ihm sanft an die Schulter und flüsterte: »Sie hatte keine Chance gegen dich.« Nim zwinkerte mit den Augen und setzte wieder ein Lächeln auf: »Du hast es, wie bei mir, überhaupt nicht bemerkt, oder?« »Möglich.«, wurde May verlegen und dachte schlagartig an die vielen Gelegenheiten, in denen Nim ihr damals zugelächelt hatte. Sie hatte ihn entweder gar nicht bemerkt oder seinem Lächeln keine besondere Beachtung oder Bedeutung geschenkt. Erst die Hinweise von Suki und Katie ließen sie damals auf das Interesse seitens Nim aufmerksam werden, wenngleich es noch Ewigkeiten gedauert hatte, bis sich ihre Herzen schließlich fanden.
Ein fast normaler Tag
»Zähne ordentlich geputzt, Schnabbel?«, fragte Thomas und strich seiner Tochter mit dem Zeigefinger über die Nase. »Ja.«, bekräftigte das kleine Mädchen unter der übergroßen Decke. Sein Blick fiel unweigerlich auf das Bild auf ihrem Nachttisch. Es zeigte die damals vielleicht Zweijährige beim Spielen mit Buchstabenwürfeln vor einem großen Wandspiegel. Es war die einzige Erinnerung an ihr früheres Leben. Der Rest war ein Opfer des Feuers geworden, welches ihr Leben so massiv verändert hatte.
Ohne es zu wollen dachte er an die erste Begegnung mit Daniela. Es war das zweite Weihnachten mit Anja. Der Doc hatte, wie auch May, gefallen an seiner Weihnachtsrolle gefunden. Zusammen mit Suki und Nim waren sie wieder auf der stimmungsvollen Mission unterwegs gewesen. Mergy hatte ein Heim in der Nähe von der Ray Team Liste nehmen lassen. Er kannte es. Einige seiner damaligen Klassenkameraden kamen von dort und er wollte mit Anja persönlich die Beschenkungen vornehmen. Sie hatten selbst keine Kinder und viel mehr Geld als sie zum Leben benötigten.
So mietete Thomas einen kleinen Transporter für die Aktion, die sie am frühen 24. Dezember in die Stadt führte. Den Spielzeugladen brauchte er nicht lange aussuchen. Es war ein kleiner uriger Laden, der sich mehr schlecht als recht gegen die großen Ketten mit ihren Multimediaspielsachen behaupten konnte. Er war vor ein paar Jahren schon, wohl um die Miete zu reduzieren, auf die Hälfte geschrumpft. In dem anderen Teil war jetzt ein Lederwarenladen, wie der Neuweihnachtsmann ohne Kostüm mit Erstaunen feststellte.
Als sie den Laden betraten, waren die beiden Verkäuferinnen erst einmal perplex ob dem prominenten Besuch. Thomas hob einen kleinen Plastikwarenkorb und hielt ihn Richtung Anja. Dabei setzte er einen Blick auf als hätte er gerade einen Kuhfladen aufgesammelt: »Siehst du was ich meinte?« Anja lächelte und stellte den Stapel gefalteter Umzugskartons vor die Kasse. Ihr Freund gesellte seine dazu, klappte den ersten auf und platzierte ihn auf den langen Tresen: »Packen sie die Sachen bitte gleich in die Kartons. Preisschilder bitte entfernen. Die Anderen dienen dem gleichen Zweck.« Die Verkäuferinnen schauten sich gegenseitig fragend an, während Anja bereits die erste Ladung Spielsachen auf den Tresen legte.
Thomas stellte nur wenig später einen großen Stapel Brettspiele dazu und so langsam dämmerte es ihnen. Dieser halbe Arbeitstag würde ihnen einen Rekordumsatz bescheren und dazu auch noch die anstehende Inventur erleichtern. Karton um Karton füllte sich. Thomas brachte von Zeit zu Zeit die vollen Kisten in den Transporter und stellte weitere Leerkartons bereit. Eine der wenigen anderen Kundinnen, die Zeugen dieser Aktion waren, fragte nach einem Spiel, welches in dem nun fast leeren Regal nicht mehr zu finden war. »Geben sie mir eine Minute.«, sagte Thomas der verdutzen Frau und wieder verschwanden zwei prall gefüllte Kisten aus dem Laden.
Diesmal kam Mergy nur mit dem gewünschten Spiel zurück und reichte es der Frau: »Frohe Weihnachten.« »Wer bekommt denn jetzt das Geld?«, war die Frau nun noch verwirrter und wechselte hastig zwischen den beiden prominenten Kunden und der hinter der Kasse stehenden Dame hin und her, die unermüdlich die Kasse piepen ließ und die Spielwaren an ihre Kollegin weiterreichte, die sie in den Kartons verstaute. »Stecken sie einfach eine Spende in die Dose da, wenn sie möchten.«, wurde Anja aktiv. Die Frau war immer noch unsicher und steckte 20 Euro in die kleine »Ein Herz für Kinder«, Box neben der Kasse.
Der Laden sah bereits aus wie nach einem Räumungsverkauf. Lediglich um Monsterfiguren, Waffen und Panzer und sonstiges Kriegsspielzeug machten sie einen Bogen: »Haben sie noch Ware im Lager?« »Nicht viel, aber ein paar Dinge sind da noch.« »Dann immer her damit.«, lachte Thomas und die beiden Frauen kamen mit neutralen Kisten aus einer kleinen Tür im hinteren Teil des Geschäftes. Dort waren Puppen und Experimentierbaukästen in mehrfacher Ausführung drin. »Lassen sie sie in den Kisten. Die nehmen wir alle.«, grinste Anja, der dieser ungewöhnliche Einkaufsbummel sichtlich Spaß machte: »Was haben sie noch?« »Hier sind noch japanische Sammelfiguren. Die hatten wir vor drei Jahren mal im Laden, aber die Restlichen wollte niemand mehr haben.«, erklärte die Frau Anfang 30 schon etwas beschämt nur noch dieses alte Spielzeug anbieten zu können.
»Was meinst du?«, fragte Anja: »Die sind doch witzig.« Thomas nahm zwei der komisch dreinblickenden Figuren mit Glubschaugen und betrachtete sie genau. »Wir machen ihnen einen Sonderpreis.«, kam die Verkäuferin in der anderen Dame durch. »Nein. Wir bezahlen den Normalpreis.«, beschwichtige Thomas: »Das ist für einen guten Zweck und es wäre nicht fair, wenn sie die Zeche dafür bezahlen müssten. Einpacken!« Anja lächelte und war sichtlich stolz einen so großherzigen Typen abbekommen zu haben. »Das wären dann 17368 Euro und 88 Cent.«, verkündete die Dame an der Kasse unsicher. »Sind sie Sicher? Ich glaube da stimmt etwas nicht. Könnten sie noch einmal nachrechnen?«, fragte der Kommander in Kognito ohne Umschweife nach. Die Verkäuferin fiel in Schockstarre.
Anja brach in schallendem Gelächter aus: »Das war ein Witz.« »Oh, Gott! Ich dachte schon.«, war auch die andere Dame sichtlich erleichtert, diesem Wunsch nicht nach kommen zu müssen, zumal die Preisschilder ja jetzt alle fehlten. »Runden sie auf den nächsten Tausender auf.«, erklärte Mergy. »Das sind aber über 600 Euro?« »Ja, sehen sie es als Bearbeitungsgebühr, Trinkgeld oder drücken sie es in die Spendendose. Ihre Entscheidung.« Anja schob die Karte in das Lesegerät. »Gut das ich das Limit angehoben habe. Da kann Frau teuer einkaufen.«, witzelte Thomas und erntete ein Kichern auf der anderen Seite der Ladentheke. Zusammen mit den letzten Kisten verließen sie den Laden, nicht ohne das gegenseitig ein frohes Weihnachtsfest gewünscht wurde.
Am Abend wurde es dann ernst. Anja hatte damit die größten Probleme. Sich als Engel zu verkleiden behagte ihr nicht. Einige Male hatte sie versucht Thomas das Kostüm auszureden, aber ohne Erfolg. »Mein Engel der Engel.«, hatte er immer gesagt. Jetzt saß sie im Wagen und der einzige Trost den sie fand, war die blonde Haarpracht, die ihre Identität einigermaßen verschleierte. Sie fühlte sich, wie schon bei anderen Feierlichkeiten, beengt in ihrem Gewand. Sie hatte einige Tricks von einer befreundeten Schneiderin für ihr Kostüm übernommen, aber richtig schlank wirkte sie dennoch nicht. Thomas fand sie toll und auch die Kinder würden sie lieben hatte er wiederholt bekräftigt. Er stoppte vor dem Hintereingang des Heims.
Die Leiterin und zwei Helfer warteten bereits auf die Beiden. Schnell waren die Kisten im Haus und die Geschenke wurden unter dem Baum platziert. Mergy nahm einen großen Stapel der Brettspiele und reichte ihn der jugendlich mit Jeans und T-Shirt gekleideten Leiterin: »Sie haben doch sicher einen Gemeinschaftsraum oder etwas in der Richtung?« »Ja, haben wir. Vielen Dank.«, zeigte sich die Frau wirklich dankbar. Schon am Telefon war sie von der Idee begeistert, war sich aber unsicher, ob das Angebot auch wirklich ernst gemeint war. Jetzt jedenfalls wurde sie förmlich von den Geschenken erschlagen. Die Beiden hatten auf das Geschenkpapier verzichtet. Sie kannten die Kinder nicht und wie sollten sie auch noch deren Wünsche erraten?
Der etwas pummelige Engel drapierte die Geschenke ansehnlich, während Mergy mit den Helfern die Kisten öffnete. »Ich glaube wir haben etwas übertrieben.«, gestand sich Anja ein, als sie den Berg begutachtete. »Zu viel geht gar nicht.«, erwiderte der Weihnachtsmann mit tiefer Stimme, aber doch es war eine Menge. »Wenn etwas übrig bleibt, kann die Heimleitung die Dinge ja für Neuankömmlinge zurücklegen.« Der Engel brach in Lachen aus: »Du glaubst doch nicht wirklich hier bleibt etwas übrig? Das sind Kinder.« »Frauen kann man es aber auch nie recht machen. Hoho!«, weihnachtete der Santa zurück. Einer der Helfer stellte zwei Stühle neben den Berg und die beiden Ehrengäste nahmen Platz. Dann war der große Moment gekommen. Deutlich hörte man schon das Gebrabbel und Gemurmel auf der anderen Seite der großen Doppeltür anwachsen, die von den beiden Helfern, wie bei einem königlichen Thronsaal geöffnet wurde. Zögerlich, aber doch von den Geschenken magnetisch angezogen eroberte die Zwergenhorde von 6 bis 16 Jahren den Saal.
Der Weihnachtsmann erhob sich und spulte ein wenig improvisiert den von seiner Figur erwarteten Text herunter. Er erkundigte sich bei der Heimleiterin nach bösen Kindern und zeigte sich erleichtert, weil es keine gab und die Geschenke ohne Ausnahme verteilt werden konnten. Die Kinder dürfen sich etwas aussuchen und der Weihnachtsengel legte bei kleineren Geschenken noch Stofftier und andere Figuren dazu. Der erste Durchgang war vorbei und die Kinder hatten sich im Raum verteilt und spielten mit den Geschenken, als Thomas ein Mädchen am Rand auffiel, welches nichts in den Händen hielt und den anderen Kindern nur traurig zuschaute. Anja brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, wo ihr Freund mit der großen Puppe im pinkfarbenen Kleid hin wollte und folgte ihm schweigend. »Hey, warum hast du dir denn nichts ausgesucht?«, fragte der Mann in rot in deutlich sanfterer Tonlage.
»Ist nichts dabei was du dir gefällt?«, fragte nun auch der hinterher geeilte Engel nach. Die grünen Augen des blonden Mädchens schauten die beiden wunderlich gekleideten Personen direkt an. »Ich bin der Weihnachtsmann, vielleicht kann einer meiner Elfen ja etwas für dich zaubern?« Mit den Ressourcen des kompletten Ray Teams im Hintergrund war es nicht einmal gewagt so eine Ankündigung zu machen. »Ich wünsche mir eine richtige Familie.«, brachte das Mädchen hoffnungsvoll und mit gleichermaßen erwartungsvoll geöffneten Augen hervor. Beide Weihnachtsgestalten waren für einen Moment wie elektrisiert. Das Schicksal würde ihnen ein Zeichen schicken hatte Mergy damals gesagt. Es hätte einen Plan. War das der Wink auf den sie warteten? Dieses kleine Mädchen, welches sie jetzt so voller Erwartungen ansah?
»Uh, Familien sind schwierig. Die passen nämlich nicht in den Zauberbeutel.«, erklärte der Weihnachtsmann mit einem Lächeln: »Aber ich denke ich kenne da eine kleine Familie, die genauso jemanden wie dich sucht.« Ein Blick in die vor Rührung leicht feuchten Augen seines Engels genügten, um zu erkennen, auch sie hatte das kleine Mädchen schon jetzt in ihr Herz geschlossen und trug seine spontane Entscheidung genauso. »Machen wir das so. Du behältst die Puppe und wenn ich diese besondere Familie finde, dann tauschen wir. Einverstanden?« Freudestrahlend nahm das Mädchen das Geschenk mit offenen Armen an.
Die Heimleiterin hatte dem Gespräch teilweise zugehört, konnte sich ihren Teil denken und ermahnte gleich, es wäre nicht so einfach mit all den Bestimmungen und Gesetzen, zumal sie nicht einmal verheiratet wären. Thomas erklärte, man wolle das Mädchen erst einmal besuchen und kennenlernen, schließlich war es alt oder zumindest reif genug, um selbst zu entscheiden, was es wolle. Es dauerte einige Wochen länger als von beiden Seiten erwartet und erhofft, dennoch schaffte es Thomas eine gültige Adoption zu erwirken. Er hatte nie einen Bonus oder ein Geschenk für seine Taten als Weltretter haben wollen, aber für dieses Mädchen nahm er jede Hilfe und jede Beziehung in Anspruch, die ihm hilfreich zur Verfügung stand.
»Papa?«, riss seine Tochter ihn aus seinen Gedanken. Nach einer kleinen Ewigkeit, die sich beide nur in die Augen sahen, führte das Mädchen die angefangene Unterhaltung fort: »Ich finde es schön, das du nicht abgesetzt bist.« Anja stand draußen vor der Tür. Sie wollte den ersten gemeinsamen Moment ihrer Lieben nach all der Zeit nicht stören, hielt sich aber dennoch die Hand vor den Mund, als sie die verletzenden Worte hörte, die ihre Tochter aufgeschnappt hatte. Daniela hatte sie selbst schon nach der Bedeutung des Wortes »abgesetzt« gefragt, welches sie, wie viele andere verletzende Dinge, in den letzten Wochen und Monaten bei anderen Menschen und im Fernsehen gehört hatte. Die Presse und viel schlimmer einige Eltern waren ziemlich unfair gewesen. Die lange Abwesenheit von Thomas ließ viele Spekulationen offen. Erklärungen von Anja wurden nicht akzeptiert oder schlicht ignoriert.
»Das ich nicht abgesetzt bin?«, fragte ihr Ehemann die gemeinsame Tochter, wohl in eine falsche Richtung denkend, nach einer genaueren Erklärung. »Jasminas Mama hat das gesagt. Weil du nicht mehr da warst.« »Achso! Du findest es schön, weil ich mich nicht abgesetzt habe.« Das Mädchen nickte. »So wie ein Verbrecher? Glaubst du ich würde so etwas machen?« Daniela verneinte heftig. »Es tut mir leid. Die Leute reden so dummes Zeug über Mama und mich. Die sind einfach nur neidisch weil, wir eine so tolle Familie sind. Ich habe mir, genau wie du, schon sehr lange eine richtige Familie mit einem kleinen Mädchen wie dich gewünscht. Jetzt haben sich meine Wünsche endlich erfüllt und es ist sogar noch viel toller als ich es mir je erträumt hätte. Da wäre es doch ziemlich dumm euch verlassen, oder?« Daniela lächelte und auch Anja war, nach der schrecklichen Zeit und die letzten noch schrecklicheren Begegnungen auf der Station, gerührt von seinen Worten.
»Weisst du was wir morgen machen?« Daniela verneinte die eigentlich mehr rhetorische gemeinte Frage. »Ich bringe dich in den Kindergarten.« »Du?«, war Daniela sichtlich erstaunt von dem Vorschlag. Er hatte sie schon mit ihrer Mutter zusammen dort abgeliefert, aber noch nie alleine. »Ja, dann können alle sehen, was für dummes Zeug sie geglaubt haben.« »Jasminas Mutter guckt dann bestimmt auch ganz dumm.«, lachte Daniela. »Ich hole dich dann auch wieder ab und wir kochen der Mama was leckeres.« »Du kannst doch gar nicht kochen.«, kugelte Daniela sich auf dem Bett.
»Kann ich doch, aber ich brauche aber deine Hilfe. Ich kann ja nur einen Arm benutzen.« »Wir kochen zusammen!« »Abgemacht und jetzt wird geschlafen.« Mergy drückte der Kleinen noch einen Kuss auf die Stirn und stellte sich wieder auf die eigenen Beine. »Du bist morgen wirklich noch da?«, wurde Daniela erneut unsicher und Mergy spürte, die Spuren, die durch die räumliche Trennung auch bei ihr hinterlassen worden waren. »Versprochen.«, lächelte der Kommander zurück. »Hast du es gemerkt? Ich habe Papa gesagt!«
Daniela sprach damit auf eine Übereinkunft der Beiden an. Sie hatte ihre neuen Eltern damals gefragt, ob sie jetzt Mama und Papa sagen müsse? Thomas hatte ihr erklärt, man müsse sich so einen Titel erst verdienen und es wäre ihre Entscheidung ob und wann sie diese Bezeichnung verwenden wolle. Sie hatte bisher immer Thomas und Anja gesagt. Gleich nach seinem Eintritt in die Wohnung war ihm die Veränderung aufgefallen und machte ihn sehr glücklich: »Natürlich habe ich es gemerkt und ich finde es toll, Töchterchen.«
Anja stand schon in der Tür als Thomas aus dem Zimmer heraustrat. Sie gab der kleinen Dame auch einen Kuss und schloss die Tür leise hinter sich. Thomas wusste jetzt würde der härtere Teil des Abends kommen. War es noch einfach eine fast Fünfjährige zu beruhigen, waren die Probleme, die er nun auf sich zukommen sah, deutlich größer. Anja stellte eine Flasche Wasser und zwei Gläser auf den Tisch, setzte sich neben ihren Mann auf das Wohnzimmersofa und schenkte ein. »Du kannst dich nicht immer so in Gefahr bringen.«, platzten die schon länger aufgestauten Worte schneller und fordernder aus ihr heraus, als es ihr selbst lieb war. »Das hab ich doch gar nicht.«
»Trish hat mir gesagt, eigentlich hätten Tin und sie die Station in den Unterraum fliegen sollten und du hättest eigenmächtig mit ihnen getauscht. Hast du dabei überhaupt an uns gedacht? Was aus uns wird, wenn du nicht zurück kommst?« »Das stimmt.«, musste Mergy eingestehen, obwohl es ihm nicht gefiel, wenn Trish interne Informationen einfach so ausgeplauderte: »Sie wären beide umgekommen. Ohne sie ist das Ray Team nicht funktionsfähig. Beim nächsten Angriff wäre der Planet, und damit ihr beide auch, schutzlos den Aliens ausgeliefert gewesen. Ich gebe ja zu, es war nur ein Gefühl das Richtige zu tun. Ich hab natürlich auch an euch gedacht. Ihr wart meine einzige Sorge. Kurz bevor mich der Energieschlag getroffen hat und ich umgehauen wurde, habe ich auf den Bildschirm gesehen. Der Vortex war dabei sich zu schließen. Ihr wart somit wieder in Sicherheit. Das war alles was für mich in diesem Moment gezählt hat.«
Thomas hatte viel von dem Gewicht der Anschuldigung genommen. Anjas Blick verriet auch ihre Einsicht. Ohne das Ray Team wäre der Planet in Gefahr und wenn er Trish und Tin als Fundament ansah, so entsprach das sicherlich der Wahrheit. »Ich würde mich nie grundlos in Gefahr bringen, besonders jetzt nicht, wo ich euch habe, aber ich kann es eben auch nicht immer ausschließen. Dazu ist mein Job ab und an dann doch zu gefährlich.« »Das verstehe ich ja.«, konnte Anja nur beipflichten, sie hatte es ja damals im All selbst miterlebt. »Das ist aber nicht alles, oder?«, fragte der Kommander vorsichtig nach.
Anja zögerte und suchte nach den richtigen Worten und der dazu passenden Formulierung, um nicht wieder zu wütend oder forsch zu klingen. »Ich sehe dich immer noch vor mir, wie du mich angesehen hast. Es war für dich unvorstellbar, ich könnte deine Frau sein.«, führte Anja aus. »Es tut mir so leid. Das war nicht ich.« »Natürlich warst du das!«, warf Anja erstaunt und durch die nun wieder aktivierten Gefühle deutlich sichtbar verletzt zurück.
»Eine Person definiert sich auch durch ihre Erfahrungen. Der Schnösel war Anfang 20 und hatte keine Ahnung von den eigentlichen Werten im Leben. Ich war nicht immer so Weise wie Heute und hatte auch nicht immer so einen guten Geschmack was Frauen angeht.«, versuchte Mergy mit Humor und Komplimenten die Erklärungen fruchten lassen. Anja war sichtlich unsicher, was seine Gefühle anging, obwohl sie die warmen Worte aus dem Kinderzimmer noch gut in Erinnerung hatte. »Stell dir vor, die Anja, vom Tag des Drakenangriffs, würde aus ihrem Auto direkt hier aufs Sofa gezappt. Hallo, Willkommen Zuhause, ich bin dein Ehemann und unsere Tochter schläft oben.«, versuchte er es mit einem kleinen Gedankenspiel: »Du würdest doch schreiend davon rennen.«
Anja dachte über diese Worte nach, aber Mergy war noch nicht fertig: »Das ist gerade mal knapp zwei Jahre her und nicht über Zwanzig.« Thomas nahm einen Schluck Wasser und beobachtete seine Frau, die nachdenklich das aufgebaute Szenario nachspielte. Er nahm schließlich das zweite Glas vom Tisch und hielt es ihr, tief in die Augen blickend, hin: »Ich hab dich geheiratet. Absichtlich! Und ich würde es jederzeit wiederholen. Weil ich dich liebe.« Mit einem Lächeln, nahm seine Frau das Glas und stieß mit ihm an. »Also keine Scheidung?« Anja lächelte: »Ich überlege es mir vielleicht noch einmal.« Thomas spielte den beunruhigten, wie auch den ein wenig entsetzten Ehemann schon fast zu gut. Es dauerte eine Weile, bis seine Frau in Lachen ausbrach und ihm in die Arme fiel.
»Die Reise durch die Zeitzonen macht mich immer richtig müde. Sollen wir nicht ins Bett gehen?« »So wie Rentner?«, grinste Anja mit einem Fingerzeig auf die Uhr, die kurz nach 20 Uhr anzeigte. »Vielleicht nicht ganz so. Da war doch diese fiese Klausel mit den ehelichen Pflichten, die ich wohl in den letzten Wochen sträflich vernachlässigt habe.« Mergy hob eine Augenbraue, während sein Gesicht regelrecht überschwänglich grinste. »Ja, um eine Scheidung abzuwenden, wäre das eine sich positiv auswirkende und vom Gesetz anerkannte Methode.«, war Anja nicht weniger von der Idee begeistert. »Na, dann. Wir müssen morgen früh raus.«
Nach einer viel zu kurzen Nacht klingelte um 7 Uhr der Wecker. Es war für Thomas und Anja sichtlich ungewohnt, aber keinesfalls unangenehm wieder gemeinsam den Morgen zu beginnen. Thomas streckte sich. Noch bevor Anja die Augen öffnen konnte, spürte sie seine Lippen auf den ihren: »Morgen du Schlummerliesel.« »Schlummerliesel?« »Passt irgendwie.«, grinste ihr Ehemann und setzte sich auf die Bettkante: »Ich geh mal den Zwerg anwerfen.« Anja, kicherte laut auf und vergrub sich wieder in die Kissen. Vorsichtig öffnete Thomas das Kinderzimmer, an dessen Tür ein großes lila Herz mit dem Namen seiner Tochter prangte.
Sie war noch in den Tiefen ihrer Träume versunken und schnaufte friedlich. Am Liebsten hätte er sie einfach nur weiter still beobachtet und zugesehen, wie sie von ganz alleine den Tag beginnt, aber der Terminplan sah andere Dinge für sein kleines Mädchen vor. Vorsichtig drückte er ihr einen Kuss auf die Backe und flüsterte ihr ein »Guten Morgen, Schnabbel!« in ihr Ohr. Langsam erwachte sie aus ihren Träumen und begann sich verschlafen die Augen zu reiben. »Du bist noch da!«, waren die ersten Worte, als sie ihren Vater auf der Bettkante sitzen sah und zeigten abermals wie auch sie sein Verschwinden innerlich beschäftigte. »Erwachsene können zwar nicht immer alle gegebenen Versprechen einhalten, aber sie gehen sich viel Mühe!«, lächelte Thomas zurück und bekam eine Umarmung. »Los aufstehen. Wir müssen heute etwas schneller machen, weil ich mit meinem gebrochenen Arm ja nicht Autofahren kann.« »Wir laufen?« »Ja! Dann sehen uns auch viel mehr Leute.« »Ja!«, sprang die Kleine aus dem Bett und war schon Momente später im gegenüber liegenden Bad verschwunden.
»So schnell kommt sie sonst nicht aus den Federn.«, merkte Anja an, die den Wirbelwind nur hatte quer über den Gang schwirren sehen. »Liegt alles nur an meiner speziellen Art zu wecken.« »Ja, Nee. Ist klar!«, ließ Anja verklingen und wendete wieder zum Schlafzimmer, um das dort angrenzende Bad zu nutzen. Thomas folgte. Im Bad hakte er seinen Gipsarm aus und legte ihn oben auf den Spiegelschrank, damit, falls seine Tochter hineinplatzte, nicht gleich alle Karten offen auf dem Tisch lägen. Anja folgte in die Kabine. »Hmm, so mag ich es.«, schnurrte Thomas, während Anja nur ein leises »Ich weiß.« flüsterte.
»Was ist das denn? Wo ist die Schokocreme?«, flachste Thomas als er seine Tochter mit Milch und darin schwimmenden bunten Ringen am Frühstückstisch vorfand. Gestern, bei seiner Rückkehr, hatte sie ihn noch mit einer Schokobacke vom Abendessen begrüßt, die er genüsslich, wenn auch unter Quieken, direkt vom Kind geschleckt hatte. »Das sind die neuen Fruchtknuspers von Kommander Mergy. Siehst du?« Sie hielt die in Blau gehaltene Packung vor seine Nase. Darauf eine hell blaue Porzellanschale mit den bunten Ringen in Milch schwimmend. Seitlich über den Rand hinweg war der Kommander mit Sonnenbrille zu sehen. Darunter in großen Buchstaben: »Nur mit einem guten Frühstück kann man die Welt retten.« »Und die schmecken?« »Ja, Kommander Mergy macht ganz tolle Knuspers!«, sprach die Expertin ihre persönliche Wertung aus. Thomas schmunzelte. Das Mädchen hegte nicht einmal den Verdacht mit eben genau diesem Kommander des Ray Teams an einem Tisch zu sitzen.
Anja beobachtete die Szene nur genüsslich mit einem leisen Kichern. Wahrscheinlich stellte sie sich gerade vor, wie ihr Mann in einer kunterbunten Fabrik bunte Ringe aus einer Masse ausstach, um sie nach der Weiterverarbeitung in die Tüte zu füllen. Ganz alleine und ohne technische Hilfe. So jedenfalls schien sich ihre Tochter das Zusammenhängen von Frühstückszubehör und dem Kommander des Ray Teams auf der Pappschachtel bildlich auszumalen. »Ich bleibe doch lieber bei meinem Wurstbrot.«, erklärte der amüsierte Vater und stellte die Schachtel wieder auf den Tisch.
»Keine Presse vor der Tür?«, fragte Thomas vorsichtig, um nicht gleich alte Wunden aufzureißen. »Nein. Die sind schon in den letzten Wochen weniger geworden. Der letzte Angriff der Aliens hat wohl ihre Aufmerksamkeit komplett von uns abgezogen.« »Kommander May passt auf uns auf.«, erklärte Daniela durch den vollem Mund recht undeutlich. »Muss sie wohl. Dein Kommander Müsli sitzt ja den ganzen lieben Tag in der Fabrik und macht dein Frühstück.« Anja verschluckte sich vor Lachen an ihrem Brot, während ihre Tochter nur ein genervtes und mit Augenrollen untermaltes »Kommander Mergy« verbesserte.
Als sie schließlich gemeinsam und gut gelaunt das Haus verließen, war niemand zu sehen. Lediglich ein Nachbar grüßte freundlich, als die drei ihn im Bademantel beim Entnehmen der Tageszeitung erwischten. »Soll ich euch nicht doch mit dem Auto mitnehmen?« »Nein, ich denke den Kindergarten finden wir auch so.« »Ich kenn´ doch den Weg!«, warf Daniela ein. »Siehst du Schatz. Sollte mein Kopf wieder aussetzen, kennt Schnabbel den Weg.« Thomas küsste seine Frau, die gerade den Wagen aus der Garage holen wollte, zum Abschied, während Daniela schon an seiner Hand hing und Richtung Bürgersteig zerrte.
Die Blicke, die sie auf ihrem Weg bekamen, waren zwar durchgehend freundlich, aber man konnte deutlich die Personen erkennen, denen vorher noch die Überraschung ins Gesicht geschrieben stand. Nicht nur seine Tochter genoss die Aufmerksamkeit, die ihnen auf dem Weg entgegen schwappte. Es war einfach nur schön entspannt durch seinen Heimatort zu gehen. Die kleine warme Hand in seiner ließ er sich die mehr oder weniger aktuellen Neuigkeiten von seinem Mädchen berichten und die Straßen entlang führen.
Am Kindergarten standen diverse Autos und Mütter unterhielten sich vor dem Eingang. »Hallo, Birgit.«, begrüßte Mergy eine der Frauen, die gerade das Auto verließ um ihre Tochter auf dem Rücksitz loszuschnallen. »Hallo, Frau Engelmann.«, begrüßte auch Daniela sie. »Hey, ihr zwei. Wie geht es? Ich hab von deinem Unfall gehört.« »Das Meiste ist wieder voll funktionsfähig. Der Arm ist zumindest noch dran.« »Er war nicht angeschnallt.«, gab Daniela lautstark zum Besten. »Ich denke ihr geht jetzt mal besser rein.«, lachte Thomas und gab seiner Tochter einen sanften Klaps auf den Po: »Viel Spaß!« Daniela und Birgits Tochter Jennifer verschwanden hinter der gläsernen Tür und man konnte nur noch schemenhaft erkennen, wie die beiden ihre Jacken und Frühstückstaschen auf den Haken hängten und in der Gruppentür verschwanden.
»Ich war natürlich angeschnallt, aber ich würde sie nie wieder in ein Auto bekommen, wenn sie davon etwas wüsste.«, erklärte Thomas: »So hat die Sache wenigstens einen erzieherischen Wert, auch wenn ich nun befürchte vor jeder Fahrt Besuch vom Gurtinspektor zu bekommen.« »Ja, dass war sicherlich eine gute Idee.«, kicherte seine Bekanntschaft.
»Danke für deine Hilfe. Anja hat mir erzählt wie oft du in den letzten Wochen ausgeholfen hast. Wenn du deine Tochter bei uns abgeben willst oder ich dir sonst wie helfen kann, dann melde dich jederzeit.« »Das war doch keine Mühe und Jennifer fand es auch schön mit Daniela die Nachmittage zu verbringen. Außerdem war es das Mindeste was ich tun konnte, nach dem was ihr Zwei für uns gemacht habt.« »Du hast meiner Familie geholfen, als ich es nicht konnte. Das rechne ich dir hoch an.«, erkläre Thomas mit strenger Miene: »Ich meine es ernst. Jederzeit!«
»Angekommen.«, lächelte Birgit: »Dann hat das Getratsche jetzt wohl endlich ein Ende, was?« »Wie ich von meiner Tochter gehört habe, sind einige Mütter ja ziemlich übel in der Gerüchteküche aktiv gewesen. Muss echt peinlich sein, wenn all die Lügen auffliegen.« Thomas wurde nach hinten heraus lauter und überdeutlich, während sein Blick in die Richtung der kleinen Gruppe fiel, die durch ihr tuschelndes Verhalten deutlich zeigte, worum oder besser um wen es in ihrer Unterhaltung ging.
Mariell, die Mutter von Jasmina, wurde schlagartig rot, als sich Thomas und ihr Blick trafen. »Ja, ich meine dich!«, dachte Mergy im Geheimen. Die kleine Gruppe löste sich schlagartig auf und alle verschwanden in ihren Autos und auf ihren Fahrrädern. »Das war witzig.«, lachte Thomas. »Sie haben es nicht besser verdient.« »Wenn ihr also ein paar freie Wochenenden oder gar Wochen haben wollt. Keine Hemmungen!«, winkte der Kommander Inkognito noch einmal und verschwand auf dem gleichen Weg, den er mit seiner Tochter gekommen war.
Kaum hatte sich die Aufzugstür auf dem Kommandodeck hinter May geschlossen, drang auch schon die Stimme von Sab unangenehm in ihren Kopf: »Was ist mit Kari vorgefallen?« »Mit Kari?« Der kleine Kommander war verwirrt. Sie hatte in den letzten Tagen an so vieles gedacht, aber Kari war nicht unter diesem Sammelsurium an Gedanken. Warum auch? »Ist da etwas vorgefallen, als ihr letzte Woche zusammen den Reisebus in Italien gerettet habt?«
Wieder kreisten Bilder in Mays Kopf. Das Orakel hatte sie zur Rettungsaktion dazu gerufen. Der Bus war über einen Abhang geraten und drohte abzustürzen. Kari hatte das Fahrzeug mit dem Greifstrahl des Kampfgleiters stabilisiert und war bereits dabei die Menschen zu befreien. Schon über 20 der mehr als 40 Insassen standen auf der nassen Straße, als der Lila Kampfgleiter über ihren Köpfen eintraf. May sah gerade noch wie sich ein riesiges Stück der, aus Sand und Geröll bestehenden, Kante löste und den Bus in die Tiefe ziehen wolle. Er kippte dabei in die Richtung des einzigen Zugangs, an dem viele Leute von dem Metallklumpen erschlagen worden wären. Andere wären mit der einbrechenden Straße in die Tiefe gerissen worden. Geistesgegenwärtig hatte May die Tür des Gleiters geöffnet, den kompletten Bus gegriffen und wieder auf dem Weg gesetzt.
Kari war ziemlich erschrocken und aber auch sehr dankbar gewesen, weil May eingegriffen hatte. Der Kommander hatte sich auf die Straße transportiert und Kari versichert, sie träfe keine Schuld. Die Tatsache hatte sie schließlich selbst direkt beim Eintreffen überrascht, als sie sich noch fragte, warum das Orakel sie überhaupt hier haben wollte. »Es war eine normale Mission, wie schon tausende zuvor.« »Und warum liegt mir hier ein formeller Antrag von Kari vor, in der sie wünscht in Zukunft nicht mehr mit dir zusammenarbeiten zu müssen?«
Das traf May jetzt wie eine Keule. Sie war sprachlos. Warum hatte sie das getan? Gut sie waren keine Freunde und hatten bis auf die wenigen Momente, wo sie zusammen arbeiteten oder sich im Gang ein »Guten Morgen« oder »Gute Nacht« wünschten nie viel miteinander geredet oder zu tun gehabt. Diese Reaktion war ihr jedenfalls völlig schleierhaft und total überzogen. »Ich hab keine Ahnung, warum sie die Änderung fordert.«, erklärte May schließlich. »Ich kann mir die Aufzeichnungen also ansehen?«, brach der Kontrolldämon wieder aus Sab hervor. »Jaque, gib die Aufzeichnungen der letzten gemeinsamen Missionen von Kari und mir frei.«, wies May an: »Wenn du etwas findest lass es mich wissen. Ich verstehe es nämlich nicht.«
»Jaque, wo ist Kari jetzt?«, erkundigte May sich und der Stationscomputer verkündete sie wäre in ihrem Quartier. May definierte, noch während sich die Türen des Aufzugs auf dem Kommandodeck schlossen, das Ziel. Unentwegt musste sie an ihre Begegnungen mit der deutlich größeren Frau denken, aber es wollte ihr einfach kein Grund einfallen, warum ausgerechnet sie nicht mehr mit ihr arbeiten wollte. Da gab es andere Personen, die deutlich mehr Gründe hätten, aber es nicht einmal wagten diesen Schritt auch nur zu denken. Einen Moment zögerte May, heute in blauer Jeans und mit einem Lila Shirt und Schuhen bekleidet, vor der Tür von Quartier 87. Alleine diese kleine Zahl deutete es an. Kari war sehr viel länger auf der Station, als May selbst. Dann drückte sie, noch einmal tief Luft holend, die Hand auf das flache Feld neben dem Zugang.
Kari zuckte deutlich sichtbar zusammen, als sie May vor der Tür sah, die sofort das Wort ergriff: »Ich denke da gibt es etwas zwischen uns zu klären. Darf ich hineinkommen?« Kari war mit einer beigen Hose und einem roten T-Shirt bekleidet, das minimal zu kurz wirkte, da es bei fast jeder Bewegung zwischen Hose und Oberkörper einen ebenholzfarbenden Streifen Haut durchblitzen ließ. Trotz dieser gemütlichen Kleidung wirkte sie immer noch edel und gutaussehend. Offensichtlich hatte sie in einem Buch gelesen, welches aufgeschlagen, mit dem Gesicht nach unten, auf dem Tisch ihrer Wohnung lag. Ein Historien-Roman, wie ein Blick auf den Einband verriet. Anscheinend bevorzugte sie, wie Mergy auch, Papier und verzichtete auf einen tragbaren Terminal, der ja auch Bücher darstellen konnte und deutlich weniger Platz verschlang als ein Buchregal.
Ihre Wohnung war anders geschnitten. Sie hatte die neue Aufteilung gewählt, bei der man vom Bett aus ins All sehen konnte. Ihre Möbel waren hell und mit viel Glas versehen. Selbst die Regalböden waren aus Glas und boten einen freien Blick auf die Unterseite ihres Inhalts. Die Sofas und Sessel waren in hellen Erdfarben gehalten. May staunte immer wieder, wie der gleiche Raum doch so anders wirken konnte, wenn man nur kleine Details änderte. Obwohl er die gleichen Möbelstücke in der gleichen Anzahl enthielt, wirkten die anderen Formen und Farben so massiv auf die Gesamtwirkung, dass man glauben konnte, es wäre nicht der identische Grundriss mit der selben Ausstattung.
»Möchten sie etwas trinken, Kommander?«, fragte Kari höflich auf das Sofa deutend und mit mehr Distanz als es die meisten Personen auf der Station machen würden. »Eine heiße Schokolade wäre schön und einfach nur May bitte.«, erklärte May, die auf dem Kommandodeck keine Gelegenheit gehabt hatte, ihre Schokosucht auf die übliche Art zu befriedigen. Kari stellte noch eine Schale Kekse und für sich eine Tasse Tee auf den Tisch und setzte sich ebenfalls. »Ich verstehe nicht, was ich falsch gemacht habe.«, eröffnete wieder May das Wort: »Unsere Zusammentreffen waren eigentlich immer viel zu oberflächlich, als man daraus eine Abneigung entwickeln könnte.« Kari schluckte deutlich sichtbar. Sie hatte wohl schon geahnt warum May so plötzlich hier erschienen war, aber jetzt war der Moment gekommen, wo sie sich persönlich dazu äußern musste.
»Ich habe nichts gegen dich persönlich.« Ihre stahlblauen Augen funkelten aus ihrem makellosen Gesicht. Schon öfter hatte May sie aus der Ferne betrachtet. Ja, wenn man es genau nahm war May ein wenig neidisch. Sie war größer, hatte lange schlanke Beine und die leichte natürliche Bräune ihrer Haut, machte das Gesamtbild nur umso perfekter. »Immer wenn ich dich sehe, dann denke ich unweigerlich an Nim.« Sie stoppte für einen Moment, bevor sie den Namen aussprach. Trotzdem traf es May zum zweiten Mal an diesem Tag wie ein Hammerschlag. Sie war scharf auf ihren Freund? »Es geht um Nim?«, fragte der junge Anführer mit perplexem Gesichtsausdruck. »Ja, wir waren einmal zusammen. Wusstest du das gar nicht?« »Nein, ich hatte keine Ahnung. Naja, ich konnte mir denken nicht seine erste Freundin zu sein, aber es gab für mich nie einen Grund ihn über diesen Teil seiner Vergangenheit auszufragen.«
»Immer wenn ich einen von euch, oder schlimmer euch beide, sehe, dann kommen all die Gefühle in mir hoch. Es versetzt mir einen Stich. Es schmerzt einfach zu sehr.« »Verstehe.«, murmelte May nachdenklich. Nim war mit dieser atemberaubenden, anmutigen und gut aussehenden Frau, die ihn anscheinend immer noch liebte, zusammen gewesen. Hatte er sie verlassen? Ein Gedanke schnürte plötzlich ihren Hals zu: »Was wenn er mich auch verlässt?« Oder hatte sie sich von ihm getrennt und wollte ihn jetzt wieder haben? Welche Chancen hätte sie denn überhaupt gegen eine Frau wie Kari? May nippte unsicher an ihrem Kakao, um der wortlosen Phase wenigstens eine optische Komponente zu geben. »Keine Sorge. Ich will ihn dir nicht wegnehmen. Dazu fehlt mir wohl auch die Macht. Er hat immer dieses Funkeln in den Augen, wenn er dich nur ansieht. Ich habe nie diese Wirkung auf ihn gehabt.« »Warum habt ihr euch getrennt?«, fragte May immer noch unsicher und unwohl in ihrer Haut. »Er hat Schluss gemacht. Die ganze Beziehung hat ihn wohl gelangweilt. Rückwirkend betrachtet hatte er recht damit. Wir waren zu verschieden.«
»Ich habe schon überlegt die Station zu verlassen, aber das hier ist jetzt mein Leben. Da unten habe ich keinen Platz mehr und ich will mir nicht wegen einem Typen alles kaputt machen und aufgeben, was ich hier erreicht habe.« Plötzlich tauchten in Mays Kopf die Bilder der verschiedenen Stationssitzungen auf, in denen von Paaren und Babys die Rede war. Sab hatte immer wieder gemeint die Regelungen der Armee hätten einen Sinn, aber Mergy betonte immer, die Station sei ein Zuhause und eben keine Kaserne, wo Gefühle nichts zu suchen hätten.
Jetzt steckte sie selbst in genau einem dieser Dilemma, die Sab wohl immer zu vermeiden suchte. Sie drei steckten darin, wenngleich Nim wohl nicht einmal ahnte, was in Kari vorging. »Ich kann deinen Wunsch verstehen.«, erklärte May sich ausführlicher: »Aber die Station ist zu klein, um sich dauerhaft aus dem Weg zu gehen. Ich kann natürlich gemeinsame Missionen mit Nim und mit mir unterbinden lassen, aber es wird nicht viel an der Gesamtsituation ändern.« »Sab wird bestimmt weiter nachforschen und den Dingen auf den Grund gehen, wenn sie es überhaupt zulässt.« »Also um Sab brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Zu etwas muss mein Rang ja auch gut sein.«, zwang sich May ein Lächeln ab und nippte abermals an ihrem Getränk.
»Hey, hier auf der Station wimmelt es nur so von guten Typen. Sabs Worte. Nicht meine.« »Die meisten davon starren mich an, als wäre ich ein Ausstellungsstück in einem Museum.« »Ist ja auch nicht weiter verwunderlich. Du hast ja nicht nur tolle Beine.«, wurde May zunehmend lockerer. Ein leichter Anfall von einem Lächeln zog sich über ihr Gesicht. »Niemand sieht wirklich mich.« »Ja, es ist sehr hilfreich, wenn man nicht gut aussieht und die oberflächlichen Typen einfach so aussortieren kann.« »Klingt als hättest du Erfahrung?«, fragte Kari unsicher nach. »Naja, nach dem Drakenangriff haben mich alle mit Bedauern und Entsetzen überschüttet, wenn sie denn überhaupt noch geschaut haben. Nur einer hat mich direkt angesehen und sich ehrlich gefreut, weil ich noch lebe.« »Nim!« »Ja. Ich hab es erst auch nicht verstanden, aber er mochte alles an mir und nicht nur die Hülle.« »Moon ist ähnlich schwer verletzt, oder? Er soll auch Verbrennungen von den Drakenwaffen haben.« »Ja, so wie ich sie damals hatte, nur am ganzen Körper. Er sieht wirklich schlimm aus.«
»Oh, Mann. Ich beschwere mich, wie die Leute mich ansehen, dabei geht es mir gut und habe ich wenigstens noch Freunde.« »Ja, er hat Fehler gemacht und ihm ist die Macht buchstäblich zu Kopf gestiegen, aber ich denke er hat es begriffen.« »Meinst du?« »Naja, er hat seinen Status und seine Freunde verloren. Er wurde hart für seine Fehler bestraft, aber anstatt sich an all den Menschen zu rächen, die ihm das angetan haben, hat er sein Leben riskiert um sie zu retten. Das sollte man trotz seiner begangenen Fehler nicht vergessen. Ich denke er hat sich geändert.« »So habe ich das noch gar nicht gesehen.« »Das tut kaum jemand. Naja, vielleicht macht er uns auch was vor. Kann man bei seiner Vergangenheit nicht wissen.«
Der Kakao in der Tasse hatte mittlerweile die perfekte Temperatur, als May erneut einen nun größeren Schluck nahm. Diesmal nutzte sie ihr Getränk nicht mehr weil es gerade Grund gab sich an etwas fest zu halten, sondern weil die Unterhaltung sich entspannte und die Lage sich langsam aufklärte. Sie tunkte sogar einige Kekse in die dunkle Flüssigkeit, bevor sie das leckere Backwerk vernaschte. Trotz der anfänglich steifen und frostigen Situation hatten es die Beiden geschafft sich zu nähern und Klarheit in die Lage zu bringen.
Plötzlich zuckte May zusammen. Ihre Augen rotierten dabei fast wie die beweglichen Pupillen in der Plastikkuppel einer Kinderpuppe: »Tut mir leid, wenn ich störe, aber du müsstest das Kommandodeck übernehmen.« »Ich bin unterwegs.«, pfiff May in ihre Hand. So ungern und zögerlich sie vor dem Gespräch noch war, so bedauerte sie es jetzt dieses eigentlich ungewollte Treffen zu beenden.
»Das war der "Kommander Sab in meinem Kopf" Blick, oder?«, fragte Kari neugierig und mit einem amüsierten Lächeln. »Ja, ich muss auf das Kommandodeck. Die Pflicht ruft. Tut mir leid.« »Es war schön mal mit jemandem über meine Lage zu sprechen. Hätte nicht gedacht ausgerechnet mit dir über meine Probleme reden zu können.« »Ich fand es auch nett.«, erhob sich May: »Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du etwas auf dem Herzen hast. Ok?« Kari nickte, während May vor die Wohnungstür trat. Tief in ihren Gedanken versunken machte sich May auf den Weg zum Kommandodeck. Nim fand die Beziehung mit Kari langweilig! Was wenn sie selbst auch langweilig wäre und es gar nicht bemerkte? »Wie ein altes Ehepaar.«, hatte Suki mal gesagt, als die beiden lieber Zuhause auf dem Sofa blieben und sie nicht auf eine Party begleiten wollten.
»Und, warum will sie nicht mehr mit dir zusammenarbeiten?«, riss Sab sie geradewegs aus ihren Gedanken, als sich die Türen öffneten. In den Aufzeichnungen hatte sie wohl auch keinen Grund für dieses Verhalten gefunden. »Sie hat berechtigte Gründe vorgebracht.«, erwiderte May ohne die Gründe zu spezifizieren und Sab erkannte schon an der Tonlage: Es würde keine weiteren Informationen geben. »Und wo willst du hin?«, fragte nun May nach dem Grund für Sab das Kommandozentrum zu verlassen. Trish lag mit einer Grippe im Bett. Mergy war auf der Erde und Tin, naja sie war eben Tin.
So hing der reibungslose Stationsbetrieb in der nächsten Zeit von ihnen beiden ab. Naja, Jaque hätte kein Problem die Orakelinformationen an Piloten in Zielnähe weiterzugeben und die Flugdecks zu kontrollieren, schließlich machte er das Nachts auch meistens alleine, aber Sab befürchtete immer sie könne etwas verpassen oder Jaque könnte einen Fehler machen, dabei war er der perfekte Mitarbeiter. Er war immer freundlich, hilfsbereit und überall gleichzeitig. Urlaub und Krankheit kannte er ebenfalls nicht.
»Das Orakel will das Mergy eine Zeitung bekommt.« »Eine Zeitung?« »Ja, steht wohl eine wichtige Information drin. Du könntest deine Weissagungen ruhig etwas deutlicher verfassen.« Sab ließ keinen Zweifel daran. Sie mochte es nicht, wenn man in Rätseln zu ihr sprach. Wichtig waren für sie einzig Fakten. »Wenn es so ist, wie es ist, dann hat es sicherlich seinen Sinn. Kann ihm nicht jemand anderes die Zeitung bringen?« »Ich dachte ich gebe Jiyai mal die Gelegenheit ihren neuen Pilotenrang aktiv zu nutzen.« »Du willst nur sehen, ob sie so gut ist, wie alle sagen. Mach´ sie nicht nervös.«
Thomas war in seinem Arbeitszimmer und bearbeitete seit über einer Stunde Dokumente und Papierkram, den seine Frau nicht ohne seine Hilfe stemmen konnte oder wollte. Sie hatte alles so gut ausgefüllt, wie es eben ging, aber an einigen Stellen klebten kleine Zettel mit Anmerkungen, oder nur einem Fragezeichen. Die Anfrage für einen Werbespot sagte er gleich telefonisch ab. Weil ihm das Produkt nicht gefiel, wie er anmerkte. Er zog nach dem Telefonat die Mundwinkel leicht hoch, denn er hatte die gleiche Ausrede benutzt, die May immer angewendet hatte, um sich vor identischen Aufgaben zu drücken. In ihrem Fall war die Erklärung aber immer plausibel gewesen, was man bei dem Rasierer so nicht sagen konnte. Aber er konnte sich nicht vorstellen im Fernsehen bei der morgendlichen Rasur gezeigt zu werden.
Aus dem Flur hörte er kurz eine Stimme. Es klang so als hätte jemand gerufen und direkt bei der ersten Silbe aufgehört. »Thomas?«, ertönte eine junge Stimme und gab ihm Gewissheit, es sich nicht eingebildet zu haben. Es war Jiyai, die unsicher und verloren in dem doch recht groß wirkenden Flur mit der Steintreppe wartete und wohl vorher unbedacht ein »Kommander Mergy« anstimmen wollte. »Hey – Wow – Kaum hat der Doc eine Jiyai im Team, macht das medizinische Team Hausbesuche auf der Erde?«, begrüßte er die junge Helferin. Mergy konnte nicht umhin ihren Blick zu bemerken: »Ja, der Anblick ist bestimmt für mich immer noch genauso ungewohnt wie für dich.«
Seine junge Kollegin lächelte: »Das Orakel hat gesagt wir sollen dir diese Zeitung bringen.« »Wir?«, dachte Mergy noch schnell, bevor er eins und eins zusammen zählte und mit seinem funktionierenden Arm Sab befahl ihren Arsch hinunter zu bewegen. Wenige Augenblicke später stand auch sie, wohl nicht zuletzt wegen der Sash Geschichte, unsicher im Flur und schaute sich um. »Willkommen bei mir Zuhause. Kommt. Im Wohnzimmer ist es gemütlicher.«, deutete er auf die halbdurchsichtige Glastür, die den Eingangsbereich vom Wohnraum trennte, während sich seine Gäste interessiert umsahen.
»Wir haben nicht viel Zeit. May schmeißt die Station ganz alleine.«, erklärte Sab. »Also habt ihr doch jede Menge Zeit.«, erwiderte Mergy nur und bot Getränke an, die er sogleich servierte. »Also was ist mit dieser Zeitung?« »Ich habe während des Fluges schon darin geblättert und nichts ungewöhnliches gefunden.«, erklärte Sab, weil sie von den Informationen des Orakels einfach mehr Information erwartete als »Bringt Zeitung X direkt Kommander.« »Dann hat unsere Neupilotin ja wohl alles richtig gemacht, wenn Kommander Wachturm nebenbei seelenruhig Zeitung lesen kann.« Ein Lächeln huschte über Jiyais Gesicht und auch Sab konnte sich ein, wenn auch ungleich dezenteres, Grinsen nicht verkneifen. Thomas blätterte durch die Seiten und betrachtete die Bilder und Überschriften. Der Inhalt betraf ihn nicht. Die Zeitung kam aus einer fast 70 km entfernt liegenden Ortschaft und der überregionale Teil stand sowieso in jeder anderen Zeitung mit meist identischem Wortlaut.
»Ich verstehe es nicht.«, legte Thomas die Zeitung auf den Tisch. Zögerlich näherte Jiyai sich dem Papier, auch wenn sie den deutschen Text nicht lesen können würde. Selbst bei einer Englischen hätte sie ewig gebraucht, um auch nur die großen Zeilen auf ein paar Seiten abzuhaken. »Nur zu. Jede Hilfe ist willkommen.«, ermutigte ihr deutlich älterer Kollege sie: »Es gab keine weitere Information vom Orakel?« »Ich hab May schon angewiesen das Orakel mit mehr Fakten zu füttern, aber ich denke sie wird es nicht tun und wir werden in jeder Realität hier fragend vor dem Blatt sitzen.« »Oh, sie hatte doch so schöne lange Haare. Warum habt ihr sie abgeschnitten?«, richtete Jiyai die Frage regelrecht entsetzt an Mergy. »Wem haben wir die Haare geschnitten?« »Daniela!« Jiyai deutete auf ein Foto. Eine Heimgruppe war von einem Bauern eingeladen worden und man hatte eine Obstwiese angelegt. Jedes Kind durfte einen eigenen Baum pflanzen und den Stamm an einem stabilisierenden Stab binden.
Thomas schaute verdutzt auf das Bild und erstarrte. Dann sprang er auf und sie konnten durch die matte Scheibe in der sich hinter ihm schließenden Tür zum Flur nur erkennen, wohin er rannte: Nach oben. »Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte Jiyai unsicher über seine Reaktion. »Also ich denke mehr das Gegenteil. War wohl in jederlei Hinsicht eine gute Idee dich mitzunehmen.«, schmunzelte Sab und nahm einen Schluck des Orangensaftes, den Thomas ihr gereicht hatte. Trotz der wenigen Informationen des Orakels schienen die Puzzelteile sich langsam zusammenzufügen. Als ihr Kollege wieder in den Raum trat hatte er die Zeitung in der linken Hand, während ein gerahmtes Bild an den Fingern der Rechten klemmte, die er mit viel Mühe und der optischen Steuerung der Brille nur umständlich bewegen konnte.
Er reichte Jiyai das Bild aus dem Kinderzimmer. Es zeigte Daniela, die vor einem Spiegel mit Buchstabenwürfeln spielte. »Das Bild ist ja witzig.«, merkte sie nach einigen Momenten an. Erst als sie den Kommander sah, der ihr erwartungsvoll in die Augen sah, bemerkte sie, dass nicht das Bild oder die Zeitung seine Aufmerksamkeit hatte, sondern ihre Person höchstselbst. »Witzig?« »Naja, es sieht aus wie ein Spiegel, aber da sind zwei Mädchen und eine Tür auf dem Bild.« »Wieso bist du dir da so sicher?« »Die Würfel sind falsch.« Thomas nahm das Bild wieder an sich.
Das »A« und das »W« spiegelte sich perfekt. Auch das O war in der Reflexion zu sehen. »Was meinst du?« »Hätte ich damals nicht auf Jonas aufgepasst, wäre mir es wohl auch nicht aufgefallen.«, genoss es Jiyai so erwachsen behandelt und in ein Gespräch verwickelt zu sein: »Die Spiegelungen sind alle perfekt, aber die Würfel sind falsch. Da spiegelt sich ein I.« Jiyai deutete auf eine Würfelseite im vermeintlichen Spiegel. Dann deutete sie auf den gleichen Würfel im Vordergrund: »Hier ist das I auch seitlich drauf.« Sab hatte sich vorgebeugt und sah sich nun auch das Bild genauer an: »Da ist halt zweimal ein I drauf, und?«
»Es gibt 26 normale Buchstaben und auf jedem Würfel passen nur sechs. Warum sollte man also einen Buchstaben doppelt verwenden?« »Sie hat recht! Das macht keinen Sinn und doch macht es Sinn. Danielas Eltern waren Kunstfotografen. Sie haben unter anderem Bilder gemacht, in der Menschen und Natur optisch seltsam wirken. Es gibt ein Bild auf dem eine junge Frau im Vordergrund kniet und scheinbar winzige Zwerge vor sich bestaunt. Sie war auf einem Hügel und die Leute waren in Wirklichkeit weiter hinten unterhalb des Hügels. Eine optische Täuschung. Zwei Bilder in einem. Wir haben uns immer gefragt, wieso sie so einen einfachen Schnappschuss gerahmt haben? Das passte so gar nicht zu ihrer sonst so professionellen Arbeit. Wir waren so blind.« »Es gibt zwei Danielas?«, fragte Jiyai etwas ungelenk.
»Ich denke ja. Naja, Zwillinge eben. Da hat jemand mächtig Mist gebaut. Ich habe extra Erkundigungen eingeholt, ob es noch lebende Verwandte gibt, damit wir keine bösen Überraschungen erleben.« Sab hob die Augenbrauen: »Böse Überraschungen?« »Naja, eine Tante, die nach Jahren plötzlich auftaucht und das Kind zu sich holen will. So etwas will man als Elternteil auf keinen Fall.« »Und was passiert jetzt?«, fragte nun auch Jiyai interessiert nach. »Also wenn es nach mir alleine ginge, dann würden wir ihre Schwester auch zu uns holen. Die Mädchen sind schließlich eine Familie und gehören zusammen. Das muss ich natürlich mit Anja besprechen und die Kinder müssen sich erst einmal wieder kennenlernen.«
»Na, dann hast du ja jetzt reichlich zu tun.«, lachte Sab sichtlich froh um das gelöste Zeitungsrätsel und erhob sich bereit zum Aufbruch. Auch Jiyai war schnell auf den Beinen und wartete darauf, damit Sab oder Thomas platz machten und sie zwischen den Möbeln hindurch schlüpfen könne, aber Mergy hatte eine andere Vorstellungen und schnappte sich das deutlich kleinere Mädchen: »Ich danke dir.« Nach Beendigung der Umarmung gab er neue Anweisungen: »Pilot, sie bringen Kommander Sab umgehend auf die Station zurück. Sie kann hier nicht auf meinem Sofa faulenzen, während andere ihren Job machen. Das ist ein Befehl.« Mit einem schlaksigen Salutieren, welches von Jiyai in gleicher Weise nachgeahmt wurde, trennten sie die beiden Gruppen. Die beiden Hausgäste verschwanden im Nichts und Mergy war mit den neuen, unglaublichen Nachrichten alleine.
Er nutzte die verbleibende Zeit, um mit dem Heim Kontakt aufzunehmen und vereinbarte gleich für den nächsten Tag einen Termin. Es war ein Samstag und niemand hatte unaufschiebbare Termine. Dann musste er auch schon seine Tochter abholen, mit ihr die Lebensmittel einkaufen und zubereiten, damit seine Frau vorschriftsmäßig verwöhnt würde, wie er Daniela erklärte. Das große Geheimnis bewahrte er noch für sich. Das war keine Sache, die man zwischen Arbeit und Mittagessen verkünden konnte und ein paar Stunden würden keinen Unterschied machen.
Als Anja am Abend die Wohnung betrat stand Thomas am großen, bis zum Boden reichenden, Fenster des Wohnbereichs und schaute in den Garten. Daniela saß friedlich in der schwächer werdenden Abendsonne und malte in ihrem neuen Buch. »Das ist doch viel zu kalt auf dem Boden. Sie holt sich ja den Tod.«, griff Anja direkt zum Türhebel, aber Thomas hielt sie zurück und legte seine Hand als Blockade auf ihre. »Sie sitzt auf der Schaumstoffmatte aus dem Freilufttheater. Ein so mieser Vater bin ich nun auch wieder nicht.« »Ich habe nie gesagt du wärst ein mieser Vater.«, war Anja erschrocken von seiner Aussage. Ihre Augen waren voller Unverständnis aufgesprungen. »Nein, ich sage mir das schon den ganzen Tag.« Anja griff ihrem Ehemann an die Schultern und rückte buchstäblich seinen Kopf zurecht. »Du bist kein schlechter Vater und auch kein schlechter Ehemann.«
Sie legte eine Pause ein und holte tief Luft. Eines war ihr klar. Dieser Zweifel wurde auch von ihrem Schmerz genährt. Von dem Schmerz der in den letzten Wochen ihr ständiger Begleiter war. »Es war ein Unfall. Du hast uns gerettet. Du hast den ganzen verdammten Planeten gerettet! Ich kenne niemanden, dem ich eine so selbstlose Tat sonst zutrauen würde.« Er hatte geweint. Seit dem vermeintlichen Tod von Sab hatte sie ihn nicht mehr weinen gesehen. Die Tränen waren bereits getrocknet, aber seine Augen zeugten noch von dem Ereignis. »Wie lange stehst du schon hier?« Sein Kopf drehte sich wieder zum Fenster.
»Ich weiß nicht. Wie spät ist es?« Anja machte einen Schritt zurück und warf einen Blick auf die alte Uhr vom Flohmarkt, die auf ihrem Kaminsims zu neuen Ehren gekommen war. »20 nach 6!« Thomas spielte gedanklich mit den Zahlen, kam aber zu keinem schlüssigen Ergebnis: »Mehr als eine Stunde denke ich.« »Du stehst hier mehr als eine Stunde, beobachtest deine Tochter und zweifelst dennoch an dir? Sie liebt dich. Genauso wie ich es tue und du liebst uns.« »Was ist nur aus der unsicheren Frau geworden, die jeden Pressebericht zu ernst nimmt und immer an sich selbst zweifelt?« »Man wächst mit seinen Aufgaben und du bist eine verdammt große Aufgabe.«, lächelte Anja. Thomas zog seine Frau in eine Umarmung.
»Hast du schon mal etwas so schönes gesehen?«, deutete sein Blick aus dem Fenster. Anja kuschelte sich an ihren Mann und nun sahen beide ihrer Tochter beim Ausmalen der Bilder zu. »Und du hast gesagt der Baum wäre viel zu teuer und zu groß. Selbst wenn er morgen einfach umfällt, hat es sich für dieses Bild gelohnt.« »Ja.«, musste sich Anja eingestehen. Außerdem hatte er den Baum gerettet. Für Thomas unbemerkt verdrehte sie ihre Augen. Im Retten war er wirklich gut. Anstatt dabei zuzusehen, wie er einer Straßenverbreiterung zum Opfer fallen würde, hatte ihr Mann ihn einfach gekauft und von einer Spezialfirma umpflanzen lassen. Jetzt konnte der alte Baum noch weitere hundert Jahre in Frieden in ihrem Garten wachsen und der Familie Merninger Schatten und den Vögeln ein Zuhause bieten.
»Wir sollten sie aber trotzdem hereinholen. Das Licht wird schlecht und ich muss etwas mit euch besprechen.«, wurde Anja ernster. »Gut. Ich auch. Das passt ja.«, verkündete ihr Ehemann und rief die Tochter herbei. Diese zupfte sich die Stiefel noch auf der Terrasse von den Füßen und ließ die Jacke gleich am Vater hängen, während sie ihre Malutensilien sorgsam in ihrem eigenen Bereich des Wohnzimmerregals verstaute. Erst danach schlüpfte sie in die flauschigen Hausschuhe, die neben der Tür parkten. »Da setzt jemand eindeutig Prioritäten.« »Hab ich etwas angestellt?«, fragte Daniela unsicher, als sie ihren Eltern in dem übergroß wirkenden Sessel gegenüber saß. »Keine Ahnung. Hast du?«, fragte Thomas zurück. »Ich glaube nicht.«, antwortete seine Adoptivtochter immer noch recht unsicher. »Papa hat etwas angestellt.«, kam Anja jeder weiteren Diskussion zuvor. »Papa?«, kam fast zeitgleich aus den beiden Kindsköpfen?
»Wir bekommen ein Baby!«, verkündete Anja mit einem Lächeln, welches selbst Thomas noch nie gesehen hatte. Ihr Mann schaute unsicher drein: »Aber ich dachte du könntest nicht?« »Der Ray Team Arzt meinte damals die Chance wäre sehr gering und ich sollte mir keine großen Hoffnungen machen. Aber es hat geklappt. Wir bekommen ein Baby!«, wiederholte sie die Aussage ohne auch nur ansatzweise weniger zu Lächeln. Thomas nahm seine Frau in den Arm und drückte sie deutlich sanfter als üblich an sich: »Das ging jetzt aber schnell.«
»Nicht letzte Nacht du Spinner!«, lachte Anja: »Zehnte Woche.« »Wir bekommen ein Baby!«, war nun auch Thomas angesteckt und beide versanken wieder in einer Umarmung. Erst ein Schniefen holte sie wieder in die Realität zurück. Daniela saß in ihrem Sessel und weinte. »Hey, freust du dich denn gar nicht?« »Muss ich jetzt wieder ins Heim? Ich will nicht wieder ins Heim.« Beide Elternteile sausten ohne das sie sich vorher auch nur ansahen um den Tisch und nahmen das Mädchen in die Mitte.
»Der Weihnachtsmann hat gesagt ihr sucht ein Mädchen weil ihr keine richtigen Kinder kriegen könnt.«, brachte Daniela weinerlich heraus. »Das hat er bestimmt nicht so gesagt. Das klingt mehr nach Oma Merninger. Du bist unser großes Mädchen und das wirst du auch bleiben.«, erklärte Anja. »Für immer.«, fügte Thomas hinzu, schnappte sich das Mädchen und setzte es wieder auf der breiten Couch ab, wo die beiden werdenden Eltern sie in die Mitte nahmen: »Du wirst große Schwester!« »Gut das wir noch ein leeres Zimmer haben.«, erklärte Anja. »Das wird nicht reichen.« Anja sah ihren Mann fragend an.
»Es werden Zwillinge.« »Oh, das wüsste ich ja wohl.«, erklärte Anja vehement. »Ich hatte heute Besuch von zwei Engeln und die haben mir das hier vom Orakel mitgebracht.« Er reichte ihr die bereits passend gefaltete Zeitung. Mit seinem Finger deutete er auf das Mädchen im Bild. Es posierte zusammen mit den anderen Kindern vor einem der gepflanzten Obstbäume. »Das gibt es ja nicht.« »Ich hab bereits angerufen. Kein Zweifel und keine zufällige Ähnlichkeit.« Daniela schaute sich auch das Foto an. »Warum habe ich da kurze Haare? Das sieht doof aus.«
»Also das solltest du deiner Schwester nicht gleich als erstes sagen.«, lachte Thomas. Er nahm das Bild vom Tisch und reichte es ihr. »Der kleinere Engel hat sofort herausgefunden, was mit dem Bild nicht stimmt. Auf einigen Würfeln ist zweimal der gleiche Buchstabe. Das ist kein Spiegel. Das ist eine Tür oder ein Durchgang und da sitzen zwei Mädchen und spielen.« Gebannt sah sich Daniela beide Bilder genauer an. »Erinnerst du dich an den Namen, den ich meiner Tochter immer geben wollte?« »Natürlich. Daneen. So wie die Pressetante vom Ray Team!«, blieb Anja absichtlich distanziert, obwohl sie Daneen bereits persönlich recht gut kannte.
»Ja und dann ist da noch die Sache mit dem Wink des Schicksals.« Anja schaltete schnell. »Ernsthaft? Nein!«, Anja war sprachlos, aber Thomas nickte. »Doch, Danielas Schwester heißt Daneen. Wenn wir ein Mädchen bekommen, werden wir wohl auf Danielle ausweichen müssen. Der Tradition wegen.« Anja lächelte. Er hatte schon beschlossen das Mädchen in der Familie willkommen zu heißen. Darum die neuerlich aufkommenden Zweifel an seiner Vaterrolle. Selbst wenn sie sich gegen ihn stellen würde, was sie in keinster Weise vor hatte, so würde sie Daniela die Schwester und ihrer Schwester Daneen die Chance auf eine gemeinsame Familie und ein Zuhause nehmen. Nur weil ein Bürokraft sie getrennt hatte und nur weil zufällig Daniela damals in dem Heim war und nicht Daneen, hatten beide Kinder bereits jetzt gänzlich verschiedene Leben, die Thomas wieder vereinen wollte.
»Was meinst du? Bereit für die Großfamilie, die du immer wolltest?« Anja, lächelte und drückte Thomas an sich, während Daniela zwischen ihnen eingeklemmt immer noch mit den Bildern in der Hand unsicher dreinschaute. »Und was meint unser großes Mädchen dazu? Sollen wir sie besuchen?« »Kann sie hier mit uns wohnen?«, war Daniela schon einen Schritt weiter. »Natürlich. Aber nur wenn sie das auch will. Wir müssen sie erst richtig kennen lernen und ihr zeigen wie und wo wir wohnen.« »Da wirst du ja noch schneller eine Schwester als erwartet.« Anja drückte das Mädchen noch einmal fest an sich.
»Was machen wir heute?«, fragte May ihren Freund. »Keine Ahnung. Ruhiger Abend auf dem Sofa?« »Du willst nicht ins Kino oder zum Straßenrennen ins Sors?« May wirkte unsicher. Das merkte Nim sofort. »Wir können auch einen Kurzbesuch auf der Erde machen und in einem Café Kuchen essen!«, versuchte May erneut einen Vorschlag zu machen, der so gar nicht ins Bild passte. »Wir essen hier gerade zu Abend und du willst Kuchen essen? – Was ist hier los?« May zuckte leicht und ihre Mundwinkel nahmen deutlich traurigere Züge an. Jetzt war Nim restlos überzeugt. Seine Freundin war selten so hölzern gewesen. Seit den ersten Treffen war sie nicht mehr so steif und verlegen gewesen, auch wenn sie jetzt aktiv versuchte dagegen anzukämpfen, um es zu verbergen. »Raus mit der Sprache und keine Ausflüchte.«
»Es soll dir nicht langweilig mit mir werden.« Jetzt mischte sich auch noch eine Spur Angst in ihre Stimme. »Warum zum Teufel sollte es mir langweilig mit dir werden?« May bemerkte schnell, diese Sache musste jetzt und hier geklärt werden. Sie war nur froh nicht im Sor zu sein, sondern ein kleines Abendessen für Zwei aus dem Wandautomaten gezogen zu haben, um nicht schon an diesem Tag wieder über Kari zu stolpern. Eine derart private Diskussion im Sor wäre sowieso nicht angebracht, auch wenn sie sich vor dem Ergebnis sichtlich fürchtete. »Ich hab mich heute mit Kari unterhalten.« »Und sie hat dir gleich unsere gescheiterte Beziehung aufs Brot geschmiert?«, zog Nim gleich falsche Anschuldigungen aus dem Hut. »Nein, so war das nicht.« May pausierte um die Worte zu ordnen. »Sie wollte nicht mehr mit mir zusammenarbeiten und ich musste wissen warum. Darum hat sie es mir gesagt.«
»Naja, es gab Frauen vor dir. Das war dir doch klar, oder?« »Ich hab mir das natürlich gedacht, aber es war nie wirklich wichtig.« »Und jetzt ist es das plötzlich?« »Kari hat mir erzählt du hättest sie verlassen, weil dich die Beziehung gelangweilt hätte.« Bei Nim fiel der Groschen: »Du glaubst du musst mich unterhalten, damit ich bei dir bleibe?« May blieb stumm, aber genau das war ihr Plan gewesen. Nim stand auf und für einen Moment hatte May Angst er würde das Quartier sofort verlassen, aber er tat es nicht, sondern umrundete den Tisch, setzte sich neben sie und nahm ihre Hand: »Verbiegen ist doch keine Lösung.« »Verbiegen?« »Du willst Dinge tun, die du selbst nicht gerne machst, nur um mir zu gefallen. Das ist falsch. Das bist nicht mehr du, sondern nur die May von der du glaubst ich würde sie lieben.« May schluckte.
Nim drückte sie fest an sich: »Ich liebe dich so wie du bist.« »Und ich bin nicht langweilig?« »Also um das jetzt ein für alle Mal klar zu stellen. Ich bin nicht eines Tages aufgewacht und hab gesagt: "Kari, mir ist langweilig und deshalb mache ich schluss." Das war schon deutlich komplizierter. Unsere Beziehung ist auch für mich etwas ganz neues. Es passt einfach alles. Es ist schön. Jeden Tag.« May lauschte seinen Worten.
Ihr Freund hatte ihr schon so oft gesagt, wie sehr er sie liebte, aber wie er die Beziehung zwischen ihnen definierte, lag im Dunkeln. May musste sich eingestehen, selbst nie hinterfragt zu haben, ob die gemeinsamen Stunden so richtig oder falsch waren. Auch sie fand es schön mit ihm. »Ich finde es auch schön, so wie es ist.«, brachte May leise heraus. Eine Träne entkam ihrem Auge und kullerte die Wange hinunter. Sie hatte aber nicht wirklich eine Chance, denn Nim schleckte sie, mit mehr Geräusch als nötig, einfach weg und lächelte.
»Dann versuche nicht zwanghaft etwas zu verändern, ja?«, wurde Nim noch einmal ernst. May nickte. »Soll ich mit Kari reden?« »Besser nicht. Wir haben uns ganz gut verstanden, aber wir sollten ihr trotzdem aus dem Weg gehen, wenn es möglich ist. Du bist nicht sauer?« »Auf Kari?« »Nein, auf mich.« »Warum sollte ich sauer auf meine Freundin sein?« »Weil ich so doof war und wieder alles falsch gemacht habe.« »Auch wenn es falsch war, war es doch – wenn auch etwas verdreht – ein Kompliment. Du würdest dich für mich verbiegen und das zeigt mir wie sehr du mich liebst.«
»Das tue ich auch.«, lächelte May und beide versanken in einem innigen Kuss. »Was ist jetzt mit dem Rennen?«, fragte May schließlich, als ob die gesamte Unterhaltung vorher nicht stattgefunden hätte. Nim runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen zusammen. »Ich würde wirklich gerne hingehen. Suki und Tori sind auch da. Tori hat wohl einen Platz ergattert.« »Tori fährt mit? Cool. Klar will ich, aber nur wenn du es auch ehrlich willst.« May erhob sich vom Sofa und zog ihren Freund auf die Füße: »Dann mal los, sonst verpassen wir den ganzen Spaß.«
Ein seltsames Signal ruft die Joluh auf der Station. May und ihren Freunden bleibt keine andere Möglichkeit als nach dem Ursprung der Nachricht zu suchen. Ohne es zu ahnen wird dieser Ruf nicht nur ihr Leben für immer verändern.
Texte: Summa Dornigen
Bildmaterialien: Guido Mersmann
Cover: Guido Mersmann
Lektorat: Guido Mersmann
Korrektorat: Guido Mersmann
Satz: Guido Mersmann
Tag der Veröffentlichung: 29.11.2023
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