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Prinzessin May und das Orakel der Zeit

 

III von Prinzessin May Saga

 

Summa Dornigen

 

 

 

Schlagwörter:

Fantasy, Science Fiction

 

Eigentlich läuft in Mays Leben wieder alles richtig gut. Die Station wurde
wieder vollständig aufgebaut, viele neue Gesichter und noch mehr Trubel machen
das Leben in ihrem Schloss täglich zu einem neuen Abenteuer. Doch plötzlich
überschlagen sich die Ereignisse. Die Hinweise des Orakels werden immer
seltsamer, Sab macht eine seltsame Wandlung durch und dann ist da noch dieser
dunkelhäutige Mann, der immer wieder auf der Station auftaucht ...

Prinzessin May und das Orakel der Zeit

Band #3

Geschrieben von Summa Dornigen (summadornigen@geit.de)


Eigentlich läuft in Mays Leben wieder alles richtig gut. Die Station wurde wieder vollständig aufgebaut, viele neue Gesichter und noch mehr Trubel machen das Leben in ihrem Schloss täglich zu einem neuen Abenteuer. Doch plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. Die Hinweise des Orakels werden immer seltsamer, Sab macht eine seltsame Wandlung durch und dann ist da noch dieser dunkelhäutige Mann, der immer wieder auf der Station auftaucht ...

Der Hauch des Drachen

Der Wind pfiff durch die Gassen. Nicht stark, aber es reichte schon, um die alten Häuser zum Klappern zu bringen. Es knarzte von alle Seiten. Im Schein zweier Laternen kreisten einige Insekten. Dumpf war ein »Nein, ich will nicht! Loslassen!« zu hören. Naja, eigentlich war das jetzt nur eine Übersetzung, denn in diesem Dorf sprach man einen Mandarindialekt. Ein Rumpeln war zu hören und ein gleissender Lichtschein drang aus einer offenen Tür und erhellte die Straße ein wenig. »Lasst mich los!«, hörte man jetzt lauter und drei Männer kamen auf die Straße. Dabei zerrten sie zwei junge Mädchen aus dem Haus, die sich nach allen Kräften wehrten.


Die wenigen Fenster die noch nicht verrammelt waren wurden hastig von ihren Bewohnern geschlossen. Niemand hatte ein Interesse daran, sich den Männern in den Weg zu stellen. Warum sollte man auch das eigene Leben riskieren, um diese völlig fremden Kinder zu befreien? Dann, wie aus dem nichts, gab es einen Knall. Die Erde zitterte unter ihren Füßen. Ein markerschütternder Schrei durchbrach den Moment der Stille. Das war kein Mensch gewesen. Das hatten auch die Männer sofort begriffen, die erstarrt waren und sich nur noch hastig umschauten. Sie hielten die Mädchen immer noch mit festem Griff und die Mädchen vergaßen, selbst erschrocken von dem Geräusch, sich weiter zu wehren. Über den Laternen war etwas in den leichten Nebel, der den Sternenhimmel verdunkelte, eingetaucht. Es drückte ihn regelrecht über der Straße nach unten. Die Laterne war nur noch ein kleines Licht hinter einer dicken grauen Wand. Wie ein unbewegliches Glühwürmchen in einer trüben Nacht versuchte sie ihrer Aufgabe nachzukommen den Raum um sich herum zu erhellen. Wieder dieser Schrei. Viel näher und direkt von vorn. Der Drache war gelandet!


Wie durch einen Vorhang schritt ein Mädchen in ihren Weg. Nicht viel älter als die Beiden, die immer noch fest in der Umklammerung ihrer Peiniger hingen. »Ihr lernt es wohl nie, oder?«, maulte das kleine Person in ihrem Lila Outfit. Einer der Typen meinte es wäre eine gute Idee sich dieses Mädchen auch noch zu greifen, aber er kam nicht einmal ansatzweise in ihre Nähe. Ihm wurden die Füße weggerissen und mit dem Kopf nach unten zappelte er schreiend in der Luft. Mit Schrecken sahen die anderen was mit ihrem Kumpan passierte. Sie zogen ihre Waffen und feuerten, aber es passierte nichts. Die einzige Reaktion, die sie dem Mädchen entlocken konnten, war ein schelmisches Grinsen. Mit einen Sprung, der eines Elitesportlers würdig war, preschte die junge Dame zwischen die Männer und erteilte ihnen eine Lektion in Sachen Nahkampf. Die Männer hatten dem Angriff nichts entgegen zu setzen und gingen einer nach dem Anderen zu Boden, ohne das May auch nur einmal den selbigen berührte. Der letzte Typ landete unsanft auf dem brüchigen Stein und die Lage war so schnell geklärt, wie sie entstanden war.


»Das Orakel meldet 'May+8'«, merkte Trish laut an. »Die lässt es ja ordentlich krachen.«, erwiderte Sab. Trish verstand nicht so recht was ihre Kollegin meinte und zog eine Augenbraue hoch. »Ich denke wir brauchen acht zusätzliche Quartiere.« Trish lächelte und wies Jaque an die Räumlichkeiten bewohnbar zu machen. Eine kleine Gruppe Repligens wurde in die noch kahlen Metallaussparungen des äußeren Stationsrings transportiert, um sie mit Kacheln, Böden, Teppich, Holzdecke, Möbeln und den anderen Gegenständen wohnlich zu machen.


Unsicher und Ängstlich schauten die beiden Mädchen ihre Retterin an. »Hi, ich bin May. Sind da noch mehr drin?«, erkundigte sich May. Sie war damals auch nicht alleine in dem Gebäude gefangen. Sie war nur die Letzte gewesen, die man in jener Nacht abgeholt hatte. Die Mädchen nickten. »Kommt mit, wir holen sie!« Verwirrt und voller Angst sahen die Beiden May hinterher, die direkt und ohne Furcht auf die Tür zu marschierte. Das hölzerne Portal war wieder von Innen verschlossen worden. Es war noch jemand im Gebäude. Der kleine Kommander riss die Tür einfach aus dem Rahmen und warf es seitlich auf den Weg. Im Inneren fand sie einen alten Bekannten wieder. Es war der Mann, der sie damals auf der Straße eingefangen und hier eingesperrt hatte.


»Dich kenne ich doch!«, machte das böse drein blickende Mädchen in ihrem modischen Kleidchen keinen Hehl daraus. Sie wußte genau, wer er war und obwohl schon einige Jahre vergangen und sie sich mehr verändert hatte als er selbst, schien er zu ahnen, wer da vor ihm stand. Der Ray Team Schrei des Transporters hatte wohl auch bei ihm alte Erinnerungen geweckt. May schleuderte ihn direkt an sich vorbei nach hinten aus dem Gebäude auf die Straße, wo er nur wenige Meter neben den anderen Typen zum Liegen kam.


Dann zermalmte sie die massive Tür, hinter der auch sie damals schon gefangen war. Das Holz splitterte zur Seite. Als hätte jemand einen Sack Sägemehl aufgeschüttet und mit einem Ventilator verblasen, verteilten sich die Reste in dem schäbigen Flur. Dahinter fand sie neun weitere Mädchen, die zitternd in der Ecke kauerten. Der Raum hatte sich nicht zum Besseren verändert. Schmierige Wände und Dreck auf dem Boden waren immer noch das zentrale Motiv. »Ich bin May. Ihr seit jetzt in Sicherheit.«, erklärte der Kommander, aber die Mädchen hatten zu viel Angst, um sich zu bewegen. Sie kauerten zitternd auf dem Boden und zogen die lumpenartigen ekligen Decken, die schon damals da gelegen hatten, schützend vor sich.


Erst als die beiden schon geretteten Mädchen um die Ecke schauten, wurde ihnen klar, May meinte es ernst. »Ich kann euch hinbringen wohin ihr wollt!«, erklärte der Kommander während sie mit ihren Kontaktlinsen den Transporter fauchend vor dem Haus parkte. »Kommt mit!« Die Mädchen blieben eng zusammen und schauten vorsichtig in den offenen Flur. Es dauerte eine Weile, bis die Kinder aus dem Haus kamen. »Sucht euch einen Platz aus.«, erklärte May auf den Transporter deutend und die Mädchen folgten ihrem Wunsch schon nicht mehr ganz so zögerlich.


Hier war weiteres Vertrauen nötig, um die Situation weiter zu entschärfen. Mit ihren Kräften prüfte sie ob das Gebäude leer war. »Das wird euch gefallen.«, gab sie zu verstehen und streckte ihre Arme aus. Abgesehen von leisem und unmerklichem Knarzen und Rumpeln passierte erst einmal nichts. Dann knackte es laut und immer lauter, bis das Getöse unüberhörbar war. Die internen Träger des Gebäudes zerbrachen krachend wie Streichhölzer. Langsam und wie in Zeitlupe wurde das Haus zusammengedrückt und zerbarst in Millionen und Abermillionen von kleinen handlichen Einzelteilen. Am Ende war nur noch ein großer Haufen Holz über, der nur von wenigen anderen Materialien durchsetzt war. »So gefällt mir das schon viel besser!«, verkündete May mit einem genüsslichen Lächeln. Diese Aktion war auch durch ihre persönlichen Rachegelüsten genährt worden. Sie klopfte sich die Hände aneinander ab als hätte sie das Haus mit der bloßen Hand zerlegt und stieg ebenfalls in den Transporter ein.


Diesmal wollte sie die Peiniger aber nicht entkommen lassen. Auf die Polizei konnte sie hier nicht zählen, die war, wie sie aus eigener Erfahrung wußte, gekauft und würde keine Hilfe sein. Mit den Transportringen holte sie die vier Monster unbemerkt an Bord. Sie wurden aber nicht wieder zusammengesetzt, sondern blieben zerlegt in den Tiefen der Maschine. Der Pilot flog langsam und ohne Eile ab, um ihren Passagieren keine weitere Angst zu machen. Die waren damit beschäftigt ihre bisherige kleine Welt von oben zu betrachten, obwohl davon nur ein paar kleiner werdende Lichter zu sehen waren. May suchte ein wenig und wurde fündig. Eine abgelegene amerikanische Militärbasis.


Viele tausend Kilometer entfernt, aber für den Zweck geeignet. Mitten in diese Basis transportierte sie, direkt aus dem Tarnflug heraus, die Männer, die schon bald ein großes Problem haben würden, denn das Eindringen in eine Militärbasis war kein Kavaliersdelikt und weil sie auch noch Waffen dabei hatten, war ihre Situation noch einmal deutlich schlimmer. Die Mädchen saßen ruhig auf ihren Bänken und bekamen von der Aktion genauso wenig mit, wie von der Tatsache ihr Heimatland bereits hinter sich gelassen zu haben.


»Also wen von euch soll ich als erstes nach Hause bringen?« Eins der Mädchen hob die Hand und May setzte nach ihren Angaben den Kurs. Es war nicht ganz einfach, aber der Computer konnte die beschriebenen Orte mit den genannten Namen verbinden und eine Position ermitteln. Immer wenn eins der Mädchen herzlich in die Arme der Eltern geschlossen wurde, wurde der Kommander wieder an den ursprünglichen Sinn ihrer Aufgabe erinnert. Sie war auch einmal so verloren gewesen und hatte dank Mergy ihren Weg in ein aufregendes neues Leben gefunden. Jetzt war sie es selbst, die diese Möglichkeit auf ein neues Leben verschenkte. Schließlich waren noch acht Mädchen an Bord, die laut eigener Aussage kein Zuhause mehr hatten. Ihre Geschichten waren sicherlich ähnlich wie die von May.


Die Kinder hatten ihre Eltern verloren, ihre Eltern kümmerten sich nicht um sie oder hatten ihre Kinder einfach für ein wenig Geld wie Vieh verkauft. Wie auch immer, es endete für alle gleich, mit eventuellem Umweg über ein dreckiges Leben auf der Straße, bei diesen Männern in der kleinen Kammer. »Wollt ihr mit zu mir nach Hause kommen?«, fragte May geradeaus. Die Mädchen blickten sich gegenseitig an und May erzählte ihre Geschichte, die auch in dieser kleinen Gasse angefangen hatte und in einer Welt voller Wunder endete. Aufmerksam lauschten die Mädchen ihrer Kurzzusammenfassung. Abschließend wiederholte sie ihr Angebot. Sie könne sie jetzt einfach hier abzusetzen oder sie mit zu sich nehmen und wenn es ihnen dort nicht gefallen würde, könnten sie ja jederzeit wieder gehen. Mittlerweile hatte sich ein leichtes Vertrauen in das nicht viel älter aussehende Mädchen mit den beiden Gesichtsfarben gebildet und so setzte May direkt Kurs auf die Station.


Das sie die Erde verlassen würden hatte May bewusst nicht erwähnt, um die Kinder nicht weiter zu verwirren. Umso größer war die Überraschung, als plötzlich diese riesige blaue Kugel hinter ihnen lag. »Da vorne ist unser Ziel! Mein Zuhause.« Staunend saßen die Mädchen und schauten zu wie das schneeweiße Schloss immer größer wurde, bis sie schließlich auf die mit Lichtern fröhlich winkende Landebucht zuflogen, die direkt vor ihnen lag. May erinnerte sich noch zu gut an ihre ersten Schritte auf der Station und auch das Mergy gerne einige Dinge zu erklären vergaß, weil sie für ihn selbstverständlich waren oder weil er einfach nur zu schusselig war. Diesen Fehler wollte sie selbst bei ihren Gästen nicht machen.


Der kleine Kommander schaltete den Transporter ab, öffnete die Tür und hopste als erste aus dem Gefährt: »Willkommen auf Ray Team One!« Zögerlich steckten die Acht ihre Köpfe aus dem Transporter. In der gewaltigen Halle mit den noch gewaltigeren Regalen voller Transporter und Mantas fühlten sie sich nur winzig. Erschrocken sprangen alle aufeinander zu, als der Hallenkran ihr Reisegefährt mit einem Lichtstrahl schnappte und in eine der Boxen schob.


»Keine Angst. Ihr seit hier in Sicherheit. Niemand wird euch etwas tun. Naja, bis auf den Doc vielleicht.«, grinste May und öffnete das große Eingangstor in den Gang. Langsam und unsicher folgten die Mädchen ihrer Retterin. Sie blieben immer noch dicht zusammen, um sich gegenseitig Schutz zu geben, obwohl sie sich vor ihrem Treffen in dem schäbigen Raum sicherlich nicht einmal gekannt haben. Ihre Schicksale waren durch diesen Raum verknotet worden. »Das war einer unserer Hangars. Da sind unsere Fluggeräte geparkt.«, erklärte May mit einfachen Worten: »Jetzt fahren wir mit dem Lift auf die Promenade. Ihr habt doch sicher Hunger, oder?« Mehr als ein Nicken war nicht zu erwarten, aber mit dieser Aussage hatte sie erneut einige Pluspunkte gesammelt.


Als sich der Lift auf der Promenade öffnete war das Staunen groß. Ein riesiger Baum stand mitten auf dem Deck zwischen den Treppen und reichte über beide Stockwerke hinweg bis oben in die Kuppel. Er war voller bunter Lichter und Sterne. Dazu Engel, Kinder mit Schlitten, Weihnachtsmänner und anderer Schmuck aus Holz. Als May ihn heute Morgen gesehen hatte, war er noch komplett grün und frisch repliziert gewesen. Eigentlich konnte sie selbst mit diesem Weihnachtsbrauch nicht so viel anfangen, aber schön anzusehen war er, soviel war klar. Die diesjährige Schmücktruppe hatte sich ordentlich was einfallen lassen.


War der Baum noch gefahrlos und im schlimmsten Fall seltsam anzusehen, so war Sor das komplette Gegenteil. Zumindest wenn man ihn nie vorher gesehen hatte. Die Kinder versteckten sich hinter May, was auf Grund ihrer Größe und der Anzahl der zu versteckenden Mädchen natürlich nicht sonderlich gut funktionieren konnte. »Na, wer hat denn da Angst vor mir?«, versuchte Sor das Eis zu brechen, aber ohne Erfolg. »Das ist Sor, er ist einer meiner ältesten Freunde hier auf der Station. Würdest du bitte?«, fragte May in freundschaftlichen Ton. »Ungern!«


»Bitte, Sor!« »Na gut, aber nur dieses eine Mal.« »Sor ist ein Bild aus Luft. Er ist kein Monster. Schaut her.« May nahm ihre Hand und bewegte sie durch Sor hindurch, der im Umkreis der Stelle zu wabern begann und sich hinter der Hand recht schnell wieder stabilisierte. »Seht ihr. Das hier ist Sors Laden. Hier kann man essen, Spiele spielen und wenn man mit ihm befreundet ist und lieb fragt, darf man hier sogar mal eine Party feiern.«, erklärte May aus ihrem Erfahrungsschatz: »Schaut, dahinten ist er auch und bringt Essen an die Tische.« »Ich würde vorschlagen ihr sucht euch einen Tisch und ich komme gleich zu euch.« Sor grinste wieder so herrlich unnatürlich und marschierte mit seinen riesigen Füßen wieder hinter seinen Tresen direkt neben dem Eingang.


»Kommt setzen wir uns!«, wies May sanft aber bestimmend an und die Acht folgten immer noch zögerlich. »Alle Menschen hier haben ähnliches erlebt wie wir. Sie sind genau wie wir hier gelandet und haben ihre eigene schlimme Geschichte.«, setzte May ihre kleine Lektion fort. Die Mädchen setzten sich an den Platz und schauten in die Runde. Überall saßen Leute und unterhielten sich oder spielten fröhlich hinten an den Automaten, lachten und hatten Spaß. Traurig wirkte hier kaum jemand. May musste schmunzeln und an ihre ersten Tage denken. Alles war so unglaublich und neu gewesen. Mittlerweile war es ihr Zuhause und alles gewissermaßen eine Selbstverständlichkeit geworden, obwohl sie genau wußte, dass sie sich ihren Platz im Team selbst hart erarbeitet hatte.


Sor kam mit einem riesigen Porzellantopf gefüllt mit Suppe an den Tisch und stellte ihn ab: »Einmal Willkommenssuppe für alle! Ich hoffe es ist recht so?« »Sor, du bist der Beste!« »Ja, das bin ich! Das sollte ich mal auf mein T-Shirt schreiben!«, lobte auch Sor sich selbst. Sein T-Shirt begann zu verschwimmen und wo eben noch »Ich Chef, Du Gast!« stand, erschien nun ein »Sor ist der Beste!« Mit seinem unbeschreiblichen und überbreiten Grinsen wanderte er zurück zum Tresen, um Schalen und Stäbchen zu holen. Sor schenkte, deutlich bemüht die neuen Gäste nicht zu verschrecken, unter den Augen der immer noch misstrauisch dreinschauenden Neuzugänge, die Suppe ein und verteilte eine Schale nach der anderen, wünschte einen guten Appetit und verschwand tapsend genauso wie er angekommen war.


Erwartungsgemäß hatten die Mädchen Hunger und schaufelten die Suppe in ihre Münder, als würde es ihre letzte Mahlzeit werden. »Nicht so hastig. Den Fehler hab ich damals auch gemacht. Wenn ihr Hunger habt, dann kommt ihr einfach her und Sor macht euch wieder etwas zu essen. So viel ihr wollt.« May gönnte sich auch eine Schale und bemerkte beim Einschenken Tin, die ziemlich weggetreten an einem der Zweiertische saß und in die Gegend schaute. Schnell erkannte sie die Blickrichtung von Tin. Sie schaute nicht einfach nur ins Leere, sondern zu Mergy, der auf der anderen Seite des Lokals ebenfalls lustlos in seinem Abendessen stocherte. Er sah wirklich traurig aus. Nach der Rettung von Sab war er für einige Monate als Thomas auf der Erde geblieben und hatte viel Zeit mit Anja verbracht. Er wurde dort, wie seine Freundin auch, als Held gefeiert. Beide waren in vielen Ländern und in unzähligen Fernsehsendungen aufgetreten und obwohl er die Aufmerksamkeit nicht sehr mochte, war er glücklich diese Augenblicke gemeinsam zu mit Anja erleben zu dürfen.


Die Menschen da unten auf dem Planeten waren schon seltsam. Die ersten Wochen nach der versuchten Invasion waren voll von Berichten über die Außerirdischen und der Rettung durch das Ray Team. Die Regierungen waren so in Panik, das selbst Länder, die sich sonst komplett von anderen abgrenzten und in denen die Menschen nicht wirklich frei waren, ihre Regeln änderten, um dazu zu gehören. Staaten die vorher noch von einer Diktatur regiert wurden, waren in kurzer Zeit demokratisch geworden. Das Ray Team hatte die Menschen in diesen Ländern nicht nur vor der Vernichtung bewahrt, sondern den Bewohnern auch eine neue, bisher unbekannte, Freiheit geschenkt. Die Regierungen zogen zum ersten Mal an einem Strang im Kampf gegen die neue Bedrohung aus dem All. Alle Länder auf dem Planeten waren zum ersten Mal in der langen Geschichte der Menschheit einer Meinung. Ja selbst der Begriff Menschheit bekam durch die jüngsten Ereignisse endlich die Bedeutung, die ihm von je her zu stand: »Alle Menschen!«


Während die Regierungen sich um die Weltpolitik und Sicherheit kümmerten, waren die meisten der anderen Menschen wieder in ihrem normalen Leben angekommen. Wenn man die unzähligen neuen T-Shirts und Autoaufkleber mal vernachlässigte, die diese Invasion hervor gebracht hatte, dann war der Trubel in den Städten wie vorher. Einzig die Frage nach außerirdischem Leben, war zusammen mit der Tatsache, dass das in der langjährigen Geschichte des Films geschaffene Feindbild der bösen Invasoren korrekt war, beantwortet worden. Das Ray Team bekam Angebote für Werbung und so machte Thomas zusammen mit einigen anderen Piloten im Fernsehen Werbung für Frühstücksflocken und andere Produkte.


Bei Anja war es ähnlich. Ja, selbst als Mergy machte Thomas Werbung und bereicherte damit die Kasse des Teams. Er wußte genau was ihre Gesichter selbst mit Sonnenbrille jetzt Wert waren und so verdienten sie in kürzester Zeit einige Millionen Euro und es würden noch mehr werden, wenn weitere Spots gedreht werden sollten. Mergy meinte das man das Geld gebrauchen würde, wenn die Piloten zu alt wären, um zu arbeiten. Es wäre, wenn man es ordentlich anlegen würde, eine gute Altersvorsorge.


May alleine bekam Angebote in Millionenhöhe, wenn sie nur ein oder zwei Sätze vor laufender Kamera sagen würde. Es gab keinen Zweifel, ihr Gesicht war, egal ob zweifarbig oder nicht, das Bekannteste von allen. May aber gefiel es nicht und sie lehnte immer ab. Die Sachen, die sie da bewerben sollte, waren entweder nicht Gesund, oder ihr komplett fremd. Sie wollte nicht im Fernsehen für Dinge einstehen, die sie selbst nicht mochte oder nie nutzen würde. Das wäre wie lügen und das viele Lügen bereitete ihr schon jetzt schlaflose Nächte. Mergy verstand ihre Grunde und wollte sie auch nicht zu etwas drängen, was sie nicht wollte.


Als Thomas hatte Mergy von seinem Werbegeld ein altes Haus in seinem Dorf gekauft und es, für die anderen Anwohner unbemerkt, innerhalb einiger Wochen mit den Repligens von Grund auf renoviert, umgebaut und modernisiert. Er hatte damals gesagt, Frauen würden sich in erster Linie Sicherheit wünschen und genau einen Teil, dieser Sicherheit erschuf er für Anja und sich. Es waren glückliche Monate, aber sie waren nicht von langer Dauer. Nachdem er alles geregelt hatte und auch seine Termine, als Thomas sowie auch als Mergy, überschaubarer wurden, griff Trish mit der Zustimmung der anderen Kommander durch. Der Kommander hatte zugestimmt jede Strafe für sein Fehlverhalten anzunehmen, aber damit hatte selbst er nicht gerechnet und es traf ihn hart. Für drei Monate verboten sie ihm jeden Kontakt zu Anja. Sollte er sich nicht daran halten, würden sie die Strafe verlängern und verschärfen.


Jetzt nach zwei Monaten waren sie nun mitten in der Weihnachtzeit und traf es ihn besonders hart. Es war das erste Weihnachten mit seiner Freundin und er würde sie nicht einmal anrufen dürfen. Selbst für May, der Weihnachten nicht so viel bedeutete, die aber genau wußte, was für eine Bedeutung dieses Fest der Liebe für Mergy hatte, wäre es eine Strafe von Nim auch nur ein paar Tage getrennt sein zu müssen. Ihre Beziehung zu Nim lief super und sie liebte ihn von Tag zu Tag mehr. Umso schwerer fiel es ihr das Superkräftegeheimnis für sich zu behalten. Schon einige Male hatte sie sich vorgenommen ihm die Wahrheit zu sagen, aber entweder kam etwas dazwischen oder sie verließ der Mut. Die Last dieses Geheimnisses lag dem kleinen Kommander schwer auf der Seele und hatte May schon so manche unruhige Nacht beschert.


Die Frage jetzt war allerdings warum Tin so traurig aussah? Ja, May fand es auch nicht gut ihn so traurig zu sehen und die Härte der Strafe war angesichts des Ergebnisses aus ihrer Sicht auch nicht angemessen, aber selbst Sab stimmte der Bestrafung zu. »Sab schickt mich. Ich soll deine Gruppe übernehmen!«, unterbrach Suki Mays Gedankenfluss und zog sofort die Blicke der neuen Gäste auf sich. May wunderte sich gar nicht weiter woher Sab das wußte. Sie war ein Kontrollfreak und ein Informationsmagnet. »Leute, darf ich euch meine Freundin Suki vorstellen. Sie wird euch nach dem Essen zum Doc bringen und dann eure Wohnungen zeigen. Sollte es noch ein Problem oder Fragen geben, könnt ihr euch jederzeit an mich wenden, Ok?« Die Mädchen nickten zwar, waren aber immer noch nicht hundertprozentig überzeugt. May hatte bisher in allem Wort gehalten und so langsam kamen sie auf den Trichter, hier das wirklich große Los gezogen zu haben. May setzte sich, mit einer frisch aufgefüllten Suppenschale, zu Tin an den Tisch: »Was gibt es zu sehen?«


Es musste Tin sein, denn Trish war vorhin noch auf dem Kommandodeck und hatte den Flugbetrieb geleitet. Sie hätte niemals in der kurzen Zeit ihr Essen so verschlungen, um dann nur noch die letzten Reste sinnlos umher zu schieben. »Er tut mir leid. Es ist Weihnachten. Das ist gemein.« Die Stimme von Tin klang seltsam. So hatte sie noch nie geklungen. Dazu dieser Blick. Das konnte nicht sein? Oder doch? May beschloss die Sache offensiv anzugehen. »Da hinten sitzt mehr als nur ein Freund und Kollege, oder?« Erstmals wendete sich Tin von Mergy ab: »Was?« Ihr Blick verriet: May hatte ins Schwarze getroffen. »Also doch. Du bist verliebt in ihn.«, brachte May heraus, während sich Tin unsicher umsah, ob noch jemand diese Worte vernommen hatte. »Hast du es ihm je gesagt?«, bohrte May weiter nach. »Nein, ist ja jetzt auch zwecklos, wo er seine Traumfrau gefunden hat. Ich will mich da nicht dazwischen drängen.«, erklärte Tin.


May wurde jetzt einiges klar. Einige Male hatte Mergy Tin ziemlich hart ins Gebet genommen und sie hatte ihm immer übermäßig schnell verziehen oder seine barsche Kritik einfach eingesteckt. Darauf, dass hier tiefe Gefühle im Spiel waren, wäre sie im Leben nicht gekommen. »Und du willst dich nicht zu ihm setzen, weil du ihn nicht einfach so in den Arm nehmen kannst ohne deine Gefühle versehentlich zu aktivieren?«, schloss May ihrerseits auf die getrennten Tische: »Ich werde ihn für dich mit drücken.« May marschierte quer durch den Saal und zwischen den Piloten und Kadetten, die den Tag ausklingen ließen, hindurch, direkt an Mergys Tisch, ohne das Tin noch einen Einwand oder Zuspruch abgeben konnte. »Hey.«, setzte sie sich, ohne auch nur zu Fragen, an seinen Tisch. »Na, wie ich sehe wolltest du nicht mehr das alleinige Stationsküken sein.«, tat Mergy so als wäre nichts.


Mit dem Ausdrücken seiner Gefühle hatte er immer schon so seine Probleme gehabt und jetzt versuchte er ganz offensichtlich erneut davon abzulenken. Das war May sofort klar und so ging sie erst gar nicht groß auf das Thema ein: »Es bot sich an.« »Morgen ist eurer großer Tag, oder? Wo geht es hin?«, fragte Mergy weiter und wechselte abermals das Thema. »Ja, wir wollen nach New York. Die Stadt erkunden und einfach einmal nur für uns sein und Spaß haben.«, strahlte May, merkte aber auch, wie gut die Art seiner Ablenkungstaktik mal wieder funktionierte. Mergy griff in die Seitentasche seiner täglich neu replizierten, aber dennoch total verschlissen wirkenden, blauen Weste und zog einige Geldscheine heraus: »Die Stadt muss an Weihnachten toll aussehen. Ich denke das Geld hier könnte den Spaßfaktor noch etwas erhöhen.«


»Hat Jaque die Scheine gemacht? Ich dachte Geld kann man nicht replizieren?«, fragte May unsicher nach. »Naja, man kann es schon. Das wäre sogar ziemlich einfach und wenn nicht zufällig jemand den passenden zweiten Schein mit der gleichen Nummer findet, würde man die Fälschungen nicht einmal bemerken. Damit würden wir aber der Wirtschaft schaden und die Finanzmärkte beeinflussen. Deshalb versuchen wir ja auch die Labore offiziell zu vermieten und uns eine echte und dauerhafte Einnahmequelle zu verschaffen.«, erklärte Mergy und war nun augenscheinlich selbst von seiner Situation abgelenkt. »Und woher kommt dann das Geld?« »Nur mit einem ordentlichen Frühstück ist man immer darauf vorbereitet die Welt zu retten!«, antwortete Mergy mit überspitzter Tonlage und spielte damit auf einen der Werbespots an, mit dem er das Geld verdient hatte. May lächelte, stand auf und umarmte ihn lange und ausgiebig: »Danke und lass den Kopf nicht hängen, ok?« Mergy nickte. Er verstand die tröstende Geste und wünschte ihr viel Spaß beim Ausflug.


Der kleine Kommander schaute noch einmal am Tisch mit Suki und den Neulingen vorbei. Suki hatte die Lage im Griff und erzählte den neuen Kadetten von ihren Abenteuern mit dem Ray Team. May ermahnte nochmals den Doc aufzusuchen und die Quartiere zu verteilen. Als May auf der Promenade die Lifte ansteuerte, sah sie für einen kurzen Moment einen großen dunkelhäutigen Mann in den Lift steigen. Den hatte sie noch nie auf der Station gesehen und für einen der anderen Neulinge war er definitiv zu alt. Sie beschloss sich erst einmal nicht darum zu kümmern. Jaque würde ihn schon aufhalten, wenn er nicht hier sein dürfte. Als May im Kommandodeck ankam saßen Sab und Trish wie immer auf ihren Posten. »Kann ich mal mit euch reden?«, fragte May ohne Umschweife: »Es geht um Mergy.«


»Was ist mit ihm?« »Es ist Weihnachten. Ihr wisst doch wie viel es ihm bedeutet. Jahrelang hat er sich vorgestellt mit Anja Weihnachten zu verbringen und jetzt verbieten wir ihm das?«, erklärte May. »Er hat seine Strafe verdient. Die letzten drei Wochen hält er auch noch durch.«, blieb selbst Trish hart. »Und warum bestrafen wir Anja?«, fragte May hartnäckig weiter: »Für sie ist es auch das erste Weihnachten mit Mergy. Nicht nur das. Wie soll sie ihren Freunden und ihrer Familie an diesen besonderen Tagen die Abwesenheit von Mergy erklären? Es wird wohl kaum jemand an Weihnachten einen Werbespot drehen.«


May drückte auf den Knopf neben dem Lift und verschwand ohne ein weiteres Wort ihrer Freundinnen entgegen zu nehmen, so schnell wie sie erschienen war. Sie ließ zwei nachdenklich dreinschauende Kommander auf dem Deck zurück. »Sie hat recht.«, war es ausgerechnet Sab, die als erste das Wort ergriff: »Wir bestrafen Anja auch und die Sache mit seiner Abwesenheit macht es den Beiden bestimmt auch nicht einfacher.« »Was schlägst du vor?« »Wir lassen ihn bis zum 23. zappeln und teilen es ihm dann mit. Er darf über die Feiertage auf die Erde. Diese drei Tage hängen wir hinten an seine Strafe an. Es ist schließlich Weihnachten.« Trish überlegte und knabberte immer noch an den Worten von May. Ohne es zu wollen hatten sie Anja auch bestraft. Am Meisten ärgerte sich Trish über sich selbst. Die Strafe war so perfekt für Mergy gewesen, aber diesen Nebeneffekt hatte sie schlicht übersehen.

Prinzessin der Lüfte

Es war der 23. Dezember um 10 Uhr. Lange hatte es in der Nacht gedauert, aber May war schließlich doch noch eingeschlafen und relativ ausgeruht, als sie ihr Quartier verließ und wie selbstverständlich am Lift vorbei zu Nim ging. Ihr Freund drückte die Tür von innen auf und beide gaben sich erst einmal und ohne auch nur ein Wort zu sprechen einen innigen Kuss. Das war schon so etwas wie ein Ritual, an das sich beide ohne Absprache hielten. »Wir müssen dringend etwas Essen, oder ich schaffe es nicht mal bis zum Hangardeck.«, verkündete May, die noch gestern erklärt hatte in New York in einem Café frühstücken zu wollen. Dabei hatte sie komplett vergessen, dass es eine Zeitverschiebung zwischen der Station und New York gab. Nim nahm seine Freundin in den Arm und zog sie behutsam in den Gang.


»Schön langsam einen Schritt nach dem Anderen.«, witzelte er als würde sie jeden Moment zu Staub zerfallen. May boxte ihm sanft in die Seite und meinte nur sie wäre kein rohes Ei. Es war so schön, einfach nur mit ihm zusammen zu sein. Er war immer so direkt und ehrlich. Ja ehrlich. Wieder kamen die Gefühle der Schuld in ihr hoch. Heute würde sie es ihm sagen. Ganz bestimmt. Aber erst nach dem Ausflug. Nichts auf der Welt sollte diesen Ausflug vermiesen. »Hey, du warst ja doch bei Sash!«, lächelte May als sie ihm durch die frisch geschnittenen Haare strich. »Meine Freundin findet es besser so!« »Da haben wir ja etwas gemeinsam.«, feikste der kleine Kommander zurück und strich noch einmal durch seine gekürzte Haarpracht.


Auf dem Weg zur Promenade kam ihnen Suki mit der kleinen Neulingstruppe noch im Quartierring entgegen. »Alles klar bei euch?«, fragte May die Neulinge direkt. Fast zeitgleich ertönte ein »Ja, Kommander May« aus ihren Mündern. »Wow, ihr habt euch ja wirklich schon ein wenig eingelebt.« Suki verkündete, sie würden gerade die große Stationstour machen. »Da habt ihr Glück. Ich habe nie eine Tour bekommen und musste alles selber finden. Viel Spaß!« »Danke, Kommander May!«, antworteten die acht Neulinge fast gleichzeitig. Suki machte sich einen Spaß und salutierte sogar.


Im Sor nahm das Paar platz und frühstückte. Nicht zu viel, denn schließlich wollten sie noch ausgiebig die Stadt genießen. Sie unterhielten sich zum wiederholten Male über die Dinge, die sie sehen wollten. May wollte unbedingt die Freiheitsstatue und die Brooklyn Bridge anschauen, während Nim das Rockefeller Center und das Empire State Building interessierte. Mitten in ihrer Unterhaltung tauchte wieder dieser schwarze Mann auf, der ungefähr die Größe von Mergy hatte, aber viel muskulöser wirkte. Er verschwand in der Krankenstation, jedenfalls nahmen sie das an, da sie die Tür aus dem Inneren des Sors ja nicht sehen konnten.


»Wer ist das?«, fragte May schließlich. »Ich dachte du wüßtest das?«, antwortete Nim: »Den haben wir schon öfter gesehen, aber niemand weiß wer das ist und woher er kommt.« »Das finde ich schon heraus, aber nicht heute. Heute ist unser freier Tag!« May war sichtlich ausgelassen und fröhlich. Sie freute sich auf den kommenden Tag, was auch Nim spürte, der, auch wenn er es nie so offen zeigte, ziemlich stolz auf seine Freundin war. Nach dem Frühstück verzogen sich beide erstmal wieder in Mays Quartier, um die U-Bahnen und anderen Transportwege zu studieren. Sie wollten den Tag normal verbringen und nicht mit einem Kampfgleiter oder Transporter umherfliegen. Es sollte ein normaler Urlaubstag werden, wie ihn jeder Mensch einmal hat. Der Abflug war für 14 Uhr angesetzt. Vorher war, auch wenn die Stadt, wie es heißt, niemals schläft, sowieso nichts los in New York.


Dann wurde es langsam Zeit. Sab hatte einen Piloten extra für sie später eingeteilt und so würden sie direkt über dem Zielort abgesetzt. May prüfte noch einmal ihr Aussehen. Es war ungewohnt. Jeanshose, dicker Rollkragenpulli und helle Fellstiefel, die ihr fast bis zum Knie reichten. Sie puderte sich die angeschlagene Hälfte des Gesichts und auch den Unterarm mit einer hautfarbenen Schminke. Es war ungewohnt sich zu schminken. May hatte sich extra von Suki und Katie Schminktipps geben lassen und auch schon einige Male mit ihnen für diesen Tag geübt. Es sollte schließlich alles perfekt sein. Da saß wieder die kleine Prinzessin in ihrem Bad und sah wieder genauso aus wie vor dem Kontakt mit dem Waffenfeuer der Draken. Ihr Gesicht schien wieder makellos zu sein. Nim hatte nie etwas zu ihren Verletzungen gesagt, aber er hatte dennoch immer genau darauf geachtet, damit May ihre Sitzungen auch einhielt, weil er genau wußte, May würde ihr eigener Anblick mehr stören, als ihn selbst.


Eigentlich sah ihr Gesicht schon fast wieder normal aus. Der Doc meinte die Haut wäre schon wieder zu 99% regeneriert, aber die Pigmentierung der Zellen wäre noch nicht wieder normal. So wirkte sie halb angebräunt und halb blass. Wäre da nicht dieser doofe Tank in dem sie seit Monaten ihre Nächte verbringen musste, wäre ihr dieser optische Makel schon gar nicht mehr aufgefallen. Dazu setzte sie wieder die schwarze Brille auf, die ihre Augen einfasste und die sie schon öfter für ähnliche Auftritte genutzt hatte. »Nimmst du mich so mit?«, fragte sie Nim direkt, der schon in kompletter Winterbekleidung vor ihr stand, als sie aus dem Schlafzimmer kam.


»Wow, mit der Brille wirkst du ja noch schlauer.«, kam einzig eine Antwort bezüglich ihrer unerwarteten Gesichtsbekleidung. Nim nahm sich Zeit und betrachtete sein Mädchen genau. May spielte mit und drehte sich einige Male vor ihm. »Und?« Seine Freundin war ungeduldig und wollte unbedingt ein Kompliment hören. Nim zog sie am vorderen Teil des Mantels an sich heran und drückte ihr einen dicken Kuss auf: »Wunderschön. Aber die Brille finde ich am Besten!« May musste zugeben, die Brille verlieh, obwohl sie keinerlei Funktion hatte, ihrem Gesicht einen Rahmen, eine Art Hingucker.


Im Hangardeck wartete schon Tory auf seine beiden Passagiere. May und Nim setzten sich auf die Rückbank und der Pilot spielte den Taxifahrer und setzte sie im Süden von Manhattan ab. May kaufte zwei Tickets für die Freiheitsstatue und beide warteten auf die erste Fähre des Tages. Sie waren dabei nicht alleine. Viele Touristen wollten ebenfalls mit dem ersten Schiff zur Insel. Das Warten selbst machte den Beiden nichts aus. Sie waren jetzt eben normale Menschen vom Stamm der Touristen und da gehörte nun mal auch Warten dazu. Nim überraschte May als er plötzlich eine Kamera aus der Tasche zauberte und damit begann sich und seine Freundin zu fotografieren. Sie posierten abwechselnd vor dem geschichtsträchtigen Hintergrund, machten aber auch einige Faxen. So wurde schon die Warterei zu einem Spaß. Schließlich war es endlich soweit. Die Sicherheitsprüfung war dank der Ausweise, die Jaque repliziert hatte, kein Problem und die Implantate in ihren Körpern verschwanden bei der Abtastung hinter ihrem Körperschild.


Nim hielt alles genau mit der Kamera fest. Die Kontrollen, die Fähre und die Überfahrt selbst. Alles wurde von beiden detailliert im Bild festgehalten. Schließlich waren sie auf der Insel, wo sie zuerst im Museumssockel der Statue alles über die Geschichte des Monuments erfuhren. May konnte es nicht erwarten endlich weiter nach oben in die Figur zu kommen. Sie hatte schon oft Menschen auf der Statue gesehen und auch manchmal absichtlich eine Schleife um die riesige Frau aus Metall gedreht.


Im Internet waren unzählige Videos zu finden, wie ihr Kampfgleiter die Freiheitsstatue umrundete und aufs offene Meer zu steuerte. Es gab sogar mehrere Videos, die zeigten, wie sie damals von den Kampfjets abgeschossen wurde. Naja, von dem Hologramm eines vermeintlichen Abschusses. Auch wenn das nicht mehr nötig war und man die Station direkt und ungetarnt anfliegen konnte, machte May diesen Abgang zur Gewohnheit und genoss jedesmal die Aussicht auf das historisch bedeutsame Monument. Heute war sie auf der anderen Seite und schaute hinüber auf die Stadt. Nim war mit der Kamera nicht zu bremsen und genoss den Ausflug sichtlich, obwohl die Statue nicht unbedingt sein Lieblingsziel war und die Warterei viel Zeit gekostet hatte.


»Mama, ob May heute auch vorbei fliegt?«, hörten die beiden ein kleines Mädchen fragen. Es schaute auf ihren Zehenspitzen stehend nach draußen und hielt offensichtlich nach einem lila Kampfgleiter Ausschau. »Ich glaube May hat heute Urlaub.«, lächelte Nim zu der Kleinen hinüber und seine Freundin musste lachen. »Ja, davon habe ich auch gehört.«, flachste auch May. Die Mutter schaute verdutzt zu dem Pärchen hinüber und dachte wohl für einen Augenblick daran, dieses asiatische Mädchen könnte wohl selbst May sein, aber verwarf den offensichtlich unsinnigen Gedanken wieder. Warum sollte sich May vom Ray Team auch einer Touristengruppe anschließen? Kaum waren sie wieder auf dem Festland ging es zum Empire State Building, welches Nim interessierte.


»Unbekanntes Objekt nahe der Mondumlaufbahn.«, meldete Jaque und Sab beorderte einen Satelliten in Position. Der große Satellit rollte um die eigene Achse und brachte sich, im Sonnenlicht kurz funkelnd, in Stellung. Trish fokussierte die Stationssensoren auf den Punkt im All. »Das ist ein Mensch!«, merkte Trish an. Sab staunte um so mehr: »Das bin ich!« »Wie du?« Sab sah das Objekt aus anderer Perspektive und konnte in ihr eigenes Gesicht erkennen. »Bestätigt. Bei der Person handelt es sich um Sab. Der ID Chip ist identisch.«, erklärte Jaque. »Neela, Kursänderung. Koordinaten werden übermittelt. Sprungerlaubnis erteilt.«, gab Trish Anweisungen an einen Kampfgleiter im Anflug auf die Station.


Der Flieger verschwand in einem Vortex zwischen Erde und Station und erschien nur wenige Augenblicke später in der Nähe der Mondumlaufbahn aus einem Zweiten. »Medizinisches Notfallteam in Hangar 1« »Das ist ja Sab!«, hörten beide Neela über Funk berichten: »Ich hab sie an Bord. Sie ist bewusstlos und leicht unterkühlt, hat aber Puls.« »Wieso bin ich da draußen, wo ich doch hier bin? Jaque überprüfe den kompletten Sektor mit einem Sparx nach Ungewöhnlichem.« »Und übernimm die Flugkontrolle. Das muss ich mit eigenen Augen sehen.«, fügte auch Trish hinzu.


Im Hangar trafen sie auf den Doc, der natürlich sofort fragte was los sei. »Das glaubst du sowieso erst, wenn du es siehst!«, war die einzige Antwort, die er bekam. Momente später rauschte der Gleiter in den Hangar und setzte neben der Truppe auf. »Das ist ja ein Ding.«, brachte der Doc wie erwartet seine Verwunderung zum Ausdruck und schaute nochmal zur anderen Sab hinüber. »Leicht unterkühlt. Der Schild hat ganze Arbeit geleistet.«, erklärte er, verfrachtete den Gast zusammen mit Sandra auf das fliegende Bett und hüllte sie in eine isolierende Decke. In der Krankenstation wurde der Zwilling intensiv untersucht. Egal was der Doc auch probierte, er fand keinen Unterschied zur zweiten gleichermaßen unsicher wie neugierig im Raum stehenden Sab. »Also kein böser Sabinator aus der Zukunft?«, fragte Trish und spielte damit auf Sabs Ruf unter den Piloten an, hart und erbarmungslos zu sein. »Sehr witzig.«, grummelte die angestammte Sab: »Aber das mit der Zeitreise ist die einzige Erklärung, die zumindest etwas Sinn macht.«


»Warum machst du eine Zeitreise?« Sab konnte nicht glauben was sie da von ihrer Kollegin gehört hatte: »Hallo? - Falsche Sab! Frag' das die andere?« »Nein, ich meine warum würdest du eine Zeitreise machen, wo du doch weißt wie gefährlich das ist.« »Etwas anderes als die komplette Vernichtung der Erde fällt mir dazu auch nicht ein.« Sandra führte mit dem Scanner weitere Abtastungen an der neuen Sab durch, dann konnten sie nur noch warten, bis die vermeintliche Zeitreisende aufwachte und selbst Erklärungen abgeben konnte. »Wow, ich sehe doppelt.«, war von Mergy zu hören, der just von einem Einsatz auf die Station zurückgekehrt war und von Jaque eine Erklärung für das Fehlen der Kommandotruppe auf dem Kommandodeck verlangt hatte.


»Oh, was ist passiert?«, kam stöhnend aus der Sab auf dem Tisch. »Das würden wir auch gerne wissen.«, antwortete Sab ihrem anderen Selbst. »Wo bin ich?«, fragte sie schließlich. »Krankenstation, aber das wissen wir schon.«, war die amtierende Sab voll in ihrem Element. Die Frau auf dem Tisch schaute in die Runde: »Haben wir es geschafft? Sind wir in der Zukunft?« »Du meinst sicherlich Vergangenheit.«, erwiderte die stehende Sab wohl wissend, bisher nur eine Zeitreise gemacht zu haben und die hatte sie wenige Stunden in die Zukunft gebracht. Erst jetzt bemerkte der Neuankömmling sein doppeltes Vorhandensein. »Was? – Wieso? – Wie geht es Mergy?«


»Hattest du noch ein zweites ich von mir dabei?«, fragte Mergy nun ebenfalls leicht verwirrt. »Hey, was ist denn hier los? Jaque hat gesagt ihr seit alle auf der – Wow, was geht denn hier vor?«, gesellte sich schließlich auch Tin mit wiederholenden Worten zur Gruppe und vervollständigte die Sammlung der aktuell auf der Station anwesenden Kommander. »Wir haben eine Zeitreisende Sab. Wer hätte das gedacht.«, war es Mergy, der immer noch ziemlich locker mit der Zeitreisegeschichte umging und damit anspielte, weil er eine Strafe bekam, Sab aber bisher nur Seitenhiebe.


»Geht die Welt unter? Oder warum hast du eine Zeitreise gemacht?«, leitete schließlich Sab die schon einmal gestellte Frage an die richtige Person. »Ich wurde von Mergy aufgesammelt und wir sind mit Kampfgleiter 1 in die Zukunft geflogen. Dann bin ich hier aufgewacht.«, erklärte die vermeintlich Zeitreisende. »Ich bin mit Mergy in Kampfgleiter 1 zurück in die Zukunft geflogen!«, wehrte sich Sab gegen die offensichtliche Falschaussage. »Hattest du die gleiche Kleidung an, als du mit Mergy zurück gekommen bist?«, stellte Tin eine eigentlich ziemlich blöde Frage an die Sab neben ihr. »Ich weiß nicht, kann schon sein. Wieso ist das wichtig?«


»Wo habt ihr sie gefunden?« »Sie trieb im All. In der Nähe der Mondumlaufbahn.« »Der Sprungpunkt! Dann haben wir ein ernstes Problem! Jaque vergleiche die Position von Sabs Auftauchen im All mit den Sprungkoordinaten von Mergys Zeitsprung.« Nachdenklichkeit in ihrer Stimme, verbunden mit der vorherigen Schlussfolgerung, verlieh dieser Aussage von Tin einen unheilvollen Beigeschmack. »Die Positionen weichen einen Meter und siebenundachtzig Zentimeter voneinander ab. Wahrscheinlich das Resultat der Driftbewegungen im All bevor die Sensoren sie entdeckt haben.«


»Ein ernstes Problem?«, fragte Mergy. Tin ging gar nicht erst auf seine Frage ein: »Du hast also eben noch den Reaktor vor den Draken verteidigt und dein Manta ist explodiert?« »Ja, Mergy hat mich gerade noch rechtzeitig gerettet und wir sind in die Zukunft geflogen.« »Wir haben sogar ein sehr ernstes Problem!«, merkte Tin an: »Wir werden gewaltige Probleme bekommen, wenn wir Pech haben. Wir müssen uns beeilen, Daten sichten und eventuell Vorbereitungen treffen. Ich hoffe wir haben überhaupt Daten darüber.« Alle im Raum waren plötzlich still und lauschten aufmerksam. Tin hatte selten so ernst geklungen.


»Was ist denn überhaupt los?«, fragte Trish die Frage aller Fragen. »Zeitreisen sind gefährlich und das hier ist die Quittung für die Rettung von Sab. Mergy hat sie aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt. Dabei hat Sab etwa 36 Stunden in der Zeit übersprungen.«, erklärte Tin: »Es gibt da eine Theorie, welche die natürliche Ordnung der Zeit beschreibt. Jedes Objekt hat einen festen Zeitpunkt auf der Zeitlinie, dem es in Echtzeit folgt. Mergy hat nun Sab aus der Zeitlinie gerissen und etwa 36 Stunden in die Zukunft verschoben.«


»Ja, aber was ist daran so schlimm? Wir waren vorsichtig und haben nichts verändert.«, fragten jetzt beide Sabs gleichzeitig. Tin deutete auf die Sab, die aufmerksam lauschend, vor dem Tisch stand: »Du bist nicht unsere Sab. Sie ist es. Sie ist wieder mit der Zeitlinie in Einklang.« »Moment mal, ich bin doch sie?« »Ja, wenn man euch als Objekt vergleicht seit ihr identisch, aber als Punkt auf der Zeitlinie seit ihr 36 Stunden verschoben.«, führte Tin ihre Erklärungen weiter aus. »Wie kann ich einfach in die Vergangenheit reisen?«, fragte die Sab auf dem Tisch: »Ich dachte dafür braucht man sehr viel Energie. Das Essen auf der Station ist zwar hervorragend, aber bestimmt nicht so Energiehaltig, um mich in eine Zeitmaschine zu verwandeln.«


»Nein, die Zeit zerrt unsichtbar an dieser Sab, ohne das sie oder wir es bemerken. Die Zeitlinie will ihre natürliche Ordnung wieder herstellen. Das klappt aber nicht, weil die dazu benötigte Energie, wie du richtig erkannt hast, viel zu groß ist. Es gibt aber sogenannte Vergenzen der Zeit. Naja in der Theorie. Vergleichbar mit Schlaglöchern in einer Straße. Die Schicht zwischen den Zeitebenen ist dort dünner und wenn das Objekt in eine Vergenz gerät, die Zeit daran zerrt und einige andere Parameter stimmen, kann es unter Umständen durch die Zeit geschleudert werden.«


»Das heißt der Mergy aus 1943 wäre auch von selbst zurück gekehrt?«, fragte Trish. »Möglich ist das, wenn sein Körper in eine Vergenz geraten wäre, die groß genug gewesen wäre, aber wir wissen, es wäre nicht zu seinen Lebzeiten passiert. Ich kenne auch nicht alle Antworten. Das meiste sind unbestätigte Theorien, auch wenn einige nach diesem Ereignis wohl doch mehr Fakten sind.«, erklärte Tin. »Du sagtest doch es wäre gefährlich?«, fragte Mergy vorsichtig nach, weil er langsam einsah, an dem Unheil schuld zu sein.


»Wir hatten nur an die möglichen negativen Auswirkungen auf die Zeitlinie gedacht, aber dabei ein wichtiges Detail übersehen. Normalerweise wäre es nicht gefährlich, wenn ich nur rechtzeitig daran gedacht hätte. Mit unserer Technologie haben wir dieses Problem eigentlich selbst erzeugt. Die Station ist ein gigantischer Materiewandler. Energie wird zu Nahrung, Wasser, Kleidung, Gegenständen und umgekehrt. Schmutz, Hautschuppen und was sonst noch so anfällt wird wieder in Energie umgewandelt. Was eben noch ein Frühstückstablett war, ist gleich Wasser in der Dusche und morgen vielleicht Teil eines Waffensystems. Sab ist mit ihrer ursprünglichen Kleidung zurückgekehrt und auch sonst unversehrt. Die komplette Materie von Sab, die Mergy aus der Zeitlinie gerissen hat, ist in ihrer ursprünglichen Form an ihren ursprünglichen Platz auf der Zeitlinie zurückgekehrt. Sabs Kleidung und alles was Sab auf der Station in Energie hat wandeln lassen, ist im Stationskreislauf. Das heißt diese Energie wurde auch wieder aus der Zukunft gerissen.«, führte Tin ihre Theorie weiter aus: »Was ist, wenn Teile eines Fensters der Station oder eine Komponente eines Notfalltransporters aus dieser Energie zusammengesetzt wurden? Oder aber die Steuerkontrollen eines Reaktors?«


»Ich liebe Kuchen!« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen verschwand auch schon wieder eine Gabel mit dem köstlichen Element in seiner Futterlucke. May konnte nicht anders, als ihm einfach nur glücklich dabei zuzusehen. Ja, sie war einfach nur froh mit Nim diese Zeit zu verbringen. Mal ohne Ray Team, ohne Mission und ohne die Anderen auf der Station, die sie immer im Blick hatten. Wie normale Personen in einem Café zu sitzen und Kuchen zu essen, war vielleicht für andere Menschen nichts besonderes, aber für May war es eine komplett neue Erfahrung. Der Augenblick war zu Mays bedauern schneller vorbei als erwartet, denn sie vernahm die Stimme von Jaque in ihrem Kopf.


Er erklärte das Orakel hätte eine Autobombe in ihrer Umgebung gemeldet. Kein Gleiter wäre in der Nähe oder frei, um die drohende Gefahr schnell genug zu bekämpfen. May konnte ihm nicht antworten, weil der Multifunktionscontroller in ihrem Arm nicht über genug Leistung für eine Verbindung mit der Station oder einem der Satelliten verfügte. Ihr war dieser Umstand natürlich sofort klar, aber Jaque wies dennoch in seiner Gründlichkeit noch einmal auf diese Problematik hin. Der ungewohnt gekleidete Kommander hingegen war schon bei der Arbeit. »Wir haben einen Auftrag«, erklärte sie Nim, der mit spitzen Lippen an seinem heißen Kakao nippte: »Eine Autobombe irgendwo da draußen.« Nim schaute sie verwirrt an: »Wir haben doch frei!«


May stemmte die Arme in ihre Hüften und setze einen fordernden Blick auf. Nim hatte keine Wahl und folgte ihr nach draußen. Er musste es einsehen. Sie hatte Recht. Wenn Leben auf dem Spiel stehen, kann man keinen Urlaub nehmen. Das bewunderte er so an ihr. Sie hatte keine Sekunde gezögert und einfach losgelegt. Die eben noch so nette Bedienung stürze erbost ihnen hinterher: »Hey, ihr müsst das bezahlen!« May und Nim hörten nicht auf sie und setzen ihren Weg auf den Gehsteig unbeirrt fort. »Wie sollen wir hier eine Bombe finden?«, fragte Nim, als er die vielen Menschen und den Verkehr um sie herum sah. »Vertraue mir!«, blieb May ruhig und besonnen: »Ich suche die Bombe und du hältst die Menschen fern, während ich mich darum kümmere!« »Wir haben keinen Kampfgleiter, wie soll das funktionieren?« »Vertraue mir einfach.«


May legte bewusst viel Ruhe und Vertrautheit in ihre Stimme. Jetzt würde es passieren. Es gab keinen anderen Weg. Nim würde die Wahrheit über sie erfahren, aber es war ihr mehr als Recht. Geplant war das schon sehr lange und jetzt würde sie es auch nicht mehr aufschieben können. Sie streckte die Arme von sich. Ihr Mantel hing noch über dem Stuhl in dem kleinen Café, was ihr die Verbindung mit der Luft deutlich erleichterte. Noch bevor Nim etwas sagen konnte, hob seine Freundin vor seinen Augen in die Luft ab und schwebte mitten über der Strasse. Die vorher noch mühsam angebrachte Tarnung wurde bei der Aktivierung ihrer Kräfte vom Gesicht gebröckelt. Natürlich waren die Menschen sofort auf das Geschehen aufmerksam geworden und schauten begeistert der Flugeinlage zu. Jetzt war auch Nim einer von ihnen geworden. Er verstand nicht was hier gerade vor sich ging. May flog. Ohne Kampfgleiter, ohne einen Sparx unter ihren Füßen und ohne sonstige Tricks. Einfach so!


Der kleine Kommander in Zivil fühlte indes ihre Umgebung und war in die Welt, in der es nur glatte und einfarbige Oberflächen gab, eingetaucht. Durch jede Öffnung, jeden Ritz und jede noch so kleine Spalte führte sie ihr Blick, bis sie schließlich einen Gegenstand fand, der eine Bombe sein könnte. »Der Geländewägen dort!«, rief sie, aber Nim war komplett weggetreten. »Nim!«, wurde sie jetzt deutlich lauter und hatte wieder seine Aufmerksamkeit. Mit lautem Knarren bogen sich die großen ausladenden Heckklappen des Fahrzeugs auf, während May zwischen den verbeulten Flügeln landete. Dahinter befand sich der Sprengsatz, der größer war, als May gedacht hatte. Erfahrungen mit explosivem Material hatte sie nicht. Einzig die Sprengung des Hangars konnte sie für sich verbuchen und damals war die Explosion schon deutlich größer ausgefallen, als sie es selbst erwartet hatte. Diese Bombe sah komplett anders aus und war professionell zusammen gebaut worden, soviel war ihr sofort klar. Die umstehenden Autos würden von der Detonation mitgerissen und die Scheiben der Geschäfte würden, wie die Metallteile des Geländewagens, zu tödlichen Geschossen werden.


»Schaff' die Leute hier weg und mach' die Strasse frei. Ich kümmere mich um das hier!« Wieder zögerte Nim und wurde erneut lautstark von May aufgefordert endlich zu tun, was sie verlangt hatte. Nim erwachte abermals aus seiner Starre und sprang auf die Straße, wo der Verkehr bereits zum Erliegen gekommen war, als May ihre Flugshow begonnen hatte. So hatte er zu kämpfen, um auch nur einen Meter Platz zu schaffen. Laut rief er »Hier ist eine Bombe«, aber die Menschen in ihren Autos reagierten nicht, während die anderen auf der Straße doch recht schnell Land gewonnen. Wind zog auf. Erst nur unmerklich, aber dann immer stärker. May war wieder in der Luft und kreisste langsam um den Geländewagen, der mehr und mehr vom Staub eingehüllt wurde. Der Dreck und Müll auf, der sich auf der langen Straße gesammelt hatte wurde wie von einem Staubsauger zusammen gesogen und formte direkt um den Wagen herum einen Wirbelsturm, der von Sekunde zu Sekunde an Intensität zunahm.


Erst jetzt wurde vielen der Anwesenden klar, die Beiden waren nicht zu ihrer Unterhaltung vor Ort, sondern versuchten Menschenleben zu retten. Der Wirbelsturm war deutlich bedrohlicher und greifbarer als eine Bombe, die zudem noch niemand gesehen hatte. Das Innere des Sturms leuchtete in einem grellen Lichtblitz auf und ein unheilvoller Knall übertönte für einen kleinen Moment das Rauschen des Windes. Der Sprengsatz war explodiert und versuchte sich in alle Richtungen dem Luftwirbel zu entziehen. Genährt von der Luft, die May von allen Seiten zuführte, brannte der Wagen im Innern des Wirbels, durch den einfließenden Sauerstoff angeregt, wie in einem Hochofen, während die Explosionsdruckwelle nach oben, wie durch einen Tunnel, abgeleitet wurde. May kreiste schwebend mit ausgebreiteten Armen um den rotierenden Luftstrom.


Selbst Nim, nun wieder ohne Aufgabe, da May die unmittelbare Gefahr bereits abgewendet hatte, war wieder gefesselt vom Anblick seiner fliegenden Freundin. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Wie machte sie das? Fliegen war eine Sache, aber einen Wirbelsturm erzeugen und zu kontrollieren, war wiederum etwas komplett anderes. Von unten nach oben verschwand der Sturm schließlich wieder so mysteriös, wie er aufgetaucht war. Er ließ nur das noch qualmende und bedingt an einen Geländewagen erinnernde Objekt und eine schwebende May zurück, die direkt auf den komplett weggetretenen Nim zu schwebte.


Einige größere Müllteile regneten zurück auf die Straße und den angrenzenden Gehweg. Auch nachdem May sanft mit beiden Füßen wieder auf dem Boden stand, war von Nim keine Reaktion zu erwarten. May tat einen letzten Schritt auf ihren Freund zu und stellte sich auf die Zehenspitzen. Sanft zog sie ihn den Rest des Weges zu sich hinunter und drückte ihm einen Kuss auf, der den Jubel, der längst um die Beiden herum ausgebrochen war, nur noch zu verstärken schien. Nim wollte etwas sagen, aber May setze ihm einen Finger auf den Mund: »Das erkläre ich dir später. Wir müssen noch bezahlen und dann sollten wir von hier verschwinden.«


Ohne ein weiteres Widerwort von Nim gingen die Beiden zurück in das Café, was angesichts der Menschenansammlung, die sich bereits um sie herum auf der Straße gebildet hatte, gar nicht mehr so einfach war. Drinnen trafen sie auch auf die Bedienung, die erstaunlicher Weise überhaupt nicht mehr sauer wirkte, weil ihre beiden Gäste eigentlich die Zeche geprellt hatten und kommentarlos verschwunden waren. Sie lächelte die beiden Helden regelrecht an. Als May ihr einen Geldschein reichen wollte, bekam sie nur zu hören, die Speisen gingen aufs Haus. May verstand die Wortwahl offensichtlich nicht und schaute Nim fragend an, der einsprang und sich bedankte.


Es war kaum mehr möglich aus dem Lokal zu gelangen, weil die Zahl der Menschen, die jetzt auch noch direkt auf das Café zu drängten, rapide zugenommen hatte. Sie konnten nicht einfach zum nächsten Programmpunkt auf ihrer Liste übergehen, soviel war klar. Die Menschen würden sie nun auf Schritt und Tritt verfolgen. »Wir sollten hier verschwinden.«, rief May. »Erst einmal können.«, brachte Nim noch heraus, aber May war schon in der Luft. »Worauf wartest du?«, fragte sie von oben herab, wohl wissend, dass Nim keine Ahnung hatte, wie er das anstellen sollte.


Sie machte diese Anmerkung nur, um den Menschen auf der Straße und damit auch ihren Ray Team Kollegen vorzutäuschen, sie würde Technologie zum Fliegen nutzen und nicht ihre Fähigkeiten. May umschloss ihren Freund mit festem Luftgriff und zog ihn schnell in die Höhe. Nim konnte sich nicht bewegen. Er war fest von der Luft umschlossen und hatte keine Kontrolle mehr über seinen Körper. Erst in einigen duzend Metern Höhe, wandte das fliegende Mädchen erneut ihrem Freund zu: »Ich weiß, du hast viele Fragen und ich werde sie dir gleich alle beantworten.« May steuerte auf eines der Hochhäuser mit flachem Dach zu und setzte Nim und sich langsam ab.


»Bevor du deine Fragen stellst, möchte ich dir erklären, was hier gerade passiert ist und wie ich das mache. Ich bin die Prinzessin der Lüfte. Naja, so hat mich jedenfalls das Orakel damals genannt. Ich kann Luft kontrollieren und steuern. Ich kann dadurch sehen, was hinter mir oder was in einem Auto ist ohne es zu öffnen. Ich kann nicht wirklich fliegen, aber ich kann die Luft dazu nutzen mich zu tragen und so auch Menschen und Gegenstände. Vieles was ich bisher gemacht habe, habe ich nur durch diese Fähigkeit geschafft.«, erklärte sie die ganze Wahrheit, die sie schon so lange quälte: »Ich wollte es dir schon so oft erzählen, habe mich dann aber doch nie getraut. Jetzt ist es raus und du weisst bescheid. Ich bin wirklich froh darüber.«


Eine riesige Last fiel ihr von den Schultern und sie wartete gespannt auf eine Reaktion von Nim. Deutlich konnte sie sehen, wie Nim dabei war das ganze Puzzle gedanklich zusammen zu setzen und es zu verstehen. Sie traute sich nicht etwas zu sagen oder auch nur zu laut zu atmen. Wie schon damals bei Suki versuchte sie über seine Gesichtszüge und seine Augen heraus zu finden, was er dachte und wo sie jetzt bei ihm stand.


Die Stille wurde schlagartig durch ein Fauchen unterbrochen. Ein Kampfgleiter schwebte plötzlich über ihren Köpfen und drehte zur Landung ein. Es war Sash, die mit ihrer Wuschelmähne aus dem Gleiter schaute: »Jaque schickt mich. Ich soll euch mitnehmen, wenn ihr denn wollt.« »Ich glaube auch das es besser ist, wenn wir unseren Ausflug hier beenden. Da unten lassen uns die Leute sowieso nicht mehr in Frieden.«, gab Nim sehr schnell die Antwort, obwohl er offensichtlich andere Gründe hatte ihren gemeinsamen Tag hier und jetzt sofort zu beenden.


May konnte nicht anders und stimmte mit einem »ok« zu. Es war getränkt von Angst und Verzweiflung und kam nur leise und krampfhaft über ihre Lippen. Die Stille war auch im Kampfgleiter deutlich zu spüren. Selbst die Pilotin bemerkte die seltsame Stimmung hinter ihr und hielt es aber für besser die Klappe zu halten. Schweigend saßen beide auf der Rückbank des Gleiters und schauten aus ihren jeweiligen Fenstern.


Nach der Landung wurde das Schweigen für eine gefühlte Ewigkeit nicht gebrochen. Sash war bereits aus dem Hangar verschwunden und auch der Gleiter parkte schon in seiner Box. Der Hall, den die mechanische Regalverriegelung jedesmal beim Einrasten auslöste, war ebenfalls lange verstummt, als Nim als Erster das Wort eröffnete. »Ich muss erst einmal in Ruhe über alles nachdenken.«, sagte er leise und ruhig. Dann verschwand er ohne ein weiteres Wort durch das große eckige Loch in der Wand. May blieb alleine zurück. Erstarrt stand sie so verloren und unsicher in dem riesigen metallenen Raum, wie schon lange nicht mehr. Viele endlos lange Minuten kreisten ihre Gedanken und Erinnerungen in ihrem Kopf. Erst viel später machte sie sich auf den Weg in ihr Quartier.


Zur selben Zeit machte sich die Sab aus der Zukunft, also eigentlich die in diese Zeit gehörende Sab, auf den Weg in Turm drei. Ihre Gedanken kreisten wie bei den beiden jüngeren Kollegen. Sie allerdings war einfach nur genervt von sich selbst. Diese andere Sab war unerträglich, arrogant und überheblich: »Oh, hier ist ja schon jemand.« »Ich wußte nicht – Ich bin schon weg.«, wurde das junge asiatische Mädchen aufgescheucht und wollte fliehen. »Ist schon gut. Das ist eine ungeschriebene Regel. Wer zuerst hier ist, kann bestimmen ob er Gesellschaft haben will, oder nicht. Darf ich bleiben?«, blieb Sab freundlich, obwohl sie lieber alleine gewesen wäre. »Ja, natürlich.«, wurde das Mädchen ruhiger und kniete sich wieder seitlich auf die Bank, um den Ausblick zu genießen.


»Ich bin übrigens Sab und wer bist du?« Das Mädchen erschrak. Der Kommander war erschüttert, wie alleine ihr Name so eine Reaktion hervor rief. Erst jetzt wurde ihr klar, sie hatte sich eben eigentlich über sich selbst beklagt. Die andere Sab war ihr Ebenbild und wenn diese Sab unerträglich war, dann war sie es auch. Dieses Mädchen war maximal 24 Stunden auf der Station und hatte wohl schon die erste Stationsregel kennen gelernt: »Halte dich von Sab fern, die ist böse und immer schlecht drauf.« »Ich bin Jiyai.«, brachte der junge Neuzugang unsicher und zittrig heraus. »Freud' mich dich kennen zu lernen, Jiyai. Du bist gestern mit May auf die Station gekommen, oder?« Sab hatte sich in den letzten Stunden im Büro die Daten der fehlenden Tage und Wochen seit dem Zeitsprung angesehen. Es war mehr das Verlangen gewesen der anderen Sab nicht zu begegnen, als die reine Informationsbeschaffung. »Ja, gestern.«


»Und wie findest du die Station so?« Sab versuchte die Situation aufzulockern, aber die Angst stand dem Mädchen ins Gesicht geschrieben. »Die – Die Station ist toll. Unsere Wohnungen sind so schön.«, brachte sie leicht stotternd und angstvoll heraus. »Und meinen Lieblingsplatz hast du ja auch schon gefunden.«, grinste Sab und erntete zum ersten Mal so etwas wie einen normalen Gesichtsausdruck. »Suki, hat uns gesagt, wir dürfen überall hingehen, wo die Türen nicht verschlossen sind.«, versuchte Jiyai noch einmal ihre Anwesenheit zu entschuldigen. »Ja, das stimmt.«, erklärte Sab und versuchte nicht böse zu klingen. Es fiel ihr nicht leicht den brummigen Ton dauerhaft abzulegen. Soviel musste sie sich selbst eingestehen.


Wie hatten die Anderen sie nur all die Jahre ertragen? Sie war nur einige wenige Stunden mit sich selbst zusammen und würde ihr anderes Ich am liebsten abmurksen, was aber zumindest Tin wegen dem massiven Eingriff in die Zeitlinie missbilligen würde. »Schau mal da hinten, da passiert gleich etwas richtig tolles.« Unsicher schaute das Mädchen in das erdabgewandte Dunkel des Alls. Erst passierte nichts und der Neuling fing schon an zu überlegen ob die Frau neben ihr sie einfach nur hereinlegen wollte, aber dann gab es eine riesige Explosion. Es war natürlich keine wirkliche Explosion, sondern nur der Vortex in den Unterraum. Wenige Augenblicke später sprang die Vanquist aus dem roten Tunnel in den normalen Raum.


Jiyai erschrak, machte einen Satz zurück, landete vor dem Sofa, auf dem sie zuvor noch gekniet hatte, und kroch weiter zurück. Sie hatte diese großen Schiffe gesehen und ihre Waffen hatten viele Menschen getötet. Sab erkannte sofort, was hier gerade vorging. »Du brauchst keine Angst zu haben. Das ist unseres. Damit haben wir die Draken und ihre Schiffe besiegt und verjagt. »Ihr wart das?«, fragte Jiyai vorsichtig nach und weil ihre Gesprächspartnerin ruhig blieb, erhob sie sich wieder vom Boden. »Ja, wir waren das. Die Vanquist hat da ganz weit draußen aufgepasst, damit sie nicht wieder kommen.« »Und wer passt da jetzt auf?«, stellte der Neuankömmling eine gute Frage. Sab musste es sich eingestehen. Dieses Mädchen erinnerte sie ein wenig an May.


Damals hatte sie sich nicht gekümmert. Eigentlich hatte sie sich noch nie wirklich um jemanden gekümmert. Jetzt nach all den Jahren hatte sie den Ruf einfach nur feindselig und fies zu sein. »Wir haben im Moment zwei dieser großen Schiffe. Die Mystery ist bereits da draußen und passt weiter auf.«, erklärte sie ihrer neuen Bekanntschaft. Das Schiff kam näher und näher. Die Unruhe in dem, jetzt wieder am Fenster sitzenden, kleinen Mädchen war zum Greifen. »Keine Sorge. Es wird unter uns an zwei der Türme anlegen, damit die Besatzung vom Schiff auf die Station kann.«


Nim hatte kein besonderes Ziel und streifte ziellos über die Station, bis er vor den Scheiben der oberen Promenade auf Tin traf oder besser von Tin getroffen wurde. »Ihr seit schon wieder da?«, fragte Tin, als sie Nim in die Sterne starren sah. Nim war tief in seinen Gedanken versunken und bemerkte den Kommander nicht einmal. »Hey, Tin an Nim. Jemand Zuhause?«, setzte sie nach. Erst jetzt nahm er seine neue Fensternachbarin wahr. »Ja.«, antwortete er nur kurz auf die eigentlich unsinnige Frage. »Ärger im Paradies?«, deutete Tin die Situation ziemlich gut: »Was ist passiert?« Nim zögerte. Sollte er auf das offensichtlich gut gemeinte Angebot eingehen?


Tin kam ihm zuvor: »Du hast dir ja auch die komplizierteste Frau auf der ganzen Station ausgesucht, da musstest du auch mit dem ein oder anderen Problem rechnen.« Nim wurde hellhörig, verzog aber keine Miene seines bedrückten Gesichts: »Was meinst du?« »Naja, May ist deutlich jünger als du, hat noch keine Erfahrung in Sachen Liebe. Sie ist die Einzige, die ihre Mutter auf der Station hat und ihr väterlicher Freund ist dein Vorgesetzter. Dazu kommt, May ist genau genommen auch noch deine Vorgesetzte. Habe ich noch etwas vergessen?« »Ihre Superkräfte.«, brummelte Nim heraus. »Oh, sie hat es dir endlich erzählt? Das hat sie schon länger gequält. Und diese Kräfte sind jetzt ein Problem?«


Der von Gefühlen und Liebeskummer getränkte junge Mann wurde noch nachdenklicher, wendete sich aber zum ersten Mal direkt Tin zu: »Ich weiß es nicht. Ich habe immer ihren Mut und ihren Ideenreichtum bewundert, aber jetzt stellt sich heraus, es sind nur spezielle Kräfte.« Tin war erstaunt über diese abgeklärten Worte. »Sie ist doch noch die Selbe wie vorher.« »Ja – Nein – Ich weiß es doch auch nicht.« Nim war komplett durch den Wind.


Tin legte ihre Hand auf seine Schulter: »Ich erzähle dir jetzt einmal etwas über deine Freundin. Sie war keine 24 Stunden auf der Station, da hat sie schon einem unbekannten Mädchen Mut gemacht und es aufgemuntert. Wenige Stunden später hat sie ihr Leben riskiert, um mich, eine Frau, die sie auch nicht kannte, zu retten. Ohne den Einsatz von wundersamen Kräften und sogar ohne einen eigenen Körperschild. Sie hat sich einer Riesenwelle in den Weg gestellt, die sie eigentlich niemals hätte aufhalten können. Trotzdem hat sie es versucht. Sie hat mutig ihr Leben riskiert, um andere Menschen zu retten. Die neuen Kräfte sind da nur eine hilfreiche Zugabe. Viele Menschen würden diese Macht zu ihrem Vorteil ausnutzen. May nicht. Sie will normal sein. Deshalb verheimlicht sie ihre Fähigkeiten und nutzt sie nie zu ihrem persönlichen Vorteil.«


Nim lauschte ihren Worten. Der Kommander hatte Recht. May hatte ihn aus der Menge gezogen, aber nicht zu ihrer Unterhaltung oder weil sie ihn vorführen wollte, sondern nur weil es die einzige Lösung für das bestehende Problem war. Sie wollte helfen. May konnte ja nicht wissen, wie hilflos er sich unter ihrer Kontrolle vorgekommen war. »Vielleicht solltest du einmal nicht denken, sondern einfach nur fühlen.«, sprach Tin weiter und tippte mit zwei Fingern auf seine Brust, in der Nähe seines Herzens: »Vielleicht solltest du mal dein Herz befragen, ob May dieses Gefühlschaos überhaupt Wert ist.«


Diese Antwort fiel ihm sichtlich einfacher und folgte sehr schnell: »Sie ist es Wert! Auch mit dieser Luftsache. Aber ich hab sie enttäuscht und sie einfach ohne ein Wort stehen gelassen.« »Wow, Suki und ein paar der Anderen denken sie kann einfach nur Telekinese. Sie muss dich wirklich sehr gerne haben, wenn sie dir ihr größtes Geheimnis anvertraut. Geh' zu ihr. Sprich dich mit ihr aus. Erkläre ihr deine Reaktion, dann wird sie es sicher verstehen.«


Zum ersten Mal lächelte Nim: »Danke!« »Keine Ursache. Jeder braucht mal jemanden zum Aussprechen.« Nim verabschiedete sich und machte sich sofort auf den Weg zu May. Wie musste seine Freundin sich jetzt fühlen. Er hatte nach ihrer offenen Erklärung kaum ein klares Wort mit ihr gesprochen. Sie musste wirklich denken er würde sie für einen Freak halten.


Ganz falsch lag er dabei nicht. May war aus dem Lift gestiegen und hatte in Gedanken völlig vergessen an ihrem Quartier halt zu machen. Sie hatte bereits, ohne es zu bemerken, den kompletten inneren Ring abgelaufen. Diverse Piloten und Kadetten, die ihr entgegen kamen, wurden von ihr überhaupt nicht wahr genommen. Der in Tränen und Traurigkeit versunkene Kommander wurde schließlich von Trish entdeckt, die gerade in ihr Quartier wollte. »Hey, was ist denn mit dir los?«, fragte sie vorsichtig nach. »Er hält mich für ein Monster.«, sprudelte es aus May heraus und die Worte aus ihrem Mund ließen die letzten Dämme brechen.


Trish nahm sie in den Arm und zog sie sanft durch die Tür in ihr Quartier. May war noch nie hier gewesen und auch jetzt hatte sie keine Augen für den Raum. Die Tränen blickierten sowieso jede klare Sicht. Trish hatte ihren Wohnbereich sehr Farbig eingerichtet. Regale, Wände, Sofas und sogar der Teppich harmonierten auf wundersame weise miteinander. Sie legte offensichtlich sehr viel Wert ihr altes früheres Leben auf der Erde nicht zu verstecken. Eine Stereoanlage mit CD Spieler und Plattenspieler fand sich hier genauso wieder, wie eine stattliche Sammlung an passenden Medien. Viele alt anmutende Bücher zierten die Regale.


Vorsichtig dirigierte sie ihre junge Kollegin auf das hellblaue Sofa. May erzählte was vor etwas über einer Stunde passiert war. Es dauerte eine Weile bis Trish alle Fakten verstand. Immer wieder ging Mays Aussprache in dem Fluss ihrer Tränen unter und verwirrte den Übersetzer. »Er hält dich sicher nicht für ein Monster. Oder hat er das so gesagt?«, fragte Trish schließlich. »Nein, aber wie er mich angesehen hat. Er hatte richtig Angst vor mir.« »Ich denke er braucht erst einmal etwas Zeit, um alles zu verarbeiten. Es wird sich schon einrenken.«


»Und wenn nicht?« »Dann wäre er ein ziemlicher Idiot. Dein verändertes Gesicht hat ihn doch auch nicht gestört. Ich denke er kommt auch mit deinen Fähigkeiten klar. Es war gut es ihm zu sagen, aber ich denke es wäre für euch einfacher gewesen, wenn du es ihm ruhig auf deinem Sofa erklärt hättest und nicht mit der Holzhammermethode.« May gewann langsam wieder etwas Fassung. Es tat gut mit Trish darüber zu reden.


Für Trish war es einmal mehr eine neue Seite ihrer jungen Kollegin. Damals nach dem ersten Drakenangriff hatte sie sich bockig wie ein Teenager verhalten und jede Person lautstark abgewiesen, um mit ihrem Kummer alleine zu sein. Die Spuren der Brandwunden waren noch zu erkennen, aber die junge Seele erschien oft um so viele Jahre reifer und war ihrer Zeit voraus. Die Momente, wo sie ihrem Alter entsprechend agierte, waren an einer Hand abzuzählen und die Situation in der sie sich nun befand, war nun wirklich in keinem Lehrbuch zu finden. Beide unterhielten sich noch eine ganze Weile und May kam wieder langsam in die Spur, auch wenn sie innerlich fürchterliche Angst hatte Nim für immer verloren zu haben. Ja, sie war schon länger verliebt in ihn, aber erst jetzt, nach diesen Ereignissen, spürte sie zum ersten Mal die gesamte Bandbreite ihrer Gefühle für diesen Jungen.


Sab war unterdessen ebenfalls von ihrer ungewollten Zwillingsschwester abgelenkt. Sie gab Jiyai ausführlich Auskunft und beantwortete geduldig all ihre Fragen. Erst bemerkte sie es gar nicht, aber dann wurde es ihr klar. Die künstliche Mauer, die sie um sich errichtet hatte, fing an zu bröckeln. Nie hatte sie mit auch nur einem der Kadetten oder Piloten auch nur ansatzweise Freundschaft geschlossen. Es war nicht die Abneigung gegenüber Freundschaften an sich, sondern mehr die Angst diese Freunde zu verlieren. Jeden Tag schickte sie Leute zu gefährlichen Einsätzen und zu groß war ihre Angst jemanden, den sie gerne hatte, auf diese Art verlieren. Sie hatte in ihrem Leben schon viele Freunde verloren. Das letzte Mal war es Mergy, der aber glücklicherweise wieder von den Toten auferstanden war. Ihr eigener Tod, die Tatsache, dass die meisten Piloten sie nicht ausstehen konnten und die Tatsache oft alleine zu sein, ließen ihr schon länger keine Ruhe. Jiyai und die Begegnung mit ihrem anderen Ich brachten das Fass zum Überlaufen.


So wollte sie nicht bleiben. Sie war nicht kalt und gefühllos. Sab kannte die Beschreibungen und hatte oft genug ähnliche Aussagen gehört, auch wenn niemand sie direkt damit konfrontiert hatte. Sie konnte denjenigen aber keinen Vorwurf machen. Die zweite Sab wirkte genauso auf sie. Jiyai war jedenfalls nicht mehr zurückhaltend und verstört. Das Mädchen hatte ihre vorgefertigte Meinung offensichtlich bereits geändert. Einfach so. Weil Sab einfach nur nett war. Der sonst mehr Gefühlskalt wirkende Kommander genoss es sogar einmal selbst den direkten Kontakt mit einem Kadetten zu haben. Sonst hatte sie immer nur im Notfall einen Kurs übernommen, oder disziplinarische Maßnahmen verkündet. Beides nicht gerade optimale Möglichkeiten sich besser kennenzulernen.


Die wenigen Ansprachen, die nicht diesem Zweck dienten, waren an einer Hand abzuzählen. Mergy hatte ihr vor Jahren gezeigt, wie man es macht und ohne das Jiyai es auch nur ahnen konnte, schmiedete Sab bereits einen Plan. Sie würde sich nicht nur ändern, sondern auch mehr in der Öffentlichkeit zeigen, auch wenn es ihr schwer fallen würde diese festgefahrenen Gewohnheiten zu ändern. Mergy hatte diese fiesen Gerüchte gestreut. Naja, sie konnte es nicht beweisen, aber es war genau sein Stil. Es ging um, Sab sei eine Maschine, die keine Nahrung bräuchte und daher würde sie auch nie im Sor auftauchen.


Ja, sie war zwar schon ein paar Mal im Dragon Fly gewesen und hatte auch an den Weihnachtsessen und anderen Feierlichkeiten teilgenommen, aber nur weil es offiziell so vorgesehen war. Sie mochte die Stille und Ruhe beim Essen. Das würde ihr erster Schritt werden. Eigentlich der Zweite, denn das Mädchen war schon von ihrer eingetrichterten Meinung abgebracht worden. Ein Samen der Veränderung war bereits gesät und es würde nicht der Letzte bleiben.


Schließlich machte sich May wieder auf den Weg. Diesmal konnte sie ihr Quartier nicht verfehlen, denn ein Satz Beine ragte von der Tür aus in den Gang. Nim saß auf dem Boden vor ihrer Tür und wartete auf sie. Von Jaque hatte er nicht erfahren wo seine Freundin steckte. Wahrscheinlich aus Gründen der Privatsphäre. So hatte er vor ihrer Tür gewartet und war eingeschlafen. Am liebsten hätte sie ihn mit einem Kuss geweckt, aber stand es ihr zu, ihn jetzt noch einfach so zu küssen? Seine Anwesenheit war in jedem Fall ein gutes Zeichen. Sanft strich sie ihm das Haar aus dem Gesicht und stupste ihn leicht an der Schulter. Nim wurde schnell wach und musste sich orientieren. »Hallo.«, brachte er nur vorsichtig heraus. »Wolltest du zu mir, oder bist du hier zufällig eingeschlafen?«, versuchte May ihre Angst und Unsicherheit mit etwas Witz zu überspielen, wie sie es von Mergy kannte.


»Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Ich hätte nicht einfach so alles abblocken sollen.« »Ist schon gut. Wenn ich es dir vorher und in Ruhe erklärt hätte, dann wäre nichts von alledem passiert.« May zog Nim an den Armen auf die Beine und öffnete die Tür. Zögerlich und immer noch leicht unsicher setzten sich Beide auf das Sofa. Nim erzählte May, wie er sich gefühlt hatte, als er wehrlos und ungefragt von ihr in die Luft gezogen worden und zum Dach geschleppt worden war. May brach in Tränen aus.


Sie hatte sich genauso gefühlt, als die Männer sie damals verschleppt hatten und jetzt hatte sie genau das Gleiche dem Menschen angetan, der ihr am Liebsten war: »Es tut mir so leid. Ich wollte das nicht. Ich würde dir nie weh tun.« Nim nahm sie ganz fest in den Arm. Zu genau hatte er noch Tins Worte in den Ohren. May würde nie ihre Kräfte nur so zum Spaß gegen jemanden richten. Ihre Reaktion war genau das ins Bild passende Resultat. »Ist nicht so schlimm, aber mach' das bitte nie wieder, ok?« May nickte und drückte sich nochmal deutlich fester an ihn: »Versprochen!«


»Zeigst du mir etwas?«, fragte Nim schließlich immer noch von May im Arm gehalten. May mochte diese Art der Darbietung nicht, aber sie wollte Nim nicht gleich wieder enttäuschen. Er hatte es verdient alles über sie zu wissen und zu erfahren. Das war sie ihm schuldig und wenn es nur eine kleine Vorführung war, dann war es das Wert. Ohne das es von Nim bemerkt wurde, war May gedanklich in ihrem Bad und holte den weißen Mantel. »Bitte.«, forderte Nim erneut mit süßer Tonlage, nicht ahnend, dass hinter ihm bereits ein Bademantel faxen machte. May deutete mit den Augen an ihm vorbei.


Nim drehte sich um und machte einen erschrockenen Satz vom Sofa und landete unsanft neben dem Tisch, mit dem Hintern voran auf dem Boden. May ihrerseits erschrak ebenfalls und als wenn die weiße Flauschpuppe es ihnen gleich tat, verschwand diese lautlos hinter dem Sofa. »Das wollte ich nicht! Das tut mir leid!«, war May schon wieder in Tränen versunken. Während Nim auf dem Boden saß und zu ihr auf sah. Er beugte sich nach vorn, griff ihre Hand und zog sie zu sich nach unten auf den Teppich. »Das war gruselig. Aber gut gruselig.«, lachte er und drückte ihr einen Kuss auf. May brauchte einige Sekunden, bis sie verstand, dass er nicht wirklich böse über diesen Schreck war.


»Wo ist der Geist hin?«, fragte er an May vorbei und über die Sofakante hinweg. Vorsichtig erschien der weiße Kragen des Mantels und dann mehr vom Körper. May beobachtete auf Nim liegend, wie dieser der Figur zuschaute. Sie ließ die Luft einige komödiantische Elemente vollführen. Angefangen mit einfachem Winken. Dann sah es so aus, als liefe der Mantel über eine Treppe hinter dem Sofa in den Keller, um nur wenige Sekunden, wie mit einem Lift nach oben gefahren, wieder zu erscheinen.


Das hatte sie in einer Fernsehsendung bei Suki gesehen und so kopierte sie die Handlung einfach. Abschließend stellte der Mantel dann erschrocken fest keine Hände und keinen Kopf zu haben. Nim lachte über die Show und May fiel ein Stein vom Herzen, weil er nicht mehr böse auf sie war. Die Beiden redeten noch viele Stunden über Mays Vergangenheit und ihre Fähigkeiten, bis Nim merkte, dass May müde wurde. Nim wäre am liebsten bei ihr geblieben, aber das ging nicht und so stand Nim schließlich in der Tür zum Korridor und mit einem Kuss verabschiedeten sie sich wieder.


May hätte Nim auch am liebsten bei sich behalten, aber das war nicht möglich. Sie musste wieder in die Röhre und wollte nicht so von ihm gesehen werden. Ihre Nacktheit störte sie weniger. Es war die Tatsache in diesem Zylinder stehend schlafen zu müssen. Das war ihr peinlich. Es war ungemütlich, ekelig und verlangte viel Übung. Die ersten Wochen in der Maschine waren Horror. Sie war nie ausgeschlafen gewesen und schon Müde aufgestanden. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt. Es war im Prinzip eine Mischung aus dem Gefriermodus des Autodocs, dem flüssigen Sauerstoff, den Taucher für den Einsatz in großen Tiefen einsetzen und dem Tisch, den der Doc in der Krankenstation zur Behandlung benutzt hatte.


Ein Autodoc bringt diese gelartige Masse durch Ummantelung mit einer kalten Hülle auf sehr geringe Temperatur. Daher wirkt es als wären die Personen eingefroren. Sie liegen allerdings nur fixiert in einer Art Tiefkühlbox mit Flüssigsauerstoff. Mays Nachtquartier war allerdings warm. Das war der einzige Vorteil. Sie konnte die Temperatur der Flüssigkeit so einstellen, wie sie es wollte. Aber die Tatsache diese Flüssigkeit in der Lunge zu haben, war an sich schon gruselig.


Aus dem Bad kommend zog sie ihren Schlafanzug aus und griff sich die Brille die außen an der Kabine hing. Die Glastür schloss sich hinter ihr. Wieder so ein Recycling von Design. Das Gerät hatte exakt die Form des Scanners, der beim Doc auf der Krankenstation stand. Nur diese wuchtige Apparatur stand jetzt da, wo vorher ihr Bett gewesen war. Ihr kuscheliges, warmes und flauschiges Bett. Sie vermisste es. Langsam stieg die warme Flüssigkeit vom Boden auf und umschmeichelte ihren Körper. Einige Monate würde sie noch so schlafen müssen. Dann wäre ihre Haut wieder vollständig geheilt. »Aber nur wenn du täglich mindestens sechs Stunden in der Maschine verbringst.«, hatte der Doc sie mehrfach ermahnt. Sie wollte ihr altes Gesicht, ihren alten Körper wieder haben.


Nicht wegen Nim, oder weil jemand anderes sie deswegen schlecht machte, sondern einfach nur um optisch wieder die Prinzessin May zu sein, die sie vor dem Angriff der Draken war. Wenn sie dafür in diese Kammer des Schreckens zum Schlafen nötig war, dann war es eben so. Die Flüssigkeit stieg bereits an ihrem Bauch hoch, als May ihre Achseln über eine Halterung hob. So würde sie im Stehen schlafen, ohne umzukippen. Die gelige Masse und der Antischwerkraftgenerator taten ihr übriges, damit ihr Körper nicht mit dem vollen Gewicht an den Schultern hing. Damit sie die Lichtstrahlen der Behandlung nicht am Schlafen hinderten, setzte sie jetzt die verdunkelte und wasserdichte Brille auf.


Jetzt kam der gruselige Moment. Das Ertrinken! Ja, es war ein Gefühl wie ertrinken. Die Flüssigkeit war schon an ihrem Kinn und May atmete die letzte Dosis Luft des Tages aus. Sie hatte ja schon Übung darin, aber es fühlte sich immer noch falsch und unnatürlich an. Mit einem kräftigen Sog atmete sie die warme Substanz direkt in ihre Lungen. Wieder versuchte sich ihr Körper dagegen zu wehren. Er wollte nicht ertrinken. Diese Flüssigkeit enthielt auch die nötige Luft zum Überleben, aber das verstand ihre Lunge nicht. Dann war es vorbei. Ruhig atmete sie das seltsame Wasser ein und aus. Sie konnte den künstlichen Vorgang langsam vergessen und sich entspannen.


Ihr Körper hatte sich an die neue Situation angepasst und rebellierte nicht mehr. Ohne von May bemerkt zu werden, begann die Maschine mit der Behandlung, die jeden Zentimeter ihres Körpers in Licht hüllte. Es war Nacht unter ihrer Brille. Sie dachte noch an Nim. Er wußte jetzt Bescheid. Er kannte nun ihr größtes Geheimnis und es war trotz der widrigen Umstände gut gegangen. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich nicht bewahrheitet. Zufrieden, und zum ersten Mal seit langem ohne ein schlechtes Gewissen, schlief die Prinzessin in ihrem gläsernen Sarg stehend ein.

Weihnachten im All

Nachdem May die letzte Flüssigkeit aus ihren Lungen auf den Boden der nun leeren Kammer gehustet hatte, ging sie wie jeden Morgen ins Bad. Wie ein Schleimmonster aus diesen Gruselfilmen kam sie sich dabei jedes Mal vor. May gab sich keine Mühe zu verhindern, dass die Reste der Flüssigkeit von ihrem Körper auf den Teppich tropften. Es war ihr egal. Das würde sowieso automatisch von Jaque gereinigt und sie hatte nur ein Ziel. Dieses Zeug von ihrem Körper und aus ihren Haaren zu waschen. Sie hatte gut geschlafen. Das schlechte Gewissen, welches an ihr genagt hatte, war endgültig besiegt. Gleich würde ihr Freund sie an der Tür abholen und sie küssen. »Wird er doch?«, schoss es ihr durch den Kopf und sie hielt kurz mit der Bürste in ihren Haaren inne. Aber nicht lange. »Ja, ganz sicher!« May lächelte und sah dem Mädchen im Spiegel weiter dabei zu, wie es sich die Haare kämmte.


»Ich werde dann mal die Weihnachtsrede schreiben. Wenn etwas ist, ich bin im Büro.«, gab Mergy zu verstehen. »Äh, nein. Du wirst die Rede in diesem Jahr doch gar nicht halten.«, erklärte Sab. »Ach kommt schon. Wollt ihr mir jetzt jeglichen Spaß an Weihnachten verderben?« Er schaute Hilfe suchend zu Trish hinüber und hoffte das wenigstens sie ein Einsehen hatte. »Nein, dieses Jahr wird May die Rede halten.«, erklärte Trish. »Nicht einmal dieses bisschen Weihnachtsstimmung gönnt ihr mir?« »Also ich dachte du würdest lieber am Weihnachtsessen von Anja und ihrer Familie teilnehmen. Dann sollte ich wohl besser für dich absagen.«


»Ihr lasst mich zu ihr?«, fragte Mergy körperlich erstarrt und nur den Kopf ungläubig zwischen den beiden Frauen hin und her drehend. »Nur die drei Feiertage!«, erklärte Sab betont ernst und Trish fügte noch ein »und die werden hinten angehängt.« an. Mergy konnte nicht glauben, was er da hörte. Noch vor zwei Wochen hatte er sie mit Händen und Füßen gebeten ihm nur diese Tage zu geben, aber seine Worte wurden ignoriert. Überschwänglich fiel er Trish in die Arme und drückte sie. »Dank nicht uns. Dank dem kleinen lila Weihnachtsengel. Der kann ziemlich überzeugend sein.«, grinste Sab.


Wie jeden Morgen prüfte May ob sich ihre Haut schon sichtbar verbessert hatte. »Der Prozess arbeitet von Innen nach Außen!«, hatte der Doc mehrfach gesagt. Umgekehrt wäre es ihr lieber gewesen, aber es war nicht zu ändern. Die Tür gab die Puck-Geräusche von sich. Er war wieder zu ihr gekommen! Trotz allem was passiert war. Es war kein Traum gewesen. Hastig stürmte May zur Tür und drückte sie auf. Noch bevor Nim etwas sagen konnte und noch bevor die Türelemente vollständig in der Wand verschwunden waren, waren ihre Münder verbunden und May hing an ihm wie ein Äffchen an einem Baum.


»Wow, das war ja mal eine stürmische Begrüßung. Womit habe ich das verdient?« May lächelte: »Weil du mich nicht für einen Freak hältst.« »Du bist kein Freak. Du bist besonders.«, erklärte er, immer noch den kleineren Kommander vor sich her tragend: »Aber das wußte ich schon immer.« May gab ihm noch einen langen Kuss und so verzögerte sich ihr gemeinsamer Aufbruch zum Frühstück erneut. Noch bevor sich die Tür des Stationslifts öffnete hörten sie ein Pfeifen aus dem Inneren der Kabine. »Da hat jemand aber gute Laune!«, grinste May wissend als sie Mergy im Lift stehen sah.


Jetzt war es May, die unfreiwillig an einem Kommander hing und umher geworfen wurde: »Das vergesse ich dir nie!« »Schön, dass ich auch mal etwas für dich tun konnte. Du hast in den letzten Jahren so viel für meine Mutter und mich getan. Das werde ich dir auch nie vergessen.«, lächelte May zurück, während Nim nur die Hälfte von dem verstand, was da besprochen wurde. »Mit der hast du einen guten Fang gemacht.«, wandte sich Mergy an Nim, der etwas ausgeschlossen der Szene zusah. »Ich weiß!«, lachte Nim nur schelmisch. Schließlich standen die beiden im Lift und schauten dem Kommander hinterher, der davon pfiff.


»Mergy war ja gut drauf. Was hatte das zu bedeuten?« »Er hat sein Weihnachtsgeschenk schon vorzeitig bekommen.« May grinste. Ja, so überschwänglich und glücklich hatte sie Mergy auch noch nie gesehen. Arm in Arm gingen sie zum Frühstück ins Sors, wo ihnen Tin im Eingangsbereich entgegen kam. Nur mit einem leichten Lächeln bestätigte der Kommander erfreut die Einheit der Liebenden. Nims Blick spiegelte wiederum deutlich die Dankbarkeit wider, mit ihr über seine Probleme gesprochen zu haben. Unbemerkt von May hatten sie so ein unsichtbares kurzes Gespräch miteinander gehalten.


Als Mergy wenige Minuten später hastig in die Krankenstation stürmte, traf er auf Jiyai, die er zwar schon gesehen, aber nicht hier erwartet hatte. Sie war alleine, saß mit einem Handscanner an einem der Bildschirme und scannte Teile ihres eigenen Körpers. »Guten Morgen, Kommander Mergy!«, sprang die Kleine auf und salutierte vor ihm. »Na das ist ja mal eine ausgefallene Begrüßung. Guten Morgen! Wer hat dir denn das beigebracht?« »Suki hat uns das gezeigt.« »Dann hat sie sich einen Spaß mit euch gemacht. Wir sind keine Militärbasis und wir salutieren auch nicht. Den Kommander kannst du auch weglassen, wenn du willst. Wir sind einfach nur respektvoll und höflich zueinander.« Mergy lächelte und Jiyai verstand schnell. Er nahm ihr Verhalten nicht krumm. »Wie heißt du?«


»Ich bin Jiyai.« »Freud mich dich kennen zu lernen. Ich bin Mergy, aber das weist du ja anscheinend schon. Was machst du hier so ganz alleine?« »Der Doc ist auf der Vanquist, um die neuen Aktualisierungen der Krankenstation mit Tin zu besprechen. Sandra macht einen Krankenbesuch. Ich soll hier die Stellung halten. Soll ich sie rufen?« »Nein, nicht nötig. Aber wieso bist du überhaupt hier?« »Kommander Sab hat gesagt, hier auf der Station kann jeder werden, was er will.« »Ja, das stimmt. Aber sie hat bestimmt nicht sofort gemeint, auch wenn man das bei ihrer Ausdrucksweise oft nicht so genau sagen kann.« »Ich will Arzt werden! Der Doc hat mir heute gezeigt, wie ich mich scannen kann und ich soll mit diesem Programm üben.« Mergy fühlte sich, wie schon wenige Stunden zuvor Sab, an May erinnert. »Da hast du dir ja ein großes Ziel gesteckt.«, merkte Mergy anerkennend an, während er auf dem Bildschirm die Hand der Kleinen in der Durchsicht sah.


»Mit meiner Hand stimmt was nicht. Der kleine Finger klemmt. Die Finger gehen immer als erstes kaputt. Es wäre dumm, wenn der Arm beim Weihnachtsessen auf der Erde ausfallen würde.«, gab Mergy zu verstehen. Die kleine Doktorandin fand seine Wortwahl zwar komisch, bewegte das Handgerät aber gleich über die, als fehlerhaft bezeichnete, Hand. Mergy wußte was passieren würde, ließ sie aber ihre eigenen Erfahrungen sammeln. Das Bild auf dem Monitor sah komplett anders aus, als ihre Hand. Das war selbst ihr, ohne jegliche medizinische Kenntnisse, sofort klar.


»Ich schnappe mir einfach einen neuen Greifer und las´ den defekten hier. Ich hoffe mal es ist wirklich der Arm selbst und nicht die Schnittstelle an der Schulter, sonst habe ich ein Problem.« Noch bevor das Mädchen so recht verstand, was er meinte und wieso seine Hand anders war, legte er schon seinen kompletten Arm auf den Tisch und marschierte nach hinten in den kleinen Lagerraum, in dem die Teile aufbewahrt wurden, die man schnell brauchte und darum nicht erst repliziert werden sollten. Hier gab es Medigens, Repligens, mehrere Ersatzbeinpaare für Tin, Augen für Trish und eben auch Arme für ihn.


Mit dem neuen Arm in der Hand kam er wieder aus dem Lager und sah den erstaunt verwirrten Ausdruck in den Augen der jungen Dame. »Keine Angst. Ich bin ein Mensch. Genau wie du auch. Nur der eine Arm ist nicht mehr echt.« Mit einem Ruck klinkte er die neue Extremität unter seinem Shirt in die Schulter ein. Der Arm zuckte einige Male und dann sah Jiyai deutlich wie Mergy seine neuen Finger prüfte. »Ja, es ist der Arm. Der Finger geht wieder. Wenn der Doc nichts an der Schnittstelle findet, dann soll er das Teil an Tin zur Prüfung übergeben.« »Verstanden.« »Übertreibe es nicht mit der Arbeit. Es ist Weihnachten!«, lächelte Mergy und klopfte mit der neuen Hand im Vorbeigehen auf ihre Schulter. Jiyai lächelte und schaute ihm hinterher: »Mergy ist auch ziemlich nett.«


Als May nach dem ausgiebigen Frühstück auf dem Kommandodeck eintraf, traute sie ihren Augen nicht. Zwei Sabs arbeiteten an zwei Konsolen. »Wieso brauchen wir jetzt auch noch ein Sab Hologramm?« »Ich bin kein Hologramm.«, antworteten beide fast zeitgleich ziemlich muffelig. »Wie jetzt?« Trish grinste. »Stimmt, du warst ja gestern nicht da. Eine zweite Sab ist durch die Zeit gefallen. Das ist eine Folge ihrer Rettung durch Mergy. Natürliche Ordnung der Zeit nennt sich das.« May hatte viel über Zeitreisen gelesen und auch diverse Filme darüber gesehen. Sie musste aber feststellen, die dahinter liegende Theorie unterschied sich oft schon von Film zu Film. »Eine von euch wird also einfach so wieder verschwinden?«, fragte May unsicher nach.


»Ich werde verschwinden.«, gab die Rechte der Beiden zu verstehen und wendete sich gleich wieder ihrer Aufgabe zu, als ob das Verschwinden an sich ihr nichts ausmachen würde. »Es ist dir egal einfach so zu verschwinden?«, war der kleine Kommander mehr als nur erschrocken. »Ich kann es nicht ändern und da ich nachher dort sitze, macht es keinen Unterschied.« May schmunzelte. Sab war so abgeklärt und hart wie immer. »Du solltest an deiner Weihnachtsrede schreiben. Um 18 Uhr wird die nämlich erwartet.«, war es die andere Sab, die jetzt in ungewohnt freundlicher Tonlage zu ihr sprach. »Ich?« »Ja, Mergy ist nicht da und du bist der einzige Kommander, der noch keine echte Redeerfahrung gesammelt hat.« »Was soll ich da sagen?« »Tja, das liegt jetzt ganz bei dir. Sind ja noch ein paar Stunden hin.«


May war mulmig. Sie sollte vor dem kompletten Stationspersonal eine Rede halten und offensichtlich war niemand gewillt ihr dabei zu helfen. Zum ersten Mal wäre sie lieber kein Kommander geworden, sondern nur ein Pilot, der sich gemütlich die Rede anhören darf. Über Mergy hatte sie damals auf dem Stein noch gewitzelt und jetzt war sie in der gleichen Situation und es war gar nicht mehr so spaßig. Im Büro grübelte sie Stundenlang über einem geeigneten Text und suchte in den Datenbanken nach passenden Anregungen. Dann war es schließlich soweit. »Unterraum Übertragung zur Mystery steht, holographische Aufzeichnung beginnt in 3 Sekunden.«, hörte May die Stimme von Jaque in ihrem Kopf.


Der kleine Kommander stand im Sors, aber die Örtlichkeit sah komplett anders aus, als noch wenige Stunden zuvor. Die Spiele waren entfernt und dafür war das Lokal um viele Tische erweitert worden, die nun eng zusammen und festlich geschmückt im Raum standen. Kerzen leuchteten von den Tischen, das Licht war leicht gedämpft und es duftete nach einer Mischung aus Tannengrün, Kerzenwachs und Lebkuchen. Selbst Sor trug neben einem roten T-Shirt eine rote Mütze mit weißem Bommel. Die meisten der Anwesenden schauten jetzt erwartungsvoll zu May auf, die direkt am Eingang auf einem kleinen Podest stand. Der Raum war erfüllt von leichtem erwartungsvollem Gemurmel.


»Für alle die mich noch nicht kennen, ich bin Kommander May.« Dieser Satz wurde schon einmal von Mergy verwendet, um die Situation mit einem Witz aufzulockern. May aber meinte es diesmal ernst. Es gab so viele neue Gesichter auf der Station und nicht alle waren ihr bekannt und so vermutete sie, umgekehrt gäbe es diesbezüglich auch einige Unklarheiten. »Weihnachten – geschmückte Bäume, Kerzen, Geschenke und Lebkuchen – Ich persönlich kann mit diesen Dingen nicht viel anfangen. Für mich persönlich ist Weihnachten mehr ein Fest der Familie. – Aber was ist eigentlich eine Familie? In einer Familie ist man für einander da und steht in guten und schlechten Zeiten zusammen, um alle Hürden des Lebens zu nehmen. Wir alle zusammen sind so eine Familie. Uns vereint aber mehr als nur der Name des Teams. Wenn wir zurückdenken, so haben wir im letzten Jahr viel über uns gelernt und erfahren. Wir sind nicht unbesiegbar und wir dürfen nicht dem Hochmut verfallen. Wir haben aber auch gelernt uns nicht alleine zu fühlen. Egal wie schlimm eine Sache auch aussieht. Es ist immer jemand da, der sich kümmert. Zusammen haben wir das vergangene Jahr durchgestanden. Wir wissen nun, wir können uns aufeinander verlassen und sind gemeinsam stärker als jeder Feind. Ich persönlich feierte hier und heute den Zusammenhalt dieser speziellen Familie.«


Der Raum war still und niemand traute sich auch nur zu husten oder zu laut zu Atmen. »Wir sollten aber auch die nicht vergessen, die wir nicht täglich sehen oder wahrnehmen und die auch zu dieser besonderen Familie gehören. Ihre Arbeit ist für die Gemeinschaft genauso wichtig, wie die eines einzelnen Piloten oder Kadetten. Kommander Tin sorgt immer für die beste Ausrüstung zur Erfüllung unserer Pflicht. Doc und Sandra sind Tag und Nacht in Bereitschaft, um uns zu medizinisch zu versorgen, wenn es nötig werden sollte. Daneen bringt unsere Geschichten, unser Leben, den Menschen unten auf der Erde näher und erleichtert damit unsere Arbeit. Ja, sogar Jaque und Sor verdienen Anerkennung. Sie sind zwar keine Menschen, aber sie sind Teil dieser Mannschaft und somit auch dieser Familie. Sie versehen vorbildlich ihren Dienst und helfen uns jeden Tag. Auch sie sollten mit dem nötigen Respekt behandelt werden. Oft reicht dazu schon ein einfaches Danke. Ich möchte jedenfalls diese Gelegenheit nutzen, um noch einmal allen Familienmitgliedern meinen persönlichen Dank auszusprechen. Keine Familie zu haben ist ein schlimmes Gefühl. Das kenne ich nur zu gut. Und wenn wir schon diesen Feiertag mit Geschenken in Verbindung bringen, dann haben wir mit dieser Familie das Größte aller Geschenke bekommen. Frohe Weihnachten!«


Die komplette Mannschaft im Saal applaudierte und trampelte mit den Füßen auf dem Boden. May verließ, sichtlich erleichtert es hinter sich gebracht zu haben, das Podium und setzte sich zu den anderen Kommandern an den Tisch der Führung. Eigentlich hätte May sich lieber zu den anderen Piloten, speziell zu Nim, gesetzt, aber Sab meinte es wäre Tradition. Auch müsste man dem Personal regelmäßig die eigene ranglich höher gestellte Position vor Augen führen, um den Respekt zu wahren. Der Tisch war sowieso stark unterbesetzt. Mergy war auf dem Planeten und Trish war mit der zweiten Sab auf dem Kommandodeck. Sie wollte sie nicht alleine da oben hocken lassen und zwei Sabs im Sors würden nur Fragen aufwerfen, die man nicht zu beantworten gewillt war. So saßen nur Reiko, Tin, Daneen, Sandra, Sab und der Doc am Tisch. »Danke für die netten Worte.«, lächelte Daneen und die Anderen stimmten zu, war ihre Arbeit doch oft einfach hingenommen worden. Selbst Sor konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen, als er den ersten Gang, eine Festtagssuppe, auftischte.


Auch auf dem Planeten feierte man Weihnachten. Mergy zusammen mit Anjas Familie. Er hatte Anja beiseite genommen und sie hatten sich für einige Augenblicke zurückgezogen, um sich die Rede von May anzuhören. Der Sparx, den Mergy schon den ganzen Abend unsichtbar Fotos und Filmaufnahmen machen ließ, zeigte die Übertragung der Rede als kleines Hologramm. »Das war eine wirklich schöne Rede!«, merkte Anja an und Mergy stimmte bewundernd zu. Ihre Rede war hervorragend und brauchte sich hinter seinen nicht zu verstecken. Im Gegenteil.


Vielleicht war es der väterliche Stolz, der da aus ihm Sprach, aber er fand diese Rede wirklich besser als jede von seinen zuvor. Auf dem Kommandodeck der Station saßen die beiden Kommander und tafelten ebenfalls Suppe aus dem Nahrungsverteiler. Wie eine große Familie saßen sie zusammen und auch die, die nicht unmittelbar dabei sein konnten, wurden gedanklich nicht vergessen. Weit entfernt im All wurde auf der Mystery genauso gefeiert, wie auf der Erde und der Station. Es war ein schöner Brauch. Das musste sich auch May eingestehen, als sie in die fröhlich mampfende Runde blickte.


Nach dem Essen verschwand May mit Nim in ihrem Quartier. Zusammen gekuschelt saßen sie auf dem Sofa und genossen die Nähe. »Ich hab hier was für dich.« Nim hielt ein kleines Geschenk in die Höhe. »Wir wollten uns doch nichts schenken. Jetzt habe ich nichts für dich.« »Ist doch nicht schlimm. Mach' es auf.« Vorsichtiger als nötig öffnete sie das Papier. Es war ein Buch, dessen Einband durch das Leder sehr Edel wirkte. Vorne drauf stand in einer dunklen Prägung »Mays Abenteuer mit Nim«. Bereits auf der ersten Seite fand sie ein Bild von sich und Nim.


Es war offensichtlich von der Überwachungskamera der Krankenstation aufgenommen worden, als diese am noch Rand des Sonnensystems auf dem Stein parkte. Das Bild zeigte ihren ersten Kuss und so stand es auch geschrieben darunter. Etwa 15 weitere Seiten waren mit Bildern gefüllt und mit Anmerkungen versehen. Die letzten zwei Seiten waren von ihrem Ausflug auf in New York. »Das ist so wunderschön. Danke sehr!« Mehr brachte May nicht heraus und drückte Nim einen innigen Kuss auf. Noch nie hatte sie so ein persönliches Geschenk erhalten. Es gab zwar Karten und andere Kleinigkeiten wie das Bild mit Mergy auf dem Motorrad, aber dieses Buch hatte für sie schon in den ersten Sekunden einen unschätzbaren Wert bekommen.


Nim beobachtete, wie sie mehrmals jede einzelne Seite durchblätterte, genau betrachtete und wiederholt die Kommentare las. »Ich liebe dich!«, brachte sie schließlich die Worte heraus, die als einzige die Gefühle ausdrücken konnten, die sie in diesem Moment hatte. Das wurde ihr nochmal vor Augen geführt, als sie gestern dachte sie hätte ihn für immer verloren. Der gleichsam innige und bedeutsame Moment wurde abrupt durch die Tür unterbrochen, die ihre Signallaute im Raum verstreute. May legte das Buch vorsichtig auf den Tisch und drückte den Knopf neben der Wohnungstür. Nach einer kurzen Pause der Verwunderung brach sie in schallendem Lachen aus. »Ich habe dich fast nicht erkannt!«, prustete May, als sie sich wieder halbwegs gefasst hatte. Auch Nim konnte sich einen Lacher nicht verkneifen.


Vor der Tür stand der Doc in einem Weihnachtsmannkostüm. Er hatte optisch bestimmt 30 bis 40 Kilo zugelegt und der Bart mit dem weißen Haar tat sein übriges. May winkte ihn hinein. »Du bist noch gar nicht umgezogen. Wir müssen doch gleich los.«, erklärte der Doc und sowohl May, als auch Nim hatten keine Ahnung wovon er da gerade sprach. »Mergy hat vergessen es dir zu sagen, oder? Sein geheimer Weihnachtsplan?« »Der war wohl zu geheim.«, grinste Nim und May stimmte zu. »Das sieht ihm ähnlich. Zieh' dich um. Die Sachen müssten in deinem Schrank hängen.« May verzog sich in ihr Schlafzimmer und wenige Momente später hörte man nur ein lautes: »Das ist nicht dein Ernst, oder?« Jetzt war es der Weihnachtsmann, der lachte und dabei absichtlich eine tiefe weihnachtsmännliche Tonlage wählte. Nim war nur gespannt, was jetzt passieren würde. Außer einem leisen Klingeln war aus dem Schlafzimmer kein weiteres Geräusch zu hören.


Dann trat ein grüner Elf aus dem Schlafzimmer. Nim brach sofort in Lachen aus und kugelte sich auf dem Sofa. May trug eine spitze grüne Mütze, die mit rot weißen Ringen verziert war, eine grüne Jacke, die ebenfalls Ornamente in rot und weiß enthielt und eine grüne Hose. Dazu grüne, spitz zulaufende Schuhe, mit kleinen Glöckchen an der Spitze. »Die Schuhe!«, waren die einzigen klaren Worte, die man von Nim zu hören bekam. »Dann mal los.«, tat der Doc immer noch sehr geheimnisvoll und nahm Nim gleich mit, weil er ihn auch gebrauchen könne, wie er sagte. Der Lift hielt im Sektor drei und der Weg führte in das neue Hangardeck, wo schon zwei Mantas mit offenem Heck standen. Suki rückte zusammen mit Charlie Weihnachtsbäume in einen von ihnen. »Wie weit seit ihr?«, erkundigte sich der Weihnachtsarzt.


»Das war der Letzte. Wir sind startklar.«, drehte sich Suki um und brach in Lachen aus, als sie die beiden in ihrem Kostümen sah. »May sieht nicht so begeistert aus. Sie ist ja jetzt schon ganz Grün!«, kicherte Suki, obwohl sie selbst ein identisches Kostüm trug und Nim stimmte lachend zu. »Was ist das?«, fragte May den Doc, als ein weiteres Gerät am Lichtkran hängend über dem Deck schwebte und sanft angesetzt wurde. »Das ist Rudolph One« Der Doc legte eindeutig zu viel Witz in die Betonung des Namens. »Die Bezeichnung hat Mergy sich ausgedacht, oder?« »Ja, meistens liegt er ziemlich daneben, wenn es um Namen geht.«, grinste der Doc. Als das unbekannte Gerät auf dem Deck landete, war klar, um was es sich bei dem Fluggerät handelte: Es war ein roter mit Goldstreifen und Tannengrün geschmückter Schlitten! Ein Weihnachtsschlitten um genau zu sein.


»Den hat Mergy mit Tin entworfen. Das war nach dem letzten Weihnachtsfest und jetzt hat er keine Zeit und es bleibt alles an uns hängen.«, erklärte der Doc mehr witzig als verärgert. Er schien sich offensichtlich über die Abwechslung zu freuen. »Und was machen wir damit?«, fragte May noch immer unsicher über ihre eigentliche Aufgabe. »Wir verbreiten das Weihnachtswunder und machen Kinder glücklich. Der eine Manta ist voller Bäume und der Andere voller Geschenke. Einige Repligens werden weitere Dinge herstellen, während wir sie verteilen. Wir können nicht alle Kinder glücklich machen, aber wenigstens die, die etwas Freude gebrauchen können.«


Augenblicklich verstand May den Sinn der Kostüme und Kindern eine Freude zu machen, war sehr weihnachtlich und das verstand sie um so mehr. »Fehlen da nicht Rentiere?«, fragte May weiter und deutete auf die Front des Gefährts. »Abwarten. Nim du fliegst bei Suki mit. Wir werden sie bei ihren Eltern absetzen und du übernimmst von da an.« »Ich darf doch noch keinen Manta fliegen.«, erklärte Nim etwas bedrückt jetzt doch nicht an diesem wundersamen Sondereinsatz teilnehmen zu dürfen. »Suki, du startest und Nim übernimmt die Steuerung. Genauso, wie ich es damals bei dir gemacht habe.«, erklärte May: »Dann hat er schon etwas Praxis, wenn er komplett übernimmt. Landen kann ich ja im Zweifel später.« »Ist das auch eine gute Idee?«, fragte der Doc unsicher nach und auch Nim war erstaunt von ihrem Vorschlag. Er freute sich zwar einen Manta fliegen zu dürfen, aber etwas mulmig war ihm schon.


»Das klappt schon. Da habe ich also doch noch ein kleines Weihnachtsgeschenk für meinen Freund.«, lächelte May und Nim drückte seiner Elfin einen Schmatzer auf. »Los, auseinander. Das ist eine jugendfreie Mission!«, trennte Suki die Beiden an ihre Schultern greifend und zog Nim Richtung Manta. »Hast du das hier schon mal geflogen?«, war es jetzt May die unsicher auf den Schlitten und den Doc schaute. »Das bekommen wir schon hin. – Denke ich.« May war sichtlich unwohl, als sie auf dem Schlitten Platz nahm. Er war ungewohnt. Es gab kein Dach, keine Fenster, sondern wohl nur einen Schutzschild, der den Schlitten vor dem All und später dem Fahrtwind schützte. Der Doc aktivierte das Gefährt und da wo eben noch die Rentiere vermisst wurden, erschienen plötzlich welche. »Holographische Rentiere! Wie schön!«, jauchzte May entzückt, als sie die 6 Tiere vor dem Schlitten erblickte, die sich zu dem auch noch wie echte Tiere verhielten.


»Suki an Obs, Santamanta 1, Santamanta 2 und Docolaus sind startklar.«, witzelte der Pilot nach einer Startfreigabe. »Übertreibt es nicht das draußen. Viel Spaß!«, wünschte Trish und gab den Flug frei. Die Mantas flogen voraus und die Tiere begannen den Schlitten zu ziehen. So sah es zumindest für Außenstehende aus. Der Schlitten verfügte natürlich auch über einen normalen Antigravitationsantrieb und die Tiere dienten nur dazu das gängige Bild eines Weihnachtsmannschlittens zu komplettieren. Noch vor dem Erreichen des Alls wurden die Mantas und der Schlitten getarnt. Es war schließlich kein echtes Weihnachtswunder, wenn jeder gleich von der Beteiligung durch Ray Team wusste.


Der Kurs führte an der kleinen Raumstation vorbei zur Erde. Auch wenn der Doc beiläufig so tat, als hätte man ihm diese Aufgabe aufgezwungen, genoss er es. Das war schon an den ersten Kommentaren zu erkennen, die er abließ: »Tarnvorrichtung aus, Check! Elfenstaub ein, Check.« May schmunzelte. Der Doc war für seine Verhältnisse regelrecht aufgekratzt. »Elfenstaub?«, fragte May nach. Der Doc deutete nur nach hinten und ging weiter seine Liste durch. Ein goldener Schweif aus Goldnebel zog sich glitzernd hinter dem Schlitten her. Das sah so schon toll aus, aber von außen musste es atemberaubend sein.


»Steuerkontrolle, Check. Wooooooohoooooo!«, tönte es aus dem Weihnachtsmann und May drückte es in den Sitz. Der Doc ließ den Schlitten samt Rentieren um seine Längsachse rotieren. »Heh, deine Freundin wird jetzt auch im Gesicht grün.«, kommentierte Suki die Situation auf dem Schlitten. »Glöckchen, Check.« Das rhythmische Klingeln von kleinen Glöckchen im Takt der Rentierschritte ertönte aus dem Gefährt und ersetzte wohl das leise Grundfauchen normaler Gleiter. »Und zu guter letzt. Hoho, Check!« Ein lautes »Ho, Ho, Ho« hallte vom Himmel herab. Das war also der Weihnachtsschrei. »Sind wir jetzt endlich durch?«, fragte May sich immer noch an den Sitz klammernd. »Steuerkontrolle, Check. Wooooooohoooooo!«


Absichtlich wiederholte er breit grinsend das Rollen um die Längsachse, da er gemerkt hatte wie unbehaglich May dabei zu mute gewesen war. »Ahhh, könntest du das lassen?« »Du bist aber kein guter Beiflieger.« Deutlich waren die hochgezogenen Mundwinkel hinter seinem aufgeklebten Bart zu erkennen: »Dabei kannst du bei technischen Problemen einfach wegfliegen, während ich die eigentlichen Probleme bekomme.« So ganz unrecht hatte er nicht. Sie war überhaupt nicht in Gefahr und doch war ihr durch diese Flugmanöver richtig Flau im Magen geworden. Sie hatte bestimmt schon um Längen schlimmere Flugkurven geflogen und es hatte ihr nie etwas ausgemacht, aber dieser Schlitten war übel. Entweder war es die offene Bauweise oder die Tatsache das der Doc ihn flog. Egal was es auch war, sie hoffte, es würde sich bald legen.


Ein Passagierflugzeug kreuzte ihre Route und der Doc konnte nicht umhin eine Schleife zu fliegen und das Flugzeug ganz langsam zu überholen. Sofort waren die Fensterplätze umringt von Köpfen, die die beiden in ihrem Schlitten sehen wollten. Auch die Piloten schauten leicht verwirrt dein, als der rote von Rentieren gezogene Holzschlitten langsam an ihrem Jet vorbei zog. Erklären konnten sie das nicht und auf der Erde würde man ihnen auch nicht glauben, denn der Schlitten war für das Radar genauso unsichtbar wie ein Gleiter oder ein Manta. Lediglich die vielen Kameras der Mobiltelefone würden später das Weihnachtswunder für den Rest der Welt dokumentieren. Der Doc ließ den Schlitten an Höhe verlieren. Zum ersten Mal sahen sie eine weihnachtlich geschmückte Stadt unter sich. Im Tiefflug und nicht ohne das ein oder andere Ho-Ho-Ho ging es über die Häuser.


»Da ist unser erstes Ziel. Wir landen auf dem Dach.« Sanft setzte der Schlitten sanft auf dem flachen Krankenhausdach auf. Umringt von Glitzer, der den normalen Transportmarker ersetzte, erschienen die Beiden in einer ziemlich neutral wirkenden Halle mit einem kümmerlichen Baum, der durch den lustlos angebrachten und nicht weniger kümmerlichen Schmuck nur noch jämmerlicher wirkte. Der zweite Elf mit dem Ersatzbaum glitzerte hinein und der Docolaus ließ den alten Baum mitsamt der öden und lieblosen Dekoration einfach verschwinden.


Schnell war der Stecker in der Dose und der neue, deutlich höhere Baum verstrahlte einen ganz neuen Glanz in den großen Raum. Suki verteilte noch ein paar kleinere Dekorationssterne im Raum und dann landete eine riesige Menge Geschenke unter der Tanne. »Sieht gut aus, Abflug!« »Was ist denn hier los?«, kam eine Schwester um die Ecke, sah aber nur noch den restlichen Glitzer des Transports zu Boden rieseln. Sie hatte noch nicht so recht begriffen was hier gerade passiert war, da schoss auch schon der Schlitten klingelnd am Fenster vorbei und verschwand im Nachthimmel.


Heime und Krankenhäuser auf der ganzen Welt waren ihr primäres Ziel. Es gab aber auch einige kleinere Wohnungen, die sogar May für erbärmlich und unzumutbar hielt. Während die anderen die Dekoration aufstellten, ließ sie die Repligens der Mantas die Tapeten der Wände erneuern, den Teppich reinigen und einige Möbel reparieren. Zu gerne hätte sie in einigen Wohnzimmern mehr gemacht, aber der enge Zeitplan ließ nicht viel Luft für umfangreichere Restaurationen. Dann waren sie wieder auf dem Weg zum nächsten Ziel. In einem kleinen Waisenhaus kam es dann zum Supergau. Naja, fast zumindest. Statt den Baum und die Geschenke auf dem Boden neben dem Treppengeländer zu landen, erschienen sie auf der anderen Seite mitten in der Luft direkt über der Treppe. May konnte die ganzen Dinge gerade noch in der Luft fangen, indem sie selbige kontrollierte, auf die richtige Raumseite schob und dort vorsichtig absetzte.


Diesmal wurden sie aber dennoch richtig erwischt. Ein kleines Mädchen kam mit ihrem alten zerliebten Teddy aus einem der Zimmer und rieb sich die Augen. »Wer bist du denn?«, fragte es May direkt. »Ich bin ein Weihnachtself und helfe dem Weihnachtsmann und wer bist du?« »Sofie« »Freut' mich dich kennen zu lernen Sofie.« »Du siehst aus wie May vom Ray Team.« Suki konnte sich das Kichern nicht verkneifen. »Das denken viele.«, blieb May neutral, um das Weihnachtswunder nicht zu zerstören. »Wer sind sie und was machen sie hier?«, war es nun eine ältere Frau, die sich angelockt vom Krach und den Stimmen in einem Bademantel blicken ließ.


»Raten sie doch mal.«, war es diesmal der Doc, der das Wort auf sich zog. »Sie sind Frau Giesela Herning, richtig?« »Ja, woher wissen sie das?« »Ich bin der Weihnachtsmann, schon vergessen! Dann kann ich ihnen den Brief auch direkt geben. Frohe Weihnachten.« Ohne weitere Worte verschwanden die drei wieder in einem Glitzerregen, nicht ohne mit dem Schlitten noch einmal vor dem Fenster zu erscheinen. »Was war in dem Brief?«, fragte May neugierig nach. »Geld. Naja, der Hinweis auf kommendes Geld. Das Heim sollte im Januar geschlossen werden und die Kinder wären auf andere Heime verteilt worden. Damit kommen sie zumindest das nächste Jahr über die Runden und die Kinder können zusammen bleiben.« »Du bist wirklich der Weihnachtsmann!«, musste es nun auch May einsehen und kuschelte sich an ihren dicken Sitznachbarn.


»Können wir noch einen kleinen Umweg fliegen?« »Nur, wenn es nicht zu lange dauert. Der Zeitplan ist eng.« »Tut es nicht. Liegt um die Ecke. Es geht nach Augustdorf.« Der Doc lächelte, ließ noch einmal ein »Ho, Ho, Ho« über der Stadt ertönen und dann ging der Rentierschlitten auf Überschall. Mergy, Anja und ihre Familie hatten das Essen auch schon lange beendet und saßen in gemütlicher Runde zusammen, als ein Knall über ihren Köpfen ertönte. Alles lauschte gespannt und dann hörte man die wiederholenden Klänge der Glöckchen lauter werden. An der Haustür angekommen sahen sie den Schlitten mit einem alles übertönenden »Ho, Ho, Ho« in einem weiten Bogen über sie hinweg ziehen. Zwei kleine Nikoläuse erschienen in einem Wirbel aus Goldstaub auf der Haustreppe. Sie waren mit einer Schleife verbunden und daran baumelte eine kleine Karte: »Frohe Weihnachten ihr zwei!«


Auf der Station versammelten sich derweil Trish, Tin und die beiden Sabs zur Verabschiedung. »Was soll der Quatsch. Ich stehe da und werde mich sowieso nicht daran erinnern können.« »Wirst du doch. Auch wenn du dich an nichts erinnern wirst, so werde ich mich erinnern.«, merkte die andere Sab. »Wir wissen ja nicht mal wann es genau passiert.«, versuchte die andere Sab immer noch die Anderen von der ungewohnten Aufmerksamkeit abzubringen: »Vielleicht stehen wir hier noch Stunden–« Ihre Kleidung fiel mitten im halb gesprochenen Satz, zusammen mit ihrem Weihnachtsessen und anderem unappetitlichen Zeug zu Boden. »Die Materie aus der Vergangenheit ist weg.«, merkte Tin trocken an und Sab beorderte Jaque gleich die Reste zu entsorgen, als stammten sie nur aus einer umgekippten Mülltonne.


Ein Alarmton schrillte über das Deck. »Was ist los?« »Hüllenbruch in Turm 3, Oben. Luken im Turm schließen, Repligens zur Reparatur schicken und die Station nach weiteren Löchern absuchen.«, war Sab wieder in ihrem Element. »Systemprüfung abgeschlossen. Keine Schäden an der Technik.«, merkte Tin an, die die letzten Tage vergeblich versucht hatte herauszufinden, was mit der Energie passiert war, die Sab aus der Vergangenheit mitgebracht hatte. »Da haben wir wohl Glück gehabt.« »Empfange Multicontrollernotsignal.«, meldete Jaque und Trish lokalisierte sofort die Position: »Turm 3. Es ist ein Neuzugang. Jiyai. Aktiviere Nottransport. Hast du den Turm nicht gescannt?« Erschrocken starrte Sab nach hinten. Sie hatte den Turm nicht gescannt.


Nur die Außenwände, die eine potentielle Gefahr darstellten waren von ihr überprüft worden. Sie hatte nicht einmal angenommen eine Person könnte sich dort aufhalten. Aber viel tiefer traf sie, ausgerechnet Jiyai in Gefahr gebracht zu haben. Ohne etwas zu ihrem Fehler zu sagen, war Sab im Lift verschwunden. »Was ist mit ihr los?«, fragte Tin schließlich. »Vielleicht die Doppelgängersache?« »Habe diverse Mikrofrakturen in den Außenringen und den anderen Türmen gefunden.« »Macht Sinn, die wurden zuletzt gebaut, aber das war niemals ein Repligen alleine.« »Nein, ich habe mit Passiv-Energie Repligens ohne eigenen Reaktor experimentiert. Die haben sich die Energie bei der Arbeit von den Schilden der Station abgezapft. Dabei hat sich die Sab Energie über die gesamte Station verteilt.« »Wenigstens können wir Probleme in den Quartieren und des Kerns ausschließen.« »Sieht so aus, als hätten wir noch einmal Glück gehabt.«


Sab eilte in die Krankenstation, wo Sandra sich um Jiyai kümmerte. »Wie geht es dir?«, fragte Sab gleich in besorgtem Ton los, der selbst Sandra erstaunte. »Noch ein bisschen kalt.« »Es tut mir so leid. Das war mein Fehler und zwar in jederlei Hinsicht.« Damit spielte sie sowohl auf den fehlenden Scan des Turm, als auch ihre Rettung durch die Zeit an, durch die das Problem erst entstehen konnte. Sab nahm die Kleine fest in den Arm. Sandra konnte nur verwundert dem Geschehen zuschauen. Beide genossen die Umarmung. Obwohl sie beide eine unterschiedliche Vergangenheit hatten und sich erst kurz kannten, war es für sie die erste richtige Umarmung seit langer Zeit.


Seit vielen Stunden rauschten May und Doc nun in ihrem Schlitten über die nächtlichen Himmel dieser Welt. Unsichtbar folgten die beiden Mantas ihrem rot bemantelten Anführer. Suki war bereits Zuhause abgesetzt worden und Nim flog alleine. »Das ist der letzte Eintrag. Mist!«, schallte es wenig weihnachtlich aus dem rot gekleideten Doc. »Was ist?« »Der ist falsch sortiert, wir hätten vor Stunden da sein müssen.« »Ist doch nicht schlimm. Was machen schon ein paar Stunden?« »Da ist es jetzt taghell und die Kinder sind alle schon wach.« Das entsprach nicht so ganz dem Plan, soviel musste May einsehen, aber ein echtes Problem war das trotzdem nicht. »Fliegen wir getarnt hin, machen den Kindern eine Freude und verschwinden ohne Tarnung. Dann gibt es keine Probleme und alle sind glücklich.«


Der Doc überlegte und kam zum selben Schluss. Die Kinder nicht anzufliegen wäre nicht sehr weihnachtlich. Es wäre gemein sie für einen Fehler zu bestrafen, den andere gemacht hatten. Für den Doc gab es auch nur diese eine Lösung und so tarnte er seinen Schlitten und es ging auf Überschall. Als sie im Zielgebiet eintrafen, war es wirklich schon hell. Das Dach war zum Landen nicht geeignet und getarnt auf der Straße zu gefährlich. Also blieb der Schlitten im Schwebeflug vor dem länglichen Haus. »Auch ein Heim?«, fragte May und der Doc nickte. Ein Scan zeigte fast alle Kinder ruhig in einem großen Raum versammelt. Sie frühstückten gemeinsam. Ein freier Platz in der Mitte, an dem anscheinend auch ein Baum stand, diente als Personenlandeplatz und die beiden Boten der Fröhlichkeit glitzerten in den Raum.


Das Gebrabbel der Kinder nahm schlagartig ab. May schaute in die Runde. Die Kinder starrten die Beiden erwartungsvoll mit großen Augen und offenen Mündern an. »Ich glaube hier sind wir richtig.«, schmunzelte May: »Tut uns leid das wir so spät sind, aber Dickerchen hat sich verflogen.« Dabei klopfte sie genüsslich auf den weichen Schaumbauch, den der Doc schon seit Stunden vor sich her schob. »Das war ich nicht. Das war Daneen.«, schob der Weihnachtsmann die Schuld, ohne den Mund zu öffnen zwischen den Zähnen hindurch, jemandem anders zu. May stupste einige der Lichter am Baum, aber sie versagten ihren Dienst. Der Schmuck des Baums war komplett selbst gebastelt. May konnte die Freude und Liebe, die in dem Schmuck steckte förmlich sehen. »Schau mal. Du bist gut getroffen.«, grinste der grüne Elf. Ein aus Pappe ausgeschnittener und mit Folien und Tannengrün verzierter kleiner Schlitten hatte ihre Aufmerksamkeit erhascht. Der Doc schmunzelte hinter seinem Bart und die Unsicherheit, die die vielen Blicke in ihm erzeugte, wurde langsam kleiner.


»Einmal zur Reparatur an den Nordpol.«, rief May noch laut und dann entschwand der Baum in einem Glitzernebel und von einem Raunen der Kinder begleitet. Den Baum einfach gegen einen anderen zu tauschen wäre angesichts der liebevollen Dekoration nicht angemessen gewesen. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis der große Baum wieder im Raum erschien und optisch unverändert schien. May drückte den Stecker wieder in die Dose und die Kerzen erstrahlten und reflektierten hundertfach in dem schönen Schmuck. Die zwei Frauen, die die Kinder offensichtlich betreuten, waren genauso erfasst von diesem Weihnachtswunder, wie die Kinder selbst.


»Wenn ich mich hier so umsehe, so muss ich sagen: Ich habe heute Nacht viel Weihnachtsschmuck gesehen, aber dieser Baum hier, ist mit Abstand der Schönste.«, war der Doc nun doch selbst etwas aufgetaut und lobte das Werk der kleinen Weihnachtszwerge, die immer noch still und leise auf ihren Stühlen saßen und gespannt warteten. »Wart ihr auch alle brav?« »Ja!«, tönte es aus allen Richtungen. »Sicher?«, fragte der Weihnachtsmann erneut in die Meute und erntete wieder ein einvernehmliches »Ja!« »Das werde ich dann wohl glauben müssen. Der Elf hier hat nämlich mein Zauberbuch verbummelt.«, improvisierte der Doc und revanchierte sich auch für Mays Anschuldigung sich verflogen zu haben. May zuckte nur grinsend mit den Schultern und einige der Kinder schienen ihr dafür dankbar zu sein.


Dann kam der große Moment und hoch über den Köpfen der Kinder funkelten die Geschenke in den Raum, die May spektakulär und mit allerlei Flugakrobatik unter dem Baum stapelte. Die Sogwirkung der Geschenke musste gigantisch auf die Kinder eingewirkt haben, aber keines traute sich den bunten Schachteln zu nähern. »Los geht es! Auspacken! Aber jeder nur eins!«, rief May und das ließen sich die Kinder nicht zweimal sagen. Es dauerte nicht lang und der Raum war voller Teddies, Puppen, Kreisel, Bauklötze und Spielzeugautos in allen Formen und Farben. Als May sich zum Doc umdrehte, hing ein Mädchen vor seinem Schaumbauch und versuchte ihn zu umarmen, was nicht einmal ansatzweise klappen konnte. May kugelte sich vor Lachen.


Der Doc sah trotz Verkleidung ziemlich unbeholfen aus und war mit der Situation komplett überfordert. »Den Weihnachtsmann muss ich leider wieder mitnehmen.«, lächelte May freundlich vor dem Kind kniend, welches wie ein Floh auf sie übersprang. May nahm das an ihr klebende Paket und reichte ihm eins der unter dem Baum verbliebenen Geschenke. Schnell war das Papier entfernt und eine Puppe in einem rosa Kleid kam in seiner Schachtel hervor. Jetzt war May abgeschrieben und das Mädchen wurde wieder eins von vielen.


»Danke!«, kamen die Betreuer auf die beiden Weihnachtsboten zu. »Haben wir gerne gemacht.«, grinste der Doc nun wieder komplett locker. Beide verschwanden in gewohnter Weise auf dem Schlitten, den der Doc gleich enttarnte und ein Ho-Ho-Ho ausrufen ließ. Mehrmals flogen sie an den Fenstern des großen Saals vorbei, um erst dann im Tiefflug über der Stadt zu verschwinden. Getarnt ging es schließlich wieder nach Hause, wo die kleine Truppe nach einer langen Nacht mit einem Lächeln schlafen ging. Ja, selbst May fand ihre Schleimkammer heute weniger abstossend als noch all die Nächte zuvor.

Das dunkle Schloss

Mit einem Rumpeln war der Transporter im All angekommen. Die alte Frau sah in Gedanken versunken auf die kleiner werdende blaue Kugel zurück. Sie würde den Planeten ein letztes Mal so sehen. Egal wie ihr waghalsiger Plan auch ausgehen würde. »Ist bei ihnen alles in Ordnung?«, fragte der Pilot vorsichtig nach hinten, bekam aber keine Antwort. Unbeweglich saß die Frau auf ihrem Platz und schaute weiter Regungslos aus dem Transporterfenster. »Ist bei ihnen alles in Ordnung?«, wiederholte der Chauffeur seine Frage etwas lauter und bestimmter. »Ja, alles gut!«, gab sie nur kurz und knapp eine Information zu ihrem Befinden. Vor ihnen tauchte das schwarze Hauptquartier des Ray Teams auf. Es war im Dunkel des Alls kaum zu erkennen. »Das Versteck!«, dachte sie still in sich hinein.


»Was will sie hier, Kommander?« »In Erinnerungen schwelgen und von der guten alten Zeit träumen. Tun wir ihr den Gefallen. Desto schneller sind wir sie wieder los.«, antwortete Kommander Callwas. »Kommander May ist eine Heldin und wir sollten uns geehrt fühlen sie hier begrüßen zu dürfen.«, antwortete Sash. »Sie haben sich soeben freiwillig gemeldet, sie auf der Station zu begrüßen und sie herumzuführen. Jaque, interne Kommunikation, alle Stationen. Wie vielleicht schon bekannt ist, wird uns heute Kommander May einen Besuch abstatten. Sie ist außer Dienst und hat keinerlei Befehlsgewalt. Sollten ihre Wünsche nicht den Stationsbetrieb und die Sicherheit beeinträchtigen, dann wird das Personal hiermit angewiesen diesen Wünschen folge zu leisten.« Sash nahm diese Anordnung zur Kenntnis, fand sie dennoch falsch und unangemessen.


May schaute sich im Anflug den gewaltigen Bau an. Abgesehen von der Farbe hatte sich so einiges verändert. Die Aussichtskuppeln in den Turmspitzen waren gewaltigen Geschützen gewichen, die schon optisch von ihrer Feuerkraft überzeugen konnten. Auf den Ringen waren unzählige weitere Waffensysteme montiert, die sie mit Schaudern zur Kenntnis nahm: »Die werden euch heute auch nichts nützen!«


Zwei Skimmer sausten am Transporter vorbei. Eine Patrouille. Diese Waffensysteme mit Antrieb und Pilotensitz hatten die Kampfgleiter vor Jahren abgelöst. Der Transporter flog direkt in eines der Hangardecks, wo Sash schon wie befohlen auf den Gast wartete. Mays alte Knochen wollten nicht mehr so wie sie selbst. Zögerlich und mit unsicherem Schritt brauchte sie einige Meter um wieder stabil zu laufen. »Willkommen an Bord, Kommander May. Es ist mir eine Ehre sie persönlich kennen zu lernen. Ich bin Kommander Sash.« Der Name weckte Erinnerungen. Sie kannte auch eine Sash. Ihre Sash hatte neben ihren Pilotentätigkeiten auch einen kleinen Friseursalon auf der Station betrieben. »Anders ausgedrückt: Sie haben den kürzeren Gezogen und müssen sich hier mit mir abgeben.«, warf May bissig zurück: »Callwas hat wohl wichtigeres zu tun, als sich mit einer alten ausgemusterten Tante abzugeben.« »Nein, so ist das nicht.«, versuchte Sash zu klären, aber sie hatte keine Chance. »Keine Sorge, ich kenne Callwas und weiss wie er tickt. Es hat mich schon einiges an Einfluss gekostet, um überhaupt heute hier sein zu dürfen.«, erläuterte der gealterte Kommander.


»Kommen sie.«, geleitete Sash den Gast aus dem Hangar: »Hier geht es lang.« »Kindchen ich habe über 30 Jahre hier gelebt. Damals war die Station allerdings noch Weiß und ein Zeichen des Friedens.« »Wo wollen sie zuerst hin?«, versuchte Sash weiterhin ein Band der Freundschaft zu knüpfen. »Promenade. Ich will einen meiner ältesten noch lebenden Freunde besuchen.« Sash gab den Befehl und der Lift bestätigte. Die Stimme ließ May schlagartig zusammenzucken und in Traurigkeit versinken. Daran hatte sie bei all ihrer Planung nicht gedacht. Ihre Begleitung bemerkte sofort die Stimmungsänderung: »Stimmt etwas nicht, Kommander?« »Die Stimme.« »Die Computerstimme?« »Das ist keine Computerstimme! Das ist eine menschliche Stimme. Sie gehörte Kommander Sab, einer guten Freundin von mir.« »Es tut mir leid. Ich hatte ja keine Ahnung. « »Ist schon gut. Hier wurde über die Jahrzehnte viel zu viel unter den Teppich gekehrt und vergessen.«


Die Lifttür öffnete sich zur Promenade. Die Halle war noch genauso wie May sie in Erinnerung hatte. Oben wie Unten hatte Sor seinen Laden. Kaum war ihre Mutter damals nicht mehr in der Lage gewesen den Laden alleine zu führen, hatte man das Dragon Fly durch ein zweites Sors ersetzt. Das passte wohl besser in das Konzept einer stets kampfbereiten Militärbasis. Unten stach sofort das einzige wirklich Historische auf der Station ins Auge. Kampfgleiter 1 in einer riesigen gläsernen Vitrine. Leicht schräg angewinkelt stand er auf einem Klotz zwischen den Treppen. Als würde er gerade majestätisch eine Kurve fliegen.


Geflogen war er schon seit 50 Jahren nicht mehr. Alle Kampfgleiter waren damals gegen die neuen Skimmer ausgetauscht worden. Kampfgleiter 1 wurde als einziger vor der Verschrottung verschont und hier ausgestellt. »Das man damals damit freiwillig geflogen ist. Es muss eine wilde Zeit gewesen sein?«, merkte Sash an. »Ich weis wer ihn gebaut hat und würde ihn jederzeit einer dieser Flugenten von heute vorziehen. Ich könnte ihnen da Geschichten erzählen. Es war toll – bis die Draken kamen.«, gab May mit traurigem Unterton zu verstehen.


Aber die verdrängten Erinnerungen kamen wieder hoch. Kaum hatten sie die erste Welle Draken mehr schlecht als recht besiegt, da hatten sie sich zum Wiederaufbau auf dem Mond niedergelassen. Sie waren mit der halben Station und den Gleitern fertig, als die Draken zurückkamen. Wie aus dem Nichts tauchten sie auf und griffen auch die neue Basis an. Mergy, Sandra, Suki und viele andere wurden bei diesem zweiten Angriff, an dessen Ende sie wieder vor dem Nichts standen, getötet. Die dritte Welle konnten sie dank massiver Aufrüstung der Gleiter besiegen, aber viele treue Kameraden schafften es nicht. Es war ein teuer erkaufter Sieg. Trish, Sab, Doc und viele weitere ihrer Freunde starben bei der Erfüllung ihrer Pflicht. Nach dieser Welle kamen keine Draken mehr. Sie hatten aufgegeben und beobachteten die Menschen von außen. Es wurden immer mal wieder Drakenschiffe am Rand des Sonnensystems gesichtet, aber sie näherten sich nie. Die Gefahr jedoch war allseits präsent. May und Tin taten alles, um den Laden am Laufen und das Vermächtnis der Anderen zu erhalten, aber mit den Jahren und dem Alter mussten sie mehr und mehr die Leitung abgeben. Schneller als es ihnen lieb war, hatten sie beide nichts mehr zu melden.


»Kleines, schön dich sehen.«, begrüßte Sor May wie schon Tausende Male zuvor. »'Kleines' war schon vor 30 Jahren geschmeichelt alter Freund.«, lächelte der gealterte Kommander und umarmte ihn innig. »Das Ding ist nur ein billiges Hologramm. Hat das der alten Schachtel niemand gesagt?«, hörte May überdeutlich die abwertende Bemerkung von einem der Tische weiter hinten im Raum. May ließ von der Umarmung ab und ging zielstrebig auf den Tisch zu. Ihr Supergehör funktionierte nach wie vor und sie wußte genau, wer die Beleidigung da gerade eben ausgesprochen hatte. »Neben ein wenig Respekt und Anstand bevorzuge ich Kommander als Anrede und nicht alte Schachtel. Des weiteren ist Sor, wie auch Jaque, fester Bestandteil des Stationspersonals. Auch wenn sie keine Menschen sind, so erledigen sie zuverlässig ihre Aufgaben und können durchaus gute Freunde sein. Aber das werdet ihr wohl nie verstehen, weil ihr es nicht einmal versucht.« Der junge Mann war erstarrt. Mit so einer Reaktion hatte er nicht gerechnet und seine Kollegen taten so als wüssten sie nicht worum es ging.


»Das wäre doch nicht nötig gewesen.«, grinste Sor wie er es schon immer getan hatte: »Ich bin doch daran gewöhnt.« »Um so schlimmer. Erniedrigungen werden nicht weniger schlimm, nur weil man sich daran gewöhnt. Sie werden nur noch verletzender.« »Möchtest du etwas Essen? Suppe und Traubensaft?« »Du hast es nicht vergessen, was? Ich habe leider wenig Zeit. Ein anderes Mal, ja?« »Du weißt ja wo du mich findest.«, grinste er wieder und May erinnerte sich an die vielen Parties und Treffen bei denen Sor zugegen war. Besonders ihre erste Begegnung war ihr im Gedächtnis eingeprägt wie keine Zweite. »Ich würde jetzt gerne zu Callwas auf das Kommandodeck fahren.«, merkte May an und ihre Führerin übernahm wieder die Aufgabe eines Gastgebers. Das Kommandodeck selbst hatte sich nicht viel verändert. Die neuen Waffensysteme hatten eigene Konsolen und es waren mehr Menschen anwesend als May hier jemals zusammen gesehen hatte.


»Wie ich sehe sind tote Draken immer noch wichtiger als lebendige Menschen.«, begrüßte May den aktuellen Kommander gleich mit einem ordentlichen Hieb. »Lebendige Draken führen zu toten Menschen.«, erwiderte dieser nur zackig. »Soweit es mir bekannt ist, sind alle in den letzten 40 Jahren getöteten Menschen da draußen bei sinnlosen Kampfhandlungen mit den Draken umgekommen, aber viele Tausend auf der Erde, weil das Ray Team sich mehr um das All, als um den Planeten selbst kümmert. Früher war die Station ein helles Leuchtfeuer und die Gleiter Hoffnungsträger. Heute erwartet man da unten nicht einmal mehr die Hilfe vom Team.« »Die Gefahr ist allgegenwärtig!«, gab Callwas energisch zu verstehen. »Ja, ich hab schon beim Anflug ihre neuen Waffensysteme bewundert. Als wenn die 80 Ikarusplattformen und die unzähligen mobilen Waffenplatformen im Sonnensystem alleine nicht ausreichen würden.« Callwas war sichtlich erstaunt über die Aktualität der Informationen, die May zusammengetragen hatte.


Was aber niemand im Raum bemerkte, war ihre eigentliche Mission. May drückte mit ihren Fähigkeiten die Tür zu den Versorgungsschächten einen Spalt auf und tastete sich unbemerkt durch die Tunnel. »Sind sie nur hier um uns zu beleidigen?«, wurde Callwas ernst. »Sie entehren die Gründer des Teams. Mit jedem Menschen, der da unten nicht von euch gerettet wird, entehrt ihr die Menschen, die für den Planeten gestorben sind. Früher war die Station Weiß und strahlend. Eigentlich ist die neue Farbe gar nicht so schlecht. Die Farbe des Todes.«, wurde May wieder lauter und verbissener. »Sash nehmen sie sie mit, bevor ich hier und jetzt noch jemanden persönlich verbal entehre.«, wies er an und Sash nahm vorsichtig den Arm des nicht länger willkommenen Kommanders. May hatte die Konsole im Versorgungsschacht längst gefunden und den Transportblocker des Kommandoturms abgeschaltet. Mehr wollte sie gar nicht, denn nur das war ihr eigentliches Ziel. Es wäre ihr ein leichtes gewesen diese Sabotate auch von der Promenade aus zu vollführen, aber Callwas noch einmal ordentlich die Meinung blasen, war nur ein willkommener zusätzlicher Bonus.


»Ich finde auch wir sollten unsere Resourcen mehr auf die Erde konzentrieren.«, gab Sash zu verstehen. May nahm das wohlwollend zur Kenntnis, sagte aber nichts dazu. »Wie spät ist es?«, fragte sie schließlich und Jaque antwortete, wie schon seit vielen Jahren nicht mehr, durch seine Stimme in ihrem Kopf. »Es wird Zeit!«, merkte May an, als sie erneut auf der Promenade den Lift verließ: »Gehen sie ins Sor. Es ist besser für sie.« »Nein, ich soll bei ihnen bleiben.«, erwiderte Sash. May stoppte direkt vor dem Kampfgleiter in seinem glänzenden gläsernen Sarg. »Ob der wohl noch fliegt?«, fragte May und ließ es wie eine beiläufige Bemerkung klingen. »Ich weiß nicht. Er hat keine Waffen- und Stabilisatorsteuerung an Bord. Wenn die Reaktoren anlaufen und die Stabilisatoren ersetzt werden, dann vielleicht. Wieso fragen sie?«, fragte Sash erstaunt nach. »Weil ich jetzt ein sehr altes Gerücht in die Tat umsetzen werde.«, sprach May aus und der Schaukasten implodierte vor ihren Augen in kleine Plexiglassteile, die auf und um den Kampfgleiter nieder rieselten.


Ihre Führerin schreckte nach hinten und noch bevor sie sich von dem Schrecken erholt und wieder klar denken konnte, hatte May schon im Gleiter platz genommen. Die Reaktoren waren bereits aktiviert und begannen langsam zu starten. »Suki! Das würde dir gefallen!«, erklärte May mit einem Lächeln. »Wie hat sie das gemacht?«, fragte Callwas, der auf dem Kommandodeck sofort über den Sicherheitsverstoß informiert wurde: »Fliegt der Schrotthaufen noch?« »Er hat keine Stabilisatoren und auch keine Waffen. Die kommt nicht weit.«, erläuterte einer der Offiziere. »Transportiert sie da hinaus.« »Geht nicht, da ist ein Transportblocker aktiv.« »Ein Sicherheitsteam soll sie in Gewahrsam nehmen. Jaque, einen Kanal zur Promenade oder dem Gleiter öffnen. »May machen sie sich nicht unglücklich. Der Gleiter ist nicht flugtauglich. Sie fliegen nirgendwo hin.«


»Callwas, sie glauben, sie haben alles unter Kontrolle mit all ihren Waffen und all ihren Plänen zur Sicherheit. Heute werden ich ihnen demonstrieren, was das alles wirklich Wert ist.« »Kommander May, bitte kommen sie da raus.«, bat auch Sash deutlich freundlicher um Kooperation. »Nein, dazu habe ich keine Zeit. Auf diesen Moment warte ich seit über 23 Jahren.« Die Konsole meldete volle Aktivierung der Reaktoren. May startete den Antrieb und hob sanft ab. Im und vor den beiden Lokalen von Sor waren bereits die Piloten alarmiert, wußten aber nicht so recht was sie jetzt machen sollten. Der Kampfgleiter fauchte und May entfesselte seinen einschüchternden Schrei: »Transport einleiten. Willkommen an Bord Jaque. Systemsicherungspunkt setzen.« »Systemsicherungspunkt gesetzt. Was hast du vor?«, fragte der Computer in gewohnter monotoner Stimmlage.


»Später! Sichere die Lifte und alle anderen Zugänge. Verschließe auch die Hangartore.« Mit ihren Fähigkeiten drückte sie die Menschen auf der Promenade zurück in die Restaurants. Sash flog regelrecht auf ihre Kollegen und die breite Schiebetür zu, die sich direkt hinter ihr schloss. Jetzt waren sie alleine in der großen Halle. »Wie ist das möglich? Sie fliegt ohne Stabilisatoren!«, fragte Callwas, bekam aber keine Antwort: »Kommander May sie kommen da nicht raus, geben sie auf.« Er ließ die mechanischen Außenschotts der oberen Promenade schließen und musste nebenbei das Fehlen des Stationscomputers feststellen. May dachte gar nicht daran aufzugeben: »Und schon wieder liegen sie falsch!« »Ohne Waffen können sie die Stationswände unmöglich durchbrechen.«, fluchte der oberste Stationskomander. »Ich brauche keine Waffen.«, gab May brummig und laut zu verstehen und fügte ein »Ich bin die Waffe!« an, welches aber nicht mehr durch die Kommunikation gesendet wurde.


Der gealterte Kommander öffnete auch die zweite Tür des Gleiters, um ihren Kontakt mit der Luft zu optimieren. Sie schloss ihre Augen und Sekunden später klirrten, zum Entsetzen des leitenden Stationskommanders, die massiven Scheiben der oberen Promenade und regneten wie kleine Kieselsteine zu Boden. May atmete tief durch, fuhr mit der Luft an den schweren Außenplatten entlang. Mit einem Ruck krachte ein großer Teil der Wand ins All. Der Sauerstoff riss die Scherben und herum fliegenden Trümmer nach draußen. Zurück blieb nur ein riesiges Loch. May schloss die Gleitertüren und flog noch eine kleine Runde der Macht in der Halle. Unter den staunenden Blicken der Piloten im Sor, die sich an den kleinen Scheiben der breiten Tür drängten und des gesamten Kommandodecks, flog Kampfgleiter 1, zum ersten Mal nach unzähligen Jahren in der Vitrine, wieder in seine natürliche Umgebung, nach draußen ins All.


»Skimmer starten, Waffensysteme hochfahren!«, befahl Kommander Callwas seinem Personal. »Jaque, auf dem Datenspeicher befindet sich ein Transport- und einige Konfigurationsprofile für den Gleiter. Führe sie aus.«, wies May an und steckte das Modul in den Anschluß des Gleiters. »Als Transportquelle und Ziel ist ein Seem-Aufklärungsschiff angegeben. Das Profil kann so nicht ausgeführt werden.« »Geduld alter Freund. Es wird auftauchen.« »Die Station bringt ihre Waffen in Stellung.« »Öffne einen Kanal zur Station.« Callwas erschien wutschnaubend auf der Anzeige im Fenster des Gleiters. »Callwas ihre Waffen bringen ihnen gar nichts.« »Das ist die letzte Warnung! Ich habe kein Problem damit sie abzuschiessen!« »Für so etwas habe ich keine Zeit. Wir sollten mal die Beleuchtung der Station ihrer Außenfarbe anpassen.«, warf May schnippisch zurück. »Jaque, aktiviere Abwehrprotokoll May 1.« »Aktiviert!«, bestätigte der Würfel und die Station wurde auf einen Schlag komplett dunkel.


»Jetzt hätte ich gerne ein Bild von Callwas Gesicht.«, gab May zu verstehen. »Mir ist nicht ganz klar, wie das funktioniert.«, vermerkte Jaque. »Das verdanken wir Tin. Sie hat vor vielen Jahren, bevor man sie quasi rausgeworfen hat, eine potentielle Fehlerquelle in der Energieversorgung der optischen Schaltkreise gefunden. Tja, niemand wollte davon noch etwas wissen, also wurde es nie behoben. Nur du und Kampfgleiter 1 selbst wurden von Tin umgerüstet. Es hat etwas gedauert, aber ich habe die Sicherheitslücke nutzbar gemacht. Damit können wir jegliche Ray Team Technologie einfach abschalten.«


»Es ist alles tot. Die komplette Station und jegliche Technik. Kommander May hat uns komplett ausgeschaltet.«, bekam Callwas genau die Botschaft, die er nicht hören wollte. »Bringen sie den Laden wieder zum Laufen! Es ist mir egal, wie sie das anstellen. Ich will Ergebnisse sehen! Das kann doch alles nicht passieren! Diese Rentnerin lässt uns aussehen wie blutige Anfänger. Und findet heraus worauf sie da draußen wartet!«, brüllte er das unschuldige Personal zusammen. Aber nicht nur auf dem Kommandodeck hatte May die volle Aufmerksamkeit. Im Sors drängten sich die Piloten nun vor den Fenstern und diskutierten die Lage.


»Kommander May hat bei einer Übung schon einmal die komplette Station erobert. Mit drei Kampfgleitern und zwei weiteren Piloten und das obwohl die Station über den Angriff Bescheid wusste. Sie hat nicht einmal einen einzigen Schuss abgefeuert.« »Woher weisst du das?« »Nachdem sie vorhin hier war, habe ich alles über sie gelesen. Sie ist die jüngste Pilotin, die das Ray Team je hatte und auch die erste und jüngste Pilotin, die je zu einem Kommander befördert wurde.« »Und jetzt hat sie als erste das Ray Team verraten.« »Das glaube ich nicht. Sie hat einen Plan.« »Wonach sieht das für dich aus? Wir sind hilflos.«


»Ein Seem Schiff schafft es unmöglich bis hier in den Erdraum. Die Sensoren der Ikarusplattformen würden sie im Unterraum entdecken und ihre Waffen würden sie am Weiterflug hindern. Außerdem sind die Seem nach unserem Datenbestand bereits ausgestorben.«, kommentierte Jaque den Teil des Plans, den er bereits kannte. »Warte es ab, alter Freund. Es geht jeden Moment los. Darauf habe ich so lange gewartet. Das ist meine letzte Chance. Das hier kann alles ändern!«, erklärte May. »Ich registriere einen Strahlungsanstieg. Etwas scheint aus dem Unterraum zu kommen.« »Jetzt geht es los!« »Kommander, ein Seem Aufklärer ist gerade in den Normalraum gesprungen. Ich dachte die wären alle von den Draken vernichtet worden?« »Anscheinend nicht alle und der alte Drachen macht augenscheinlich Geschäfte mit ihnen.«, erwiderte Callwas.


»Aktiviere den Transport.« »Bin schon dabei.« »Kanal zu den Seem öffnen. In Seem Sprache übersetzen. Ich hoffe das klappt.« »Leitung steht!« Auf dem Schirm tauchten die gruseligen Gestalten auf. Die Seem, die mit ihren großen Zähnen wie übergroße Piranhas aussahen, schwammen wie in einem Aquarium vor der Kamera. »Hier spricht Kommander May vom Ray Team. Wir haben nicht viel Zeit, also hören sie mir einfach nur zu. Ihr Schiff sitzt in einer Art Zeitstrudel fest und ist bereits schwer beschädigt. In diesem Moment wird ein Datenmodul an ihr System gekoppelt. Um die natürliche Ordnung der Zeit zu erhalten werden dafür Teile ihres Waffensystems in das Datenmodul umgewandelt und an ihre Kommunikation gekoppelt. Übergeben sie meinen Freunden das Modul nach ihrer Rettung. Sie werden ihnen helfen. Viel Glück!« »Transport abgeschlossen. Modul in Position und aktiviert.«


Laut und etwas verzerrt kam die Antwort aus den Lautsprechern: »Die Seem danken!« Dann war auf dem Schirm ein zweiter Seem zu sehen, der aufgeregt hin und her wackelnd im Sichtfeld auftauchte und etwas sagte, was der Computer aufgrund der geringen Lautstärke nicht übersetzen konnte. Das Bild änderte sich. Ein asiatischer Mann Anfang 40 erschien auf dem Bild und streckte seine Hand Richtung Kamera: »May?« May schluckte. Ihr alter Körper verkrampfte und längst begrabene Gefühle stiegen geballt in ihr auf, die stärker waren als all die Erinnerungen des aktuellen Tages zusammen. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet: »Papa?« »Erneuter Strahlungsanstieg!«, meldete Jaque und wenige Augenblicke später wurde das Schiff wieder von der Zeit verschluckt.


»Du wirkst erstaunt? War das nicht Teil des Plans?«, fragte Jaque. »Ich verstehe das nicht. Was macht mein Vater auf einem Seemschiff?«, war May sichtlich verwirrt. Während ihre Augen noch weinten, brach ihr Mund in Jubel aus: »Weißt du was das bedeutet? Wenn wir Erfolg haben, wird nicht nur die Vergangenheit der Menschheit und des Ray Teams geändert. Ich werde meinen Vater, meine ganze Familie, wieder um mich haben.« »Registriere zwei Skimmer, die aus dem Unterraum auftauchen. Sie wurden nicht automatisch deaktiviert.« »Das ist eine Patrouille. Sie haben wohl die Strahlungssignatur der Seem aufgeschnappt und ihre neuen Schilde scheinen unseren Störimpuls zu absorbieren. Eigentlich wollte ich nur die Geschichte reparieren, aber jetzt bin ich in Stimmung und will ich auch ein wenig meinen Spaß haben.«, grinste May angetrieben von der Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit.


Mit einer schnellen Rotation und einem Tritt aufs Gas schoss der letzte der Kampfgleiter auf die Station zu. Die beiden Piloten nahmen Kontakt auf und May ließ keinen Zweifel daran, Schuld an der Lage der Station zu sein. Nach einigen Warnungen feuerten die Schiffe auf May und ihren Computerfreund. Die Schilde des betagten Kampfgleiters hielten den wenigen Treffern aber immer noch recht gut stand, wenngleich May sicherstellen musste nicht zu oft und zu schnell hintereinander getroffen zu werden, um die alten Generatoren nicht zu überlasten: »Wollen wir mal sehen, was diese Flugenten so drauf haben!« »Die Skimmer werden den Gleiter in handliche Stücke schießen.«, triumphierte Callwas, der gezwungener Maßen nur Zuschauer des Geschehen war. Genauso erging es den Piloten und Kadetten im Sors und den Quartieren: »Gegen die Skimmer hat die alte Kiste keine Chance.«


»Soll ich das Steuer übernehmen?«, fragte Jaque besorgt ohne die Stimmlage zu ändern, als May Steuerknüppel und Pedale entglitten. »Nein, alter Freund. Meine alten Knochen sind zu langsam für einen Kampfeinsatz. Ich werde meine Kräfte zum Steuern nutzen.«, erklärte May und die Bedienelemente bewegten sich wie von Geisterhand, während May nur wie ein Passagier teilnahmslos auf ihrem Platz zu sitzen schien. Die beiden Schiffe folgen ihr durch den Stationsperimeter. Es hatte den gewünschten Effekt. Sie setzten ihre Waffen deutlich weniger ein, um die ungeschützte Station nicht zu beschädigen. Mehrfach zogen Jäger und Gejagte an den verschiedenen und dicht vom Stationspersonal besetzten Fenstern der Station vorbei. Dann steuerte May direkt auf einen der gewaltigen Stationsträger zu und erhöhte dabei die Geschwindigkeit immer weiter. Direkt vor der massiven Metallwand zog sie den alten Flugapparat senkrecht hoch.


Einer der beiden Piloten hatte sein Können oder seine Maschine wohl überschätzt und schlug bei der harten Wende mit der Unterseite seines Skimmers auf dem Träger auf. Die Schilde verloren für einen winzigen Moment ihre Filterwirkung und das vom Kampfgleiter ausgestrahlte Signal tat sein übriges. Der Skimmer war Treibgut. »Wo sind die? Die müssten sie doch längst haben!«, rief Callwas ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. Die anderen Kommander und Piloten auf dem Kommandodeck schauten ebenfalls aus dem halbrunden Panoramafenster auf die kleine und recht einseitige Raumschlacht. »Kommander, sehen sie!«, deutete einer der Anwesenden aus dem Fenster. Der ausgefallene Skimmer trieb langsam rotierend am Fenster vorbei nach oben weg. »Das kann doch einfach nicht wahr sein!«, steigerte der Stationskommandant weiter seine Wut.


»Geht doch. Wer braucht schon Waffen!«, fauchte May und legte direkt vor den Fenstern des Sors eine Vollbremsung mit Rotation hin und ließ den zweiten Skimmer in ihre durch Schilde geschützte Unterseite krachen. Auch das zweite Fluggerät fiel wie erwartet komplett aus und wurde zum Spielball der Gravitation. May flog mit ihrem Museumsschiff direkt auf die staunende Masse im Sors zu: »Jaque lege eine Textnachricht auf die Scheibe: Ein klarer Geist besiegt jede Waffe!« Unter raunen wurde diese Meldung auf der Frontscheibe des Gleiters von den im Lokal Anwesenden aufgenommen. »Jetzt sollten wir noch Callwas ein wenig ärgern!«, wurde May wieder schelmisch.


Ohne die Botschaft zu entfernen oder zu ändern stieg sie langsam am zentralen Turm nach oben und tauchte langsam vor dem Stationskommander und seiner Truppe von unten aufsteigend auf. Sie schaltete sogar die Innenbeleuchtung ihres Kampfgleiters auf kleiner Stufe ein, damit Callwas genau vor Augen hatte, wer gerade das, seiner Meinung nach unbesiegbare, Ray Team in seinen Grundfesten erschüttert und mit einem Museumsstück ohne Waffen in die Knie gezwungen hatte. »Nachricht verschwinden lassen, Signalemitter deaktivieren, Hangar 3 öffnen, transportiere dich wieder auf die Station und dann den letzten Systemsicherungspunkt laden.«, befahl May ein letztes Mal ihrem technischen Kollegen und steuerte in den sich öffnenden Stationshangar, während Callwas seine sich wieder aktivierende Station unter Kontrolle brachte.


May war kaum gelandet, da war schon eine bewaffnete Eingreiftruppe vor Ort und zerrte sie unsanft aus dem Fluggerät: »Auf Anweisung des aktiven Kommanders nehmen wir sie in Gewahrsam!« Vorsichtig und langsamer als eigentlich nötig wurde May mit gezogenen Waffen hinaus in den Korridor zum Lift geleitet. Vor dem Lift bekam die Sicherheitsmannschaft allerdings ein Problem, denn eine unsichtbare Wand versperrte ihnen den Weg. Ihre Begleiter kontaktierten die Kommandoebene und teilten ihnen mit, dass wohl ein Sicherheitsschild aktiv war. Aber das war kein Schild. May drückte, ohne das es von den anderen auch nur vermutet wurde, aus der Entfernung den kleinen blinkenden Knopf am Lift.


Kaum war die Tür geöffnet, schritt sie zwischen den nun komplett unbeweglichen Männern hindurch in die kleine Kammer in der Wand. Keiner der Anwesenden war in der Lage sie aufzuhalten, geschweige denn sich zu bewegen. Erst die Lifttür schnitt beim Schließen die Luftverbindung ab. May war klar man würde den Lift umleiten oder auf andere Weise aufhalten. Den Transporter konnten sie nicht einsetzen. Selbst ein Transportring würde sich weigern sie zu transportieren. Der Transportblocker, den sie noch am Morgen verschluckt hatte, arbeitete zuverlässig. Also drückte sie die kleine Luke in der Decke auf und schwebte nach oben aus der Transportkiste in den Tunnel.


»So einfach mache ich es euch nicht!«, jauchzte May und flog frei wie schon lange nicht mehr durch den schmalen Korridor in dem das Liftsystem seine Kabinen bewegte. »Den Lift auf das Sicherheitsdeck umleiten. Nehmt sie dort fest!«, kommandierte der Sicherheitschef, der Station noch immer im Flur bei den Hangars auf einen Lift wartend herum stand. Der Lift war bei seiner Ankunft leer. Transporterprotokolle und Liftsteuerung wurden geprüft, aber niemand konnte sich erklären, wie eine fast 90 jährige einfach so aus dem Lift entkommen konnte. Hatte May früher die Kraft nur genutzt um anderen Menschen zu helfen, so war sie heute ihre Krücke. Ihr Körper war längst nicht mehr so fit und agil wie damals. Sie spürte jede Anstrengung in ihren Knochen und sie wurde schnell Müde. Ihre Fähigkeit die Luft zu kontrollieren war nicht beeinträchtigt. Sie war vielleicht nicht mehr in der Lage ganze Tanker zu verschieben, aber für das normale Leben einer alten Frau waren ihre Kräfte mehr als Ausreichend. Und so erleichterte sie sich schon länger das Leben. Einige Male musste der fliegende Kommander anderen Liftkabinen ausweichen, aber schließlich war sie im zentralen Turm angelangt und schoss senkrecht in die Höhe.


Auf der Höhe des Kommandodeck angekommen betätigte sie den Knopf für die Notfallöffnung der Tür und mit einem Zisch verschwanden die beiden Elemente in der Wand. May stieg aus dem Dunkel der Liftröhre, als wäre der Lift nur getarnt. »Wie kommen sie hier her?«, fragte Callwas mit einer Mischung aus Ärger, Schreck und Erstaunen in seiner Stimme. »Sie haben es immer noch nicht begriffen, oder? Das hier ist mein Schloss und wenn ich will, regiere ich hier!« May setzte ihr fiesestes Grinsen auf. »Sie sind ja komplett durchgeknallt.« Der echte Lift traf ein und Sicherheitsbeamte umringten den gealterten Kommander. »Steckt sie in eine Zelle, bis wir sie wieder von Bord schaffen können!«, wies Callwas an und die Sicherheitstruppe drückte May bestimmend in Richtung Lift.


»Wissen sie! Ein Sicherheitsdeck haben wir damals nicht gebraucht. Wir haben uns vertraut und waren für einander da. Wir waren eine Familie.«, erklärte May, aber die Sicherheitsleute ignorierten sie. Es wäre ein leichtes gewesen noch einmal auszubrechen und zu entkommen, aber May wollte das gar nicht. Sie spürte wie der bisherige Tag sie angestrengt hatte und so legte sich auf das kleine Bett in ihrer zugeteilten Zelle. Der Raum war kahl und erinnerte sie an die Notunterkünfte auf dem Mond. Nein, das waren wirklich die echten Notunterkünfte. Sie hatten die Wohncontainer für zwei Personen nur in Gefängniszellen umgewandelt und in die Raumsegmente des Turms eingesetzt. May schlief einige Stunden, bis sie von einem Alptraum aus dem Schlaf gerissen wurde. Die vielen erwachten Erinnerungen und die damit verbundenen dunklen Dämonen, die sie an diesem Tag ebenfalls erweckt hatte, schienen sie in den Träumen zu verfolgen. Es dauerte einige Momente, bis sie verstand, wo sie eigentlich war.


Erst das Knurren ihres Magens lenkte sie vom schlechten Traum und der Vergangenheit ab. Sie hatte seit dem Beginn ihrer lang geplanten Mission noch nichts gegessen. Der kleine Nahrungsverteiler in der Wand spukte nur trockenes Brot und Wasser aus. »Sehr nett, aber nein danke! Ich gehe zu Sor!«, redete May mit sich selbst und war mit ihren Fähigkeiten schon auf der anderen Seite der Tür, was nicht einfach war. Es wäre ein leichtes gewesen die Tür einfach aus dem Weg zu biegen, aber sie wollte keinen Schaden anrichten, sondern nur ihre Mahlzeit genießen und dann auf die Erde zurückkehren.


Die Verbindung durch die fast luftdichte Tür war dünn und kaum spürbar. Es reichte aber um die Taste auf der anderen Seite zu drücken und so schob sich die Tür in die Wand und May marschierte aus ihrer Zelle als wäre es das normalste der Welt. Die zweite Tür war nicht viel anders, aber sie konnte hier ein Gitter über der Tür als Luftbrücke nutzen und musste nicht einmal anhalten. Vom Lift an ging alles seinen gewohnten Gang. Anscheinend hatte niemand dem Lift ihre Gefangenschaft erklärt und so nahm er ihre Befehle an und stoppte wie gewünscht auf der Promenade.


Das Loch auf dem Deck war schon wieder geflickt worden und nur der fehlende Kampfgleiter auf dem Podest zeugte von dem vor nur wenigen Stunden durchgeführten gewaltsamen Ausbruch. Es war bereits recht spät, aber das Sors war gefüllt. Viele Piloten aßen und spielten. Fast wie in alten Zeiten, aber etwas stimmte nicht. Sor war nicht da. Die Kadetten bedienten sich selbst an den Nahrungsverteilern und erstarrten als May einfach so nach ihren Aktionen im Sor auftauchte. »Wo ist Sor?«, fragte May eine recht freundlich aussehende Pilotin, die gerade unsicher mit ihrem Tablett hinter dem Tresen hervor kam und sich regelrecht daran fest klammerte, als sie May erkannte.


»Der ist schon seit Stunden nicht mehr da. Jaque auch nicht.«, erklärte die junge Dame verdutzt. »Callwas!«, brummte May und spürte den Zorn in ihr aufsteigen. Er hatte Jaque anscheinend aus dem Verkehr gezogen, damit er ihr nicht noch einmal helfen könne: »Schon wieder ein böser Fehler.« Sollten Jaque und Sor jetzt für ihre Aktionen büßen? Sie sah nur einen Ausweg und es war längst überfällig. May atmete ihren Zorn tief ein und sammelte die Luft, die sie bekommen konnte. Ein eingehender Lift wurde blockiert und über die obere Luke verband sie sich mit weiteren Decks und Korridoren. Schon sehr lange hatte sie nicht mehr so eine große Verbindung erschaffen, aber heute war es nötig.


May begann im Raum zu schweben. Schlagartig wurde es still in Sors Lokal still. So etwas hatten sie noch nie gesehen. Niemand der noch lebte hatte das. Natürlich hätte das ein getarnter Sparx oder ähnliches sein können, aber May hatte bereits mehr als einmal ihre Fähigkeiten bewiesen und jetzt war sie wirklich sauer. Als erstes entfesselte sie einen Kampfgleiterschrei über der gesamten Station in dem sie die Luft, mit der sie verbunden war, entsprechend vibrieren ließ. Durch die Echos klang es als würde eine Armee aus Gleitern gleich aus den Liftschächten und anderen Öffnungen brechen. Auch auf dem Kommandodeck erfüllte der Ruf zum ersten Mal seit Jahren wieder seinen Zweck. Je nach dem auf welcher Seite man sich befand verbreitete er Schrecken oder Hoffnung. In diesem Fall wohl mehr Schrecken.


Schnell hatte auch das Kommandodeck die im Sors schwebende May entdeckt. Noch bevor Callwas etwas anordnen konnte, hörte man Mays Stimme überall auf der Station: »Callwas lassen sie meine Freunde frei!« »Was soll denn das Spielchen?«, fragte Callwas über die Lautsprecher im Sors nicht ahnend, das sie ihn auch so hören konnte. »Spielchen? Sie haben keine Ahnung mit wem sie es zu tun haben! Früher hat man mich Sturmkriegerin genannt. Wenn sie einen Krieg mit mir anfangen wollen, dann sollten sie schon einmal die Evakuierung der Station anordnen. Meine Mutter hat einmal versehentlich den kompletten Stationskern aus den Trägern gerissen. In wie viele Stücke hätten sie ihre Station gerne?«, tönte Mays Stimme wieder lautstark durch die Luft. »Das ist doch lächerlich! Sie sind nicht ganz bei Sinnen!«, kam eine Antwort, mit der May gerechnet hatte. Ein wenig Schweben und Sprachausgabe war nicht das, was man als gefährliche Drohung bezeichnen würde. Es musste etwas mehr Dramatik und Druck her.


»Argggggggg!«, brüllte May und die gesamte Station begann zu zittern: »Lassen sie meine Freunde frei, oder mit der Station passiert das selbe wie mit den Treppen auf der Promenade.« May ließ noch einige Sekunden verstreichen. Damit gab sie Callwas und den anderen Beobachtern Zeit ihren Fokus auf diese massiven Objekte zu lenken. Dann knarzten die metallenen Treppen. Mit einem Rums brachen sie vom Boden und der oberen Ebene ab und schwebten im Zentrum der Halle, wo May sie zu einem Klumpen Metall verarbeitete. Große Stücke und ganze Stufen brachen aus dem Gerüst und fielen laut knallend zu Boden. Jetzt hatte sie seine Aufmerksamkeit. Soviel war klar.


»Callwas, sie hatten vom ersten Augenblick an keinen Respekt mir gegenüber. Das war mir egal, aber wenn sie meine Freunde angreifen, nehme ich das persönlich und sie bekommen es mit mir zu tun. Alles was ich jetzt noch will ist ein Abendessen mit meinem Freund und ein Transport zurück zur Erde. Wenn sie mir diesen Wunsch nicht erfüllen, dann können sie sich hier und jetzt von ihrer Station verabschieden. Ich habe keine Hilfe von Jaque gebraucht um meinen Plan umzusetzen. Wie sie bereits wissen, fehlt ihnen ebenfalls die Macht mich gefangen zu nehmen und gefangen zu halten.« Callwas diskutierte mit seinen Leuten und beschloss ihren Wünschen erst einmal Folge zu leisten. Die Bedrohung für seine Station konnte jedes gesprochene Wort deutlich verstehen, aber davon hatte der aktuelle Kommander der Basis keine Ahnung.


Mit einem lauten Knall zerbarsten die Scheiben von Konferenzraum und Büro in Stücke. Als hätte eine Bombe in den Räumen gezündet, platzte das Glas von Innen nach Außen. Doch die Scherben flogen nicht wie Geschosssplitter in den halbkreisförmigen Kommandoraum und rieselten auch nicht einfach auf den Boden, sondern sie sammelten sich direkt vor der ehemaligen Glaswand. Die großen Stücke knackten in der Luft und verkleinerten sich weiter. Dann formte sich aus den schwebenden Trümmern eine auf der Kommandobrücke stehende Frau. Es war May. Der wütende Kommander hatte den Jaquewürfel längst im Büro ausfindig gemacht, aber Callwas würde nicht kampflos aufgeben, soviel war schon von seiner bisherigen Reaktion abzulesen.


»Das dauert mir zu lange!«, sprach nun die gläserne Frau mit einem Gesicht aus zweifarbigen Scherben und deutete mit ihrem Arm auf die nur noch aus einem Rahmen bestehende Tür zum Büro. Der kleine Computer-Kubus schwebte durch den sich öffnenden Türkorpus. May ließ es sich nicht nehmen den Würfel einmal durch den kompletten Raum zu bewegen, damit die Kommandobesatzung ihre wirkliche Macht deutlich vor Augen hatte und untermauerte ihren Zorn durch ein weiteres heftiges Stationsbeben.


An der Wandkonsole drückte sie den Würfel in die dafür vorgesehene Schnittstelle. Wenige Momente später erschien Sor wieder hinter dem Tresen in seinem Lokal: »Was ist hier los?« May lächelte und setzte wieder sanft auf dem Boden auf. Sie schaltete die Luftverbindung ab und die Frau, die immer noch bedrohlich vor den verdutzten Männern und Frauen auf dem Kommandodeck stand, löste sich auf und bröselte in Teilen zu Boden. »Wer meinen Freunden etwas antut, der bekommt es mit mir zu tun. Daher musste ich die Station noch ein drittes Mal einnehmen, um euch frei zu bekommen.« »Dreimal an einem Tag? Ist das nicht ein neuer Rekord?« Sor bog schelmisch seine Mundwinkel. »Ja, ich denke schon!«, lachte May: »Jetzt würde ich gerne etwas essen. Die Zauberei strengt mich mehr an als früher.« »Natürlich Kleines. Kommt sofort.«


May näherte sich einen der freien Zweiertische. Erst jetzt fiel es ihr auf. Sie war ja gar nicht alleine im Lokal. Alle im Raum waren still und schauten sie fragend und ängstlich an: »Lektion 2: Solange der Gegner eure wahre Stärke nicht kennt, seit ihr im Vorteil.« Callwas war angefressen, hatte aber keinerlei Mittel. Er hätte seine Leute losschicken können, aber er glaubte augenscheinlich May hätte eine Art Drone im All, mit der sie die Station bedrohte. Er ließ seine Leute ihren Weg vom Sicherheitsdeck bis zur Promenade verfolgen und untersuchte auch ihre Übernahme der Kommunikation, die Flugnummer und das Glas. Aber alles blieb ohne ein echtes Ergebnis, ohne eine physikalische Erklärung.


Sor kam mit dem Tablett an den Tisch und stellte die bereits vor Stunden definierte Mahlzeit vor ihr ab: »Guten Appetit!« »Danke Sor, nimm Platz.« »Ich soll mich an den Tisch setzen? Das habe ich noch nie gemacht.« »Tja, du bist nicht nur Barkeeper und Kellner, sondern auch Gesellschafter. Dann gehört das ja wohl dazu.«, erklärte May und Sor setzte sich. Es war seltsam anzusehen. Er war eine Maschine, aber trotzdem konnte man seine Unsicherheit und seine Unwissenheit förmlich spüren. »Na, geht doch!« »Sieht wohl so aus.«, bestätigte Sor, als sich seine Beine unter dem Tisch sortiert hatten.


»Was ist jetzt eigentlich heute genau passiert? Es scheint ich habe einige Lücken.«, fragte Sor und griff dabei offensichtlich auf das Wissen von Jaque zurück. May hatte Jaques Speicher zurückgesetzt. Er wurde in den Gleiter und wieder zurück transportiert. Mehr wusste er nicht mehr von den Ereignissen. Nur die wenigen Informationen, die er zwischen Rückkehr und der unfreiwilligen Abschaltung gesammelt hatte, standen ihm zur Verfügung. Mehr Daten hatte er über die aktuelle Lage nicht sammeln können.


»Wir haben die Geschichte verändert, alter Freund. Ein Datenmodul mit Aufzeichnungen über die Geschichte des Planeten wurde an Bord eines Seem-Schiffe installiert. Die Seem sitzen in einem Zeitstrudel fest. Sie sind vor ziemlich genau 62 Jahren zum ersten Mal aufgetaucht und vor 30 Jahren wieder. Ich habe all die Jahre gebraucht um den heutigen Tag bis ins Detail zu planen und vorauszuberechnen. Das Modul ruft das Ray Team in der Vergangenheit um Hilfe. Dabei sendet es außerdem zeitlich passende Daten über Ereignisse direkt in deinen Speicher. Damit erhältst du in der Vergangenheit alle Informationen, die nötig sind, um dem Team die Möglichkeit zu geben zu handeln, bevor etwas passiert.«, erklärte May.


»Aber wenn wir die Geschichte geändert haben, warum sind wir dann noch hier?«, fragte Sor. »Tin hat immer gesagt: "Zeitreisen sind kompliziert und ziemlich komplex." Und so ist es wohl auch. Wie bei einem Stein, den man weit hinaus in einen See wirft, brauchen die Wellen auch einige Zeit um am Ufer die Wirkungen des Ereignisses zu zeigen. Ich nehme an es verhält sich mit der Zeit selbst genauso. Sie braucht Zeit um die Auswirkungen der Änderung bis zu uns in die Zukunft zu tragen. Das eigentliche Ziel liegt zwar nur etwa 73 Jahre in der Vergangenheit, aber sie werden nach meinen Berechnungen noch einmal hunderte von Jahren weiter in die Vergangenheit geworfen, bevor sie dort auftauchen, wo ich sie damals zum ersten Mal gesehen habe. Vielleicht habe ich auch einen Fehler gemacht und gar nichts bewirkt. Das werden wir wohl nie erfahren.«

Kreuzungen des Lebens

Als Mergy an seinem Ziel ankam hatte er keine Ahnung von seiner persönlichen kleinen Zeitreise, die diese Mission für ihn bereit hielt. Vor dem Gebäude standen bereits diverse Polizeiwagen und im Hintergrund, für den oder die Geiselnehmer unsichtbar, machte sich bereits ein Sonderkommando bereit zum Stürmen.


Das Orakel hatte die Meldung sehr spät ausgespuckt und Jaque hatte bereits einige neuere aktualisierte Informationen aus den Medien und den Polizeiquellen zusammengetragen, die er wie gewohnt anzapfte. Es hatte Schüsse in der Bank gegeben und es gab offensichtlich Verletzte. Im Tarnflug stoppte er den Gleiter über dem mehrstöckigem Gebäude. Mit einem Scan prüfte er die aktuelle Lage. Mergy machte eine einzelne Person auf dem Boden ausfindig. Eine etwas kleinere Person hockte direkt neben ihr. Wahrscheinlich ein Kind. An anderer Stelle lagen viele Menschen flach auf dem Boden und nur zwei Personen bewegten sich in dem Stockwerk. Das waren die Geiselnehmer, soviel war sicher.


Mergy ärgerte sich darüber, weil Trish ihm nicht einmal seinen eigenen Gleiter zugestand. Sie legte es offensichtlich darauf an, ihn auch hier seinen Fehler spüren zu lassen. Daher gab es auch keine aufgemotzten Scanner, sondern nur die Normalversion. Naja, eigentlich waren hier keine neuen Techniken nötig, aber Schaden täten sie auch nicht und er liebte es die neuen technischen Spielereien als erstes ausprobieren zu dürfen. Intensiv schaute er sich den Scan des unteren Stockwerks an und fand eine Stelle, die ihm günstig erschien. Ein Tisch oder Schrank hinter dem er sich unbemerkt hinein transportieren konnte. Um sich nicht zu verraten schaltete er noch die visuellen Transportmarker, die, auch wenn er in der Hocke ankam, mindestens zwei Meter in die Höhe ragen würden, ab und aktivierte den Vorgang für sich und einen getarnten Sparx


»So war das nicht geplant!«, hörte er eine Stimme wiederholt sagen, während die andere versuchte das Wimmern und Weinen der Geiseln durch lautes Gebrüll abzustellen. »Die werden den Laden bestimmt stürmen.« »Jetzt halte endlich die Klappe! Ich muss nachdenken!« »Die Frau stirbt und wir gehen wegen Mord in den Knast!« Mergy konnte durch die Kameras im getarnten Sparx und der Anzeige des Videobildes in seiner Brille die aktuelle Lage genau überblicken. Eine einzelne, verletzte Frau lag auf dem Boden und die kleinere Person, die seine Kampfgleitersensoren angezeigt hatten, war wirklich ein Junge, der verzweifelt versuchte seiner Mutter zu helfen. Das viele Blut auf dem Boden sprach für ein schnelles Vorgehen.


Mit leisem Surren aktivierte Mergy die kleine Minikanone in seinem mechanischen Arm. Diese Konstruktion gab dem Begriff Handfeuerwaffe wirklich eine neue Bedeutung. Den Sparx ließ er auf einen der Geiselnehmer zielen, während er sich selbst auf den anderen, cooleren Typen konzentrierte. Der sich zwischen den bösen Buben enttarnende Sparx zog die Aufmerksamkeit wie geplant auf sich und nur Bruchteile von Sekunden fiel der erste Typ um. Mergy erhob sich aus seinem Versteck und bevor der Andere begriff, was gerade passierte, schossen auch schon zwei Projektile auf ihn zu und steckten in seinen Körper. Wie ein Stein fiel auch er um.


Mit einem Schrei enttarnte Mergy den Gleiter über dem Dach und signalisierte der Polizei mehr oder weniger beiläufig, wie sich die Situation in der Bank gerade massiv geändert hatte oder zumindest ändern würde. Ein Stürmen war nicht mehr nötig. »Es ist vorbei. Bleiben sie ruhig, man wird sich gleich um sie kümmern.«, wandte er sich an die anderen Geiseln, während er sich der verletzten Frau näherte. Der Junge war vier oder fünf Jahre alt und versuchte durch rütteln weinend seine Mutter zum Aufstehen zu bewegen. Mergy war kein Experte was erste Hilfe anging, aber hier war Eile geboten, soviel war selbst ihm klar. Schnell legte er den vom Gleiter angeforderten Autodoc an den Arm der Verletzten und in dem Moment, in dem er den Jungen weg zog, um sie einzufrieren, schaute er der Frau zum ersten Mal in die schwachen braunen Augen und erkannte das schwache, schmerzverzerrte bleiche Gesicht: »Bee!«


Das rutschte ihm einfach heraus und mehr konnte er auch in dem Moment nicht sagen, aber die Augen der Frau deuteten es bereits an: Die ungewollte Botschaft war angekommen. »Ich will bei Mama bleiben«, flehte der Junge noch und dann trennte ihn auch schon eine vermeintlich dicke Eisschicht von seinem Elternteil. Es war zwar nicht wirklich Eis, was der Autodoc verwendete, auch wenn das Ergebnis wirklich wie ein aus Wasser gefrorener Block aussah. Der Doc hatte das Material Medifluid getauft, weil im Inneren des Blocks trotz der Kälte noch eine zähflüssige sauerstoffhaltige Flüssigkeit den Körper umschloss, ihn stabilisierte und die Wunden durch den Druck in der kleinen Kammer temporär verschloss.


Der Anblick war für den kleinen Jungen zu viel. Er weinte bitterlich. Mergy konnte darauf aber keine Rücksicht nehmen. Nur eingefroren hatte seine Mutter eine Überlebenschance. Das Telefon der Bank klingelte und Mergy nahm ab: »Hier ist Mergy vom Ray Team. Die Geiselnehmer sind außer Gefecht. Ich nehme die verletzte Geisel und ihren Jungen mit.« Dann legte er auf und steckte dem Jungen einen Transportring an den kleinen Arm. Momente später waren sie auch schon im Gleiter. Mergy ließ noch einen Schrei entweichen und zog dann deutlich sichtbar für die Menschen auf der Straße mit seinem Gleiter von dannen. Zum ersten Mal seit Monaten war er wirklich froh nicht in Kampfgleiter 1 zu sitzen. Nur so konnte er die Beiden ohne Umstände zur Station mitnehmen. Schnell waren die Drei im All und nahmen Kurs auf die Raumstation. »Ich bin Mergy vom Ray Team. Wie heißt du denn?«, fragte Mergy. Der Junge schaute immer noch unsicher nach hinten, wo seine Mutter in dem Block gefangen schlief. »Keine Angst, unser Super Doktor kann ihr helfen. Wie ist dein Name?« »Jonas!«, schniefte er immer noch weinerlich heraus. »Mergy an Ray Team One, erbitte um priorisierte Landeerlaubnis. Medizinisches Notfallteam wird benötigt. Wenn Jiyai Zeit hat, soll sie sich ebenfalls dort einfinden.« Auf der Station wurden schnell die nötigen Vorbereitungen getroffen und als Mergy im zugewiesenen Hangar zur Landung ansetzte, war das medizinische Team bereits Vorort und nahm den mütterlichen Block entgegen.


Gerade als sie sich der Tür näherten und noch bevor sie von Innen das Öffnen hätten auslösen können, rauschte das Metall bereits zur Seite, weil Jiyai von der anderen Seite eintreten wollte. »Was ist los?« »Du wurdest so eben zum Babysitter befördert.«, grinste Mergy »Ich?« »Das ist Jonas, seine Mutter wurde angeschossen und er ist noch etwas verstört. Das Einfrieren vor seinen Augen war da auch nicht gerade förderlich. Vielleicht kannst du mit ihm gehen, ihm zeigen wie der Doc sie auftaut und ihr hilft? Ihn etwas ablenken. Er hat bestimmt Hunger oder möchte etwas süßes?« »Ich habe noch nie auf ein Kind aufgepasst!«, wurde Jiyai sichtlich unsicher. »Das bekommst du schon hin.« Mergy untermauerte die Aussage seines Vertrauens indem er seine Hand auf ihre Schulter legte, während sie mit dem Doc und Sandra in den Lift stiegen.


Der Doc machte bereits einige Scans der Wunden und diskutierte mit Sandra das weitere Vorgehen. »Hallo Jonas, ich bin Jiyai.« »Was machen die mit Mama?« Sie kniete sich vor den kleinen Buben: »Du hast doch das Blut an deiner Mama gesehen, oder?« »Ja, sie hat ganz doll geblutet.« »Ja, und die beiden da sind die besten Ärzte auf der ganzen Welt. Die können das so gut, deine Mama braucht nachher nicht mal ein Pflaster. Das ist wie wegzaubern.« Mit ihrem schwebenden Paket ging es vom Lift weiter in die Krankenstation. Jiyai hielt den Kleinen zurück, der gleich mit in den großen Behandlungssaal wollte. »Da dürfen wir nicht mit rein, weil das für deine Mama gefährlich ist. Wir können hier durch das Fenster schauen.«


Mergy hatte sich bereits verzogen. Er stand draußen auf der oberen Promenade und starrte aus dem Fenster. So hatte er sich ein erneutes Treffen mit Bianca nun wirklich nicht vorgestellt. Es war nun schon so viele Jahre her. Sie hatte ihn für jemanden anders verlassen. Anscheinend war derjenige eben der Richtige, denn dieser Mann war auch der Vater von Jonas. Viel mehr wußte Mergy nicht über die Beiden. Die ersten Jahre fiel es ihm einfach nur zu schwer an sie zu denken und in den Letzten war es ihm egal gewesen. Jetzt war Anja in sein Leben getreten und hatte die Gedanken an Bianca restlos verdrängt.


Trotz des Schmerzes, den sie ihm damals zugefügt hatte, konnte er ihr nie böse sein. Er hatte sie über alles geliebt und fühlte sich auch nach der Trennung noch tief mit ihr Verbunden. Er hatte oft überlegt, was passiert wäre, wenn sie nach einem oder zwei Jahren wieder vor seiner Tür gestanden hätte und ihn zurück hätte haben wollen. Die Antwort war immer gleich gewesen: »Ja.« Jetzt war alles anders. Selbst wenn Anja nicht da wäre, so hatte sie eine eigene kleine Familie und es lag ihm fern diese auch nur in Gefahr zu bringen. Nein, er hatte noch Gefühle für die Frau, aber die waren mehr an die Erinnerungen eines früheres Lebens geknüpft und hatten nichts mehr mit Liebe zu tun.


Er ließ Jaque die Telefonnummer von Bianca heraussuchen und ließ sich von ihm verbinden. Mergy hatte diesen Mann viele Jahre verflucht, aber den Typen wollte Bee nun einmal und nicht ihn. Jetzt musste er ihren Mann informieren. Sie hatten sich damals zweimal gesehen und richtig sympathisch war dieser Marco ihm nie gewesen. Aufgeregt und hastig meldete sich Biancas Mann. Er hatte offensichtlich schon von dem Unheil in der Bank erfahren. Mergy erklärte ihm die tatsächliche Sachlage und das Bianca und Jonas in Sicherheit wären.


Natürlich wollte er sofort auch auf die Station kommen, aber Mergy wiegelte ab. Ja, wenn man es genau nahm, gefiel es dem Kommander sogar ihm zu zeigen, wer jetzt das Sagen hatte, auch wenn der besorgte Vater wohl nie im Leben von selbst darauf gekommen wäre, dass Mergy vom Ray Team eben genau der unbedeutende Typ war, dem er vor Jahren die Frau ausgespannt hatte. Vielleicht war es ungerecht und auch gemein, denn schließlich war der Mann einfach nur besorgt um seine Familie, aber ein kleines bisschen Genugtuung verschaffte es Mergy dennoch.


Jiyai hatte es offensichtlich geschafft den Jungen zu beruhigen, denn die beiden liefen unten über die Promenade und das neue Ray Team Mitglied erklärte ihm den Raumanzug in der Vitrine und dann machte der Gast Bekanntschaft mit Sor. Die junge Doktorandin kam mit dem Kleinen und ihrer ersten winzigen Mission wirklich gut zurecht. Mergy starrte noch minutenlang in das Dunkel des Alls. All die Erinnerungen an seine sehr glückliche Zeit mit Bianca waren aus der Verdrängung nach oben gespült worden und verklärten seinen Blick. Die gemeinsamen Urlaube, die Parties aber auch die traurigen Zeiten liefen wir Filmschnipsel vor seinem inneren Auge ab. Unweigerlich kam er an den Punkt, wo sie ihm eröffnete ihn nicht mehr zu lieben. Sie verschloss eine Tür, die lange nicht mehr geöffnet wurde. Durchschritten hatte er sie erst wieder vor wenigen Monaten. Gemeinsam mit Anja.


Oben in Turm 3 zeigte Jiyai derweil ihrem kleinen Begleiter die Vanquist, die wie ein riesiger vergessener Träger zwischen den Türmen parkte. Wie auf Bestellung legte das gewaltige Kriegsschiff ab und schob sich langsam zwischen den Masten hindurch in das offene All, wo es nach nur wenigen Augenblicken im roten Tunnel verschwand. Diese aufregenden Dinge, die Jiyai ihm zeigte, lenkten ihn gut von seiner aktuellen Situation ab. Es musste für ihn wirklich wie ein Ausflug mit dem Babysitter sein, denn aufgeregt zeigte er auf alles neue und stellte Fragen.


Langsam führte Mergys Weg wieder nach unten und in Richtung Krankenstation. Jiyai und der Kleine waren nicht mehr zu sehen. In der Krankenstation waren sie auch nicht. »Die Kleine macht ihre Aufgabe wirklich gut.«, schoss es ihm durch den Kopf. Mergy lief direkt in den Behandlungsraum, wo der Doc seine Arbeit bereits beendet hatte: »Wie sieht es aus?« »Sie wird wieder. Gut das du sie eingefroren hast. Es war sehr knapp. Auf der Erde hätte sie keine Chance gehabt.« »Was?«, hörte Mergy eine Stimme aus der Vergangenheit. Selbst der Doc war erstaunt, weil sie schon wieder zu sich kam. Mergy blickte zu ihr auf den Tisch hinunter: »Willkommen zurück!«


»Wo ist Jonas?«, fragte sie direkt und tat genau das, was man von einer guten Mutter in dieser Situation wohl erwartete. »Es geht ihm gut. Er erkundet mit Jiyai die Station, wir hatten ein paar kleinere Probleme ihn hier überhaupt weg zu bekommen.« Mergy grinste. Sie war deutlich älter als in seiner Erinnerung, aber die Gesten und Bewegungen funktionierten noch genauso, wie er sie kannte. Ja, genauso wie er sie geliebt hatte. Er konnte regelrecht in ihrem Gesicht lesen und sehen, wie sie versuchte sich alles zusammen zu reimen und sich an die Geschehnisse zu erinnern.


»Lass uns bitte für ein paar Minuten alleine, wenn das geht?«, fragte Mergy höflich beim Doc an und der ermahnte die Patientin noch zur Ruhe. Mergy hatte längst bemerkt wie Bianca versuchte eine Bestätigung für ihre Vermutung zu bekommen. Sie wäre ihm wohl nicht auf die Schliche gekommen, aber das verräterische »Bee« in der Sparkasse war mehr als eindeutig gewesen. Vermutlich hätte er sie davon überzeugen können, sie hätte etwas falsch verstanden und hätte er nur ein Kommando an den Sparx gesendet, aber sie war clever und es würde ihr keine Ruhe lassen. Also war er bereit die sprichwörtliche Hose herunterzulassen. Bianca musterte sein Gesicht soweit es die dunkle Brille zuließ.


Nachdem er das entsprechende Menü und die dazugehörige Sicherheitsabfrage in der optischen Schnittstelle der Brille, die genauso wie die Kontaktlinsen funktionierte, bestätigt hatte, klärte sich das schwarze Glas und gab die Augenpartie seines Gesichtes preis. »Du bist es wirklich!« »Ja, schuldig. – Lange nicht gesehen. – Hi!« »Ich hab dich im Fernsehen gesehen. Naja, also Thomas.« »Ja, diese Aufmerksamkeit wollte ich eigentlich nie, aber ich wurde überstimmt.« »Aber wie geht das? Thomas und Mergy waren doch zusammen in der selben Fernsehsendung?« »Ja, es war schon ein Geniestreich. Mergy und ich mussten glaubhaft als getrennte Personen auftreten. Nach der Sendung gab es da nicht einmal mehr den kleinsten Zweifel dran.« »Du bist jetzt mit Anja zusammen, oder?« Mergy hatte die Begegnungen der Beiden vor einigen Jahren komplett vergessen.


»Ja, es brauchte erst zwei beinahe Weltuntergänge, bis sich wieder eine Frau für mich interessiert hat.«, grinste Mergy zurück. »Also ich kenne einige Frauen, die liebend gern mit Thomas zusammen wären, aber auch andere die Mergy lieber mögen. Ich schätze das würde so einige überraschte Gesichter geben.« Bianca lächelte noch genauso wie in seiner Erinnerung und steckte ihn auch noch genauso an. »Du darfst niemandem erzählen davon erzählen. Dadurch würdest du deine und meine Familie und alle die uns Nahe stehen oder standen gefährden. Das sollte dir klar sein.« Mergy legte bewußt viel Ernsthaftigkeit in die Stimme und unterstrich das Ganze noch mit seinem Gesichtsausdruck. »Ja, ist klar! Obwohl ich nicht verstehe wieso ich dich nie erkannt habe.«


»Du weißt doch. Brille auf ich bin Clark Kent, Brille ab ich bin Supermann. Naja, bei mir ist es eben umgekehrt Lois.« Bianca musste lachen und zuckte wieder durch die entstehenden Phantomschmerzen zusammen. »Normalerweise müsstest du im künstlichen Koma liegen, damit die Schmerzen nicht so durchschlagen. Dein Körper weiss noch nichts von seiner Heilung.«, erklärte Mergy mehr oder weniger laienhaft den medizinischen Grund. »Doc kannst du ihr nicht etwas gegen die Schmerzen geben?« »Das habe ich bereits. Die neue Nervenstimulation hat die meisten der Schmerzen bereits abgestellt. Besser funktioniert es derzeit noch nicht. Sie ist aber auch viel schneller aufgewacht als ich es erwartet hatte.«, fachsimpelte der Doc von der anderen Seite des Behandlungsraums. »Ja, Bee war schon immer auf Zack.«


Bianca war schon wieder über das kurze Schmerzinterval hinweg und hatte einen schelmischen Gesichtsausdruck aufgesetzt. »Was ist?« Mergy war sichtlich unsicher. Jahrelang hatte er kein Wort mit ihr geredet. Die erste Zeit wollte er nicht, weil der Schmerz der Trennung ihn zerrissen hätte und danach waren sich sich schon recht fremd geworden. Es hätte keinen Sinn mehr gehabt Kontakt aufzunehmen. Sie war bereits weggezogen und hatte ihre eigene Familie. Trotz dieser Distanz war da noch immer diese Nähe und Vertrautheit, die das ehemalige Paar wie ein unsichtbares Band zusammen schnürte.


»Ich habe immer gedacht du bekommst nichts auf die Reihe. Auch was ich in den letzten Jahren von dir erfahren habe, hat mich immer in dem Glauben gelassen, meine Entscheidung wäre richtig gewesen und jetzt das hier. Die beiden Typen, die 90% der Frauen auf dem Planeten sofort mit nach Hause nehmen würden, sind beide mein Exfreund.« Mergy musste laut lachen. Sie hatte die Vermutung bestätigt, die er schon lange gehabt hatte. Es war nicht nur das Gefühl, welches von ihrer Seite nicht so stark gewesen war. Es war auch der Nestfaktor gewesen. Die fehlende Sicherheit. »Das wäre ihr Preis gewesen.«, dachte Mergy leise in sich hinein und rief Jiyai zurück auf die Krankenstation.


Wenige Minuten später trudelten die beiden Weltraumbummler ein und Jonas schloss seine Mama wieder glücklich in die Arme. Der Doc forderte abermals die Ruhe der Patientin ein und so verließen die drei die Krankenstation, während Bianca in einem der Krankenzimmer über die verpasste Chance nachdachte. Eigentlich war es mehr das übliche »Was wäre passiert, wenn?« Spiel. Sie liebte ihren Mann auch nach all den Jahren noch und Jonas wollte sie auch um keinen Preis missen, aber dennoch stellte sie sich ein Leben zwischen Planet und Raumstation vor. Dieses Leben wurde jetzt von einer anderen Frau gelebt. Anja führte es.


Jiyai wurde von Mergy zur weiteren Betreuung des Jungen eingeteilt. Als sie in ihr Quartier kam, stand im Wohnzimmer bereits ein kleines Kinderbett. Diverse Spielsachen lagen auf dem Teppich, als wäre hier eben noch ein Kind gewesen und hätte die Sachen achtlos zurückgelassen. Jiyai nahm ihre Aufgabe sehr ernst und spielte mit dem Jungen. Am Abend ging wieder zum Essen ins Sors. Es war nun deutlich gefüllter als beim Eisessen am Nachmittag. Sie besuchten noch kurz seine Mutter in ihrem Krankenzimmer und dann war es an der Zeit zu schlafen. Unweigerlich dachte Jiyai über Mergy nach. Es verwunderte sie, weil er ihr einfach so dieses Kind anvertraute.


Beide hatten sich eigentlich nur einmal flüchtig auf der Krankenstation unterhalten und kannten sich nicht wirklich. Trotzdem hatte sie jetzt schon eine Aufgabe, eine richtige Mission. Mission war vielleicht übertrieben. Das musste sie sich selbst eingestehen. Dennoch war es eine wirklich verantwortungsvolle Aufgabe. Obwohl sie erst seit kurzem auf der Station war, war sie schon Teil der großen Familie. Ja, Kommander May hatte die Besatzung als große Familie bezeichnet und man war für einander da. »Ich habe jetzt auch wieder eine Familie!«, flüsterte sie leise, als sie den kleinen Mann zudeckte.


Am nächsten Morgen war der Kleine sehr früh wach. Zu früh um schon zu frühstücken, aber eben auch zu früh um seine Mutter zu besuchen. Jiyai löste mit dem Jungen Rätsel und Puzzelspiele, die für sie genauso neu waren, wie für den kleinen Stöpsel, der ihr zugeteilt worden war. So verging die Zeit und pünktlich um 8 Uhr standen die beiden im Sor und suchten sich Tisch und Mahlzeit aus. Obwohl er quengelte und zu seiner Mutter wollte, setzt Jiyai sich durch und verlangte vorher erst die ordnungsgemäße Vernichtung der kleinen Morgenmahlzeit. Widerwillig fügte sich Jonas und schließlich rannte er schon aus dem Lokal, als Jiyai noch nicht einmal um den Tisch herum gelaufen war. Sie holte ihn erst auf der Krankenstation ein, wo er schon seine Mutter umklammerte, die wieder munter und fertig behandelt bereit zur Abreise war.


Der Doc gab noch letzte Anweisungen und dann wurde Bianca offiziell entlassen. Sie war gerade einmal dazu gekommen die gigantische Halle auf sich wirken zu lassen, als Mergy aus dem Lift direkt auf sie zu kam. »Alles bereit für einen Ausflug ins Weltall?« »Mit einem Raumschiff?«, war der Junge aufgeweckt. »Na, klar. Wir haben die Besten!« »Jaaaa!« »Ich werde wohl gar nicht gefragt, oder?«, fragte Bianca ihren Sohn direkt. »Raumschiff! – Raumschiff!« »Wir sollten deinen Mann nicht länger warten lassen.« Bianca nickte. Sie hatte noch unendlich viele Fragen, aber die meisten davon würde sie wohl nie beantwortet bekommen. Im Lift wechselte der kleine Mann von »Raumschiff« auf »Hangar!«


»Da hat jemand gut aufgepasst. Die Intelligenz hat er wohl von Mama.«, lächelte Mergy und seine Ex verstand wie er das meinte. Er mochte ihren Mann nicht. Schon damals war er nicht gut auf ihn zu sprechen und dann war ausgerechnet er der Trennungsgrund. Naja, nicht wirklich er alleine, aber ein Stück weit die treibende Kraft dahinter. »Es tut mir leid wie das damals gelaufen ist.« »Man kann nichts für seine Gefühle.« »Das meine ich nicht.«, versuchte sie eine genauere Erklärung: »Ich hab dich einfach abgesägt. Ich habe dich vor vollendete Tatsachen gestellt. Das war nicht fair und nach alle dem rettest du uns trotzdem so einfach das Leben.«


»Nimm das jetzt nicht persönlich, aber ich hätte jeder Person in der Bank das Leben gerettet, wenn sie an deiner Stelle gewesen wäre. Das ist meine Arbeit. Das ist mein jetziges Leben. Das hatte nichts mit dir zu tun. Es war natürlich nicht schön wie das Ganze damals abgelaufen ist. Oft habe ich mich gefragt was ich falsch gemacht habe. Ich habe mir ausgemalt, was ich machen würde, wenn du zu mir zurück kommen würdest. Du warst damals mein Leben und ich hatte hart daran zu knabbern. Das ist lange vorbei. Ich hab dich nie gehasst. Letztlich habe ich deine Gründe verstanden, auch wenn du sie bis gestern nie offen ausgesprochen hast.« Der Lift stoppte am Außenring. Der kleine Mann schritt voran und war als erster durch die aus seiner Sicht noch riesigere Tür zum Hangar.


»So junger Mann. Welches Raumschiff soll es denn sein?« Neben den Mantas gab es nur die Transporter, was die Auswahl deutlich einschränkte. Der Knirps deutete auf eines der weißen Raumschiffe, die eigentlich für medizinische Zwecke gedacht waren. »Oh, einen weißen bin ich auch noch nicht geflogen. Das machen wir. Jaque, wir nehmen einen Medimanta.« Der Junge hatte Mergy genau zugesehen und sprach jetzt auch allerlei gebrabbel in den Arm. »Ich sehe schon. Wenn du groß bist und in der Schule ordentlich aufpasst, dann kannst du vielleicht auch Pilot werden.« »Ja!«, lachte der Kleine und seine Mutter musste grinsen. Er konnte wirklich gut mit Kindern. Das war auch eine Eigenschaft, die sie ihm damals nie zugesprochen hätte.


Am Lichtstrahl hängend wurde das weiße Raumschiff direkt vor den Dreien auf das Deck gesetzt. Mit einem mechanischen Geräusch öffnete sich die Lucke und gab das innere frei. Sofort stürmte der kleine hinein. Angst kannte er keine. »Vorsichtig Jonas! Nichts anfassen!«, ermahnte ihn seine Mutter. »Keine Angst. Da kann nichts passieren.« Mergy setzte sich auf den linken Platz und Bianca auf den Rechten. Instinktiv suchte sie nach den Gurten, die es zwar gab, aber die eigentlich nie benutzt wurden und klinkte sie ein. »Das ist nicht nötig. Wir haben Gravitationsdämpfer und wenn die ausfallen, helfen auch keine Gurte.«


Der kleine Pilot war in seinem Element und wollte neben ihm stehend genau sehen was Mergy machte. Der Kommander zog ihn auf seinen Schoss und zeigte auf die Konsole: »Da schaltet man das Raumschiff ein!« Sofort patschte die kleine Hand auf die spiegelnde Oberfläche und das Raumschiff rumpelte leicht als es zum Leben erwachte. Mergy steuerte den Manta mit der optischen Steuerung, ließ es aber so aussehen als würde der Junge es auf der Konsole machen.


Wackelig taumelte der Manta ins All. Erst einige Kurskorrekturen und eine beinahe Kollision mit einem der Stationstürme später waren sie auf dem Weg zur Erde. Jonas hatte sichtlich Spaß, aber seine Mutter hielt sich nur fest und ermahnte wiederholt zur Vorsicht. »Keine Panik. Optische Steuerung!«, lachte Mergy hinüber und deutete auf seine wieder schwarz verblendete Brille. Länger als eigentlich nötig dauerte so der Flug. Direkt über ihrem Zuhause stoppte Mergy den Manta langsam. Vater und Ehemann Marco wartete schon sichtlich nervös. Auf dem Bildschirm konnte man sehen wie er sinnlos in der Wohnung umher lief. Er hatte bestimmt seit dem Telefonat mit Mergy kein Auge zu gemacht. Einerseits gefiel es Mergy auch mal am längeren Hebel zu sitzen, aber andererseits war es ein eindeutiges Zeichen. Er liebte die Beiden auch über alles.


Mit Jonas auf dem Arm ging Mergy ins Heck des Flachdrachens. Bianca hatte noch einige Probleme sich wieder aus dem Gurtzeug zu befreien. »Danke fürs Herfliegen kleiner Pilot!«, grinste Mergy. »Ja, ich bin jetzt Pilot!« Bianca schloss Mergy mit einem Lächeln in ihre Arme, wie schon seit vielen Jahren nicht mehr: »Danke für alles.« »Gern geschehen. Und du passt gut auf deine Mama auf, ja?« »Ja!« Ohne die Tarnung zu senken, transportierte Mergy die beiden direkt in ihr Haus. Direkt nach dem Transport verschmolzen die drei Signale in der Wohnung zur einer Einheit. Das waren sie auch. Eine Familie.

73 Jahre und ein Tag

Der Morgen begann für May wie jeder andere auch. Erst aus der fiesen Röhre heraus und dann so schnell wie möglich unter die Dusche. Umschlossen vom heißen Dampf des Wassers glitten ihre Gedanken ab. Ein neues Jahr hatte begonnen. Es war zwar schon einige Tage alt, aber eigentlich immer noch ganz frisch. Sie war nun schon so viele Jahre auf der Station und hatte unglaublich viel erlebt. Das Feuerwerk an Silvester war wieder so ein besonderes Ereignis. Naja, es war genau genommen bereits das Zweite. Die Tarnwand und das damit verbundene Verstecken der Station über viele Jahre, machte derartige Feierlichkeiten vorher unmöglich. Tin hatte, ganz zum Unmut von Sab, aus den Waffensystemen, wie im Jahr zuvor, eine Feuerwerksabschussplattform gemacht. Die Torpedos explodierten in allen Farben und Formen zu wunderschönen Sternformationen und Bildern.


Sab wollte das Feuerwerk holographisch machen, um die Station nicht zu gefährden, aber Tin und die Anderen meinten Feuerwerk ohne Feuer wäre nicht echt. »Die bösen Geister des vergangen Jahres lassen sich nicht von Hologrammen verjagen.«, hatte Mergy die Entscheidung des Kommandos untermauert. Es war ein unglaublicher Anblick gewesen. Die komplette Station war wie ein Schloss in einer Schneekugel von buntem Glitzer und Leuchtfeuer umgeben gewesen. Die Aussichtspunkte in den Türmen waren überfüllt wie nie zuvor. Mergy hatte sogar die untere Kuppel im zentralen Turm für die Besatzung freigegeben.


Die Kommandotruppe feierte, mit Erlaubnis von Daneen, in der Bürokuppel an der Spitze der Stationsachse. May hatte Nim dazu eingeladen und gemeinsam schauten sie sich das Spektakel an. Vor sich die funkelnden Sterne und hinter sich Nim, der seine schützenden Arme um ihrem Bauch schlang und seinen Kopf auf ihrem ablegte. Wenn man es genau nahm, war es Nim, der diesen Moment so besonders gemacht hatte.


Es war der perfekte Start in ein neues Jahr gewesen. Beim Verlassen ihrer Wohnung strich sie im vorbeigehen, wie jeden Tag, sanft über die Prägung auf ihrem Nim-Buch. Er würde sie heute nicht abholen, aber bestimmt an sie denken. Sie drückte auf die Taste und die Tür surrte auf, wie schon tausende Mal zuvor. Er war nicht da. Hunger hatte sie keinen und so fuhr sie direkt auf das Kommandodeck, wo die Kommandoebene schon fast komplett beisammen war, um eine Sitzung abzuhalten. »Nichts besonderes. Wohl wieder nur Blah Blah und dann zum Normalprogramm.«, dachte May, als sie den Lift verließ und sich einen heißen Kakao aus dem Nahrungspender holte.


Bis auf den Doc und Daneen war schon die gesamte Kommandotruppe anwesend. »Morgen!«, begrüßte May ihre Kollegen, die gleiches taten. Ein Blick auf die Uhr eines der Terminals zeigte, es waren noch 30 Minuten bis zur Sitzung. Das ausgelassene Frühstück schlug sich also auf der Uhr nieder. Sie war viel zu früh. Sab überwachte und Trish und Tin sprachen über mögliche Erweiterungen der Trainingssysteme. Augenscheinlich wollte man die Jünglinge auch einbeziehen. May hörte einige Momente still zu.


»Dann bekommt Sab ja doch noch ihren Kinderhort.« May konnte sich weder den Kommentar noch ein Kichern verkneifen und auch die Anderen verstanden den Wink mit der Dachkante. Sab blickte sich um und lächelte. Ihre Reaktion war ganz anders, als erwartet. Kein Muffeln und kein bissiger Kommentar. Einfach nur ein leichtes Lächeln als Antwort auf diesen offen ausgesprochenen Seitenhieb. Das war ungewöhnlich. Sabs Konsole piepte und zog ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich.


Auf der Orakelanzeige erschien ein neuer Text und sie piepte. »Was gibt es zu tun?«, fragte Trish. »Ich brauche Hilfe!«, vermeldete Sab. »Wieso kannst du den Text nicht alleine lesen?«, fragte Mergy schnippisch. »Nein, das steht da! "Ich brauche Hilfe!"«, wiederholte Sab ihre Aussage. »Seltsam. Ich? Das Orakel? Es braucht Hilfe?«, fragte Tin. »Letztens schon dieses "Vertraut mir!" und jetzt so etwas?«, fügte May fragend hinzu. Das Orakel hatte schon einige dieser Meldungen gemacht, die in immer schnellerer Folge eintrafen und keine Missionen sondern nur Hinweise beinhalteten. »Es wird sich alles ändern!«, »Bald ist es soweit!«, »Vertraut mir!« und jetzt »Ich brauche Hilfe!«. Das war mehr als seltsam, zumal es jahrelang immer mehr oder weniger brauchbare Informationen geliefert hatte, die zumindest meistens eine Koordinate oder ein Ziel, beinhalteten.


»Registriere ungewöhnliche Strahlungswerte!«, merkte Jaque an und Tin setzte sich sofort an ihre Konsole und prüfte die Daten: »Da ist etwas im Unterraum! Erwarten wir die Vanquist schon zurück?« »Nein, die hätten sich auch vor dem Sprung gemeldet. Stationsalarm auslösen. Station sichern. Waffensysteme hochfahren.«, wies Mergy an. Die Piloten wurden in ihre Gleiter beordert und starteten. Die massiven Tore vor den Fenstern verriegelten die komplette Station. Einzig die Hangars, das Kommandodeck und die Aussichtsplattformen an den Turmspitzen, die keine Luken hatten, sondern einfach Innen abgeschottet wurden, boten noch einen Blick nach draußen. »Neue Meldung vom Orakel. Es sind Koordinaten und eine Greifstrahlkonfiguration?«, meldete Sab mehr fragend: »"Ich bin gleich da!" Was auch immer da durch kommt, es behauptet das Orakel zu sein.«


»An alle Gleiter. Nicht feuern und auf Anweisung warten. Abstand halten.«, aktualisierte Mergy die Informationen und Anweisungen der Gleiterpiloten. »Die Konfigurationen können geladen werden. Da ist nichts gefährliches dran.«, merkte Tin an. »Aktiviere Greifstrahl mit den angegebenen Koordinaten.«, gab Trish zu verstehen und der blau weiße Strahl leuchtete von der Station ins Nichts. »Es passiert nichts!«, meldete Sab und auch Tin bestätigte, der Strahl würde keinerlei Wirkung zeigen. »Alles laufen lassen. Das Orakel hat uns bisher immer geholfen und vielleicht sind wir jetzt dran uns zu revanchieren.«, erklärte Mergy seine Meinung und bekam keinen Widerspruch. »Die Strahlungswerte steigen sprunghaft an.« »An alle Gleiter Abstand zur Strahlungsquelle um zwei Kilometer erhöhen.« »Jetzt kann man etwas sehen!«, meldete sich nun auch May zu Wort, die bisher ihren erfahrenen Kollegen das Ruder überlassen hatte.


Ein Vortex öffnete sich langsam am Zielpunkt des Strahls und gab einen größer werdenden Blick in den Unterraum frei. Mehr war allerdings noch nicht auszumachen. »An alle Gleiter! Ich wiederhole noch einmal: Es wird nicht gefeuert. Es könnte sich um das Orakel handeln!«, gab Mergy seine Informationen an die Gleiter weiter. May konnte es an Sabs Blick erkennen. Sie war nicht glücklich über das Weiterreichen derartiger Informationen an die Piloten, aber May kannte den Standpunkt ihres väterlichen Freundes. Die Piloten da draußen würden als Erste ihren Kopf hinhalten und sollten schon deshalb Vertrauen in das Kommando haben. Mergy hatte einmal gesagt: »Das Erste was in einem Krieg stirbt ist die Wahrheit.« Auch wenn das hier jetzt kein Krieg war, so könnte es eine Schlacht werden und er wollte nicht derjenige sein, der den Piloten falsche oder unvollständige Angaben zur Situation gemacht hatte.


Die Station rumpelte stark und Vibrationen verbreiteten sich über den Boden. Sabs Teetasse vibrierte mit samt ihrem Tassenwärmer über die Tischkante und schlug scheppernd auf dem Boden auf. May konnte fühlen, wie die mächtigen Schwingungen von unten über ihre Füße an ihren Beinen empor stiegen. »Wir haben etwas am Haken.«, erklärte Mergy. »Was immer es ist, es zerrt gewaltig am Strahl. Erhöhe die Energiezufuhr zum Strahlwerfer. Über den Strahl wird massiv Energie von der Station abgezogen.«, erklärte Tin. »Der äußere Ring verformt sich. Im Scheitel schon einen Meter Abweichung. Das Segment wird nicht mehr lange durchhalten und abreißen.«, gab Trish mehr besorgt als informativ zu Protokoll. »Wird es nicht. Das Orakel hat es so geplant und wir machen es so. Im schlimmsten Fall brauchen wir einen neuen Ringsektor.«, bestand Mergy auf Fortführung des vom Orakel auferlegten Plans: »Energie von den Waffen in die Schilde und den Werfer leiten. Schildabstand auf ein Minimum reduzieren.«


»Das mit dem Schildkorsett ist eine gute Idee, aber der Ring wird trotzdem nicht mehr lange halten. Die Energiewerte steigen weiter. Unser Greifstrahlwerfer macht das auch nicht mehr lange mit.«, fügte Tin seinem Plan mit Blick auf die Sensordaten hinzu. May beobachtete den Ring und den Strahl. Man konnte schon mit bloßem Auge sehen, was die Beiden mit der Verformung meinten. Was vorher noch kreisrund war, zog sich jetzt oval wie die ein Hühnerei bis zum Greifstrahl am Scheitelpunkt des Rings. »Wir müssen den Strahl abschalten!«, forderte Sab. »Das geht nicht mehr. Der gesamte Sektor ist gespannt wie ein Langbogen. Wenn wir jetzt abschalten, zerbricht der Ring und die Trümmer fliegen auf den inneren Ring und den Kern zu wie eine riesige Splitterbombe. Wir müssen die Energiepegel langsam senken.«


»Energieabsorption am anderen Ende nimmt langsam wieder ab.«, erklärte Sab als hätte das Loch im Weltraum, auf das sie mit dem Greifstrahl zielten, ihre gerade geführte Diskussion gehört. »Da kommt etwas durch. Etwas Großes!«, merkte May noch einmal an, die nur abwechselnd auf den Bildschirm und die kleinere Version draußen vor dem Fenster starren konnte.


Dann tauchte es komplett im Normalraum auf. »Das – Das ist ein Schiff der Seem.« »Die Seem sind das Orakel?« »Greifstrahl abgeschaltet. Energie wurde wieder zu den Waffen umgeleitet.« »Das Schiff sieht schwer beschädigt aus. Es ist noch dicht, aber das ist mehr ein Wunder.«, merkte May an und konnte auf ihre Erfahrungen mit dem einzigen Schiff dieser Bauart zurückgreifen, welches das Ray Team bisher gesehen hatte. »Scan abgeschlossen. Es ist wirklich schwer angeschlagen. Ihre Waffen sind außer Funktion. Der Energieausstoß ist auf Minimum. Die sind keine Gefahr für uns.«, bestätigte Sab den optischen Zustand. »Wir werden gerufen! Multibroadcast!«, merkte Sab noch erstaunt an, denn dieses Schiff sendete in einer nur für wichtige Notfälle gedachten Sendeform. Das Signal erschien automatisch auf allen Konsolen und Monitoren der Station und in jedem Gleiter im Empfangsbereich.


»Hallo meine Freunde!«, sahen sie eine alte asiatische Frau mit zweifarbigem Gesicht auf dem Schirm: »Wenn ihr alle gemeinsam diese Nachricht erhaltet, dann war meine Mission schon zum Teil erfolgreich. Was würde ich darum geben euch alle noch einmal persönlich zu sehen, aber leider ist es mir nicht vergönnt. Ich habe den Seem eure Hilfe versprochen. Sie waren in einer Art Zeitstrudel gefangen und ihr habt sie gerade daraus befreit. Ihr habt die Informationen in Jaques Speicher gefunden, entschlüsselt und ihnen vertraut. Dadurch ist eure Gegenwart schon jetzt besser als meine Vergangenheit. Wenn ihr diese Nachricht seht, dann seit ihr auf dem richtigen Weg und es wird im zweiten Anlauf besser funktionieren. May, auch wenn es mir schwer fällt und es etwas eigennützig erscheint, mir selbst Ratschläge zu erteilen: Vergiss vor lauter Arbeit das Leben nicht. May Ende!«


»Einer der Gleiter meldet ein Leck im Seemschiff, es tritt Wasser aus. Sie haben es provisorisch mit einem Schildwerfer gesichert.«, gab Sab zu verstehen. »Dann sollten wir uns schnell etwas einfallen lassen. Die Temperatur im Inneren wird sich durch das sich bildende Eis schnell absenken.«, erklärte Mergy. Er dachte kurz nach und drehte sich um mit dem Stuhl zu Tin um, die ihn ebenfalls anstarrte. Zeitgleich hatten beide eine Idee, die aber keiner von Beiden laut aussprach: »Das könnte klappen!« »An alle Piloten zieht das Schiff unserer Gäste vorsichtig über Frachtdeck 2.«, wies er seine Piloten an. »Ich stoppe Stationsrotation, damit uns die Unwucht nicht zerreißt. Leite Energie von den Waffen in die RAM Triebwerke.«, erklärte Tin und wenige Sekunden später spürte man deutlich die Vibrationen der gewaltigen Stationsantriebe.


»May, ich denke du solltest mit ihnen reden und ihnen unsere, also eigentlich deine, Hilfe anbieten. Versuche es in wenigen einfachen Worten. Der Übersetzer hat bestimmt noch Schwierigkeiten. Unsere Informationen über ihre Sprache sind recht lückenhaft.« May war noch verwirrt von der Videonachricht, die anscheinend von ihr selbst stammte. Trotzdem nickte sie und wies Jaque an eine Verbindung mit entsprechender Übersetzung einzuleiten. Die Fischmonster erschienen auf dem Schirm. Lebendig waren sie immer noch recht gruselig, obwohl ihre Körper deutlich besser aussahen, als die der toten Seem in ihrem kalten Grab. »Hier spricht May vom Ray Team. Wir werden ihnen helfen.« Dieser Fakt stand außer Frage, da die Gleiter bereits ihr Schiff geflickt und damit ihre Leben gerettet hatten, aber auch die gesprochene Botschaft fand Gehör: »Die Seem danken!«


»Entnehme Wasserprobe aus dem Seem Schiff. Repligens programmiert und aktiviert. Sie beginnen mit dem Befüllen.«, gab Tin an. »Jaque, transportiere das Wasser vom Freizeitdeck ins Frachtdeck. Filter es beim Transport entsprechend.«, kommandierte Mergy. »Gute Idee! Das spart Zeit.«, grinste Tin. »Ihr wollt das Frachtdeck fluten?«, fragte Sab erstaunt, als sie den Plan durchschaute. »Wieso hast du eine bessere Idee?«, erwiderte Tin leicht genervt, da sich Sab bisher nicht einmal mit einer Idee beteiligt hatte. »Ich brauche ja wohl nicht zu sagen, wie das aussieht!«, witzelte Mergy, als er auf dem Schirm einen Repligen an der Wand kleben sah und aus dessen Unterbau ein Wasserstrahl in dem Raum floss.« »Es gibt weitere Verformungen am Rumpf des Schiffes. Die Hülle wird an mindestens einer Stelle weiter aufreißen, wenn wir uns nicht beeilen.« »Holen wir es rein.« »Das Becken ist noch nicht komplett gefüllt.« »Muss es auch nicht. Solange das Wasser nicht ins All austritt, haben wir kein Problem.«


Die Gleiter schoben das Schiff über die Station und drückten es wie ein rohes Ei durch die offenen Luken in Innere. »Mit der Verdrängung durch das Seemschiff sind wir bei etwa 55% Füllstand.«, erklärte Tin. »Fülle weiter auf 80%. Ich hoffe die seitlichen Wände halten dem Druck stand.«, definierte Mergy das maximale Ziel der Befüllung. Die Luken des Laderaums wurden wieder geschlossen und der Stationsalarm aufgehoben. Sab ließ die Gleiter wieder landen und dann machten sich alle auf den Weg.


»Alles klar bei dir?«, fragte Mergy seine Ziehtochter, die seit dem kurzen Gespräch mit den Seem nichts mehr gesagt hatte. »Das war wirklich ich, oder?«, fragte sie immer noch unsicher über die Aufzeichnung ihres älteren Ichs. »Es spricht jedenfalls allerlei dafür!« »Sie hatte noch die Verletzungen im Gesicht. Die waren viel schlimmer als meine jetzt. Wie kann das sein?«, fragte May unsicher. »Naja, ich kann nur spekulieren, aber sie hat gesagt unsere Gegenwart wäre besser als ihre Vergangenheit. Wir haben es anscheinend mit der Hilfe des Orakels bereits besser gemacht.«, erklärte er weiter: »Vielleicht können uns ja die Seem weiterhelfen dieses Geheimnis zu lüften.«


Vor dem riesigen Tor des Frachtdecks stoppte die Kommandotruppe. »Also das ist so etwas von cool! So etwas habe ich noch nicht einmal in einem Film gesehen!« »Cool oder einfach nur dämlich. Wenn das hier nicht klappt, sind wir die ersten Idioten, die in einer Raumstation abgesoffen sind.«, maulte Sab. »Das wäre nicht ganz so cool, aber auch das habe ich noch nie in einem Film gesehen.« Mergy war sichtlich aufgeregt und doch wie immer nicht um einen Witz verlegen. Es war soweit. Zum ersten Mal würde man persönlichen Kontakt zu einer außerirdischen Spezies ausnehmen. Nicht mit Waffenfeuer, sondern friedlich und nur mit Worten. May konnte am Funkeln in seinen Augen sehen, wie bedeutsam diese Begegnung für ihn, für das Ray Team, ja sogar für die Menschheit war. »Das klappt schon. Nehmt die!«


Tin war überzeugt von ihrer Arbeit. Man konnte es ohne Zweifel an ihrer ausdruckstarken Stimme erkennen. Sie reichte ihren Kollegen Transportringe und drückte den Knopf des Türöffners. Die riesigen Elemente schoben sich zur Seite und ein Schild hinderte das Wasser am Entweichen in den Gang. Wie ein gigantisches Aquarium lag das Deck da und war fast komplett bis unter die Decke mit Wasser befüllt. Das Schiff der Seem stand auf drei Halterungen, die extra für diesen Zweck gebaut worden waren. Natürlich waren sie eigentich für das Landen von beliebigen Schiffen und nicht speziell für Seemschiffe. Das aber waren nur kleine Details.


Eine Luke an der Seite des rundlichen Schiffes öffnete sich langsam nach außen und drei Seem schwammen heraus. Sie genossen sichtlich die wiedergewonnene Bewegungsfreiheit. Wie Fische, die aus dem Beutel vom Zoogeschäft in ihr neues Reich entlassen werden, schwammen sie wild umher. Die Kommandotruppe durchschritt den Schild und dank ihrer Körperschilde waren sie ihrerseits vor dem Wasser geschützt. Die Transportringe hielten sie durch ein leichtes Gravitationsfeld stabil am Boden und versorgten sie mit dem nötigen Sauerstoff. Die drei Seem kamen langsam und vorsichtig auf die Truppe zu und schwammen schließlich zappelnd vor der Kommandoebene auf der Stelle.


»Wir danken für Rettung.«, hörten sie leicht verzerrt und fehlerhaft aus der Kommunikation. »Wir haben Mensch.«, ertönte es weiter. Unsicher schauten sich die fünf fragend an. »Wir haben auch gerettet.«, erklärte die Stimme weiter. Einer der drei schuppigen Fischmonster schwamm zum Schiff und wenige Sekunden später tauchte er mit einem Mann an seiner Seite wieder auf. »Oh, mein Gott! Jaque, Transportring anlegen und auf die Krankenstation transportieren.«, reagierte Trish sofort. Momente später verschwand der unbekannte Mann in einem Lichtstrahl.


Mergy wandte sich den Seem zu, die immer noch neugierig auf und ab schwammen und sich besonders für May zu interessieren schienen. »Dort können sie uns gleich sehen.«, deutete er auf die großen Bildschirme an der Wand, die das Ray Team Logo auch unter Wasser klar zeigten. Er ließ einen der Repligen im Raum auf seinen Arm schwimmen: »Sie reparieren euer Schiff!« Die Seem redeten mit und durcheinander, was für den Computer nur schwer zu erfassen war und in verketteten Wortfetzen endete. Dann wendete sich der Seem, der wohl der Anführer war, wieder dem Kommander zu: »Verstehen!« »Bei uns sind sie sicher!«, fühlte sich May immer noch in der Verantwortung, weil doch ihre ältere Version dieses Versprechen gegeben hatte und zog die Aufmerksamkeit der riesigen Fische erneut auf sich.


Schließlich standen alle wieder auf dem Flur und die Tür verschloss sich. »Das lief doch ganz gut. Mal sehen ob unser neuer Gast ein wenig Licht ins Dunkel bringen kann.« Mergy marschierte direkt voran und die Anderen folgten und diskutierten über das gerade Geschehene. »Wie kommt ein Mensch auf ein Seemschiff?«, fragte Trish. »Wo kommt der Typ her? Sie haben ihn gerettet haben sie gesagt. Aber wo?«, fragte Tin nicht weniger neugierig. Auf der Promenade war alles relativ ruhig. Natürlich wussten bereits alle, um das Auftauchen des Seem-Schiff im Raum vor der Station und das es in die Station gebracht wurde.


Sie hatten alle die Nachricht der alten May gesehen, aber die warf noch weit mehr Fragen auf, als sie beantwortete. Als die Fünf, allen voran May, im Pulk den Lift verließen hatten sie die volle Aufmerksamkeit der Mannschaft und der Weg zur Krankenstation brachte nun nicht gerade die Erleuchtung, sondern warf nur noch weitere Fragen auf. »Jaque, Medic One nur für die Kommandoebene zugänglich machen.«, befahl Sab und Jaque führte ihre Anweisung umgehend aus.


Noch bevor sie die Tür erreicht hatten, war diese undurchsichtig und zeugte einmal mehr von einem Geheimnis dahinter. Mehrfach waren die Worte »Alien« und »Alienautopsie« aus dem Gemurmel der Piloten herauszuhören. Kaum hatten sie die zweite Tür durchschritten und kamen in den Behandlungsaal, da blieb May schlagartig stehen. »Hoppala!«, brachte Mergy noch heraus, als er von hinten auf seinen jungen Schützling auflief. Er wollte gerade fragen was los sei, da beschleunigte der junge Kommander wieder und stand nur Momente später direkt am Behandlungstisch, wo nun auch der Doc fragend dreinschaute. »Wie geht es ihm?«, fragte May deutlich besorgter, als sie es bei einem Fremden wäre, soviel war allen schlagartig klar.


»Er wird wieder. Es scheint als hätte er unter massivem Stress gestanden und über Tage nichts ordentliches Gegessen. Einige schlecht verheilte und entzündete Verletzungen habe ich bereits geheilt.«, berichtete Doc, während May mit der Hand sein Gesicht entlang strich, als würde sie prüfen ob er wirklich echt ist. Sanft, als wollte sie ein Verpuffen des Mannes verhindern, strich sie den Konturen der Wange folgend.


»Da weiß jemand mehr als wir!«, brummelte Sab melodisch und leise zwischen den Zähnen hindurch und bekam gleich von Trish einen Hieb mit dem Ellenbogen in die Seite. »Was denn? Stimmt doch!« »Du kennst ihn?«, fragte Mergy vorsichtig nach. Er konnte die Tränen in Mays Gesicht sehen, die langsam ihre Wangen hinunter liefen. »Das ist mein Vater!«, schaute sie Mergy mit weit aufgerissenen vertränten Augen an. »Das ist Jin Chong?«, fragte Mergy zur Sicherheit und nicht weniger erstaunt nach. May nickte.


»Doc wie sieht es aus? Wann können wir mit ihm reden?«, fragte Sab nun, um das große Geheimnis wissend, wieder drängelnd nach. »Ich hab ihm ein Beruhigungsmittel gegeben. Bei den Werten war es das Beste! Wir lassen ihn ein wenig schlafen, damit sich sein Organismus einigermaßen normalisieren kann.«, erklärte der Doc. »Dann reden wir mal zuerst mit den Seem, auch wenn das anstrengend werden dürfte.«, merke Mergy an.


»Der Übersetzer arbeitet so genau wie möglich. Die wenigen Referenzen über die Sprache in den Datenbanken der Seem und der Draken waren nicht immer schlüssig. Mit jedem gesprochenen Wort wird die Übersetzung besser.«, erklärte Tin ein wenig verärgert über die Beschwerde. »Schon gut! Sollte ja keine Kritik sein. Gehen wir!« Das Kommandoteam machte sich wieder auf den Weg zum Ausgang, als Mergy, die ihnen folgende, May bemerkte: »Willst du nicht hier bleiben?«


»Ich will wissen was passiert ist und warum er in dem Schiff war. Hier kann ich momentan nichts tun.«, gab May an. Ihre Augen waren noch verquollen, aber auch schon wieder voller Tatendrang. »Was ist mit deiner Mutter?«, wollte Trish die weitere Vorgehensweise seitens ihrer Familie wissen. »Sagt ihr noch nichts. Sie soll sich keine Sorgen machen. Sie kann jetzt auch nichts tun.«, erklärte May.


Ihre Freunde respektierten und verstanden den Wunsch und so brachen alle gemeinsam auf und verließen die Krankenstation. Daneen, die auf dem Kommandodeck niemanden angetroffen hatte, kam ihnen schon auf der Promenade entgegen und wurde gleich eingesammelt. So ging es zurück in den Konferenzraum auf dem Kommandodeck. Mergy kommunizierte schon seit dem Aufenthalt auf der Krankenstation mit den Repligen im Hangar. Er fand mit den Sensoren auch ein kleines Datenmodul im Schiff, welches er sogleich auf den Tisch transportierte.


Es war etwa doppelt so dick, wie das Terminaltablett, mit dem Mergy schon auf der Krankenstation gewerkelt hatte und damit deutlich größer als ein normales Datenspeichermodul. »Das ist es?«, fragte Tin. »Scheint so.«, erklärte Mergy. »Da würde ich gerne mal einen Blick hineinwerfen.«, gab Tin zu verstehen. Sie war neugierig auf die Technik der Zukunft darin. »Kannst du, aber erst sollten wir die Daten aus dem Modul überspielen.«


Mergy verband das Modul aus der Zukunft mit dem Datenanschluß im Tisch. »Jaque, was hast du für uns?« »In dem Modul befindet sich nur die Nachricht von May aus der Zukunft.« »Mehr nicht?« »Was ist mit den Daten über die Zukunft? War es das? Werden wir keine Informationen mehr erhalten?« Tin war sichtlich besorgt. »Es ist nie gut zu viel über die Zukunft zu erfahren.«, erwiderte Trish. »Also ich denke, das Orakel wird uns weiter mit Nachrichten versorgen.«, erklärte Mergy. »Wie soll das denn gehen, wenn es keine Daten enthält?« »Ist nur eine Vermutung, aber May, also May-Senior hat gesagt ihre Mission wäre zum Teil erfolgreich und die Seem wären in einem Zeitstrudel gefangen. Ein Strudel geht im Kreis. Sie waren in der Vergangenheit und haben Daten gesendet und so wie ich das sehe, haben sie vorher bereits ebenfalls in der Zukunft alle Informationen gesendet, die wir empfangen werden, wenn wir die entsprechenden Punkte in der Zeit erreichen.«


»Das ist einleuchtend und durchaus logisch.«, merkte Sab an und auch die anderen stimmten der möglichen Erklärung zu. »Obwohl wir jetzt May für sehr lange Zeit von Nim trennen müssen. Sie hat massiv in die Zeitlinie eingegriffen. So etwas dulden wir nicht und Bestrafung muss sein.«, grinste Mergy. May zuckte zusammen und erschrak für einen Augenblick. Das Nim jetzt nicht da war, gefiel ihr jetzt schon nicht. Sie vermisste ihn. Bereits am heutigen Morgen, als er sie nicht an der Tür abgeholt hatte, war ihr das mehr als deutlich bewußt geworden. Dann, nur Bruchteile von Sekunden später, war sie sich sicher. Mergy machte mal wieder nur einen seiner üblichen Witze auf ihre Kosten. Die Anderen erweckten auch nicht den Anschein, als würde sie jetzt für etwas bestraft, was sie ja genaugenommen noch gar nicht getan hatte.


Sab stellte eine Verbindung zum Frachtdeck her und legte die Bild- und Toninformationen auf den großen Schirm an der Wand. »Da sind wir wieder!«, begrüßte sie die Seem, die schnell auf den Schirm zugeschwommen kamen. »Woher kennen Seem!«, tönte es aus dem Lautsprechern. Augenscheinlich hatten sich die Seem in der Zwischenzeit auch so ihre Gedanken über die aktuellen Geschehnisse gemacht. Immerhin hatte man ja in kürzester Zeit eine perfekte Unterkunft für eine eigentlich komplett unbekannte Spezies geschaffen.


»Wir haben die Informationen von den Draken.«, gab Sab zu verstehen und erzeugte, obwohl sie das alte Seemschiff extra nicht erwähnte, damit eine eventuell leicht aggressive Reaktion seitens der Seem vermied. Die Seem schwammen laut kommunizierend umher. Der Übersetzer kam mit dem Durcheinander erneut nicht klar, bis schließlich wieder einer der Seem alleine und ruhig zu ihnen sprach: »Mensch und Draken Freunde!« »Menschen und Draken sind Feinde. Wir haben Krieg!«, erklärte Trish. »Menschen nicht vernichtet!«, kam wieder eine Frage ohne Frage. Der Computer hatte sichtlich Probleme mit der Sprache. »Die Menschen haben die Draken besiegt! Zweimal!«, prahlte Sab. Wieder wurden die Seem unruhig und schwammen anscheinend wild diskutierend aus dem Bildbereich.


»Also ich finde die sind ganz witzig!«, merkte Mergy an und Tin konnte nur »Pst!« abgeben. Dann stand wieder ein Seem vor dem Schirm: »Was bedeuten!« »Was meint er?«, fragte Sab. Mergy schmunzelte: »Das bedeutet die Menschen mögen die Seem.« Die drei Seem schwammen wieder einheitlich vor dem Bildschirm und streckten die gruseligen und gefährlich anmutenden Zahnöffnungen ins Bild. »Woher kommt der Mensch?«, fragte May direkt und unverblümt die Frage aller Fragen. »Erkundung, Unfall, Schiff in Wasser, Defekt macht Puls, Explosion droht. Seem reparieren, Mensch schwimmt. Seem schuld. Seem helfen Mensch. Schiff repariert. Wieder Problem. Gefangen in Himmel.«, prasselten die Wortfetzen und Halbsätze es nur so hinein.


»Geht es nur mir so oder habt ihr auch nichts verstanden?«, fragte Tin schließlich. »Wenn ich das mal übersetzen darf?«, erklärte Mergy und hatte schlagartig die volle Aufmerksamkeit der kompletten im Konferenzraum anwesenden Besatzung: »Das Seemschiff ist wohl bei einer Erkundung der Erde ins Meer gestürzt. Ihr Antrieb hatte einen Fehler und so hat ihr Schiff hat eine Art Impuls ins Wasser geschickt. Dadurch wurde der Tsunami ausgelöst, den May damals erlebt hat. Bei der weiteren Reparatur haben sie ihren Vater Jin im Wasser treibend gefunden und ihm geholfen. Sie dachten sie hätten den Antrieb repariert, aber es ist wohl etwas schief gegangen und so wurden sie in den Zeitstudel geworfen aus dem wir sie vorhin befreit haben.«


»Ja, diese Übersetzung war deutlich überzeugender.«, merkte Trish an. »Die Seem haben den Tsunami ausgelöst?«, fragte May entsetzt und mit ungewohnt lauter Stimme in den Raum. Wenn das stimmte, dann hatten diese Außerirdischen ihr komplettes Leben aus der Bahn geworfen. Schlimmer noch. Tausende anderer Menschen waren damals in den Fluten umgekommen. Trish verstand sofort worauf das hinauslief: »Es war ein Unfall. So etwas passiert.« »Nein!« May schlug mit der Faust auf den Tisch, sprang auf und rannte aus dem Raum. »Ich regle das!«, gab Trish zu verstehen und folgte May. Sie verpasste den emotionsgeladenen Kommander am Lift, konnte sich aber denken, wo er hin flüchtete und nahm einfach den nächsten Personenfrachter.


»Kleiner Mensch mag die Seem nicht.«, tönte es aus der Kommunikation und so langsam schien sich der Übersetzer an die ungewohnte Sprache anzupassen, denn auch die abgebrochenen Silben, die die Lücken zwischen den Worten bisher füllten, wurden deutlich weniger. »Kommander May war auch im Wasser. Viele Menschen waren im Wasser.«, versuchte Mergy in einfachen Sätzen eine Erklärung abzugeben. »Wir wollten das nicht. Es tut uns leid.« »Das verstehen wir!« »Kommander May versteht nicht.«


»Sie wird es verstehen. Sie braucht etwas Zeit! Warum seit ihr überhaupt zur Erde gekommen?« »Unsere Heimatwelt von Draken zerstört. Seemschiffe wurden ausgesandt um Planet für Überlebende zu finden.«, erklärte der Seem: »Die Erde ist zu gefährlich. Nicht geeignet.« »Ja, wir verstehen auch warum. Die Menschen würden die Seem jagen.«, erklärte Mergy. »Ihr seit anders!«, brachte der Seem, der anscheinend der Anführer war, erstmals offen Vertrauen gegenüber dem Ray Team zum Ausdruck.


Als Trish auf der Krankenstation ankam, saß May schon neben ihrem Vater und hielt seine Hand. »Ich kann verstehen warum du wütend bist. Aber das war Schicksal.«, wagte sich Trish vorsichtig an sie heran. »Unzählige Menschen sind an diesem Tag gestorben und verletzt worden. Familien wurden getrennt. Das Schicksal ist Scheiße.«, drückte sich May ungewohnt hart und schroff aus.


»Vielleicht siehst du es nicht aus der richtigen Perspektive?«, gab Trish zu verstehen. »Ach, wenn ich von der anderen Seite schaue ist alles schön und gut? Am Liebsten würde ich in eine Zeitmaschine springen und die Seem einfach abschießen, bevor sie den Schaden überhaupt anrichten.« »Mergy hatte recht. Wenn die stärkste deiner drei Superkräfte die Oberhand gewinnt, wirst du gefährlich.« »Drei Superkräfte?« Trish, schmunzelte: »Die Luft, dein Schlaukopf und dein viel zu großes Herz. Im Moment kontrolliert dich dein Herz. Du denkst nicht klar.«


»Was ist falsch daran, wenn ich die Seem vernichte, bevor sie Schaden anrichten?« May war immer noch ungehalten, wenngleich sie es erstaunlich fand, wie Mergy über sie gesprochen hatte. Er hielt sie für gefährlich? Ausgerechnet er? »Genau das meine ich mit der anderen Perspektive. Damit verhinderst du die Welle, deine Familie und dein Dorf werden verschont und alle Menschen überleben. Ihr lebt glücklich zusammen.« »Ja, und warum ist das jetzt schlecht?«


»Du denkst mit dem Herz. Das Gesamtbild ist wichtig. Dann wirst du nie von Mergy gerettet. Das Orakel wird uns nicht helfen. Tin stirbt bei der Explosion ihres Labors, der andere Tsunami vernichtet die Insel, die du gerettet hast. Wenn die Draken kommen haben wir ohne Tins Entwicklungen keine Chance. Die Erde ist schutzlos und wird von den Draken vernichtet wie schon so viele andere Welten vor ihr auch.«


May dachte über die Worte nach. Trish hatte Recht. Ohne die Seem wäre nicht nur ihr Leben komplett anders verlaufen und nichts von dem, was sie beim Ray Team erlebt hatte, wäre passiert. »Weisst du was Mergy damals als Begründung genannt hat, warum er dich aufgesammelt hat? Er meinte er hätte so ein Gefühl gehabt. Du wärst wichtig.«, setzte Trish ihren Monolog fort: »Ich hab ihn damals ziemlich angefahren, weil ich der Meinung bin jeder Mensch ist wichtig. Sab hat noch abwertend gemeint, ob er glauben würde du wärst der Retter der Menschheit. Der Punkt ist, Mergy hatte Recht und Sab auf ihre eigenwillige Weise auch. Ich verstehe jetzt auch nicht wie oder warum, aber rückwirkend betrachtet war deine Anwesenheit auf der Station der Schlüssel zu allem. Du hast den Planeten gerettet. Wenn es wirklich so etwas wie ein Schicksal gibt, dann hat es sich ziemlich viel Mühe gegeben, damit du heute hier stehst.«


Die Worte die auf May einprasselten enthielten viele Informationen, die sie noch gar nicht kannte und egal wie sie es drehte, der Tsunami war verglichen mit der Auslöschung des gesamten Planeten immer das kleinere Übel. War es nun Schicksal oder einfach nur Glück? Trish merkte wie ihre Worte in dem kleinen Kommander fruchteten. Sie legte noch einmal die Hand auf ihre Schulter und machte sich auf den Weg zurück zu den anderen, die sich gerade den Kriegsverlauf mit den Draken erklären ließen. »Und?«, fragte Mergy besorgt nach als Trish den Konferenzraum betrat. »Sie hat jetzt etwas zum Nachdenken. Wir sollten sie nicht weiter bedrängen.«


»Wir bemerken keine Reparaturen.«, tönte es aus dem Bildschirm. »Was meinen sie?«, fragte Sab nach. »Ray Team nicht reparieren, Ray Team verändern!«, kam erneut eine undeutliche Aussage aus der Anlage. »Ich denke, ich kann das erklären.«, war es wieder Mergy der sich zu Wort meldete: »Da draußen sind ziemlich viele Drakenschiffe und ich hab mir gedacht etwas Schutz und bessere Waffen sind im Sinne der Seem!« »Du hast ihnen Ray Team Technologie eingebaut? Das geht nicht!«, protestierte Tin. »Natürlich nicht. Ich habe ihnen die modernsten Drakenwaffen und Schilde einbauen lassen. Außerdem habe ich ihre Datenbanken mit den neusten Informationen über die Draken aufgefüllt.«, erklärte Mergy: »Die Feinde der Draken müssen doch zusammenhalten!«


»Die Seem und die Menschen sind Verbündete?«, kam erstmals ein als Frage formulierter Satz aus der Kommunikation. »Naja, wir können nicht für alle Menschen sprechen, aber die Seem sind beim Ray Team immer willkommen.«, beantwortete Sab die Frage. Mergy und Trish waren sichtlich erstaunt, Sab so schnell und ohne Widerworte dem Vorhaben zustimmen zu hören. »Ich habe mir erlaubt Nahrung in den Raum zu transportieren und hoffe meine Wahl war angemessen und ist genießbar.«, erklärte Tin und die Seem bedankten sich wie schon diverse Male zuvor.


Die Tür zischte auf. »Oh, der verlorene Kommander ist wieder da!«, flachste Mergy und May schmunzelte und zog einen Mundwinkel gespielt schmollend hoch. »Wenn da keine weiteren Fragen zu klären sind, beende ich die Verbindung. Sollten sie uns kontaktieren wollen, dann berühren sie einfach den Bildschirm.«, gab Sab eine letzte Information an die Seem weiter und terminierte die Übertragung in das neue Aquarium. »Ich hätte da eine Frage!«, war es May, die sich kaum sitzend mit ernster Tonlage wieder ins Gespräch einklinkte: »Wenn ich in der Zukunft alle Informationen in diese Kiste gespielt habe und wir die Geschichte bereits geändert haben, wieso hat das Orakel dann bis heute richtige Hinweise und keine Fehlinformationen geliefert?«


»Ja, die ganze Orakelkiste ist eigentlich ein gewaltiges Paradoxon. Immer wenn wir jemanden retten, ändern wir die Zukunft und damit auch die Daten in der Maschine, die in der Zukunft abgeschickt werden.«, erklärte Tin. »Aber wenn die Zukunft zum Besseren geändert wird, schicke ich doch gar kein Orakel mehr, weil es dann nicht mehr nötig ist.«, hakte May verwirrt und unsicher weiter nach. »Darum nennt man es Paradoxon. Da wird es wirklich kompliziert. Wenn du den Kasten nicht schickst, dann haben wir wieder eine schlechte Zukunft und du schickst sie ja eben doch wieder.«, lachte Tin: »Das ist das Verwirrende bei der Zeit. So war es auch bei Mergy. Er hat gelebt obwohl sein Großvater eigentlich im Krieg gestorben ist und er musste ihn retten um am Leben zu bleiben. Das sind die Dinge, die wir wohl nie so ganz verstehen werden.« »Können die Seem nicht wie die andere Sab in die Vergangenheit gezogen werden? Wegen dieser natürlichen Ordnung meine ich.«, fragte Mergy nach.


»Technisch schon, aber das ist ziemlich unwahrscheinlich. Es würde ja nicht nur die Seem betreffen, sondern auch das gesamte Schiff mit dem ganzen Wasser und den Orakelspeicher.« »Die Orakelkiste auch?«, fragte Trish verwundert nach. Der Datenspeicher war ja nachträglich in der Zukunft in das Schiff eingebaut worden und daher müsste die Energie ihren Ursprung eben auch dort haben. »Oh, stimmt. Du warst vorhin nicht da. Das original Seemschiff hatte funktionstüchtige Waffensysteme. Die wurden laut den Seem von einer noch einmal deutlich cleveren May in der Zukunft teilweise in den Datenspeicher umgewandelt. Hätte sie uns eine normale Kiste geschickt, wäre mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Orakelbox vorzeitig aus der Zeitlinie gerissen worden, aber jetzt muss das komplette Schiff verschoben werden und das ist schon sehr unwahrscheinlich zumal die Seem uns auch noch verlassen werden und somit die Kiste und das Seemschiff gleichzeitig in zwei verschiedene Vergenzen entsprechender Größe geraten müssten.«, erklärte Tin.


»Papa bleibt auch hier?«, fragte May sorgenvoll nach. »Oh, den hatte ich in meiner Rechnung komplett vergessen. Natürlich. Ihm wird nichts passieren.« Mays Gesicht zeugte von Erleichterung. Sie hatte noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt mit ihm zu sprechen, aber sie wollte ihn um nichts auf der Welt wieder verlieren. »Wenn man vom Teufel, ich meine Vater, spricht. Der Doc meldet gerade er sei aufgewacht.«, merkte Sab an und May war schon aus der Tür noch bevor Sab ihren Mund wieder geschlossen hatte. Mergy schmunzelte schelmisch.


»Was ist los?«, fragte Sab ihn direkt, aber Mergy hob nur die Augenbrauen hoch, als wenn er etwas von Sab hören wollte. Trish hatte sich ja schon vor einigen Minuten mit der Thematik befasst und kannte Mergy gut genug, um zu verstehen, was in seinem Kopf vorging. »Ihr hattet beide Recht. Sie ist wichtig und sie ist der Retter der Menschheit.«, lachte Trish, während jetzt beide Kollegen über ihre eigenen Aussagen schmunzelten. »Manchmal ist Einsammeln eben doch besser als einfach nur retten!«, lachte Mergy und Sab brach auch in Lachen aus. Hatte sie ihm diesen Spruch in umgedrehter Form doch schon mehrfach entgegen geworfen. »Ja, aus der Nummer sind wir ziemlich gut herausgekommen.«, lachte Trish.


Als May in den Behandlungssaal der Krankenstation kam, saß ihr Vater schon auf dem Tisch und konnte nicht glauben was er sah: »May!« Jin sprang vom Tisch und schloss May sofort in seine Arme. »Papa!«, erwiderte May ihrerseits die Umarmung, während der Doc und Sandra die Szene mit einem Lächeln beobachten. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit lockerte May ihren festen Griff und auch Jin tat einen Schritt zurück: »Du bist so groß geworden! Ich versteh das nicht. Ich war doch nur ein paar Tage weg? Vorhin dachte ich dich als alte Frau gesehen zu haben. Und diese Monster? Was waren das für Monster?«, stellte Jin in seiner Verwirrung eine Frage nach der anderen.


»Das sind keine Monster. Das sind Außerirdische von einem anderen Planeten. Sie haben dich gerettet.«, sprach May aus, was sie vorhin nicht einmal ansatzweise zu denken gewillt war: »Das Schiff ist durch die Zeit getrudelt bis wir euch herausgefischt haben.« Der Kommander legte eine kleine Pause ein, damit ihr Vater die neuen Informationen verarbeiten konnte. »Ich bin jetzt 17 Jahre alt, auch wenn du nur ein paar Tage älter geworden bist.« Jin war von der Informationsflut wie erschlagen. »Sind die Krankenzimmer frei?« Der Doc nickte und wußte was May vor hatte. »Jaque fülle doch bitte den Kleiderschrank in Krankenzimmer 1 mit passender Kleidung. Mein Vater braucht etwas zum Anziehen.« »Wird erledigt, Kommander!«, schallte es von der Decke.


Ihr Vater hatte erst jetzt seine Umgebung richtig erfasst und schaute sich unsicher in der funkelnden und sauberen Krankenstation um. »Komm ich zeige dir das Bad.« May reichte ihrem Vater die Hand und zog ihn in Richtung Krankenzimmer. »Was bedeutet Kommander?«, war das Letzte was das medizinische Personal von den Beiden hörte, bevor sich die Tür hinter ihnen schloss. May zeigte ihm die Dusche und die Kleidungsstücke, die exakt auf seine Größe zugeschnitten waren. Jin war wie May damals überwältigt von der Auswahl und Qualität. May saß derweil auf dem Bett und vertrieb sich die Zeit mit einem Datentablett, als ihr Vater frisch, rasiert und neu eingekleidet aus dem Bad kam. Sie lächelte. So schick gekleidet hatte sie ihren Vater noch nie gesehen.


Er hatte sich immer Mühe gegeben, was sein Aussehen anging, aber die Möglichkeiten in ihrem Dorf und die Wahl der Kleidung setzten ihm damals enge Grenzen. »Du siehst ja toll aus. Mama wird sich sicher freuen dich zu sehen.«, plapperte May die Überraschung in den Raum, die sie schon länger krampfhaft zurückhielt. Jin stutzte. Er hatte seine Tochter gefunden, aber keine Ahnung was mit seiner Frau passiert war. Zuerst wollte er May fragen, hatte sich dann aber nicht getraut, um nicht schon jetzt alte Wunden aufzureißen und die Freude des Wiedersehens zu trüben.


»Mama ist auch hier?«, fragte er mit großen Augen. »Ja, sie betreibt ein Restaurant auf der Station. Das Dragon Fly.« »Können wir zu ihr?«, fragte Jin vorsichtig. »Klar, aber ich denke ich sollte sie kurz vorbereiten, sonst gibt es noch ein Unglück.«, gab May zu verstehen und hatte Angst ihre Mutter könnte vielleicht vor Freude versehentlich die Station aus ihren Angeln heben. »Und wir müssen den Doc fragen, ob er mit dir fertig ist!« Im Behandlungsraum nahmen auch der Doc und auch Sandra die optische Veränderung ihres Patienten positiv zur Kenntnis.


Der Doc hatte keinerlei Einwände und empfahl auch gleich eine ordentliche Mahlzeit, damit Jin wieder zu Kräften kommen würde. Dieser staunte nicht schlecht, als sich die große Halle vor ihm auftat. Das Staunen war schnell zu Ende, als sein Blick auf einen der Sor-Avatare traf. May brauchte einige Momente um ihm die Freundlichkeit von Sor zu verdeutlichen. Aber so richtig traute Jin dem Servierroboter aus Licht, der in mehrfacher Ausführung seinen Dienst versah, trotzdem noch nicht. »Gehen wir erst einmal nach oben!«, forderte May und zog ihn an den Händen zur Treppe, an deren oberen Ende sie ihren Vater ausbremste und alleine ins Dragon Fly stürmte.


»Hallo, Schatz.«, begrüßte Reiko nichts ahnend ihre Tochter. May zog ihre Mutter unter leichtem Protest hinter der Küchenzeile hervor und dirigierte sie an einen der freien Tische am Gang: »Hinsetzen!« Das Kommando war zwar im Befehlston ausgesprochen, wirkte aber durch das überschwängliche Lächeln auf ihren Lippen mehr als nur ein wenig abgeschwächt. »Was ist los mit dir? Du bist so fröhlich.« »Erinnerst du dich an Papas Lieblingsessen?«, fragte May forsch nach. »Natürlich, was denkst du von mir?«, war Reiko leicht ungehalten. Wie May ein Vergessen auch nur vermuten? »Dann wirst du es wohl heute kochen müssen. Er hat nämlich Hunger.«, erklärte May.


Reiko war verwirrt und noch bevor sie eine klare Frage stellen konnte, rief May ihren Vater herein. Es passierte nichts. Auch als May ein zweites Mal rief passierte nichts. Die anderen Piloten und Kadetten an den Tischen schauten dem Geschehen zu. May hatte keinen Vater mehr und alle wußten das. Auch Reiko fragte sich bereits, wieso May sich so einen seltsamen und makaberen Scherz erlaubte. Vorsichtig, schaute May um die Ecke und war sichtlich froh. Es war keine Einbildung, kein Traum, gewesen. Ihr Vater stand wirklich da. »Das ist die Erde!«, deutete Jin aus dem Fenster auf der anderen Seite. »Ja, wir sind auf einer Raumstation im Weltall und Mama ist da drin!«, wiegelte May die, zumindest für Jin sensationelle, Neuigkeit einfach ab und schubste ihn sanft vor sich her um die Ecke ins Lokal.


Die Reaktion ihrer Mutte, genau diese Situation war so, wie May sie sich in den letzten Stunden in ihren Gedanken mehrfach vorgestellt hatte. Im Stehen wäre sie bestimmt sofort mit weichen Knien umgekippt, soviel war klar. Beide starrten sich für einen Moment nur schweigend an. Auch die anderen Gäste an den Tischen vergaßen ihr Essen und schauten zu, ohne so recht zu verstehen, was hier gerade passierte. Dann brach die Barriere und beide fielen sich vor Freude weinend in die Arme und auch May konnte sich nicht zurückhalten und verschüttete ihrerseits weitere Tränen. Sie hatte ihre Familie wieder. Auch wenn die Seem ihre Familie zerrissen hatten, so musste May sich eingestehen, wie Recht Trish hatte. Egal wie sie es gedreht hatte, die Welt wäre untergegangen. Genau wie der Planet der Seem wäre er von den Draken überrollt und vernichtet worden.


Selbst ohne die Draken wäre ihr Leben und das ihrer Familie niemals so aufregend und so spannend wie heute. Sie würden immer noch in der alten Hütte sitzen und mehr schlecht als recht vor sich hin leben. Das Leben auf der Station war verglichen mit einem Leben im Dorf purer Luxus, gepaart mit jeder Menge Sicherheit, tollen Freunden und einer Menge spannender Abenteuer. Reiko zauberte ein umfassendes Mahl und May bat die Anwesenden, die noch nichts bestellt oder bekommen hatten ins Sors zu gehen, weil der Laden nun aus familiären Gründen geschlossen sei, wie sie mit freudigem Strahlen verkündete. Die restlichen Gäste verschwanden nach und nach, während sich die Drei noch stundenlang angeregt unterhielten und ihre Geschichten erzählten.

Neue Freunde

Im Sor herrschte der normale morgendliche Hochbetrieb. Die Piloten planten ihren Tag, unterhielten sich über die vergangenen Ereignisse und versuchten neuste Informationen über das unbekannte Alienschiff im Bauch der Station zu erhalten. Mitten in diesem Trubel saß auch die kleine Pfadfindergruppe mit ihrer Anführerin Suki. Sie war zwar nicht offiziell den Neulingen zugeteilt, aber es machte ihr Spaß und es war mal eine etwas andere Aufgabe. »Wieso bist du hier, Suki?«, fragte plötzlich Meena, eine der Neulinge: »Wurdest du auch gerettet?«


»Ja, das kann man wohl sagen.«, lachte Suki, obwohl sie die Erinnerungen tief trafen und die Schuldgefühle, gerade in der vergangenen Weihnachtszeit, immer wieder in ihr aufgestiegen waren. Die dunklen Schatten ihrer Vergangenheit stiegen unverhofft wieder empor und zogen ihre Kehle wie ein dunkler Schleier zu. Sie sollte damals nur für einige Stunden auf ihre kleine Schwester aufpassen. Suki war gerade 18 Jahre alt geworden und ihre kleine Schwester war 14. Die Beiden verstanden sich gut, aber immer wenn Suki auf ihre Schwester Shizuka achten sollte, kam es zum Streit. Als sie jünger war, gab es diese Probleme nicht, aber mit zwölf oder dreizehn wurde die Kleine bockig. Sie wollte nicht mehr auf ihre große Schwester hören.


So war es auch an dem Tag, der ihr Leben komplett aus der Bahn werfen sollte. Sie sollten noch Lebensmittel einkaufen, aber Shizuka wollte unbedingt in ein Musikgeschäft. Da es aber eben nicht gerade um die Ecke lag, hätten die Eltern gemerkt, wenn sie getrödelt hätten, zumal sie auf die Zutaten für das Abendessen bereits warteten. Also beschloss Shizuka, gegen den Willen von Suki, alleine zum Musikgeschäft zu laufen, während Suki die restlichen Besorgungen ohne Hilfe machen musste. Suki konnte nichts machen. Je mehr sie versuchte sie davon abzuhalten, desto lauter und ablehnender wurde ihre Schwester. Die Dunkelheit brach bereits über die Stadt herein, als Suki ohne ihre Schwester vom Einkauf heim kam. Da gab es bereits den ersten Ärger, weil sie Shizuka hatte alleine gehen lassen.


Als große Schwester müsse sie doch wissen: Mit dem letzten Licht verschwand auch die Sicherheit in den Straßen. Es wurde für ein junges Mädchen gefährlich. Suki konnte ihnen sagen was sie wollte, aber ihre Eltern waren dieser Meinung und nicht davon abzubringen. Keines von Sukis Argumenten wußte zu überzeugen. Zwei Stunden später war Shizuka immer noch nicht zu Hause. Sie kam nie wieder nach Hause. Suki fühlte sich schrecklich. Sie alleine hatte die Verantwortung getragen und versagt. Es war ihre Schuld und sie hätte es verhindern können, wenn sie nur hart genug durchgegriffen hätte. Die folgenden Monate und Jahre waren hart. Jedesmal wenn jemand an der Tür klingelte, kam Panik auf. Einerseits könnte es Shizuka selbst sein, aber andererseits auch die Polizei, die ihnen mitteilte, man hätte ihre Schwester gefunden.


Suki war in ihrer Verzweiflung auf das Dach gestiegen. Sie wollte nicht mehr mit der Schuld leben und allem ein Ende setzen. Wie schon so oft stand sie mehrere Stunden dort an der Kante des Daches. Diesmal aber war es anders, denn dieses Mal sprang sie wirklich in die Tiefe. Suki spürte den Wind des Falles in ihren Haaren. Deutlich war das Säuseln auch in ihren Ohren zu hören. Als die sie Augen schloss, war der Boden schon nah. Sehr nah. Dann landete sie unsanft. Ihre Knie und ihre Arme schmerzten. Suki konnte sich das nicht erklären. Gerade war sie 34 Stockwerke in die Tiefe gestürzt und doch lebte sie. Oder war sie jetzt tot? Als sie ihre Augen öffnete und sich hochrappelte traute sie ihren Augen nicht. Unglaublicher Weise stand sie wieder oben auf dem Dach. Unsicher schaute Suki von der Kante in die Tiefe. »Nicht noch einmal springen. Der Trick ist ziemlich aufwendig.«, hörte sie eine Stimme hinter sich.


Als sie sich umdrehte stand da ein Typ mit etwas altbackener Jeansjacke. »Bin ich tot?« »Nein, dieses Mal nicht.« »Wieso?« »Weil ich dir eine zweite Chance geben will. Willst du einfach so aufgeben oder willst du deine Schuld wieder gut machen?« Er wußte anscheinend genau, was sie bedrückte und schien sie genau zu kennen. »Lust ein Held zu werden?« »Ich? – Ein Held? – Da sind sie bei mir falsch.«


»Oh, ich sage nicht es wird einfach. Du wirst viel lernen und hart trainieren müssen.« Mergy war klar, es würde weitere Überzeugungsarbeit benötigen. Ein leises fauchen ertönte und dann flirrte die Luft hinter ihm. Deutlich war zu sehen, wie die vom Mondlicht angestrahlten Gebäude hinter ihm begannen zu verschwimmen. Kampfgleiter 1 erschien, aktivierte seine Landefüße und setzte fast lautlos auf dem Dach auf: »Hatte ich die Spielzeuge erwähnt?«


Suki hatte damals fassungslos dagestanden und das unglaubliche futuristische Fluggerät angestarrt. »Deine Entscheidung. Bis nächste Woche.«, sagte der Mann, der sich ihr nicht einmal vorgestellt hatte, noch und dann schloss sich die seitliche Flügeltür. Langsam stieg das Gerät in die Luft und sauste schlagartig davon. Suki hatte noch über eine Stunde auf dem Dach gestanden und ungläubig in den Himmel gestarrt. Mehrfach hatte sie sich gefragt, ob das gerade alles wirklich passiert war. An diesem Abend änderte sich alles.


Zwei Tage später flatterte ein Schreiben ins Haus. Es war angeblich von einer geheimen Regierungsstelle. Man beglückwünschte Suki und teilte ihr mit, sie könne ihre neue Arbeit umgehend antreten. Hunderte Male hatte Suki den Brief gelesen. Sie würde nicht mehr Zuhause wohnen, sondern ausziehen und an einen geheimen Ort umziehen. Am folgenden Samstag um 20 Uhr erwartete man sie auf dem Dach, wo sie ein Hubschrauber abholen würde. Das alleine war schon der Hammer, aber Suki hatte gesehen, was diese Leute für Möglichkeiten hatten.


Für die junge Frau stand der Entschluss schon nach dem ersten Lesen des Briefes fest. Was hatte sie auch zu verlieren? Im Gegenteil. Sie war wegen genau dieser Leute überhaupt noch da. Wäre dieser Mann nicht gewesen, wäre sie als Fleck auf dem Bordstein geendet. Immer wieder wollten ihre Eltern wissen, was das für eine Organisation ist, der sie beitreten würde und woher die sie kennen würden, aber das wußte Suki selbst nicht. Die Tage zogen sich langsam und zäh wie Honig.


Immer wieder prüfte sie die Vollständigkeit ihrer gepackten Taschen, ohne überhaupt zu wissen, was sie in ihrem neuen Leben eigentlich brauchen würde und was nicht. Dann war es endlich Samstagabend und zusammen mit ihren Eltern stieg sie auf das flache Hochhausdach. Es dauerte nicht lange und man hörte das Schrappen der Rotoren eines Hubschraubers über ihnen in der Luft. Der schwarze Helikopter fuhr seine Räder aus und setzte sanft auf dem Dach auf.


Mergy hatte ihren Eltern damals versichert, man würde gut auf sie achten. Es kam ihnen alles schon seltsam vor. Der Mann war schließlich kein Asiate. Sie sahen aber auch die Mühe, die man sich wegen ihrer Tochter machte. Trotz einiger Zweifel ließen sie sie gehen. Langsam hob der Hubschrauber ab, drehte noch eine Runde um das Paar auf dem Dach und dann stieg er nach oben. Weiter nach oben, als das Mädchen es je gedacht hätte und als wenige Minuten später die riesige weiße Station wabernd, beim Durchfliegen der Tarnwand, vor ihren Augen auftauchte, fragte Suki sich auch nicht mehr wieso ein Hubschrauber überhaupt im Weltall fliegen konnte. Mergy hatte nicht zu viel versprochen. Es war ihre zweite Chance und die wollte sie nutzen. Für sich, für ihre Eltern und für Shizuka.


Der Laden wurde schlagartig ruhiger, als Sab auftauchte und mit Sor sprach. »Ich dachte sie muss nichts essen?«, fragte eine der kleinen Neulinge und spielte auf die Gerüchte an, die selbst hier schon angekommen waren. »Kommander Sab ist richtig nett!«, erzählte Jiyai von ihren mehrmaligen Begegnungen mit Sab. »Du kennst Sab?«, fragte Suki unsicher. »Ja, wir haben uns einige Male auf dem Turm getroffen und sie hat mir alles erklärt, was ich wissen wollte.«, bestätigte Jiyai. »Das klingt so gar nicht nach ihr.«, gab Suki stark zweifelnd zu Protokoll. Sab kam mit ihrem Tablett am Tisch der Frischlinge vorbei und Jiyai begrüßte sie freundlich und bekam zusammen mit den anderen eine gleichermaßen nette Erwiderung des Grußes.


Nachdem sie sich an einen der freien Tische gesetzt hatte, dauerte es noch eine ganze Weile, bis sich die Aufregung im Saal gelegt hatte. Noch nie war Sab hier zu einer normalen Uhrzeit gewesen und wollte einfach nur etwas essen. Das war jetzt das Thema Nummer 1 und die Seem waren fast vergessen. So viel war klar. Der sonst so steife Kommander musste leicht grinsen. Das verdutzte Gesicht von Suki, welches sie im Vorbeigehen erzeugt hatte, war einfach zu komisch gewesen. »Ich bin immer noch für Dienstausweise mit Bild.«, dachte sie verschmitzt in sich hinein, während sie begann ihr Bagel aufzuschneiden.


»Morgen!«, rief eine fröhliche und entspannte May in die Kommandozentrale des Ray Teams, um nur Sekunden später für einen Moment erstarrt stehen zu bleiben. Da war er wieder. Dieser große, breite und muskulös wirkende Typ im Anzug stand mitten im Kommandozentrum und Niemand beachtete ihn. »Morgen!«, erwiderte Tin, die sonst hier meist auch nicht anzutreffen war. Trish konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und May war immer noch dabei diesen unbekannten Typ einzuordnen: »Hallo, ich bin May!« »Aber das weiß ich doch.«, machte der vermeintlich Fremde keine Anstalten ihre Begrüßung auch nur Ansatzweise zurück zu werfen. May kannte die Stimme.


»Sie sind die Stimme von Jaque! Ich meine von ihnen hat er die Stimme.«, verwurstelte sich May unsicher in den Sätzen. »Nein, da liegt ein Irrtum vor.« Tin und Trish brachen in Lachen aus. »Hab ich es verpasst?«, fragte plötzlich Mergy aus dem anderen Lift kommend. Die Zwillinge konnten nur bestätigen, er hätte noch nicht alles verpasst. May war noch verunsicherter als zuvor. »Jaque, wie spät ist es?«, fragte Mergy schließlich in den Raum. »Es ist 8 Uhr 12.«, antwortete der dunkelhäutige Mann. »Du bist – Das ist – Du hast einen Körper!«, wurde May nicht wirklich klarer in ihrer Ausdrucksweise: »Wie geht das?« »Naja, wir haben für fast alle Körperteile Prothesen, da war es naheliegend mal zu auszuprobieren, ob das so auch funktioniert, wenn wir alles zusammenstecken, und für uns am Ende einen Nutzen bringt.«, erklärte Tin.


May zögerte noch einen Augenblick. Dann machte sie zwei große Schritte auf den eben noch Fremden zu und umarmte ihn herzlich: »Das wollte ich schon seit Jahren machen.« »Habe ich es euch nicht gesagt. Sie ist ein Umarmungstyp.«, schmunzelte Mergy zu den anderen hinüber, die sich die Szene ebenfalls genüsslich ansahen. »Ist dein Würfel da jetzt drin?«, fragte May schließlich, ohne die Umarmung auch nur ein wenig zu lösen. »Nein, der steckt noch in der Station.«, erklärte Jaque. »Ist erstmal besser so. Wir können nicht riskieren Jaque durch eine Fehlfunktion zu verlieren.«, fügte Tin hinzu.


»Ich finde es schön, dich auch mal sehen zu können. Also als Person, meine ich.«, lachte May: »Obwohl ich mir dich anders vorgestellt habe.« »Wie denn?«, fragte Jaque. »Naja, nicht so groß und breit. Mehr wie der normale Typ von nebenan.«, erklärte May. »Das hatte ich eigentlich auch vor, aber derzeit ist es nicht so einfach die ganze nötige Technik so zu schrumpfen, damit sie in einen kleineren Körper hineinpasst.« »So gefällst du mir aber auch!«, grinste May und setzte sich an einen der Terminals.


»Ah, das Stationsgespräch Nummer Zwei in Person. Guten Morgen!«, flappste May, als Sab das Kommandodeck einige Minuten später betrat. »Morgen! Ich bin Stationsgespräch?«, reagierte Sab unsicher. »Es gehen Gerüchte um du würdest neuerdings feste Nahrung zu dir nehmen und hättest im Sor gegessen.« May konnte das Lächeln kaum verbergen. »Ja, das stimmt dann wohl.«, gab Sab nur trocken und gewohnt monoton ihre Antwort. »Die anderen Gerüchte sind aber wohl mehr dummes Geschwätz.«, setzte May ihre Bestandsaufnahme fort. »Welche anderen Gerüchte?«, wurde Sab jetzt doch wieder neugierig.


»Du wärst nett und freundlich gewesen. Also das kann ich mir bei aller Fantasie nun wirklich nicht vorstellen.« Sab saß mit dem Gesicht abgewandt schon wieder an ihrem Terminal, aber May konnte dank ihrer Fähigkeiten genau sehen, wie Sab ihre Mundwinkel hob und ein wenig lächelte. »Ja, Sab soll in letzter Zeit wirklich ungewöhnlich freundlich gewesen sein. Davon habe ich auch schon gehört! Wir sollten die Station sicherheitshalber unter Quarantäne stellen.«, stellte auch Mergy diesen Wandel in Sab auf witzige Art in den Raum. »Ja, ja, ist ja gut!«, brummelte die alte Sab aus ihrer Ecke. »Oh, ist wohl schon wieder vorbei.«, lachte Trish und riss die anderen mit.


»Was steht heute noch auf dem Programm? Ich würde mich gerne ein wenig hinhauen?«, erklärte Mergy, der in der Nachtschicht einige Missionen geflogen hatte, um sich von der Anja Situation abzulenken. »Um 15 Uhr werden wir noch einmal die Seem im Frachtraum aufsuchen und uns verabschieden. Nach einem Funktionstest ihres Schiffes entlassen wir sie wieder ins All.«, erklärte Trish. »Gut, dann bis nachher.«, verschwand Mergy wieder im Lift.


»Ich werde mich auch mal wieder da unten blicken lassen.«, erklärte May, die, mal von dem schief gelaufenen Ausflug mit Nim abgesehen, schon länger keinen Einsatz geflogen hatte. Nim und Katie waren mit der Vanquist unterwegs und Suki verbrachte die meiste Zeit mit den neuen Kadetten. May wollte auch ihren Eltern die nötige Freiheit geben und nicht das klammernde Kind zu mimen. Eine Schicht im Kampfgleiter war aber auch mehr als nur eine Methode für etwas Abwechslung zu sorgen. Sie liebte es sich einfach nur über den Städten zu bewegen und den Menschen auf der Erde durch ihre Anwesenheit eine Art Sicherheit zu geben. Sie war da. Sie passte auf.


Mergy war gerade aus der Dusche gestiegen, als ihn die Tür durch die gewohnte Tonfolge auf einen Gast aufmerksam machte. »Öffnen!«, rief er unnötigerweise bis in den Wohnbereich hinüber und betrat wenige Sekunden später, mit T-Shirt und Sporthose bekleidet, seine Haare mit einem Handtuch trocknend, den Raum. Jin stand unsicher vor der Tür im Gang und wartete: »Ich komme später wieder, wenn ich störe!«


»Nein, kommen sie herein. Ich habe nur gerade geduscht, darum mein etwas legerer Aufzug. Schön sie wieder auf den Beinen zu sehen.«, begrüßte Mergy, der mit seiner Weste und den schweren schwarzen Schuhen sonst auch wirklich nicht sehr förmlich aussah, seinen Hausgast: »Setzen sie sich!« Mergy bemerkte wie Jin sich umsah und das feststellte, was jede Person beim Betreten eines fremden Quartiers in diesem Moment tat. Die Wohnräume waren von der Größe und Form alle identisch mit den eigenen. »Die Quartiere sind alle gleich. Wir machen da keinen Unterschied zwischen Kadetten, Piloten, Köchinnen und Kommandern.«, merkte Mergy an: »Bei der Ausstattung hat allerdings jeder freie Hand.«


»Reiko und May haben mir erzählt was in den letzten Jahren so alles passiert ist und was sie für meine Familie getan haben. Ich weiß gar nicht wie ich mich bei ihnen jemals dafür erkenntlich zeigen kann.« Jins Stimme war aufrichtig und ernsthaft. Man konnte deutlich spüren, wie er es als Pflicht sah ansah für seine Familie zu sorgen und obwohl ihn für das Geschehene absolut keine Schuld traf, lag ein tiefer Unterton der Schuld und auch des Versagens in seinen Worten. Mergy bot ihm erst einmal das Du an und dann unterhielten sie sich über die vergangenen Ereignisse. Gespannt lauschte Jin Mergys Worten und seiner Version der Geschehnisse. Seine Familie hatte nicht übertrieben. Soviel erkannte er recht schnell. Mergy sprach mehr als nur respektvoll von den Beiden.


»Es muss unglaublich schmerzhaft sein, wenn man all die Jahre im Leben seines Kindes verpasst. Ich war nur einige Monate in der Zeit verschollen und hab May kaum wieder erkannt, aber so viele Jahre zu verlieren, kann ich mir selbst kaum ausmalen.« »Vor ein paar Tagen war sie 9 Jahre alt und jetzt ist sie eine erwachsene Frau. Es ist sehr verwirrend. Und sie hat einen Freund.« Offensichtlich hatte er schon von Nim gehört, konnte sich aber nicht so recht damit anfreunden und glauben, was da ohne seine Zustimmung passiert war. Mergy konnte deutlich erkennen wie sich seine Stimmlage im letzten Teil des Satzes erheblich änderte.


»Ja, Nim. Er ist momentan mit einem unserer Raumschiffe unterwegs und verteidigt die Erde.« Mergy legte unweigerlich mehr Bedeutung in die Aufgabe als eigentlich nötig. Keine der Mannschaften war bisher von den Draken angegriffen worden. Wenn man es genau nahm, hatten sie seit der zweiten Invasionswelle noch nicht einmal ein weiteres Drakenschiff zu Gesicht bekommen. Allem Anschein nach waren sie nach dem Verlust von zwei fast kompletten Flotten etwas auf Abstand gegangen. Nach Tins Aktion, mit nur einem Schuss über 100 ihrer großen Schlachtschiffe zu zerlegen und der Androhung von massiven Gegenschlägen beim Angriff einer befreundeten Welt, waren sie vorsichtig geworden. Die Draken würden wohl auch ihre Expansionspläne nicht mehr so schnell voran treiben, wie sie es bisher taten.


»Ich verstehe aber deine Bedenken. Das sind die verschiedenen Kulturen, die hier auf der Station aufeinandertreffen. May ist erwachsen und trifft jeden Tag bedeutsame Entscheidungen, die das Leben vieler Menschen betreffen. Auch wenn ihr Herz ein wenig zu groß geraten ist, wird sie sich in keiner Form von ihm bedrängen lassen. Nim ist ein feiner Kerl und geht sehr respektvoll mit ihr um. Er war in sehr schweren Zeiten für sie da und weiß genau, er bekommt massive Probleme mit mir und der kompletten Stationsleitung, wenn er May weh tut. Trotzdem läßt er sich nicht abschrecken. Ich denke das alleine sagt schon viel über seinen Charakter aus. Er tut May gut. Sie erkennt langsam, wie viel mehr es im Leben gibt, als nur die Arbeit.« Mergy gab dem besorgten Vater unbewusst den gleichen Rat wie die Anderen damals Reiko. Er solle sich die Zeit nehmen Nim kennenzulernen und nicht zu versuchen sich zwischen die Beiden zu drängen.


Unausweichlich führte das Gespräch auch in die Zukunft. May würde niemals die Station verlassen, soviel war Mergy schon lange klar. Sie wollte damals nicht und jetzt, als Kommander, wohl erst recht nicht. Das Mädchen war glücklich hier. Mittlerweile war sie ja auch eine erwachsene Frau. Reiko hatte ihr Lokal und war, wenn sie nicht extrem gut schauspielerte, ebenfalls glücklich auf der Station.


Andererseits war Jin ein Fischer und abgesehen von den drei riesigen Fischen im Frachtdeck, gab es auf der Station keine Möglichkeit erfolgreich seiner Arbeit nach zu kommen. Mergy hatte sich bereits seit Jins Ankunft mit diesem Problem auseinander gesetzt und eine mögliche Lösung gefunden: »Hast du jemals daran gedacht Kampfsport zu unterrichten?«


»Eine eigene Schule?« »Ja.« »Ich habe früher davon geträumt, das Wissen meines Vaters weiterzugeben, aber nie das nötige Geld dafür gehabt und so ist es in der Familie und bei der Fischerei geblieben.« »Willst du weiter davon träumen oder eine aufmachen?« Jin verstand nicht so recht. »Naja, deine Frau hat ein Lokal. Es füttert mich. Du könntest mich trainieren, damit ich wenigstens ein bisschen mit deiner Tochter Schritt halten kann.«, witzelte Mergy: »Die Trainingsprogramme der Station sind zwar ganz brauchbar, aber mit einem echten Lehrer kommt neben der Kampfmechanik auch das Wissen. Ein klarer Geist besiegt jede Waffe! Du verstehst.« Mergy konnte es in Jins Augen sehen. Er kannte den Satz. »Ja, deine Weisheiten bekomme ich seit Mays Ankunft hier fast täglich zu hören. Da wäre es doch schön, sie vom Meister persönlich angewandt zu wissen.«


Wieder kam die Frage des Geldes auf, die Mergy wie schon bei Reiko einfach abwiegelte. Jaque sollte ihm die Trainingshalle auf dem Freizeitdeck zeigen. Dieser Raum wurde sowieso viel zu wenig genutzt und würde mit etwas asiatischem Tempelflair doch mehr als nur einladend wirken. Jin wußte nicht, was er sagen sollte, aber Mergy gab nur zu verstehen, sie wären doch jetzt quasi eine große Familie und müssten zusammen halten. Zu gerne hätte das Stationsoberhaupt seinem Gast die Halle persönlich gezeigt, aber er musste noch etwas Schlaf nachholen, bevor die Abreise der Seem an stand.


Der Kommander betonte außerdem, er würde Jin gerne bei der Verabschiedung ihrer neuen außerirdischen Freunde dabei haben. Schließlich waren die Seem jetzt so etwas wie Verbündete und wenn Jin wohlbehalten neben den Anderen zur Verabschiedung stehen würde, dann wäre es ein Zeichen. Ein Zeichen der Menschen wirklich hinter den Seem zu stehen und nicht nachtragend zu sein. Auch in Bezug auf May wäre seine Anwesenheit ein Signal. Es war zwar nicht wirklich nötig, denn die Seem waren durchgehend freundlich und entgegenkommend gewesen, aber schaden würde es in keinem Fall. Jin verabschiedete sich und verschwand unter Anleitung von Jaque, der bereits in Menschenform vor der Tür wartete, Richtung Freizeitdeck.


Trotz der arbeitsreichen Nacht, blieb Mergy nicht lange im Bett. Er konnte nur knapp vier Stunden schlafen und rotierte danach nur noch um seine Achse. Also beschloss er das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und begab sich mit einem Magazin in einen der Stationstürme. Dort oben war er ewig nicht mehr alleine gewesen und auch dieses Mal währte die Einsamkeit nicht lange. »Ah, die selbsternannte Prinzessin. Du strahlst ja stärker als die Sonne hinter dir.« May grinste über beide Ohren. Man konnte ihr neu gewonnenes Glück förmlich greifen, so deutlich zeigte sie es.


»Wieso selbsternannt?«, fragte sie nach einem kurzen Moment des Nachdenkens. »Tja, wer hat dir denn den Zusatz Prinzessin gegeben? Ich war es jedenfalls nicht.« Es dauerte etwas, bis May die Aussage kapierte und verstand, was er meinte. Sie hatte sich bei ihrer Ankunft wie eine Prinzessin in einem Schloss gefühlt und die alte May in der Zukunft hatte dieses Gefühl in die Meldung ihrer Rettung mit »Prinzessin der Lüfte« einfließen lassen.


»Ja, das war dann wohl wirklich ich. Oder ich werde es mal machen. Das ist verwirrend. Jeder erzählt mir was ich gemacht habe, aber wohl auch nie wirklich machen werde. Darf ich?«, fragte sie, wie sich das für die Turmbenutzung so eingebürgert hatte. »Klar. Das mit den Bänken war eine sehr gute Idee.«, merkte Mergy an, der nur sehr selten hier hinauf kam. »Ich weis.«, grinste May. Die gepolsterten Bänke gab es schon vor den Angriffen der Draken auf der alten Station. Vorher stand man meistens nur da und schaute in die Sterne. Mit den Bänken, die nur durch zwei kleine Klapptische unterbrochen waren, war dieser Ort zu einer kleinen gemütlichen Oase geworden. Durch die, in regelmäßigen Abständen aus der Sitzfläche hochziehbaren, Rückenlehnen konnte man sich auch gemütlich auf den Sofas lang machen. Das war, wie die Tische auch, ein Detail, welches Tin dazu erfunden hatte.


May drückte die Zeitschrift leicht nach oben, um den Umschlagtext lesen zu können. Er las ein Magazin von der Erde. Es wäre deutlich weniger auffällig gewesen, wenn auf einem Tablett gelesen hätte und nicht die Version aus echtem Papier. »Computertechnik? Sind wir denen nicht weit voraus?«, fragte May unsicher. »Nur weil wir die bessere Technik besitzen, heißt das nicht automatisch, dass wir auch immer die besseren Ideen haben.« »Stimmt!«, musste May einsehen und setzte sich mit dem Rücken an die andere Seite von Mergys Lehne auf die runde Couch. »Weist du was ich nicht verstehe? Dieses alte Buch auf der Insel. Wie passt die Darstellung von mir in die ganze Geschichte?« »Ich denke sich darüber Gedanken zu machen ist Zeitverschwendung. Vielleicht war es nur ein Bild und jemand hat eine Geschichte darum gesponnen. Später wurde es dann eine Weissagung. Oder jemand mit medialen Fähigkeiten hat die Signale der Seem aufgeschnappt und konnte sie deuten.«


»Mediale Fähigkeiten?«, fragte May nach. »Naja, gibt ja auch Menschen die am Kribbeln im großen Zeh erkennen, ob es Regen geben wird. Andere können den Wind spüren und sogar kontrollieren. Warum sollte da nicht jemand diese Signale ohne technische Hilfe deuten können? Seit ich von deinen Fähigkeiten weis, bin ich diesen Dingen jedenfalls deutlich aufgeschlossener.« May lächelte unbemerkt von Mergy über diese Aussage und ihr Blick und ihre Gedanken drifteten ins All und hinüber zum blauen Planet.


»Warum bist zu nicht bei deiner Familie?«, durchbrach Mergy nach einigen stillen Minuten die Ruhe. »Die brauchen Zeit für sich. Nim ist auch nicht da und Suki ist bei den Jungkadetten. Ich habe schon einige Stunden im Gleiter hinter mir, aber es ist ein ruhiger Tag.« »Ah, und dann hast du dir gedacht, besuche ich mal den jetzt eigentlich komplett überflüssigen Mergy in seinem Turm.« May schluckte. Bei all ihrem Glück und all ihrer Freude hatte sie Mergy komplett vergessen. Er war all die letzten Jahre wie ein Vater für sie gewesen und seine gespielt Monotone und leicht traurige Stimmlage ließ nur einen Schluss zu. Er wollte wissen, wo er jetzt bei ihr stand.


May sprang hastig vom Sofa auf und Mergy direkt an den Hals: »Du bist nicht überflüssig. Das wirst du nie sein. Du bist mir wichtig. Dann hab ich jetzt eben zwei Väter. Soll vorkommen habe ich gehört.« Mergy erwiderte ihre herzliche Umarmung: »Ja, davon habe ich auch gehört.« »Papa kann doch im Restaurant bei Mama arbeiten, oder?« May hatte sich also auch schon Gedanken um die Zukunft ihrer Familie gemacht. Mergy spielte mit: »Das geht nicht. Ich denke es wäre deiner Mutter nicht recht. Außerdem ist dein Vater Fischer. Würdest du gerne von Morgen an nur noch Gäste im Lokal deiner Mutter bedienen wollen?« May musste einsehen er hatte recht. Im Lokal zu Kellnern, während die anderen Piloten Abenteuer erlebten? Nein! Das wäre nichts für sie. Mergy konnte sehen, wie es in seiner Prinzessin arbeitete, die nun im Schneidersitz vor dem Sofa sitzend zu ihm hoch schaute. Aber sie kam nicht auf die eigentlich offensichtliche Lösung.


»Du hast doch schon etwas ausgeheckt.«, warf May ihm schließlich zu, als sie seinen leicht schelmischen Gesichtsausdruck sah, während er wieder eine Seite im Magazin weiter blätterte. Den Blick setzte er immer auf, wenn er von ihr eine Lösung für ein Problem erwartete, welches er schon längst selbst gelöst hatte. Als er nicht auf ihre Worte einging, fing May schließlich auch noch an mit dem Finger seitlich in seinem Bauch zu picken und ließ ihm keine Wahl als seine Idee auszupacken. »Ist ja gut. Ich hab ihn die Trainingshalle auf dem Freizeitdeck für eine eigene Kampfsportschule angeboten.« Mit einem sonst eigentlich nur für Suki üblichen quieken vor Glück sprang sie auf und umarmte sie ihn erneut innig.


»Er hat sich noch nicht dafür entschieden.« »Das wird er! Da bin ich mir sicher.« May schaute ihrem Ziehvater von unten weiter beim Lesen zu. Da war eine Sache, die sie seit Tagen beschäftigte und die sie unbedingt noch klären wollte. Jetzt war eine gute Gelegenheit: »Hältst du mich wirklich für gefährlich?« Mergy ließ das Heft sinken und blickte verwundert zu seinem Schützling hinunter. Er war sichtlich verwundert über diese direkte Aussage und lachte kurz laut auf. »Nein, wie kommst du denn auf die Idee?« »Trish hat gemeint du hättest es einmal gesagt.« »Ich hab nie gesagt du bist gefährlich. Ich hab gesagt, wenn dein viel zu großes Herz die Kontrolle übernimmt, wirst du unberechenbar und das kann gefährlich werden. Aber ich denke du hast dich im Griff.«


»Als ich erfahren habe, warum und durch wen meine Familie zerrissen wurde, wäre ich am Liebsten in eine Zeitmaschine gesprungen und hätte die Seem vernichtet.« May bedrückte dieser dunkle Wunsch schon länger. Sie war so voller Wut und Zorn gewesen. Noch nie hatte sie auch nur ansatzweise an eine so bösartige und grauenhafte Tat gedacht. »Du wärst vielleicht in die Vergangenheit geflogen, aber ich glaube du hättest sie nicht vernichtet. Zu so etwas bist du nicht fähig.«


»Meinst du wirklich?« »Du könntest nie jemanden einfach so töten. Egal ob Mensch oder Seem.« May lächelte. Das klang jetzt so ganz anders als die Aussage davor. »Es hätte sowieso nicht funktioniert. Ohne den Absturz und die Folgeereignisse wärst du nicht da gewesen, um in die Vergangenheit zu reisen und sie abzuschießen.« »Beim Orakel hat es geklappt!« »Ja, da war aber auch eine reifere, schlauere und weisere May am Werk, die mit Bedacht gehandelt hat.« May musste zum wiederholten Male einsehen. Tin hatte recht: Zeitreisen waren kompliziert.


»Wir sollten uns langsam für die Verabschiedung umziehen.« »Muss das sein?« »Ich bin auch nicht begeistert davon, aber als Teil des Kommandos und in Vertretung der gesamten Menschheit sollten wir den gebührenden Respekt zeigen. Bring deinen Vater mit. Nicht das er sich noch verläuft.« Zusammen machten sie sich auf den Weg in ihre Quartiere, wo May sich in ihre festliche Uniform zwängte. Sie war nicht wirklich zu eng, aber sie mochte diese Bekleidung immer noch nicht und ihr Körper wehrte sich instinktiv gegen das Kleidungsstück. Schließlich stand sie wieder da. Die offizielle May. Sie musste an die wenigen Male denken, als sie das Gewand hatte tragen müssen. Mergys Beerdigung, aber das war am Ende gut ausgegangen. Dann der Besuch der vielen Delegationen von der Erde. Eigentlich nur eine Vorbereitung auf den Frieden, der nun, angefacht von den Draken, zwischen den Ländern der Erde herrschte.


Und jetzt den Besuch der Seem, die ihr ihren Vater wieder gebracht hatten. Unbequem war diese Kleidung zwar immer noch, aber der Schrecken, den sie einst mit dem Aufzug verband, war längst verschwunden. Der Anzug war auf seine kleine Art auch ein Zeichen für den Frieden geworden. Ein Zeichen dafür, dass alles Möglich ist, wenn man sich nur ordentlich anstrengt und sich richtig viel Mühe gibt. May richtete den Kragen und marschierte eine Wohnung weiter zu ihren Eltern. Mergy hatte ihnen angeboten die Wohnung neben ihnen räumen und zu einer gemeinsamen großen Wohnung verbinden zu lassen. Aber sie wollten das nicht. Die jetzigen Räumlichkeiten waren schon größer und schöner als alles was sie auf der Erde jemals besessen hatten und die doppelte Größe erschien ihnen unangemessen.


Jin öffnete die Tür. »Wie siehst du denn aus?«, fragte er direkt. »Vorschrift für das Stationspersonal bei Staatsbesuchen.«, erwiderte May, während sie seinem Blick über ihren Anzug folgte. In ihrem Lila Kleid sah sie ja noch aus wie ein Kind, bestenfalls wie eine fast volljährige Frau, aber dieser Anzug machte sie richtig erwachsen. Sie sah elegant und wirklich wichtig aus. »Darf ich da so hin?«, fragte Jin sichtlich unsicher. Hatte er doch faktisch eben erst einen Schrank voller neuer und schöner Kleidung bekommen, wirkte diese beim Anblick seiner Tochter schon nicht mehr ganz edel. »Natürlich. Sei froh das du nicht so einen blöden Anzug tragen musst, der ist ziemlich unbequem.« Reiko hatte ihre Tochter nun schon einige Male in dieser Aufmachung gesehen, konnte aber nicht umhin erneut zu betonen wie erwachsen sie aussehen würde und wie stolz sie auf May und ihren Werdegang war.


Der kleine Kommander bat zum Aufbruch und so verschwanden sie wenige Sekunden später im Lift. »Frachtdeck 2« Der Lift setzte sich in Bewegung. »Ich weiß gar nicht was ich da machen soll.«, erklärte Jin seiner Tochter mehr fragend als als Aussage formuliert. »Du sollst nur dabei sein. Sie haben dich ja immerhin gerettet.« »Ich habe das aber auf dem Schiff nicht so verstanden und mich nicht sehr freundlich benommen.« Jin war besorgt über die Reaktion der Seem und May verstand durchaus seine Sorgen. Sie war auch nicht sehr freundlich gewesen, als sie von der Ursache des Tsunamis erfahren hatte. »Die Seem sind in Ordnung. Sie sind dir sicherlich nicht böse wegen deiner Reaktion und verstanden haben sie dich auch nicht.« Jin hatte May von seinem bösen Erwachen auf dem Schiff erzählt.


Er war im vorderen Teil des Schiffes, der als Lagerplatz diente, aufgewacht. Die Seem hatten ihn auf einer Plattform, die normalerweise für Fracht gedacht war, die nicht Nass werden sollte, abgelegt. Sie wußten vom Sauerstoffbedarf der Menschen. Sie benötigen dazu Luft und kein Wasser. Diesen Fakt kannten die Seem aus ihren Recherchen über den Planeten. Ihr Vater war auf diesem seltsamen Regalbrett aufgewacht, vor dem diese riesigen Monsterfische schwammen. Selbst als erfahrener Fischer hatte er noch nie so riesige und gefährlich aussehende Fische gesehen. Er hatte einfach nur Todesangst. Die Seem hatten versucht über Schallwellen in der Luft mit ihm Kontakt aufzunehmen, aber er konnte sie nicht verstehen. Das war ja auch kein Wunder. Selbst der Stationscomputer brauchte einige Stunden, um sich an die wunderlichen Schwingungen der Seem anzupassen. Jin hatte versucht sie wegzutreten, sie durch Schreien zu vertreiben, aber er hatte keinen Erfolg.


Er hatte keine Ahnung von seiner ausweglosen Situation. Er war mit diesen Wesen in einem Raumschiff gefangen. Dazu waren sie gemeinsam in einen Zeitenstrudel geraten. So hatte er die vier Tage auf der kleinen Fläche im Lagerraum verbracht, sich von den grünen im Wasser treibenden Pflanzen ernährt und das Wasser getrunken, welches zu seinem Erstaunen nicht salzig war. May hatte seine Geschichte gehört und konnte aus eigener Erfahrung von ihrer Angst bei der ersten Begegnung mit den Seem berichten. Wie musste es dann sein, wenn man die Seem lebendig und in so einer Situation zum ersten Mal trifft? Vielleicht war es auch der Grund warum Mergy ihren Vater dabei haben wollte. Möglicherweise sollte Jin nur sehen wie die Seem wirklich sind. Sie waren keine Monster. Umgekehrt gab er Jin die Möglichkeit sich zu erklären.


Als sie den Lift verließen stand die restliche Delegation schon vor der Tür zum Frachtdeck. Tin reichte den beiden Nachzüglern die Ringe, die sie wieder mit Sauerstoff versorgen und am Boden halten würden. May legte ihrem Vater das unbekannte Gerät an und aktivierte es. Gleiches Tat sie an ihrem Arm. Dann war es soweit und die Tore rauschten auf und gaben den Schild mit dem dahinter liegenden Wasser frei. Das Schiff der Seem war kaum wiederzuerkennen. Mergy hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Sah es vorher noch mehr wie eine große Football-förmige Dose mit einigen Aufbauten, so wirkte es jetzt durch die neuen Komponenten und die veränderte Hülle wie ein komplett anderes Schiff. Es wirkte deutlich wuchtiger, weil die Außenhaut nicht nur durch das zusätzliche Metall, sondern auch durch neue Verstrebungen, verstärkt wurde. Die neuen Waffensysteme machten das Gefährt schon optisch deutlich gefährlicher und kantiger.


Zögerlich durchschritt auch Jin das Kraftfeld. Er war nun, hinter Trish, Tin und Mergy stehend, zum Ersten mal wieder im gleichen Raum wie die Seem, die schnell auf sie zu geschwommen kamen. »Ich hoffe sie sind mit ihrem verbesserten Schiff zufrieden.«, fischte Mergy förmlich nach einem Kompliment: »Die Pläne des Schiffes, der neuen Schilde und der Waffen sind in ihre Datenbank übertragen worden.« »Ja, das neue Schiff ist stark und schnell. Es wird uns im Kampf gegen die Draken helfen. Wir danken ihnen für ihre Hilfe und Mühe.«, erklärte der Anführer. »Wir danken für die Rettung dieses Menschen.«, war es nun May, die das Wort ergriff und ihren Vater vor sich in Position schob.


»Ja, vielen Dank.«, gab nun auch Jin zögerlich zu verstehen: »Es tut mir leid, wie ich auf ihrem Schiff verhalten habe. Ich war feindselig und hatte schreckliche Angst.« »Wir verstehen das. Die Seem werden oft als Feind angesehen, weil wir gefährlich aussehen. Es freut uns unter den Menschen neue Freunde, neue Verbündete gefunden zu haben.« »Die Seem sind beim Ray Team jederzeit willkommen.«, führte Sab weiter aus. »Kommander May, die Seem stehen für immer in ihrer Schuld. Es war uns eine Ehre!«, bedankte sich nun auch einer der Seem direkt bei May, auch wenn ihr diese seltsame Aufmerksamkeit um ihre Person schon seltsam vorkam.


Es hatte in den letzten Tagen reichlich Gespräche zwischen den Seem und dem Kommando gegeben. Es wurden viele Fragen geklärt. Speziell die Zeitreise und die alte May warfen dabei viele Fragen auf, die gegenseitig geklärt wurden, soweit es mit den wenigen verfügbaren Informationen überhaupt möglich war. »Wir werden ihr Schiff gleich ins All setzen und sie mit einigen unserer Schiffe aus dem Bereich der Station schleppen. Dann können sie ihren Antrieb starten.«, erklärte Tin die weitere Vorgehensweise. »Wir danken ihnen für die neue Technologie.«, wurde auch Tin direkt dank ausgesprochen, hatte sie doch in den letzten Tagen mehr als einmal im Tank schwimmend nach Fehlern in der Technik gesucht. Es war zwar eine Sache Drakenwaffen an ein Seemschiff zu schrauben, aber die Technologien zur Zusammenarbeit zu bewegen war dann doch etwas schwieriger, als Mergy es sich ursprünglich gedacht hatte.


Die Seem verschwanden durch die offene Luke in ihrem Schiff und die Menschen wieder in den trockenen Korridor. Die Kommandotruppe machte sich auf den Weg zum Kommandodeck und auch Jin durfte sich diesen Teil seiner neuen Heimat ansehen. »Frachtdeck geöffnet. Aktiviere Greifstrahl.«, verkündete Sab. »Mergy an Seemschiff. Wir sind soweit.« »Wir sind ebenfalls bereit.«, ertönte es aus der Kommunikation. Langsam erhob sich das Schiff aus dem Wasser und wurde gegen die Gravitation, die die Flüssigkeit unten im Becken hielt, durch die Schilde des Frachtdecks hindurch ins All gedrückt. Zwei Mantas zogen das fremdartige Reisegefährt sicher aus dem Stationsperimeter. Schließlich starteten die Seem ihren Antrieb. Tin war aufgeregt und angespannt wie selten. Sie kontrollierte jeden Energieausstoß und jede Energiespitze, die mit den Sensoren der Station auszumachen war und blickte nicht einmal direkt zum mächtigen Raumschiff auf, welches sie gebaut hatte. Mergy öffnete eine Bildverbindung: »Wir hoffen sie finden ihr Volk und eine neue Heimat. Haben sie eine gute Reise.« »Danke.«, war das letzte von den Seem gesendete Wort. Dann öffnete sich ein Tor in den Unterraum und sie waren verschwunden.


»Ob wir sie je wieder sehen?«, fragte May nachdenklich. »Wer weiß? Dank dir haben sie jedenfalls die besten Voraussetzungen.«, gab Mergy zurück: »Und Jin, wie sieht es aus? Kampfsporthalle oder sollen wir im jetzt leeren Frachtdeck eine Fischzucht eröffnen?« »Ich nehme das großzügige Angebot gerne an.«, lächelte Jin und auch May war mehr als erfreut und sprang ihrem Vater in die Arme. »Dann lasst uns das Wasser loswerden und die Station wieder ausrichten. Dieses ungleichmäßige trudeln schlägt mir langsam auf den Magen.«, kommandierte Mergy. »Was soll ich da sagen?«, erwiderte Tin, die schon seit Tagen vom Doc Medikamente gegen ihre Seekrankheit bekam. Zehn Minuten später rumpelte es und die seit Tagen langsam durchs All taumelnde Station wurde wieder in ihre ursprüngliche Position gebracht und in die normale Rotation versetzt.

Vorschau auf: Prinzessin May und die Essenz von Joluh

May feiert glücklich ihren 18. Geburtstag, aber kaum volljährig ziehen schon wieder dunkle Wolken auf und bringen ihre Freunde und ihre Familie in Gefahr. Hinweise auf die Quelle von Mays Fähigkeiten, eine fremde außerirdische Zivilisation und ein schrecklicher Unfall fordern May wie noch nie in ihrem Leben. Dann wird sie auch noch selbst entführt ...

Impressum

Texte: Summa Dornigen
Bildmaterialien: Guido Mersmann
Cover: Guido Mersmann
Lektorat: Guido Mersmann
Korrektorat: Guido Mersmann
Satz: Guido Mersmann
Tag der Veröffentlichung: 16.12.2011

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