Liebe mich, ... so lang du noch kannst!
Stille. Das fahle Mondlicht des von unzählbaren Sternen umsäumten, stummen Freundes offenbart mir meinen nächtlichen Weg durch die Einsamkeit. Fragend sehe ich ein letztes Mal zurück, zurück in die Vergangenheit, aber ich entdecke nur meine zurückgelassenen Fußspuren, die sich langsam mit Tränen füllen.
Nein. .... Nein, es muss Wasser sein.
Melancholie bedrückt mein Gemüt und lässt meinen Speichel metallisch und bitter schmecken. Ich bin den Tränen nahe.
Um sie zu vermeiden, setze ich meinen Weg fort, meinem Ziel entgegen. Es kann nicht mehr weit entfernt sein. Und tatsächlich, ich kann den See zwischen den Bäumen hindurchschimmern sehen. Die Suche ist zu Ende. Ein paar Schritte noch und ich bin da, endlich da.
Jetzt liegt er vor mir. Ein warmes wohliges Gefühl steigt in mir auf, pflanzt sich fort und durchströmt schließlich meinen ganzen Körper.
Die Idylle des Sees lässt alles Vorherige vergessen.
Kein Romantiker hätte sie schöner träumen können.
Kein Maler hätte vermocht, so ein Bild zu malen, ein Bild, so voll atemberaubender Schönheit und beseelender Atmosphäre. Eine Komposition, in der die Hauptelemente Freiheit, Friede und Stille mit naturbelassener, fast göttlicher Schönheit einander streicheln, sanft liebkosen und sich harmonisch vereinigen. Stimmungsvolle Impressionen, als Zeugnis ungedämpfter Ewigkeit, erhaben über die weltliche Metamorphose des Seins, im Moment der Zeit. Ein Gleichnis, eine Metapher einer traumhaft schönen Idealwelt zwischen Kosmos und Mikrokosmos, geprägt und durchströmt vom Zauber universeller Energie. Eine Ebene jenseits von Gut und Böse, in der es kein Arm oder Reich, kein Unten oder Oben gibt und in der keine weltlichen Gesetze Einfluss haben.
Hier sind die Poesie, die Kunst und die Musik zuhause.
Hier küssen sich Traum und Realität im Einklang der Harmonie.
Hier, genau hier ist die Ebene zwischen den Spiegelwelten,
die beide vereinigt, die beide verbindet.
Und das Bindeglied zwischen ihnen ist der See.
Seine Oberfläche gleicht einem schimmernden, ovalen Spiegel, schwungvoll umrahmt von in allen erdenklichen Farben gehaltenem Herbstlaub, das von den Bäumen, die die Zeit lichtete und die diesen Rahmen umgeben, stammt.
Dunkelgrüne Blätter verblühender Seerosen formen zusammen kleine hügelartige Inseln.
Ein wie der Atem eines anorganischen herbstlichen Wesens wirkender Windhauch verwandelt die Wasseroberfläche um sie herum scheinbar zu zahllosen im Mondlicht schimmernden Kristallen.
Doch so schnell dieses wunderschöne Schauspiel begann, so schnell ist es auch vorbei und er verlässt die ätherische Aura dieser verzaubert scheinenden Idylle und die Kristalle fließen als Spiegel wieder zusammen.
Ein Schwan gleitet majestätisch, fast lautlos auf der Oberfläche an mir vorbei und zieht eine V-förmige Woge hinter sich her. Strahlend weiß reflektiert sein Gefieder das Mondlicht, bis er sich am Ufer zwischen Schilf und Büschen
meiner Aufmerksamkeit entzieht.
Wieder gleicht die Wasseroberfläche einem Spiegel, der den Mond reflektiert und so ein fast holografisches Ebenbild dessen projiziert, schemenhaft, aber doch erkennbar.
Es gleicht einem Gesicht.
Es ist ein sehr schönes, aber auch trauriges Gesicht, voll weiblicher Anziehungskraft und betörender Anmut, die mich fesselt und mich zu einem Sklaven meiner Sehnsucht werden lässt, meiner Sehnsucht nach diesem berauschend schönen Gesicht.
Ich möchte eintauchen in die Schönheit und eintauchen in die Traurigkeit dieses Gesichtes,
eintauchen in den kühlenden See, eintauchen in den Spiegel, eintauchen in die Ewigkeit, in die Ewigkeit, nach der sich alle Liebe sehnt.
Ich bin in einem tranceähnlichen Zustand und schreite langsam auf das Gesicht zu.
Es zieht mich magisch an.
Mehr und immer mehr.
Ich kann den Blick nicht mehr lösen.
Ich will es ich auch nicht.
Schritt um Schritt bewege ich mich näher heran.
Immer näher.
Das Gesicht scheint jetzt zu lächeln.
Die Augen funkeln vor Erwartung.
Der sinnliche Mund scheint mir etwas zuflüstern zu wollen.
"Liebe mich, ...
so lang du noch kannst. ...
Liebe mich!", scheint er wirklich zu flüstern.
Das Gesicht fängt an, sich langsam zu drehen.
Mir wird schwindelig.
Meine Bewegungen nehme ich nicht mehr wahr.
Ich scheine zu schweben.
Ein Hochgefühl überkommt mich.
Gleich bin ich eins mit dem Gesicht.
Nichts und niemand kann mich noch aufhalten.
Gleich ist es soweit.
Ich, ...
ich komme. ...
"Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
aaaaaaaaaaaaahhh! ... Nnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnngggggg
gghhhh ... nnnnn nnnn nnnnngh!"
"Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst etwas in den Mund stecken, wenn du jemandem Elektroschocks gibst? ... Und wieso ist der Patient nicht angeschnallt? Die können sich sämtliche Knochen brechen dabei."
"Das ist doch der, der bei der ersten Elektrokrampftherapie aus dem Bett gefallen und seit dem querschnittsgelähmt ist. Der zuckt doch immer nur noch ein bisschen." "Ach so, arme Sau. Sprachzentrum scheint bei dem auch nicht mehr aktiv zu sein."
"Wieso ist der eigentlich hier?"
"Wollt sich mal ertränken. Seitdem er hier ist, weint er meist nur noch, trotz der Elektroschocks. Aber irgendwann werden die ja wohl mal Wirkung zeigen müssen. So, auf zum nächsten Patienten."
Texte: Raimund J. Höltich
Bildmaterialien: Raimund J. Höltich
Tag der Veröffentlichung: 22.06.2009
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