Allein ... und doch nicht allein
Jetzt bin ich schon ein paar Monate in diesem schäbigen Hotelzimmer mit Blick auf die Reeperbahn. Oder schon Jahre? Ich weiß es nicht so genau.
Nur weil ich die Freundin des Sängers vögelte, haben mich die Schweine während der Tournee aus der Band geschmissen. Das war hier in Hamburg.
Nur wegen einer Frau. Das muss man sich mal reinzieh'n. Dabei heißt es doch: Freunde teilen sich alles. Von wegen. Dieser Spießer. Eskimos bieten ihren Gästen auch aus Gastfreundschaft ihre Frauen an. Eskimösen heißen die, glaube ich. Sie verleihen lieber die als ihre Schlitten. Ein Schlitten kann kaputt gehen, aber eine Frau nicht. Er hat sie doch auch heil wiederbekommen. Und für sie war es sogar eine Bewusstseinserweiterung, wie sie mir zärtlich ins Ohr hauchte. Sie meinte danach glücklich zu mir, dass sie gedacht habe, sie sei da unten schon zugewachsen.
Na ja, egal, die Frau war es mir wert. Jetzt bin ich hier, ... allein. Allein in diesem Zimmer des Hotels, in dem irgendwie auch immer was los ist. Gestern klopfte es an meiner Zimmertür. Als ich aufmachte, wollte mir ein Junkie, wie ich glaube, ein Autoradio verkaufen. Ich sagte ihm, dass ich kein Auto habe. Er könne mir schnell eins besorgen, entgegnete er geschäftstüchtig. Er würde mir sogar einen Führerschein besorgen, versicherte er mir, als ich erwiderte, dass ich auch keinen Führerschein besäße. Es dauerte einige Minuten, bis ich ihn endlich wieder los wurde, ohne ihm etwas abzukaufen. Im Nebenzimmer wohnt auch eine Junkie-Alte. Die klopfte heute Morgen an meine Tür, tränenüberströmt. Ob ich ihr nicht helfen könne, weil sie keine Ader fände, fragte sie mich verzweifelt und zeigte mir ihre verdreckten Arme, übersät mit blauen und roten Flecken, Narben und einigen noch unschöneren Abszessen. Schlagartig war mir klar, warum sie oft erbärmlich winselte, heulte oder aus Verzweiflung schrie im Nachbarzimmer. Das Problem schien sie wohl öfters zu haben.
Sie keifte und kreischte hysterisch, verfluchte mich, bespuckte meine Tür und trat auch noch zweimal gegen, nachdem ich bedauernd verneinte und die Tür vor ihrem entsetzten Gesicht schloss. Dann verschwand sie mit einem Türknall wieder in ihrem Zimmer.
Meinte die denn, ich hätte eine Ader gefunden oder was? Irgendwie tat sie mir ja leid, aber dabei wollte ich ihr nun wirklich nicht helfen und konnte es auch nicht. Ich denke, den Sitz von ihren Adern kennt sie da viel besser. Ist ja irgendwie schade um das Mädel. Auch jetzt noch sah sie gar nicht so schlecht aus, zumindest im Gesicht. Den schlanken Körper wollte ich mir natürlich nicht nackt vorstellen. Der glich wohl eher ihren Armen.
Unten auf der anderen Straßenseite wischt gerade ein gutgekleideter, gepflegter, alter Herr seinem Dackel mit einem weißen Taschentuch den Arsch sorgfältig ab. Gestern hat an der Stelle noch ein Bettler gesessen. Es ist noch nicht viel los auf der Straße, die in ein paar Stunden überfüllt sein wird mit Vergnügungssüchtigen.
Hinter mir ist plötzlich ein leises Geräusch. Ich drehe mich schnell um und sehe, wie ein frankierter Briefumschlag unter der Tür hindurchgeschoben wird. Mit wenigen Schritten erreiche ich ihn und erlese freudig den Absender, als ich ihn beim Aufheben umdrehe. Neugierig öffne ich den Briefumschlag und ziehe ein zusammengefaltetes beschriebenes Blatt Papier heraus, falte es auseinander und lese. Er ist von meinem ehemaligen Zimmernachbarn, der vor der Junkie-Frau nebenan gewohnt hatte, dann aber in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen wurde. Das arme Schwein. Er schreibt, dass sie ihn mit Haldol vollpumpen würden und dass es ihm viel besser als damals gehe. Bei dem letzten Satz muss ich grinsen. Der lautet: Seitdem ich meine Psychose nicht mehr habe, ist mein Leben richtig langweilig geworden.
Ja, das glaube ich. Aber irgendwie glaube ich nicht, dass er keine Psychose mehr hat.
Anfangs war er ja noch relativ normal. Er wollte mit mir zusammen unbedingt eine Punkband gründen. Den Namen hatte er auch schon. 'Lang Und Schmutzig' sollte sie heißen. Aber Punk lag mir nicht so. Ich wollte lieber andere Musik machen. Mit der Zeit wurde er immer paranoider. Er soff viel und pöbelte Leute an. Dann haben die Bullen ihn nackend auf der Reeperbahn mit einem Jesuskomplex aufgegriffen. Er glaubte, sein Name wäre Jesus, und wollte Leute bekehren.
Den Ersten mit einem Jesuskomplex haben sie damals an ein großes Holzkreuz genagelt, wurde mir erzählt. Gab ja noch keine Psychiatrie. Der ist aber dann gestorben. Irgendwann haben sie wohl die Behandlungsmethode geändert und nun sind die Anstalten voll mit Jesussen.
Ja, im Gegensatz zu früher ist es jetzt ohne meinen Nachbarn richtig langweilig geworden. Ich fühle mich oft allein. Na ja, ich bin ja auch allein. Ich leb allein in einer großen Stadt. Allein in einem schäbigen Hotelzimmer. Allein ... in meiner eigenen Welt. Das ist aber ganz okay, denn die ist real und man kennt mich hier. Ich bin in bester Gesellschaft. Man kennt mich sogar ganz genau, flüstert mir gerade eine Stimme zu. Die Stimmen. ... Sie sprechen wieder zu mir. Sie sind mir böse, ... weil ich so viel erzähle.
Texte: Raimund J. Höltich
Bildmaterialien: Raimund J. Höltich
Tag der Veröffentlichung: 16.03.2009
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