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Vorwort des Herausgebers




In memoriam an Tommy

Freundschaft sind zwei Seelen, die sich sanft berühren, streicheln, aber nicht vereinigen. Freundschaft muss auf Vertrauen wachsen und gedeihen, sich entwickeln und fortpflanzen. Sich dem Licht entgegenstrebend, wird sie dann goldene, süße Früchte tragen.
Die Früchte von Bekanntschaften und falschen Freundschaften sind faulig und schmecken bitter. Sogenannte gute Bekannte habe ich viel zu viele, Freunde dagegen, habe ich keine mehr.
Ich hatte einen Freund, der einzige Mensch, der es wert war, Freund genannt zu werden. Er ist der ausschlaggebende Beweggrund, weshalb ich jetzt schreibe. Ich möchte Ihnen seine Geschichte, die er schrieb, weitererzählen. Es hat lange Zeit gedauert, bis ich mich dazu entschied, sie für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen und einen Verleger zu suchen. Ungefähr ein Jahr befand ich mich in einem inneren Kampf, in dem es darum ging, ob ich Tommys Geschichte veröffentlichen oder vernichten solle, denn sie erschien so schön, voll von Leidenschaft und doch so erschreckend, so angehäuft von kristallener, klarer Wahrheit und doch wiederum erscheint sie von undurchsichtigem Nebel durchzogen und wirkt zeilenweise unglaubwürdig. Deshalb entschied ich mich, die Geschichte erst mal im Schreibtisch einzuschließen, um die schwere Last der Entscheidung hinauszuschieben. Dort befanden sich dann die Seiten fast vergessen sechs Jahre lang. Erst die jüngsten Ereignisse in meinem Leben drängen mich dazu Tommys Geschichte zu veröffentlichen, Ereignisse, die plötzlich meine Erinnerungen an sie wieder wachriefen. Sieben Jahre ist es jetzt her, seit dem Tod meines Freundes, sieben lange Jahre, in denen der Schleier des Vergessens sich über die Erinnerungen gelegt und sie sanft zum Schlafen gebettet hat. Tommys Gesicht verschwand im Nebel der vergangenen Zeit und war mir nicht mehr zugänglich, so sehr ich mich auch erinnern und mir sein Bild geistig wieder hervorrufen wollte, es gelang mir nicht. Erst jetzt zerreißen die neuen Ereignisse den Schleier. In meiner Erinnerung öffnen sich Horizonte und lassen mir alles einst Gesehene kristallklar und greifbar erscheinen. Das visuelle Bild Tommys sehe ich direkt vor mir, ganz deutlich, ein Hologramm aus der Vergangenheit, ein Hologramm, das mich mit seinem abgemagerten und eingefallenen Gesicht angrinst. In meinen schweißgebadeten Träumen lacht er mich aus, irrsinniges Lachen, das mich wie Peitschenhiebe erbarmungslos und schmerzend quält.
Einige Zungen behaupteten, Tommy wäre wahnsinnig. Ich aber sage, er war es nicht. Er war zwar abgemagert und, wie ich denke, physisch krank, aber als schizophren oder psychisch labil will, und kann ich ihn nicht bezeichnen.
Ich glaube, er schrieb die Geschichte, um sich zu erleichtern, um sich zu erlösen. Sie ist ein Zeugnis einer Leidenschaft, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie ist ein Zeugnis der letzten Phase seines Lebens, denn er schrieb bis zu seinem Ende, seinem Tod.
Ich fand Tommys Leiche in seinem Arbeits- und Schlafzimmer, zusammengekrümmt, mit dem Oberkörper auf dem Schreibtisch liegend. Der Kopf ruhte wie schlafend auf den beschriebenen Blättern seiner Geschichte. Den Kugelschreiber hielt er noch verkrampft in seiner dürren Hand. Bei seiner Unterschrift unter der Geschichte fehlten die letzten drei Buchstaben.
Ich wollte, als ich nach einem längeren Auslandaufenthalt wieder nach Hause in mein Haus kam, welches wir beide bewohnten, den vermeintlichen Schlafenden wecken. Sein Kopf fiel in den Nacken zurück. Ich erschrak. Das Entsetzen packte mein Herz mit eiskalter Kralle, umklammerte es und drohte es nicht wieder loszulassen.
„Was war geschehen?“, fragte ich mich in Gedanken. Tommys Gesicht war um Jahre gealtert. Es glich einem, mit dünner, lederner, gelbbräunlicher Haut überzogenen, Totenschädel. Weißgraue Haarbüschel prangten da, wo sonst blonde lange Haare waren, der Rest herausgerissen oder abgeschnitten. Die starren Augen und die spröden, farblosen Lippen waren weit aufgerissen und zu einem lautlosen Schrei geformt und doch schien er dabei, noch zu lächeln. Seltsam.
Aber lesen Sie erst mal selbst die Geschichte. Tommys Geschichte vermag viel besser als ich darzustellen, was ihn zu seinem Fühlen und Handeln bewegt hatte, was ihn lenkte und was ihn trieb. Es ist eine sehr merkwürdige Geschichte. Ich weiß nicht, ob ich sie glauben kann. Aber ich muss sie glauben, Tommys wegen und ... . Aber das erzähle ich Ihnen später. Die Geschichte grenzt schon fast am Wahnsinn. Sie ist irgendwie ... .
Aber lesen Sie nun erst mal die Geschichte und urteilen dann selbst. Ich werde Ihnen jetzt sein Manuskript vorlegen, um danach noch einmal zu Wort zu kommen.


Ich bin elend und arm. Mein Geist ängstigt sich in der Brust. Ich schwinde dahin wie ein Schatten, wenn er sich neigt; bin wie eine Heuschrecke, die man abschüttelt. Meine Knie wanken vom Fasten, mein Fleisch nimmt ab und wird mager.
(Ps. 109, 22 - 24)

Ayla




Ich erinnere mich noch ganz deutlich an ihrem lieblichen Duft, der unsichtbar das ganze Haus belebte. Er durchdrang Zimmer für Zimmer, erreichte jede Ecke und jeden verborgenen Winkel. Sogar im Keller, wo es sonst feucht, muffig und leicht modrig roch, schwebte Aylas Duft. Ja, er klebte fast in der Luft, könnte man sagen. Der Duft wirkte irgendwie frisch und gleichzeitig betäubend. Er verwandelte mich in ein willenloses Wrack, einen hirnlosen Körper. Und doch war es betörend schön diesen Duft einzuatmen, zu inhalieren, diesen Duft einzusaugen. Wenn dieser süßliche Duft durch meine Nase, Atemwege und Lungenflügel strömte, wie er dann in das Blut gelangte und sich als ein schmeichelndes, wohliges Gefühl in Gehirn und Körper verteilte, es war schön. Es war so unendlich schön, nicht zu denken, nur Aylas Duft auf sich einwirken zu lassen. Ja, fast wie eine Droge, möchte ich sagen, meine Droge.

Süße Droge, dich, die ich liebe, berauschend schön benebelst du meine Sinne, hebst mich sanft aus der grausamen Realität und lässt mich vergessen. Du, süße Droge, du bringst mir das, was ich begehre, Ayla.

Oft glaube ich, den Duft zu riechen. Und dann, wie aus weiter Ferne, sehe ich sie, meine Ayla. Sie kommt auf mich zu. Ihre nackten Füße scheinen, den Boden nicht zu berühren. Durch das transparente, fast durchsichtige Nachthemd kann ich ihren unbeschreiblichen Körper sehen, die Umrisse ihrer aufregenden Rundungen, diese Kurven. Nur ein Gott kann sie so geschaffen haben. Mir ist es egal, ob es der liebe Gott oder ein böser Gott war, Hauptsache, sie ist da. Sie ist so schön.

Der rotierende Ventilator an der Zimmerdecke spielt mit den hellblonden, über den schmalen Schultern zurückgekämmten, Haaren. Wie in einem Zauber schimmern sie leicht rötlich durch die letzten Strahlen der untergehenden Abendsonne, die durch die offene Verandatür hereinscheint.
Ihre Brust ist so wohlgeformt, dass man sie berühren möchte, sie berühren muss. Wie ein Schönheitsfleck sitzt der kleine Bauchnabel über dem dunklen Schamhaar, das die Form eines magischen Dreieckes dekorativ und anziehend die Vulva verdeckt. Dann ihre Beine, die schlanken Säulen ihres Himmelskörpers, wie schön sie ist. Dieser Anblick erweckt in mir eine unsagbare Leidenschaft und Wollust. Und dann dieser Duft, ihr Duft.

Die Luft ist warm, doch ich spüre sie nicht. Draußen im Garten und im Wald zwitschern die Vögel, doch ich nehme sie kaum war. Ich muss in Aylas unwiderstehlichen Augen sehen, ihre kristallklaren, hellblauen Augen mit dem seltsamen Glanz darin, der mich alles vergessen lässt.
Unter ihrer zierlichen Nase lächelt sanft der tiefrote, sinnliche Mund. Dann höre ich wie ihre warmen, weichen, leicht glänzenden Lippen flüstern: „Ich liebe dich.“
Der Kuss danach ist von einer Glut der Gefühle, die mich verzaubert. Unsere Zungen tanzen gefühlsbetont, rhythmisch im Reigen der Liebe, der erst schnell, dann langsamer und wieder schneller wird, dann gefühlvoll abebbt und schließlich aufhört. Wenn sie dann zärtlich ihre langen Finger durch mein Nackenhaar fahren lässt, mich ansieht mit ihrem hypnotischwirkenden Blick und mich danach sanft ins Ohrläppchen beißt, um schließlich verlangungsvoll, „Liebe mich“, zu hauchen, bleibt mir die Sprache weg. Es kommt nur ein schwaches Stöhnen über meine trockenen Lippen, was sich wie „Ayla“ anhört. Ich kann mich nicht mehr bewegen, so, als ob meine Beine aus Blei wären. Ich bin wie gelähmt. Wie ein Schuljunge in der Pubertät komme ich mir vor, der von seiner Traumfrau gerade den allerersten Zungenkuss bekommt.
Noch nie vorher habe ich so eine Frau gesehen, geschweige denn, gehabt. Ich hatte vor ihr schon viele Frauen, und die waren auch bestimmt nicht hässlich. Aber diese Frau, Ayla, macht aus mir einen Ball, einen Ball, der hilflos auf dem Meer herumtreibt, hin- und hergerissen von meterhohen Wellen und peitschenden Sturm. Ja, ich glaube die Liebe ist wie das Meer. Das Meer zerreißt und gestaltet. Es birgt viel Leben in sich, aber auch zahllose Tote. Es kann sehr schön sein, aber auch entsetzlich hart und erschreckend. Es hat seine eigenen Gesetze, wie auch die Liebe. Vielleicht werden Sie mich für einen romantischen Spinner halten, aber ich glaube und fühle es wirklich so, wie ich es hier beschrieben habe.
Waren Sie schon mal verliebt?
„Natürlich“, werden Sie denken. Aber ich meine richtig schmerzhaft, so wie bei meiner Liebe zu Ayla. Wenn Ihr Herz fast zerspringt und das heiße brodelnde Blut mit einem tonnenschweren Schmiedehammer in den Kopf treibt, sodass er zu explodieren scheint. Wenn Ihre Knie weich wie warme Butter werden und Sie das Gefühl haben, im Treibsand zu stehen. Ihnen würde schwarz vor den Augen, weil Sie der Ohnmacht nahe sind. Alles fängt an, sich zu drehen, schneller und immer schneller. Sie sind in einem Strudel, der Sie immer tiefer zieht, immer tiefer. Wenn Sie so geliebt haben, würden Sie alles, aber auch wirklich alles, für den geliebten Menschen oder dem geliebten Wesen tun. Sogar für ihn oder es töten, aber auch sterben, wie ein Süchtiger, hilflos der Droge verfallen, und doch irgendwie anders.

Ich glaube, ich werde wahnsinnig, oder bin ich es schon? Ist Liebe nicht auch Wahnsinn?
Ich weiß es nicht.
Manchmal rede ich stundenlang mit mir selber. Das ist doch nicht normal. Aber was ist schon normal?

Ich laufe durch das Zimmer, hin und her, wie ein Löwe in seinem viel zu kleinen Käfig. Beim Laufen rede ich, rede ich, bis ich heiser werde. Meine Stimme hört sich seltsam an. Wenn sie etwas Körperliches wäre, könnte man sie als blass, durchsichtig und blutlos bezeichnen. Ich weiß nicht, wie lange ich rede. Ich weiß auch nicht, wie lange ich auf dem Bett sitze und grüble. Manchmal wache ich morgens auf, gehe an das Fenster und sehe hinaus. Irgendwann merke ich dann, dass es schon wieder dunkel geworden ist. Ich stehe tatsächlich den ganzen Tag wie lethargisch vor dem Fenster und merke nicht, wie die Zeit an mir vorbeischleicht. Wenn ich hinaussehe, nehme ich nichts wahr. Ich denke nichts. Ich merke noch nicht einmal, dass ich meist nichts anhabe. Nur einmal erschrak ich. Ich sah den Baum, der neben dem Haus schräg gegenüber, auf der anderen Seite des Asphaltweges stand. Er sah aus wie ein alter Mann. Der Baum erinnerte mich wieder an den Unfall. Ich hatte ihn über all die Jahre vergessen. Dass ich ausgerechnet da daran denken musste.
Eigentlich möchte ich Ihnen über den Unfall gar nichts erzählen. Aber ich fühlte mich damals nach dem Unfall so hilflos und machtlos. Ich konnte gar nichts dagegen tun. Genauso wie ich jetzt fühle. Um meine Hilflosigkeit zu verstehen, werde ich es Ihnen erzählen.

Wir, das heißt meine Eltern und ich, fuhren mit einem alten, hellblauen Ford Taunus 12 M, im Volksmund auch Badewanne genannt, über die Autobahn. Wir wollten zu meiner Tante Wilma. Sie hatte uns zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Mein Vater hatte für mich eine Märchenkassette im Rekorder laufen. Ich glaube, es war das Dschungelbuch von Walt Disney. Es war Sonntagabend. Die Sonne schien. Es war warm. Ich saß angeschnallt im Kindersitz, der auf dem Rücksitz befestigt war. Ich war damals fünf Jahre alt. Meine Eltern waren nicht angeschnallt. Warum, kann ich nicht sagen. Vielleicht weil sie es vergessen hatten. Es kam jedenfalls zu einem Unfall. Nur wegen einer Katze, der mein Vater ausweichen wollte, fuhr er gegen eine Leitplanke. Bei dem Aufprall flogen meine Eltern durch die Windschutzscheibe. Es ging alles so furchtbar schnell. Sie konnten noch nicht mal schreien. Mein Vater flog gegen eine einsamstehende Eiche. Warum musste dort eine Eiche stehen, ausgerechnet dort? Ein v-förmiger Ast riss ihm den Kopf ab, bevor er gegen den Baumstamm prallte. Ich werde das Geräusch nie vergessen, dieses dumpfe Klatschen. Zwei Meter über dem Boden klebte er am Baum, einige Sekunden lang. Dann rutschte er langsam hinunter, an dem Baum, der im Dämmerlicht der untergehenden Sonne wie ein großer, alter Mann aussah. Meine Mutter flog tiefer. Warum, weiß ich nicht. Sie streifte einen Kuhzaun und verlor dabei ihren rechten Fuß. Sie flog aber an dem Baum vorbei und landete auf der Wiese, auf der der Baum stand. Es war so entsetzlich.
Als meine Mutter landete, gab die Leitplanke nach. Der Wagen rutschte die Böschung hinunter und überschlug sich. Ich wurde ohnmächtig. Als ich wieder aufwachte, lag der Wagen auf dem Dach. Ich war immer noch darin, im Kindersitz noch angeschnallt, allerdings jetzt über Kopf. Ein Mann kam die Böschung heruntergelaufen. Als er am Wagen war, fragte er aufgeregt: „Brauchst du Hilfe, Junge?“
Wie lächerlich doch diese dämliche Frage war. Ich hätte mal antworten sollen: „Nein, wir parken immer so.“
Als ich nichts sagte, befreite er mich aus dem Kindersitz. Er hielt mich fest, doch ich riss mich los und rannte zu meinem Vater hin. Wo war sein Kopf? Ich suchte ihn verzweifelt, doch ich konnte ihn nicht finden. Ich konnte seinen gottverdammten Kopf nicht finden. Dann sah ich die Katze, dieses Mistvieh.
Sie saß nur da, als sei nichts gewesen, und sah mich mit ihren grünen Augen an. Ich glaube, sie glühten. Blind vor Wut nahm ich einen Gegenstand vom Boden und warf. Ich erschrak, als ich den Gegenstand erkannte. Es war ein Schuh meiner Mutter, einer ihrer Lieblingspumps mit ihrem zierlichen Fuß darin. Er war oberhalb des Knöchels abgetrennt. Ich traf die Katze nicht. Sie war weg. Ich rannte zu dem Fuß meiner Mutter, hob ihn sanft auf und ging zu ihrem wunderschönen, dreckigen Körper. Meine Mutter sah nicht so schlimm wie mein Vater aus. Nur aus der Nase und den Mundwinkeln rannen dünne Blutfäden. Und eben der Fuß. Ich versuchte meine Mutter wieder heil zu machen, indem ich versuchte, den Fuß an den blutigen Stumpen zu drücken. Es gelang mir natürlich nicht. Der Fuß kippte immer wieder zur Seite. „Mami, komm steh auf! Bitte! Warum liegst du so komisch? Mami, steh auf! Wir wollen doch zu Tante Wilma. Mami?“
Meine Mutter antwortete nicht mehr, konnte sie auch nicht. Sie war tot. Resigniert stand ich auf und blickte stumm zu meinem Vater. Seinen Rumpf konnte man nicht mehr erkennen. Er war nur noch eine blutige, rote, amorphe Masse, über ihm die rote Rutschspur am Baumstamm. Ich konnte nicht weinen. Es tut weh, nicht weinen zu können. Ich drehte mich um und rannte die Böschung hoch. Ich wollte nur weg, ganz weit weg, weg von diesem Ort. Ich war wie in Trance.
Männer in Uniformen schrien in meine Richtung, doch ich hörte sie nicht. Ich hörte nur einen monotonen Pfeifton. Die Polizisten rannten wie in Zeitlupe durcheinander.

Ich lebte nach dem Unfall bei meiner Tante auf dem Land. Sie war wie eine Mutter zu mir, aber sie hatte eine Katze. Ich hasste diese Katze. Sie sah aus wie die Katze bei dem Unfall. Sie hatte die gleichen, grünen Augen.
Eines Abends sollte ich nach dem Abendbrot den Müll rausbringen. Im Halbdunkel stolperte ich über irgendetwas und fiel der Länge nach hin. Ich stand schnell auf. Meine Knie waren aufgeschürft und bluteten. Der Müll lag überall herum. Leere Kondensmilchdosen, leere Lord-Schachteln, Zigarettenkippen, Asche, ein Nutella-Glas, Bonbonpapier, leere, gebrauchte Kaffeefilter, Zeitungen, Konservendosen und eine Katzenfutterdose waren überall verstreut. Der Mülleimer lag neben mir, bei der Regentonne. Und daneben, die Katze.
Ganz still saß sie da, mit ihren glühenden Augen und sah mich an. Dann fing sie an, zu schnurren und stand auf. Sie kam langsam auf mich zu. Bald hatte sie meine Beine erreicht und strich mit ihrem hässlichen Körper durch sie hindurch. Sie umkreiste sie ein paar Mal, blieb stehen und sah zu mir hoch. Ihr Schnurren wurde lauter. Dann legte sie sich auf meine Füße. Es war so ekelig. Ich hasste sie.
Ganz langsam bückte ich mich zu der Katze. Sie war ahnungslos, ahnungslos wie eine Kuh auf der Weide eines Schlachthofes. Ich packte sie. Sie wehrte sich, fauchte und kratzte. Als sie biss, drückte ich sie unter das schmutzige Wasser in der fast vollen Regentonne. Sie wehrte sich verzweifelt. Ich hörte nur das Wasserplätschern ihres Todeskampfes. Es dauerte lange, bis sie ruhiger wurde. Dann bewegte sie nicht mehr. Es war still. Die Stille befriedigte mich. Ich hob die Katze hoch, um zu sehen, ob sie noch lebe. Sie schrie. Sie schrie wie ein Baby, nur etwas heiserer. Ich war wie erstarrt.
„Nein, das kann nicht sein“, dachte ich entsetzt und drückte sie wieder unter die Wasseroberfläche. Doch mir ging ihr ‘Babygeschrei’ nicht mehr aus dem Sinn. Es dauerte nicht lange, da besiegten mein Gewissen und mein Mitleid meinen Hass. Ich zog die Katze wieder hoch. Sie war schon halb tot. Ihr klägliches „Miau“ war nur noch ein heiseres Krächzen und ziemlich leise. Ihre Vorderbeine hingen schlaff an meinen Händen herunter. Die Haare des nassen Felles klebten an ihrem Körper, sodass die Katze kleiner und dünner als vorher wirkte. Ich legte sie auf dem Boden und machte Wiederbelebungsversuche, indem ich ihre Vorderpfoten hielt und immer vor und zurück schob. Es half nichts. Sie starb. Sie starb durch meine Schuld.
Weinend versteckte ich ihren toten Körper hinter dem alten Geräteschuppen unter einer umgedrehten, rostigen Schiebkarre, der das Rad fehlte.
In der folgenden Nacht, während meine Tante schlief, schlich ich mich aus dem Haus und begrub die Katze unter der Birke vor dem Haus. Als ich wieder im Bett war, warf der Vollmond den Schatten der Birke durch das Fenster in mein Zimmer. Ich bekam einen schrecklichen Albtraum, in dem sich die Birke in die Katze verwandelte. Ich hörte ihr klägliches „Miau“. Dann sah ich meiner Mutters Gesicht mit Blutfäden aus Nase und Mundwinkeln. Sie sprach zu mir: „Quäle nie ein Tier zum Scherz.“ Dann höre ich meines Vaters blutige Masse reden. „Hast du gehört, was deine Mutter gesagt hat?“ Ich bekam jede Nacht Albträume. Immer dieselben schrecklichen Träume. Es dauerte sehr lange, bis die Albträume weniger wurden und schließlich ganz aufhörten. Ich vergaß den Unfall, meine Eltern, meines Vaters Todesbaum, die beiden Katzen mit den glühenden Augen und die Birke, unter der eine Katze begraben lag, den ‘Katzenbaum’.

Bei meiner Tante hatte ich eine glückliche Kindheit. Zum Glück fragte sie mich nur am Anfang, ob ich die Katze gesehen hätte. Ich kam in die Schule und machte dann, als ich die Schule beendet hatte, eine Lehre als Stahlbetonbauer. Als ich ausgelernt hatte, zog ich nach Hamburg. Zwei Wochen später starb meine Tante an Herzversagen. Sie hatte immer eine unheilbare Angst vor Gewitter. Ich hatte es vergessen. Ich Idiot hatte es vergessen. Wenn Gewitter war, fühlte sie sich in den Zweiten Weltkrieg zurückversetzt. Immer wenn es blitzte und donnerte und sie alleine zu Hause war, nahm sie die schon fertiggepackten Koffer und rannte in den Keller, wie damals im Krieg. Sie wohnte damals mit ihrer Mutter in Hamburg. Immer wenn ein Bombenangriff kam, rannte sie mit ihrer Mutter in den Keller. Fluchtbereit saßen sie dann auf ihren Koffern und warteten, bis das Donnern, beziehungsweise die Explosionen der einschlagenden Bomben aufhörten. Als man meine Tante fand, saß sie auf ihren Koffer. Sie stank schon. Ihr Mund und die Augen waren weit aufgerissen.
Als ich noch bei ihr wohnte, konnte ich sie immer beruhigen und ihr bewusstmachen, dass es nur ein Gewitter sei. Ich musste nur die Stecker der Elektrogeräte aus den Dosen ziehen, denn dass Steckdosen geerdet seien, konnte ich ihr nicht weismachen. Auch das Licht musste ich ausschalten. Dann saßen wir immer in der Küche bei Kerzenschein. Sie machte auf dem Gasherd heißen Kakao und erzählte mir immer ihre Geschichten aus der ‚guten, alten Zeit‘. Ich hörte ihr gerne zu. Ich mochte ihre Stimme. Sie war irgendwie warmherzig und strahlte Geborgenheit aus. Manchmal wünschte ich tagelang, dass ein Gewitter käme und wenn eins kam war ich überglücklich. Dann konnte ich nämlich wieder ihre Geschichten hören, an meiner Kakaotasse schlürfen und ihre selbstgebackenen Plätzchen knabbern. Nie wieder ihre Plätzchen, die nach Honig und Mandeln schmecken. Nie wieder ihre Geschichten, ihre Stimme. Es ist vorbei, endgültig vorbei. Ich hätte nicht wegziehen dürfen. Warum hatte ich ihre scheiß Angst vergessen?

Der Traum




Ich möchte nicht schlafen. Der Schlaf ist eine Qual für mich. Ich habe Angst, Angst vor meinen Träumen und Angst vor der Angst. Ich träume von Ayla. Meistens sind es die gleichen Träume, so wie der Traum letzte Nacht.

Wie in einem Nebel stehend, sah ich sie. Dann hörte ich sie fragen: „Liebst du mich noch? Denkst du noch an mich? Wo bist du?“ Ich wollte zu ihr hinlaufen, sie in den Arm nehmen und festhalten. Ich lief, lief auf der Stelle, ohne voranzukommen. Langsam verdichtete der Nebel sich zu einer hohen Wand. Ich sah Ayla nicht mehr. Sie war weg. Plötzlich lief ich nicht mehr auf der Stelle. Doch ich bemerkte es zu spät und rannte mit vollem Schwung gegen die Wand. Aber ich spürte keinen Schmerz. Ich versuchte, die Wand zu erklettern. Sie war eiskalt. Meine Hände wurden steif vor Kälte. Ich kam nicht über die Wand. Sie war zu glatt und zu hoch. Ich schrie die Wand an. „Aylaaaa!“ Und immer wieder: „Ayla! ... Ayla!“
Plötzlich erschrillte hinter der Wand ein Schrei. Er hörte sich angsterfüllt und schmerzvoll an. Nur ein Mensch in Todesangst konnte so schreien. Entsetzlich langsam wurde der Schrei leiser und brach ruckartig ab. Diese Stille, sie war unerträglich. Sie war das Schlimmste und Grausamste, was man sich vorstellen konnte. Sie umhüllte mich wie ein Leichentuch. „Ayla? Aylaaa!“, schrie ich. Dann sprang ich gegen die Wand, wieder und wieder, immer wieder, bis ich auf die Knie fiel. Wütend, wütend über meine Hilflosigkeit, trommelte ich mit meinen Fäusten gegen die Wand. Meine Handknöchel fingen an zu bluten, doch ich schlug weiter gegen die Wand. Waren es Sekunden, Minuten? Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Endlich hörte ich auf. Ich spürte keinen Schmerz in den blutenden Knöcheln. „Was soll ich jetzt machen? Was ist mit Ayla? Wer oder was ist bei ihr? Was ist dort drüben?“, fragte ich mich still. Ich stand auf und ging einige Schritte zurück, um Anlauf zu nehmen. Diesmal wollte ich die Wand einrennen. Doch ich kam nicht dazu. Einige Steine fielen von der Wand herunter. Schnell ging ich rückwärts mehrere Schritte zurück. Ich konnte den Blick nicht mehr von der Wand lösen.
Auf der anderen Seite ertönte jetzt ein schrilles kreischendes Lachen. Fast wie eine Sirene, nur lauter. Es war ein lachendes Schreien. Ich presste meine Hände auf die Ohren und versuchte, gegenanzuschreien. Ich hörte mein Schreien nicht, denn der andere Schrei war viel zu laut. Er ging durch meine vibrierenden Hände und schoss durch meine Ohren. Der Schrei bohrte sich in mein Hirn und zuckte wie ein Kugelblitz durch mein Rückenmark. Ich glaube, wenn Schreie töten könnten, wäre ich jetzt explodiert, zerfetzt worden und meine ins Kleinste zerlegten Körperteile würden in alle Richtungen geschleudert werden. Endlich hörte der Schrei auf. Jetzt merkte ich, dass ich immer noch schrie. Mein Schrei brach ab und die Hände entfernten sich übervorsichtig, ganz langsam von meinen heißen Ohren.
Stille, drei Atemzüge lang Stille.
Erst fiel nur ein Stein, dann zwei und schließlich brach die ganze Wand mit lautem Donnern und Getöse zusammen. Eine riesige Staubwolke umhüllte alles, auch mich. Ich hustete, hustete, bis der Staub sich gelegt hatte. Meine Augen tränten. Zwischen meinen Zähnen knirschte Sand. Es war eine Gestalt auf den Mauertrümmern. Es war Ayla.
Wie eine Statue stand sie da. Ihre langen Haare wehten im Wind. Ihr Kopf ähnelte jetzt einer brennenden Flagge. Ihre Arme waren zu einem V zum Himmel gespreizt. Sie rief irgendetwas nach oben. Ich konnte es nicht verstehen, denn der Wind war zu laut. Ich nahm nur Gemurmel war. Dann sah sie mich. Langsam glitten ihre Arme herunter. Als sei dies ein Zeichen, hörte schlagartig der Wind auf zu wehen. Auch die schwarzen Wolken verschwanden. Es wurde heller. Aylas Haare legten sich auf ihre nackten Schultern. Sie lächelte. Betont langsam kletterte sie die Trümmer herunter und kam auf mich zu. Schritt um Schritt näherte sie sich. Sie schien zu schweben. Jetzt sah ich auch ihr schönes Gesicht, umrahmt von ihrem blonden Haar. Ihre Augen funkelten mich erwartungsvoll an. Ihre feuchten roten Lippen öffneten sich und sprachen sanft Worte zu mir herüber: „Liebe mich!“
Kaum hatte sie den Satz beendet, blieb sie ruckartig stehen, zwei Meter vor mir. Sie beugte sich vor, krümmte sich vor Schmerzen. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich konnte sie nur rufen.
„Ayla, komm zu mir, bitte komm. Was hast du?“
Die Trümmer hinter Ayla fingen an, zu brennen. Meterhohe Flammen fraßen sich zum Himmel. Sie waren so hell, dass sie mich blendeten. Mein Gesicht wurde heiß. Es schmerzte. Ich hatte das Gefühl, dass meine Augen anfangen, zu schmelzen. Ich kniff die Augen zu.
Es dauerte nicht lange, da wurde es kühler und etwas dunkler. Ich öffnete wieder die Augen.
Die Flammen hatten die Trümmer gefressen und wurden kleiner, bis sie endgültig verschwanden. Ayla starrte mich flehend an. Hilflos streckte sie mir ihre Arme entgegen und wimmerte:
„Tommy, hilf mir, bitte hilf mir. Es tut so weh!“
Ihre Lippen wurden blass und zitterten. Wieder stöhnte sie vor Schmerzen und weinte. Sie sank auf die Knie.
„Zu spät, viel zu spät.“
Ihre letztes ‚zu spät‘ metamorphosierte zu einem rülpsenden Geräusch. Sie musste kotzen. Aus ihrem Mund schoss gelber Schleim, der im breiten Strahl auf meine Schuhe spritzte. Ich konnte mich immer noch nicht bewegen. Der Schleim stank. Er stank penetrant nach Fäkalien, nach Fisch und allen erdenklichen und unerdenklichen Exkrementen. Ja, er stank, wie eine Scheißhaustür von einem Fischkutter stinken musste. Der Gestank biss sich in meiner Nase fest. Es fehlte nicht viel und ich hätte mich auch übergeben. Endlich war sie fertig. Mit dem rechten Arm fuhr sie sich über den Mund und wischte ihn ab. Jetzt lächelte sie. Langsam stand sie wieder auf. Ihre Augen starrten mich seltsam an. Diesen Blick hatte ich noch nie bei ihr gesehen. Er war mir unheimlich und dann dieses Lächeln.
„A, A, A, Ayla?“, stotterte ich fragend.
Aylas Augen wurden glanzlos, milchig und trübe. Sie lächelte immer noch. Ihre Augenbrauen wuchsen lautlos und wurden buschig. Die Augenlider bekamen kleine Risse. Ich war wie gelähmt. Ich konnte mich nicht mehr bewegen und nicht mehr sprechen. Auf ihrem Gesicht und dem schlanken Hals bildeten sich viele braune Falten. Auch auf den rissigen Lidern formten sie sich zahlreich. Es wurden immer mehr. Sogar die Nase bekam Falten. Bald bestand das ganze Gesicht nur noch aus unzählbaren Falten. Die Nase wuchs und nahm eine hakenförmige Form an. Auf dem Nasenrücken entstand ein kleiner Buckel. Die Nasenflügel blähten sich auf. Auch die Nasenlöcher wurden größer. Die faltige Gesichtshaut hatte jetzt die Farbe von nassem, gelbbraunem Herbstlaub. Die Lippen verschwanden völlig. Der jetzt halbgeöffnete Mund erinnerte mich an einer fleischfressenden Pflanze. Die Zähne, die vorher fast wie Perlmutt schimmerten und makellos waren, wurden größer, schief, unförmig und braun. Ihr Haar wurde weißgrau, glanzlos und verfilzt. Auch die buschiggewordenen Augenbrauen nahmen die gleiche Farbe an. Vereinzelte weißgraue Haare erschienen auch auf dem Kinn und auf den Wangen. Sogar aus den Nasenlöchern wuchsen kleine Haare, gleicher Farbe. Mit einem entsetzlichen Knirschen schob sich das Kinn nach vorne und nahm ganz langsam die Form einer verschrumpelten Kartoffel an. Wie ihre Keime, die Keime einer alten Kartoffel, schoben sich dicke, borstengleiche Haare aus diesem metamorphosierten Kinn. Jetzt schien die Verwandlung zu Ende zu sein. Ayla, wenn sie es noch war, glich jetzt einer fünfhundertjährigen alten Greisin. Sie streckte mir ihre langen Arme entgegen und zischte durch die Zähne: „Liebe mich!“
Das heisere Krächzen klang wie ein Befehl. Sie spukte dabei. Ihre Speicheltropfen trafen mein Gesicht, benetzten, besprenkelten meine Haut.
„Liebe mich!“, spuckte sie wieder.
Ihre eiskalten, schleimigen, langgliedrigen Hände, mit langen Fingernägeln, die wie Krallen aussahen, legten sich auf meine Wangen. Ihre Zunge erschien. Sie leckte sich über die Mundöffnung. Die Zunge wirkte verwelkt. Sie war klobig und dick, lang und vorne gespalten. Schnell schob die Alte ihre Zunge in meinen noch geöffneten Mund. Es war so ekelhaft. Ich musste würgen, konnte aber nicht kotzen. Ihre Zunge war rau, sandig und trocken. Sie schmeckte nach saurer Erde. Endlich, nach einer scheinbar unendlichen Zeit, zog sie ihre Zunge aus meinem vergewaltigten Mund. Die Alte schmatzte: „Liebe mich!“
Ihre rechte Hand löste sich nun von meiner Wange.
„Was macht sie denn jetzt? Nein, oh Gott, nein!“, dachte ich entsetzt.
Sie öffnete den Knopf meiner Hose, riss den Reißverschluss und die Hose herunter und griff mir zwischen meinen Beinen. Stahlhart umklammerte ihre Kralle meine Genitalien. Schmerzen und Kälte durchzogen meinen Körper. Warum konnte ich nicht schreien, mich nicht bewegen und einfach weglaufen? Ich wollte schreien, konnte es aber nicht. Ich schrie in Gedanken, schrie lautlos, lautlos mit geöffnetem Mund, bis ich die Alte „Liebe mich!“, stöhnen hörte.
Und wieder drang ihre ekelhafte Zunge in mir ein, doch diesmal länger. Grobes Sandpapier gleich, raute sie mir Mundhöhle, Gaumen und Zunge auf. Ihre Zunge kam überall hin. Sie war so entsetzlich lang. Ihre rechte Hand fing an zu kneten und bewegte sich irrsinnig schnell.
„Nein, er kommt hoch. Er wird steif. Wieso, wieso gerade jetzt?“, schoss es mir durch den Kopf.
Die Zunge der Alten glitt zurück. Das Kneten wurde stärker und noch schneller. Ich schloss meine Augen. Ich wollte nichts mehr sehen. Ich konnte einfach nicht mehr.
Auf einmal lag ich auf dem Boden und sie auf mich drauf.
„Nein, nein, ich will nicht mehr!“, flehte ich innerlich.
Sie lachte wieder mit ihrem ätzenden, kreischenden Lachen. Ich konnte meine Ohren nicht zuhalten. Ich konnte nur meine Augen wieder schließen, also tat ich es.
Sie führte sich ihn ein. Ich möchte dieses Gefühl nicht näher beschreiben. Es war kein sehr schönes Gefühl, wie ihr Körper ihn schluckte. Ihr ganzer Körper vibrierte jetzt. Das Vibrieren wurde zu Zuckungen, die Zuckungen leiteten den Höhepunkt ein. Ihre Bewegungen wurden ruhiger, endlich. Angewidert öffnete ich meine Augen, als ihre Bewegungen ganz aufhörten. Sie grinste mich an. Ich konnte ihre fauligen Zähne sehen. Ihr Atem stank schlimmer als vorher. Sie lag immer noch auf mich mit ihrem dreckigen Grinsen im Gesicht. Langsam richtete sie sich auf und setzte sich auf mein Becken. Ihr Grinsen wirkte nun hinterlistig. „Was will sie noch?“, fragte ich mich ängstlich in Gedanken.
Jetzt nahm sie meine rechte Hand und bog einen Finger nach dem anderen zur Handinnenfläche, bis nur noch Zeigefinger und Mittelfinger gerade waren. Sie drückte die beiden Finger zu einem V auseinander. Dann steckte sie die beiden Finger in ihrer Mundöffnung und lutschte sabbernd daran.
„Was hat sie vor? Nein, sie will sie doch nicht etwa abbeißen?“ dachte ich, nun noch ängstlicher. Ich bekam gleich die Antwort.
Sie zog die Finger aus dem Mund und stieß sie mit einem Ruck in ihre Augen. Mir wurde schlecht. Ich musste mich übergeben. Jetzt konnte ich es. Ich tat es, indem ich angewidert meinen Kopf zur Seite drehte. Es kam nur gelbliche Galle, die mit roten Fäden durchzogen war, heraus.
Als ich fertig war, lachte sie wieder. Das Lachen wurde zum Glucksen. Dann zog sie meine Finger mit einem sabschigen Geräusch wieder aus ihren Augenhöhlen. Es hörte sich an, als ob man einen Gummistiefel aus lehmigen Matsch zieht, es war das gleiche Geräusch. Sorgfältig leckte sie meine Finger ab, wie ein kleines Kind sein billiges Eis am Stiel mit Himbeergeschmack. Als sie endlich genug hatte und meine Finger wieder aus ihrer Mundhöhle zog, rutschte sie höher auf meinen Brustkorb und streichelte mit ihrer klebrigen, glitschigen Hand mein Gesicht. Sie kicherte leise dabei. Ohne Augen sah sie jetzt aus wie eine Tote. Wie eine lebende Tote?
„Ich muss gleich gehen“, sagte sie sanft, so, als ob wir ein altes Ehepaar wären, das sich schon ein halbes Jahrhundert kennt. So kam es mir jedenfalls vor. Es war genau dieselbe Tonlage, wie ein gelangweiltes, monotones ‘Ich muss gleich gehen, zum Supermarkt, etwas einkaufen.‘
Was sollte ich jetzt sagen? Vielleicht: „Ja, auf Wiedersehen, und komm bald wieder!“, oder: „Bleib doch hier und lass uns noch etwas fernsehen“, oder: „Kann ich ein Foto von dir als Andenken behalten?“, oder vielleicht: „Wenn du einkaufen gehst, bring mir doch bitte eine Flasche Jonny Walker mit, damit ich den schlechten Geschmack im Mund runterspülen kann.“ Nein, etwas Schlechtes wie: „Verpiss dich endlich!“, wollte ich nicht sagen. Ich hatte Angst und sagte gar nichts. Ich sah sie an. Die aus den Augenhöhlen stammende, milchige Flüssigkeit zwischen ihren Falten fing schon an, zu trocknen. Sah sie mich an? Konnte sie ohne Augen noch sehen? Ich glaube ja. Sie saß ganz still und sah mich nur an, mit ihren schwarzen Augenhöhlen. Die Aura um sie herum war beklemmend. Ich bekam kaum noch Luft. Mein Atem ging nur noch schwer und stoßweise. Die Atmosphäre schien zu knistern.
Nein, es war nicht die Atmosphäre, die knisterte. Was war das für ein Geräusch, dieses Knistern, dieses Knirschen?
Es kam von ihr.
Sie saß auf mich drauf und knisterte.
„Verwandelt sie sich vielleicht wieder zurück in meine Ayla, und wenn, hat Ayla dann keine Augen mehr? Dieses Knistern kommt aus ihrem Körper! Oh, nein, es sind, ... oh, mein Gott, nein, nein, es sind Würmer, ekelhafte, weiße Würmer. Sie fressen, fressen sich durch ihre Haut. Hunderte, nein, Tausende weiße Würmer“, ging es mir durch den Kopf.
Ihr ganzer Körper war jetzt mit ihnen bedeckt. Selbst die Augenhöhlen waren voll von ihnen. Ich sah nur noch weiße Würmer. Langsam fiel die Alte zur Seite. Ich sprang auf, konnte aber den Blick nicht mehr von den Würmern lassen. Sie fraßen und fraßen. Ich weiß nicht, ob Würmer schmatzen können, es hörte sich aber so an.
Es dauerte nicht lange, und die Würmer hatten die Alte, bis auf die Knochen, gefressen. Die Knochen schienen zu zucken. Der blanke abgenagte Schädel rollte zu mir und kam vor meinen Füßen zum Stillstand. Sein Kiefer öffnete sich. „Liebe mich!“
„Oh, Gott, es muss eine Täuschung sein, es kann nur eine Täuschung sein“, schlussfolgerte ich gedanklich.
Und wieder dieses kreischende Lachen. Entsetzt schoss ich den Schädel weg. Noch beim Fliegen lachte er. Er hörte erst auf, zu lachen, als er landete. Ich sah ihn nicht mehr. Aber ich sah die Würmer. Erst als schrumpfenden Hügel, dann als breiten Fluss, der auf mich zu kroch. Sie kamen immer näher, eine Armee von Würmern, einer Invasion gleich. Sie wurden immer schneller, immer schneller.
„Oh, mein Gott, sie springen, springen mich an, landen auf mich und in meinem Mund“, dachte ich schockiert und schrie: „Iiiiiiiiii! Neeeeiiiiiiin!“


Allein




Dann wache ich plötzlich auf. Ich stehe in meinem Bett. Es ist zerwühlt und die schmutzige Steppdecke liegt auf dem Boden. Mein zitternder Körper ist schweißgebadet und riecht unangenehm. Aber, Gott sei Dank, keine Würmer, keine fünfhundertjährige Alte, die mich vergewaltigt und keine Augen mehr hat und keine Ayla. Ich bin allein. Allein.
Allein in einem großen, leeren Schlafzimmer. Es ist so kalt und still. Ich höre nur den Regen, der draußen gegen die Fensterscheibe prasselt. Es regnet schon seit drei Tagen, glaube ich. Noch ist es dunkel. Wie spät es wohl ist? Ist doch egal!
Ich schalte die Nachttischlampe an. Sie leuchtet genau in die obere Zimmerecke, rechts neben dem Fenster. Dort ist ein Spinnennetz. Es hat sich eine Fliege darin verfangen. Ihre verzweifelten Versuche, sich zu befreien, ähneln einem Tanz. Sie kommt nicht mehr los. Bei jeder Bewegung klebt sie fester am Netz. Das Netz ist zu stark und zu klebrig für die Fliege. Sie kann es nicht zerreißen oder sich losreißen. Durch die ruckartigen Bewegungen, der Befreiungsversuche, der Fliege wippt und vibriert es nur ab und zu. Jetzt sehe ich auch die Spinne. Dick und fett, mit einem Kreuz auf ihren haarigen Rücken, sitzt sie am Rande des Netzes und wartet. Sie ergötzt sich an den immerschwächerwerdenden Kampf der Fliege. Sie genießt den Anblick. Ich glaube, die Spinne grinst. Ich hasse die Spinne. Ich hasse sie, so wie damals die Katze bei dem Unfall. Warum weiß ich nicht. Ich hasse sie. Vielleicht weil ich mir selbst wie die Fliege im Netz vorkomme, die keine Chance mehr hat zu entkommen.
Die Fliege hat jetzt aufgegeben und wartet auf ihre Erlösung, wartet auf ihren Tod.
Die Spinne bewegt sich. Sie macht sich auf den Weg zu der Fliege.
Essenszeit!
Ich steige vom Bett und gehe zum Netz. Die Spinne ist schneller. Sie ist eher bei der Fliege, als ich beim Netz, dieses Miststück.
Dieses fliegengierige, blutrünstige Monster ist schneller und setzt sich auf die Fliege. Sie will die Fliege einwickeln, einspinnen, vollspinnen und aussaugen.
„Nein!“, schreie ich, springe hoch und zerstöre dabei das Netz. Jetzt hängt die Spinne an dem sprichwörtlichen letzten seidenen Faden. Ha! Wie sie sich wendet, windet und dreht. Für die Spinne ist es zu spät. Wie schnell sich das Blatt doch wenden kann. Jetzt bin ich es, der grinst. Doch die Spinne gibt nicht auf. Sie zieht sich an dem Faden hoch. Sie versucht, zu entkommen. Sie ist sehr schnell. Doch ich bin schneller. Diesmal bin ich schneller. Ha!
Ich nehme den seidenen Faden, an dem sie hängt, zwischen den Fingern. Da sie sich immer noch hochzieht, krabbelt sie jetzt auf meine Finger, von da aus auf die Handfläche. Wie erbärmlich sie jetzt aussieht. Ich lass sie von einer Handfläche zur anderen flüchten. Ob Spinnen schmecken?
Jetzt ist sie auf meiner linken Hand. Ohne zu denken, drücke ich mit den Daumen der rechten Hand auf die Spinne. Ich spüre ein merkwürdiges Vibrieren unter dem Daumen. Dann drücke ich stärker. Es knackt. Es ist ein herrliches Knacken, ein mich befriedigendes Knacken. Jetzt ist die Spinne nur noch ein schwarzer, schmieriger Fleck auf meiner Hand. Ich wische mir die Hand an meiner Pyjamahose ab und drehe mich dann um, um nach der Fliege zu sehen. Doch die Fliege ist verschwunden.
Ich bin wieder allein.
Nur mein großer Schatten, mein schwarzes Ebenbild, prangt an der Wand. Ich gehe zum Fenster, mit den mir folgenden Schatten, und bleibe stehen. Jetzt wo ich vor dem Fenster stehe, sehe ich mein Spiegelbild darin.
Draußen rinnen Regentropfen wie Tränen über das Gesicht in der Scheibe. Das Gesicht ist schmal, blass und alt.
Es hat eingefallene Wangen und dunkle Ränder unter den Augen. Das Gesicht hat viele Falten.
Ist das mein Gesicht, dieses Gesicht eines alten Mannes? Es ähnelt meinem Gesicht. Ja, doch, etwas Ähnlichkeit ist vorhanden. Was ist das? Wo sind meine blonden Haare? Ich bin vierundzwanzig Jahre alt und habe graue Haare. Nein, das bin ich nicht. Ich bin zwar schwach geworden, aber das bin ich nicht.
Erschrocken drehe ich mich um und sehe an mir hinunter. Vom Pyjama fehlen ein paar Knöpfe. Er scheint ein paar Nummern zu groß geworden zu sein. Oh, ich habe schmutzige Füße. Ich müsste mal, ach, egal, total egal. Ich glaube, heute kommt Ayla wieder. Ich rieche wieder ihren Duft.

Mein Speichel schmeckt säuerlich und irgendwie metallisch. Mir ist schlecht. Ich kann nicht mehr stehen. Ich habe ein flaues Gefühl in den Kniekehlen. Mein Nacken tut weh. Ich gehe zum Bett und setze mich wieder darauf. „Igitt, was ist das?“
Mein Gesäß wird ganz nass. Ich muss wohl bei diesem bösen Albtraum in das Bett gepinkelt haben. Ich stehe langsam auf und fasse gedankenverloren in den Fleck auf dem Bettlaken. Er ist noch warm. Also muss es vor Kurzem passiert sein. Ich nehme meine Hand vom Bettlaken und wische sie am Hosenbein ab. Dann setze ich mich wieder hin. Egal, es ist ja nicht das erste Mal, dass ich vor Angst vor meinen Träumen ins Bett pinkle. Ich starre auf die dreckige unbezogene Bettdecke am Boden. Sie ist mit dunkelgelben, trockenen Flecken übersät. Es sind große Flecken. Ich bin ein alter Mann geworden, der ins Bett pisst. Aber, was solls?
Ich hätte Lust, mich einfach nur draußen hinzulegen und die Augen zu schließen, mich in Staub zu verwandeln und vom Regen davontragen zu lassen. Ich glaube das wäre ein schöner Tod, nur die Augenlider schließen und sterben, keine Schmerzen mehr, keine nichtgewollten Gefühle und keine Träume mehr. Ich will nicht mehr schlafen und träumen. Es sind schreckliche Träume, die ich habe.
Nur wenn ich für immer schlafe, werden wir zusammen sein, Ayla und ich, für immer.
Ich liebe Ayla und deshalb hasse ich sie. Ich hasse sie, weil ich sie liebe. Und deshalb muss ich mich selbst hassen, mich hassen, weil sie mich liebt, mich hassen, weil ich sie liebe. Hass. ... Liebe.
Viele, die sich selbst hassen, setzen ihrem Leben ein Ende, sie begehen Selbstmord. Ich kann es nicht, weil ich liebe, Ayla liebe. Ach, es ist alles so verworren.
Liebe und Hass sind eine schreckliche Kombination, meist mit tragischem Ausgang.
Ich liebte Ayla und deshalb musste ich sie töten.
Auch jetzt noch, nach ihrem Tode, liebe ich sie. Ist sie wirklich tot? Ist nur ihr Körper tot? Wieso rieche ich Aylas Duft? Nein, sie kann nicht tot sein.
Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, deshalb will ich Ihnen die Geschichte erzählen. Ich weiß nicht, ob es zehn, hundert oder tausend Seiten werden. Das ist auch scheißegal.
Wichtig ist nur die Geschichte. Ich muss sie einfach schreiben. Ich hoffe nur, dass ich fertig werde, bevor Ayla wiederkommt.
Also, die Geschichte, wie fing sie eigentlich an? Ach ja, ich erinnere mich.
Die Geschichte begann, wie alle Geschichten beginnen, harmlos, ja, eigentlich ganz harmlos an einem Freitag, Anfang Herbst vor einem Jahr. Ich glaube es war der Dreizehnte. Ja, es war Freitag der Dreizehnte. Bitte denken Sie nichts Falsches von mir. Ich war noch nie abergläubisch. Aber nach dieser Geschichte habe ich mich doch sehr verändert.

Der Anfang ... vom Ende


Der Anfang ... vom Ende


„Möchtest du etwas trinken, Tommy?“
Ihre blauen Augen sahen mich fragend an. Ihr sonnengebräunter Körper ließ nichts mehr zu wünschen übrig. Ihre Lippen waren von tiefem Rot, das gleiche Rot wie der Porsche 911, der hinter ihr stand. Da ich etwas mehr Geld als andere Leute besaß, hielten wir uns fast den ganzen Tag am Strand auf. Ich liebte die See, den warmen, weichen Sand, die salzige Luft und das Rauschen der Wellen. Selbst das Kreischen der Möwen gefiel mir.
„Oder möchtest du lieber etwas anderes?“
Sie fragte es schüchtern, gekonnt schauspielerisch gespielt. Jetzt malte sie, mit ihrem rechten großen Zeh, ein Herz in den Sand. Ihr Körper glänzte in der untergehenden Sonne. Sie vollzog einen langen Schritt über das Herz und kam auf mich zu. Ihr weicher Gang war verführerisch und erinnerte mich an den schleichenden Gang einer Raubkatze. Langsam, betont langsam öffneten ihre zarten Hände den Bikiniverschluss, der sich vorn befand. Mit einem zaghaft gehauchten „Oh!“ verlor sie das Bikinioberteil, das vor meinen Füßen fast geräuschlos landete. Jetzt stand sie breitbeinig über mir, die Sonne im Rücken.
Mein Gott, waren das Beine!
Vorsichtig setzte sie sich auf mich. Mit ihren schlanken Armen stützte sie sich so ab, dass mein Kopf zwischen ihren Händen lag. Mit ihren langen Haaren strich sie über mein Gesicht. Sie dufteten ätherisch lockend wie der Frühling in berauschender Blütenpracht. Der sinnliche Mund und die verzaubernden Augen lächelten. Es gab kein besseres Mittel, mich zu entwaffnen und meiner Reserviertheit den Dolchstoß zu versetzen, der sie kapitulieren ließ und meine bedingungslose Hingabe offenbarte, nur dieses Lächeln. Mein Blick fiel auf ihre Brüste, die prallen, reifen Früchte, die fleischigen Objekte meiner Begierde, die mit jedem Atemzug von ihr leicht und rhythmisch beben und mir mit meiner sprießenden Lust zu signalisieren scheinen: „Komm, berühre uns!“ Und wie ich sie berühren
wollte. Langsam, leicht zitternd, setzten sich meine Hände in Bewegung.
Ich wollte diese Frau lieben, hier und jetzt. Ich konnte gar nicht anders. Ihre Lippen berührten zart meine Nasenspitze. Sie waren so wunderbar warm und weich.
„Ich habe mir etwas Neues ausgedacht!“, hauchte sie wollüstig und sah mich triumphierend an.
Ich weiß nicht, aber irgendwie kam sie mir vor wie eine Gottesanbeterin, die ihr Männchen nach oder gleich während der Paarung verspeist. Aber es war ein schönes Gefühl. Von ihr würde ich mich gerne verspeisen lassen. Meine Hände hatten jetzt fast ihre Brüste erreicht. Ich glaube, jetzt lächelte ich triumphierend. Nur noch fünf Zentimeter, noch drei, eins und ... . „Was ist das?“

Tommys Hände ergriffen etwas Haariges, Schlaffes. Er erschrak und öffnete die Augen.
„Oh nein!“
Er blickte in zwei dunkle Augen und in seinen Händen hielt er zwei Schlappohren. Sie gehörten Ozzy, seinem Berner Sennhund, der ihn fragend ansah. Tommy ließ Ozzys Ohren los und schloss wieder seine Augen, um wieder in den Traum zurückzukehren. Das hätte er nicht tun sollen, denn jetzt fuhr eine lange, schlaffe, und vor allem, nasse Zunge über sein Gesicht.
„Aus! Ozzy, geh runter!“, sagte er im lauten Befehlston, doch Ozzy leckte weiter.
„Aus, Ozzy! Ich bekomme ja lauter Pickel. Verschwinde, du stinkst aus dem Maul“, sagte er mürrisch und schob Ozzy vom Bett hinunter. „Und außerdem sollst du nicht auf das Bett. Das ist pfui, Ozzy, pfui.“
Beleidigt verschwand Ozzy durch die geöffnete Schlafzimmertür. Tommy stand schnell auf und setzte sich auf die Bettkante. Denn Ozzy hatte immer die Angewohnheit, wenn Tommy liegenblieb, mit der Hundeleine im Maul, auf ihn draufzuspringen. Ozzys Kopf erschien kurz in der offenen Tür und verschwand wieder, so, als wolle er Tommy kontrollieren. Dieser zog sich grinsend an und ging auf den Flur, wo Ozzy schon ungeduldig wartete. Ozzy wedelte aufgeregt mit dem Schwanz und kaute auf der Hundeleine.
„Na, Ozzy, habe ich dich wieder ausgetrickst?“, fragte Tommy, während er die Haustür öffnete. Ozzy rannte hinaus, die Leine noch im Maul. Er sprang mit einem Satz die sechs Stufen vor der Tür hinunter.
Draußen war die Luft zwar noch kalt, aber die Sonne schien und kündigte einen neuen, herrlichen Tag an, glaubte Tommy zumindest.
Tommy wollte Brötchen und eine Zeitung holen. Er nahm die Abkürzung über dem leeren Heiligengeistfeld, vorbei an dem von Umwelteinflüssen schwarzgefärbten, großen, mehrstöckigen Luftschutzbunker zum U-Bahnhof Feldstraße.

Henry




Wir schreiben das Jahr 1954, Hamburg, 04. Juli.
Kein Windhauch bewegte die flimmernde Luft. Einsam stand die Sonne über der öden Stadt. Ihre heißen Strahlen schienen auf eine tote Stadt. Die Stadt sah verlassen aus, so als hätte man sie evakuiert. Auf dem Kopfsteinpflaster der Straßen war kein fahrendes Auto zu sehen. Die Straßen waren wie leergefegt. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen. Eine entsetzliche Stille lag wie ein schweres Gewicht in der Luft. Es war eine beklemmende Stille. Nur an der Hitze konnte es nicht liegen. Flimmernde Luft, tote Leere und beklemmende Stille, so. als hätte eine Seuche die Menschen dahingerafft. So, als hätte die Pest Hamburgs Straßen und Plätze von der Menschheit befreit. Auch die Straße ‚Beim Schlump‘ war gespenstisch leer. Die Straßenbahnschienen wirkten so, als führten sie nirgendwo hin. Sie glänzten in der Sonne wie geputztes Silberbesteck auf einem dreckigen Tisch. Wenn man von der Straße aus durch einen Torweg ging, kam man auf einen Innenhof, der mit weißgelben Fliesen ausgelegt war. Für einen Betrachter wirkten die Fliesen wie weißgelbe Riegelschokolade, sie hatten die gleiche Form, die gleiche quadratische Aufteilung. Dann überquerte man den Hof und kam zu einer Tür mit verziertem Griff. Oben rechts neben der Tür war ein weißes Emailleschild mit der schwarzen Aufschrift ‘10c’. Öffnete man dann die Tür, gelangte man in das kühle Treppenhaus. Knarrende Holztreppenstufen führten nach oben. Im zweiten Stock stand man dann vor einer weißen Tür, in deren oberen Drittel sich ein Fenster mit weißangemalten Riffelglas befand und aussah wie all die anderen Wohnungstüren im ganzen Treppenhaus. Neben der Tür war der Drehknopf der Klingel. Darüber ein Holzschild mit der Aufschrift ‘Henry Braun’.
In der Wohnung saß Henry Braun vor seinem Radio und lauschte gespannt der Übertragung des Endspieles der Fußballweltmeisterschaft. Deutschland spielte gegen Ungarn. Das Vorrundenspiel hatte Ungarn mit acht zu drei gewonnen. Auch das Endspiel schien zunächst so zu verlaufen. Begünstigt durch einen Fehler in der deutschen Abwehr gehen die Ungarn zwei zu null im ausverkauften Berner Wankdorfstadion in Führung. Dann jedoch, durch ein energisches Aufbäumen der deutschen Elf, bringt es innerhalb von zehn Minuten für Deutschland zwei Tore. Ausgleich, zwei zu zwei.
Henry war wie im Höhenflug. Für ihn würde der Endspielsieg mehr bedeuten, als nur den sportlichen Erfolg. Nämlich für Deutschland die Bestätigung, nach dem wirtschaftlichen Wiederaufbau, einen weiteren Schritt zur internationalen Anerkennung. Henry freute sich und jubelte: „Tooooor! Tooor! Tor! Zwei zu zwei! Tooor!“
Das war der Moment, in dem er mit seinem Fuß gegen das Radio stieß. Es fiel vom Wohnzimmertisch, landete auf dem Fußboden und war still.
„Nein, nein, musst du ausgerechnet jetzt kaputtgehen?“
Henry hob es hastig auf und schüttelte es, doch es blieb still.
„Nein, bitte, geh an, bitte!“
Jetzt streichelte Henry das Radio flehend.
„Mach doch keinen Scheiß. Ich wollte dich nicht treten. Ich liebe dich doch.“
Das Radio zeigte immer noch keine Reaktion. Resigniert und enttäuscht stellte er das Radio wieder auf den Tisch neben der Flasche ‚Berliner Kindl‘.
„Hätte das Bier nicht umkippen können? Was mach ich denn jetzt? Scheiße!“
Etwas wütend sah er zur Steckdose an der Wand. Der Stecker war noch in der Dose. Jetzt nahm er das Radio wieder hoch und suchte nach einem äußeren Fehler. Doch er konnte keinen Fehler finden. Beleidigt stellte er das Radio wieder hin.
„So ein Mist. Was mach ich denn jetzt? Ich kann doch nicht zu einem Nachbarn gehen und ... . Doch, ich
kann!“
Schnell, sich über den Einfall freuend, rannte er zur Haustür, öffnete diese und eilte hinaus. Krachend fiel hinter ihm die Tür ins Schloss. Henry erschrak, was aber nicht auf den Knall zurückzuführen war. Es war etwas Anderes, das ihn stoppen ließ.
„Oh, Gott, ich habe den Schlüssel vergessen.“
Henrys Hand flog klatschend gegen seine Stirn und blieb da kleben. Henry überlegte. Seine Finger kratzten nervös und unentschlossen die Kopfhaut. Dann fuhren dieselben Finger durch das ungekämmte Haar. Durch einen plötzlichen Befehl vom Gehirn hob die Hand vom Kopf ab und ließ sich einfach fallen. Sie blieb am Arm hängen und baumelte leicht hin und her.
„Ach, irgendwie mach ich die Tür nachher wieder auf, und wenn ich sie eintreten muss.“
Henry musste sich beeilen, wenn er noch etwas von dem Fußballspiel mitbekommen wollte.
Henrys direkter Nachbar war im Urlaub, das wusste er. Deshalb ging er hinunter in den ersten Stock. Henry klingelte an der ersten Klingel, mit der Aufschrift 'Kunkel' über dem Klingelknopf. Nichts rührte sich. Er lief zu der Tür auf der anderen Seite. ‘Hesse’ stand da auf dem Namensschild, aber auch hier hatte das Klingeln keine merkliche Reaktion verursacht.
„Nein, das gibt es doch nicht!“
Henry rannte die Treppe hinunter, in das Erdgeschoss. Da er immer zwei Stufen auf einmal nahm, vertrat er sich bei der letzten Stufe, die übrig blieb, und verlor das Gleichgewicht. Im letzten Moment konnte er sich aber noch am Geländer festhalten. Nun stand er wieder vor einer Tür. ‘Garbor’ stand auf dem Schild über dem Klingelknopf. Den Namen hatte Henry vorher noch nie gehört oder gelesen. Die müssen neu eingezogen sein, dachte Henry bei sich. Diesmal klingelte er nicht sofort und lauschte vorsichtig erst mal an der Tür.
„Irgendwie ja peinlich, wenn jetzt einer käme“, dachte er und stellte flüsternd freudig fest: „Ja, die hören Radio.“ Begeistert klingelte er. Es wurde still in der Wohnung. Jemand musste das Radio ausgeschaltet oder leisegestellt haben. Hinter der Haustür knarrte der Holzfußboden. Wenig später wurde die Tür geöffnet. Eine junge gutaussehende Frau musterte ihn von oben bis unten. Henry bemerkte den prüfenden Blick und sah an sich hinunter. Zwei nackte Füße standen unter seinen Hosenbeinen hervor. Außer der Hose hatte er nur noch ein weißes Unterhemd an. Er sah die wunderschöne Frau wieder an.
„Entschuldigen Sie bitte meinen Aufzug, aber mein Radio ist kaputt“, sagte Henry etwas durcheinander. Die Augenbrauen der Frau zogen sich fragend leicht nach unten.
„Nein, ich meine, dass meine Haustür, zwei Stockwerke über Ihnen, ins Schloss gefallen ist, weil ich Radio hören wollte. Nein, ich wollte Sie fragen, ob ich vielleicht b, b, b, bei Ihnen R, Radio hören k, k, k, könnte“, stotterte Henry, als er in ihre betörend schönen blauen Augen sah. ‚R, Radio hören k, k, k, könnte‘ bekam er nur ganz leise aus seinem trockenen Mund. Bei ihm war es Liebe auf dem ersten Blick.
„K, k, k, klar, k, k, k, kommen Sie herein“, sagte sie zu ihm, ihn scherzhaft aufziehend. Die Situation durchschauend trat sie einladend zur Seite. Jetzt lächelte sie.
„Danke, vielen Dank, u, u, u, und entschuldigen Sie bitte meinen Aufzug.“
Er musste wieder stottern. Doch diesmal lag es aber an ihrem sanften Lächeln.
„Das macht doch nichts. Entschuldigen Sie meinen“, sagte sie und dachte den Satz zu Ende, „der jetzt auch Ihrer ist“, um dann „Kommen Sie einfach nur herein. Ich möchte das Fußballspiel nämlich auch hören. Bitte die erste Tür, gleich rechts“, zu sagen.
Die Mehrdeutigkeit des Wortes Aufzug nicht bemerkend, ging er an ihr vorbei in die Wohnung.
Beim Vorbeigehen stieg ihm ein Hauch ihres lieblichen Parfumduft in seine Nase. Kurz danach, einige Schritte weiter roch es nach frischaufgebrühten Bohnenkaffee. Er ging in das Wohnzimmer und blieb in der Mitte des Raumes stehen.
„Setzen Sie sich doch auf den Sessel neben dem Radio“, sagte sie und ging aus dem Zimmer. Henry setzte sich. Er war froh, dass sein Radio kaputtgegangen ist, oder besser gesagt, überglücklich. Jetzt kam sie mit einer Tasse wieder und setzte sich auf dem zweiten Sessel.
„Sie möchten ja sicher auch eine Tasse Kaffee“, sagte sie, leicht vorgebeugt, und schenkte, ohne auf die Antwort zu warten, ein.
„Ja, bitte“, kam es von Henry.
„Zucker oder Milch?“
„Nein danke. Ich trinke ihn schwarz.“
Das war eine Lüge, denn Henry wollte keine großen Umstände machen, und vor allem, wollte er nicht, dass sie noch einmal wegginge, um Zucker und Milch zu holen. Er wollte, dass sie bei ihm bliebe.
Verliebt sah er in ihre Augen. Und sie sah ihn an. Dann drehte sie verlegen den Kopf zur Seite und schaltete das Radio wieder an. Die Stimme des Reporters lebte das Spiel richtig hörbar mit.
„... Puskas schießt, ... gehalten! ... Tony, Tony du bist Gold wert!“
Henry sah die Frau immer noch an.
„Henry Braun.“
„Was?“
Die Frau sah vom Radio auf und blickte zu Henry hin. Sie wirkte etwas aufgeschreckt.
„Mein Name ist Henry Braun, aber nennen Sie mich einfach nur Henry.“
„Danke, mich können Sie Beate nennen.“
Beide sahen sich lächelnd an. Henry sah als Erster wieder zum Radio. Diesmal war er es, der verlegen war.
Die Stimme des Reporters war jetzt aufgeregter als vorher.
„... Jetzt, Deutschland am linken Flügel. ... Schäfer hat nach innen geflankt. ... Kopfball. ... Abgewehrt. ... Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. ... Er schießt. ... Toooooooooor, Tor, Tor, Tor für Deutschland. Halten Sie mich für verrückt, halten Sie mich für übergeschnappt. Ich glaube auch Fußballlaien sollten jetzt ein Herz haben, sollten jetzt die Daumen drücken, viereinhalb Minuten Daumenhalten in Wankdorf. Drei zu zwei für Deutschland nach dem Linksschuss von Rahn.“
Beate schaute gebannt zum Radio, so als könne sie darin etwas sehen. Sie biss sich leicht auf die Unterlippe und hielt zugleich ihre Daumen gedrückt. Sie war völlig in das Spiel vertieft. Henry beobachtet sie aufmerksam. Es war das erste Mal, dass er sich verliebt hatte. Er bekam leichte Kopfschmerzen. Das war neu für ihn. Er hätte nie gedacht, dass es ihn einmal erwischen würde. Über Liebe auf dem ersten Blick hatte er bis jetzt immer gelacht.
Durch die immerlauterwerdende Stimme des Reporters wurde Henry wieder aus seinen Gedanken gerissen.
„Und die Ungarn, wie von der Tarantel gestochen, drehen den siebten oder zwölften Gang auf. Und Kocsis flankt. Puscas: Abseits. ... Der Sekundenzeiger, er wandert so langsam. Wie gebannt starre ich hinüber. ... Jetzt spielen die Deutschen auf Zeit. ... Und die fünfundvierzigste Minute ist vollendet. Aus, aus, aus, aus, das Spiel ist aus. Deutschland ist Weltmeister.“
Tausende deutscher Fans im Stadion und Millionen Zuhause an Rundfunk- und Fernsehgeräten bejubelten und feierten den unerwarteten Erfolg der ‘Helden von Bern’.
Beate sprang von ihrem Sessel auf und tanzte. Auch Henry freute sich und tanzte ausgelassen. Überglücklich umarmte er Beate und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Beate blieb stehen. Ihr Gesicht hatte ernste Züge angenommen. Henrys Gesichtszüge glichen sich ihren an, nur sahen sie fragender aus. Jetzt küsste Beate ihn auf den Mund. Er erwiderte ihren Kuss. Aus diesem zärtlichen Kuss wurde ein langer, Leidenschaft entflammender, feuriger Kuss. Eine wohltuende Wärme durchzog Henrys Körper. Henry war wie in Trance. Seine ganzen Gefühle gab er freien Lauf in diesen ersten leidenschaftlichen Kuss seit Jahren. Er erschrak, als Beate aufhörte, und blickte sie leicht verstört an. Beruhigend nahm sie seine Hand und zog ihn auf die Couch. Nun, nebeneinandersitzend, Hand in Hand, lauschten sie dem Trubel im Radio, wohl eher aus Verlegenheit, als dass sie sich dafür noch interessierten. Die Stimme des Reporters Herbert Zimmermann floss wie ein Wasserfall.
„Nach der Überreichung der Weltmeisterschaftstrophäe durch den FIFA-Präsidenten Jules Rimet, tragen die überglücklichen Spieler den ‘Vater des Sieges’, Bundestrainer Josef Herberger, auf den Schultern vom Platz. Sepp, du bist der Größte. Ich glaube, überall in Deutschland wird euphorisch gefeiert.“
Den Rest der Übertragung nahm Henry nicht mehr war. Beate küsste ihn wieder. Aus dem Kuss wurde eine Umarmung, aus der Umarmung, Liebe. Sie liebten sich auf der Couch, auf derselben Couch, auf der Beate dreißig Jahre später, als Beate Braun, starb.

Das war 1984, vor drei Jahren. Henry dachte oft an Beate, und immer wenn er an sie dachte, musste er weinen. So innig, wie er sie geliebt hatte, gab er sich schnell auf. Denn alles, was ihn etwas bedeutet hatte, war sie. Er verlor seinen Job als Schweißer bei der Schiffswerft Blohm und Voss. Dann bekam er Arbeitslosengeld, dann Arbeitslosenhilfe und später Sozialhilfe. Das meiste Geld hatte er immer versoffen. Er trank, um zu vergessen. Es gab nicht einen Tag, an dem er nüchtern gewesen ist. Er kannte sämtliche Kneipen und Bars in der Innenstadt. Am liebsten hielt er sich in den Stadtteilen Altona, Eimsbüttel und St. Pauli auf. In St. Pauli war es auch, wo er eines Nachts wiedermal zusammengeschlagen wurde. Er ging, besser gesagt, er torkelte den Spielbudenplatz entlang. Kurz vor der Davidwache kam ihm ein Mann entgegen, den er lallend nach einer Zigarette anschnorrte.
„Ha, hast du mal 'ne Zigarette, Mann?“
„Verpiss dich, alter Penner!“, entgegnete dieser genervt.
„Hey Mann, ich will doch nur eine Zigarette, Mann“, wimmerte Henry und legte bittend seine schmutzige Hand auf die Schulter des Anderen. Sofort schob dieser angewidert Henrys Hand von seiner Schulter und gab ihn eine Davidoff-Zigarette, um endlich Ruhe zu haben.
„Hier hast du eine, aber fass mich nicht noch mal an.“
Henry nahm sie sich schwankend und steckte sie sich richtig herum in den Mund.
„Ey Mann, hast du auch mal Feuer, Mann?“, fragte Henry und legte kumpelhaft seine Hand wieder auf die Schulter des Anderen. Diesmal riss der Andere die Hand von seiner Schulter und sagte wütend und gefährlich leise: „Ich habe doch gesagt: Nicht anfassen, du Affe!“
Angeekelt griff er in seine Kaschmirmanteltasche, zog ein goldenes Dupont-Feuerzeug heraus, öffnete dieses mit einem leisen „Pling“ und entflammte es mit dem Daumen. Dann gab er Henry Feuer. Er hatte Schwierigkeiten, mit seiner Hand Henrys schwankenden Bewegungen zu folgen, sodass es etwas länger dauerte, bis die Zigarette endlich an war. Henry sog genüsslich an der Zigarette.
„Danke, Mann“, sagte Henry und schlug dankbar wieder auf die Schulter des Anderen, der das Feuerzeug wieder eingesteckt hatte. Die Faust, die kam, sah Henry nicht. Er sah nur noch ein Meer aus Licht und Farben, explosionsartig. Er schlug hart auf den schmutzigen Bürgersteig auf und blieb liegen. Der Andere nahm mit seiner rechten Hand ein weißes Taschentuch aus der Manteltasche und wischte das Blut, aus Henrys Nase, von seinen Knöcheln der linken Hand.
„Ich habe dir doch dreimal gesagt: Nicht anfassen. Du bist doch der letzte Dreck!“
Er ließ das Taschentuch auf Henry fallen und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, den Spielbudenplatz hoch in Richtung Knopfs Music Hall.
Henry war, durch den Schlag auf die Nase, fast wieder nüchtern geworden. Er versuchte, aufzustehen. Doch seine Beine knickten immer wieder weg. Es gelang ihm erst bei dem vierten Versuch. Wackelnd, noch etwas schwach auf den Beinen, blieb er stehen. Blut tropfte aus seiner Nase. Tropfen für Tropfen setzten sie schwer auf den Boden auf. „Patsch, Patsch, Patsch.“ Mit dem Ärmel seines alten verdreckten Parkas wischte er sich über die Nase.
„Vor ein paar Jahren hätte er mich nicht geschlagen, dieser Wichser! Nein Henry, so geht das nicht weiter. Du musst aufhören, zu saufen. Wenn Beate dich so sehen würde, im Grabe würde sie sich drehen. Nein, so geht es nicht weiter, Henry.“
Seine Nase tropfte immer noch. Etwas taumelnd, bückte er sich, hob das Taschentuch vom Boden auf und hielt es sich unter die Nase. Es roch nach teurem Herrenparfum. Den Kopf leicht nach hinten in den Nacken gehalten, sah er sich um. Die Straße war belebt wie jede Nacht, doch kein Mensch beachtete ihn. Und wenn, dann nur mit einem Blick, den Henry nur all zu gut kannte. Es war der Blick mit dem man Penner oder Besoffene, denen ab und zu die Blase nicht mehr gehorcht, unrasiert und schmutzig sind, ansieht, dieses angewiderte oder verächtliche Aufeinemherabsehen. Ab und zu ein leichtes Kopfschütteln war alles, was man für ihn übrig hatte.
Henry sah an sich hinunter. Heute sah er relativ gut aus, bis auf ein paar Blutstropfen und den großen Wermutfleck unter dem Hals vor seinen Augen. Aber die Blase hatte heute dicht gehalten. Henry war zufrieden mit sich. Am Wienerwald, Ecke Davidstraße, standen noch einige gutaussehende und einige weniger gutaussehende Frauen, die noch nicht genug Geld zusammenhatten und warteten auf Kundschaft, Asphaltschwalben, Leibeigene der Zuhälter. Eine ‘Dame’ verschwand nach längerem Verhandeln mit einem Freier. Wahrscheinlich gingen sie auf ihr kleines Zimmer mit Fototapete von Paris, vielleicht mit Eiffelturm, Las Vegas, Los Angeles oder von New York mit Freiheitsstatue, ein Traum der Freiheit. Apropos Freiheit, hier, Große Freiheit, Kleine Freiheit waren relativ sicherere Orte für die Frauen, wie auch die Herbertstraße, Eros-Center oder der Hans Albers Platz. Die ganzen Seitenstraßen, Fischmarkt, Süderstraße und die Orte in St. Georg waren dagegen weniger sicher. Henry taten die Frauen leid, dieses harte Leben und dann die Kälte. „Hätte ich jetzt noch Geld, würde ich mit einer aufs warme Zimmer gehen“, dachte Henry bei sich, mit halb sehnsuchtsvollem und halb mitleidhabendem Blick zu einer Blonden, die im aufreizenden, für die Kälte, viel zu spärlichen Kostüm, am meisten zu frieren schien und wunderschön aussah, fast wie ein Engel.
Gedankenverloren, in sehnsuchtsvollen Träumen verstrickt, kramte er in seinen Hosentaschen.
„Hast ja nicht mal ‘nen Pfennig“, dachte Henry, die Träume realitätsnah beendend. Doch Henry irrte.
In seiner linken Hosentasche fand er noch Geld. Zwar umklammerte seine Hand keinen Geldschein, sondern nur ein Geldstück aus Metall, aber schien es doch groß und somit ziemlich silberhaltig zu sein. „Ein Heiermann!“, freute er sich, als er das Fünfmarkstück in der Hand erblickte. „Früher konnte man damit ja noch mit einer Dirne in das Bett, in die Heia gehen, wo der Strich noch ein gemalter Strich war, den sie nicht übertreten durften, aber heute, heute kann man damit nicht viel anfangen. Doch, Frühstücken bei Roxy!“
Mehr als zufrieden, schon eher euphorisch, machte er sich auf den Weg. Er brauchte nicht weit zu laufen. Fünf Minuten später stand er vor dem Laden.
Der eigentliche Name von Roxy war Irmgard Reichert. Sie führte den Laden seit etwa sechs Jahren mit sehr viel Liebe. Die Tür ihres Ladens, die nach innen aufging, wurde durch einen kleinen Holzkeil einen Spalt offengehalten. Links neben der Tür befand sich ein großes Schaufenster. Darüber war eine Leuchtreklame mit der verzierten Aufschrift ‚Bei Roxy’. Als Henry durch das Fenster hindurchblickte, sah er Roxy. Sie schnitt hinter dem weißen Tresen mit einem großen Brotmesser Brötchen auf. Am Fenster saß ein junger Mann, den Kopf auf seine Arme gelegt, und schlief. Vor ihm stand eine große Tasse Kaffee. Henry vermutete, dass der Kaffee darin kalt war. Im Imbiss standen vier Bistro-Tische und acht Barhocker aus Chrom mit schwarzen Kunststoffsitzflächen. Auf jeder runden Marmortischplatte stand ein gläserner Aschenbecher mit dunkelgelber Camel-Aufschrift. An der Wand, über dem Zigarettenautomaten hing ein großer Werbespiegel mit den typischen Coca-Cola Schriftzug und einer abgebildeten lächelnden Frau, die eine volle Coca-Cola-Flasche in der Hand hält, in jugendstiltypischer Manier. An der gegenüberliegenden Wand hing eine große Preistafel. Gleich daneben hing ein Holzschild auf dem ‚Hier auch Frühstück!’ in großer Schrift mit schwarzer Farbe aufgeschrieben war, damit man es auch von außen lesen konnte. Henry trat die drei Stufen vor dem Laden hinunter und ging hinein, indem er sich durch den Spalt schob. „Moin Moin, Roxy!“
Roxy schaute von den Brötchen hoch und erschrak.
„Wie siehst du denn wieder aus?“
„Ich? Ich bin hingefallen“, log Henry unglaubwürdig und sah in den Spiegel. Trockenes Blut klebte zwischen Nase und Mund. Auch am Kinn konnte er Blut sehen. Seine Nase war angeschwollen und sah aus, wie eine übergroße, reife Erdbeere, nur etwas blasser.
„Komm mal mit nach hinten“, sagte Roxy energisch mit einem flüchtigen Blick zu dem Schlafenden. Dann zog sie Henry durch die halbhohe Schwingtür, am Tresen vorbei und durch die Tür, die sich hinter dem Tresen befand, in den Nebenraum. Der Nebenraum war klein und dunkel, doch sauber. Aber das ‚sauber’ brauchte man bei Roxys Laden nicht erwähnen, denn das war bei ihr selbstverständlich. In einer Ecke lagen übereinander leere Pommes-Frites-Kartons und daneben, aufgestapelt, ebenfalls leere Holsten-Bierkästen. Roxy ging zu den Handwaschbecken an der rechten Wand, neben einer geschlossenen Tür, hinter der sich der Vorratsraum befand.
Sie drehte den Wasserhahn auf und durchnässte ein sauberes Geschirrhandtuch. Sie wrang dann das Handtuch aus und wischte Henry damit das verkrustete Blut aus dem Gesicht. Henry kam sich irgendwie wie ein kleiner Junge vor, dem seine Mutter die Rotznase abwischt. Zwangsläufig sah er in ihr Gesicht. Sie hatte kleine Fältchen in Form von Krähenfüßen an den Außenseiten der Augen, an den Stellen, wo sich Ober- und Unterlider trafen. Sie sahen fast aus wie Lachfalten. Auch die Fältchen an den Mundwinkeln konnte man als Lachfalten bezeichnen, wenn man von ihrem vorherigen Leben nichts wusste. Das Haar trug sie streng zurückgekämmt. Gehalten mit einer goldfarbenen Haarspange, wurde es hinten zu einem Pferdeschwanz. Roxy war ungeschminkt, im Gegensatz zu früher, als sie noch auf dem Strich ging. Sie hatte damals ein Zimmer mit Schaufenster in der Herbertstraße. Zu ihrem Glück hatte sie kein Zuhälter und konnte sich ihr schwererarbeitetes Geld sparen. Als sie genug Geld zusammenhatte, kaufte sie sich den Imbiss. Aus dieser Zeit, in der sie sich immer Roxanne nannte, stammte auch der Spitzname Roxy. Zu Roxys Imbiss kamen eigentlich fast alle, die hier in der Nähe zu tun hatten, auch viele Touristen und Besucher dieses Milieus. Roxy liebte ihren Imbiss, obwohl sie oft nach Bratwürstchen und Frittierfett stank. Und sie liebte die meisten ihrer Stammkunden, wie auch Henry, dessen Nase sie gerade abwischte. Sie war jetzt damit fertig und warf zufrieden das Handtuch in den Mülleimer unter dem Waschbecken. Dann wusch sie sich die Hände und trocknete sie mit einem neuen Handtuch ab.
„Möchtest du etwas essen oder trinken?“, fragte sie, als sie im Spiegel über dem Waschbecken Henrys nachdenkliches Gesicht sah. Seine Zähne knabberten auf seinen Daumennagel.
„Ja, bitte“, antwortete er kurz, aus seinen Gedanken gerissen, steckte die Hand in die Hosentasche und umklammerte das herrlich kühle Metall des Geldstückes.
„Dann komm mit“, sagte sie sanft und liebevoll. Sie ging wieder in den Verkaufsraum und blieb hinter dem Tresen. Henry folgte ihr, ging aber weiter und stellte sich vor dem Tresen.
„Hast du Geld oder soll ich wieder anschreiben?“, fragte sie und begann, Margarine auf die Brötchenhälften zu streichen.
„Nein, diesmal nicht. Das sind meine letzten fünf Mark.“ Wie bei einer Rede, vor vielen Leuten, hielt er stolz das Fünfmarkstück zwischen Zeigefinger und Daumen seiner rechten Hand hoch. „Damit kaufe ich mir jetzt zwei Eibrötchen“, sagte er, meinte aber halbe Brötchen, und fügte hinzu: „und einen Becher Kaffee.“ Womit eine große Tasse Kaffe gemeint war.
„Für die letzten fünfzig Pfennig, die übrig bleiben, kaufe ich mir nachher eine Bild-Zeitung und suche mir Arbeit.“ Henry war sichtlich stolz, dass er sein bisheriges Leben ändern und wieder arbeiten wollte.
„Ja? Wenn das so ist, dann geht der Kaffee auf Kosten des Hauses.“ Roxy wollte Henry glauben, aber die Vergangenheit zeigte ihr, dass allgemein der Wille oft schwach ist und man das momentan Ernstgemeinte bedingt durch Umwelteinflüsse und Gewohnheit schnell wieder aufgibt. Auch Henry hatte ihr schon öfters gesagt, dass er sein Leben ändern wolle. Aber heute hatte er etwas in den Augen, was sie zuversichtlicher stimmte. Denselben Glanz hatte sie heute schon einmal gesehen, nämlich bei Tommy, der am Fenster schlief. Auch er hatte ihr versprochen, sich nicht mehr gehen zu lassen. Er hatte ihr versprochen, zum Arbeitsamt zu gehen. Tommy und Henry waren ihre beiden besten Freunde und zugleich ihre Sorgenkinder. Sie kannte ihre Lebensläufe wie kein anderer. Beide sind durch eine Frau oder durch das plötzliche Fehlen einer Frau heruntergekommen. Beide hatten sonst niemanden zum Reden. Tommy war fünf Jahre mir einer Frau zusammen gewesen. Er hatte mit ihr eine große Wohnung, arbeitete auf dem Bau als Eisenflechter oder Zimmermann und verdiente gutes Geld. Verliebt, wie er war, steckte er das Geld nur in seine Freundin. Sie arbeitete nicht. Sie hatte keine Lust. Sie ging lieber neue Kleidung kaufen. Sie hatte bestimmt zwanzig Paar Schuhe während Tommy nur ein Paar Nike-Turnschuhe und ein Paar Segelschuhe besaß. Kaufen, Essen und Fremdgehen waren zu der Zeit ihre Lieblingsbeschäftigungen. Nur wusste er nicht, dass sie fremdging oder er wollte es nicht glauben, wenn jemand es behauptete. Wie es so schön heißt: Liebe macht blind. Dann kam das Ende. Um es kurz zu machen: Einen Ex-Knacki, der wegen mehrfacher Körperverletzung gesessen hatte, fand sie interessanter. Dass sie die Prügel liebte, die sie dann von ihrem Neuen bekam, wage ich zu bezweifeln. Kurz gesagt: Sie tauschte Gold gegen Scheiße. Tommy ließ sich gehen. Er verlor seinen Job und seine Wohnung und hatte Schulden. Er ging noch nicht einmal zum Arbeitsamt, obwohl er Anspruch auf mindestens eintausendfünfhundert Deutsche Mark im Monat hatte. Er schlug sich so durch die Monate, bis jetzt. Aber er blieb sauber und hatte ab und zu einen Gelegenheitsjob. Wenn er mal kein Geld hatte, konnte er immer bei Roxy anschreiben. So wie Henry, der sich auch, nach dem Tode seiner Frau, gehen ließ.
„Was hast du denn?“, fragte Henry besorgt, als er Roxys nachdenkliches Gesicht sah.
„Ach nichts. Ich habe nur ein bisschen nachgedacht“, antwortete sie, lächelte Henry etwas verlegen an und fragte ablenkend, obwohl sie glaubte, die Antwort schon zu kennen: „Was möchtest du denn auf deine Brötchen haben Henry?“
„Ich möchte zwei Ei-Brötchen. Ach nein, ein Ei-Brötchen und ein Heringssalat-Brötchen.“
Roxy nickte und sah ihn an. Sie sah jetzt wieder nachdenklich aus.
„Ich glaube, Tommy ist jetzt auch wieder gelandet. Gefallen ist er ja tief genug. Er will sich auch wieder Arbeit suchen. Hat er jedenfalls gesagt.“ Jetzt spielte Roxy nicht nur auf Tommys vorherigen Male an, wo er das Gleiche behauptete. Henry schluckte. Vielleicht dachte er an seine vorherigen Male und an das Scheitern danach.
„Tommy hatte gar nichts mehr. Sogar seine heißgeliebte Schallplattensammlung hatte er bei ‚Bier-Willi’ als Pfand für geliehenes Geld gelassen. Ich habe sie ausgelöst, als er sie weiterverkaufen wollte. Tommy bekommt sie erst wieder, wenn er Arbeit hat. Er glaubt, die Platten wären schon weg.“ Roxy lächelte schelmisch.
Auch Henry lächelte und tastete seine geschwollene Nase ab. Jetzt lachte er kurz auf, so, als sei ihm ein Witz eingefallen, und sagte noch lächelnd: „Ich glaube, er würde einen riesengroßen Luftsprung durch die Decke machen, wenn er das erfahren würde.“
Beide schwiegen einige Sekunden, bis Henry wieder das Wort ergriff. „Wenn ich nicht zu alt wäre, würde ich dich glatt heiraten und Tommy, wenn er nicht schon volljährig wäre, würde ich adoptieren. Dann wären wir eine Familie.“
Roxy lächelte geschmeichelt und entgegnete: „Wir sind doch eine Familie, eine Familie von Gestrandeten.“
Roxys Gesicht wurde ernster. „Nein, aber Spaß beiseite. Ich habe lieber echte, gute Freunde, anstatt einer Familie. Und ihr beide seid echte, gute Freunde.“
Henry nickte stumm und berührte wieder seine rote Nase. Sie war noch dicker geworden.
Roxy sah flüchtig in Tommys Richtung und redete weiter. „Tommy ist für mich fast wie ein kleiner Bruder. Er braucht ab und zu mal einen kleinen Arschtritt, damit er in die Puschen kommt und sich um seine Sachen kümmert.“
Roxy sah zum Fenster, denn Tommy bewegte sich etwas.
Henry nickte stumm bestätigend und sah ebenfalls zum Fenster.
Tommy saß von ihnen abgewendet mit dem Gesicht zum Fenster. Leise stöhnend rieb er sich mit den Handflächen sein Gesicht. Das Stöhnen konnte man als „Oh, ... Mann“ deuten. Dann vergrub er sein Gesicht in den Handflächen, bis sein Kopf sich leicht nach oben hob, um aus dem Fenster zu sehen. Mit den Ellenbogen auf den Tisch gestützt verharrte er in dieser Haltung nun ungefähr fünf Minuten, während die Handflächen an den Wangen liegend, den Kopf stützen. Seine Augen fixierten einen unsichtbaren Punkt an der Fensterscheibe.
Er schaute nach innen, in sich hinein. Den Imbiss schien er noch nicht wahrzunehmen. Dachte er nach? Vielleicht war er noch im Gestern oder schwamm im elenden Gefühlssumpf seines sinkenden Alkoholspiegels. Vielleicht saß er einfach auch nur lethargisch da und starrte vor sich hin, fünf Minuten lang.
Irgendetwas in ihm holte ihn nach fünf Minuten zurück, zurück in den Imbiss, zurück in dieser Realität.
Ruckartig, mit einem Seufzer auf den Lippen, nahm er die Hände vom Gesicht und drehte sich um.
„Hallo ihr beiden!“, grüßte Tommy heiser, mit versoffener Stimme.
„Hallo, wieder nüchtern?“, grüßte Henry grinsend wieder zurück.
Tommy konnte auf Henrys Frage nicht antworten, denn Roxy ergriff jetzt das Wort.
„Tommy, weißt du noch, was du vor drei Stunden versprochen hast?“
„Natürlich weiß ich das noch. Das war ja auch mein Ernst.“ Jetzt hatte er einen müden, verkaterten Gesichtsausdruck, schien aber klar und nüchtern aussehen zu wollen.
„So natürlich ist das gar nicht!“, konterte sie. „Denn als ich vor meinem Laden das lange Elend fand, war es sternhagelvoll.“ Roxys Stimme wurde jetzt etwas lautstarker. „Ha, ich will meinen Laden aufschließen und wer liegt da? Tommy, voll wie tausend Russen!“ Gespielt vorwurfsvoll und lächelnd schaute sie Tommy an. Ihm war das Geschehnis sichtlich peinlich und räusperte sich verlegen. Er mochte Roxy nicht in die Augen sehen. Er sah aus, wie ein begossener Pudel, bloß nicht so nass. Nervös spielten seine Finger mit dem Reißverschluss seiner schwarzen Lederjacke. Dann gab er sich einen Ruck. Er hörte auf, mit dem Reißverschluss zu spielen und sah Roxy in die Augen. Ernst und ruhig sagte er: „Ja, es tut mir leid. Aber das, was ich vorhin gesagt hatte, tue ich auch. Ich werde nachher zum Arbeitsamt gehen. Wirklich. Ich habe echt keine Lust mehr auf den ganzen Scheiß.“ Tommy meinte es ernst, sein Leben ändern zu wollen. Er wirkte jetzt stolz, stolz, weil er sich vorgenommen hatte, Arbeit zu suchen. Für viele Menschen ist es selbstverständlich, zu arbeiten. Doch für Tommy, der seine Liebe, seine Arbeit und seinen Lebenswillen verlor, war diese Entscheidung etwas Anderes. Es war wie der erste wackelige und tastende Schritt eines Rehkitzes, das Laufen lernen will, und das bei Glatteis. Dieser erste Schritt ist mühsam wie die Geburt selbst. Tommys Lebenswille war wiedergekehrt. Tommy war wiederauferstanden aus dem tiefen Sumpf der Gleichgültigkeit. Das Feuer des Lebens, das durch Schmerz und Alkohol erlosch, loderte wieder. Das warme Licht der Lebensliebe erhellte und vertrieb das Dunkel der Selbstaufgabe, wie die Sonne die Nacht. Es brauchte nur seine Zeit.
„Möchtest du einen neuen Kaffee, Tommy?“, fragte Roxy und stellte vor Henry ein Frühstücksteller mit zwei belegten Brötchen auf den Tisch, neben den Kaffee, den sie schon vorher gebracht hatte.
„Oh, ja, bitte, und kann ich auch zwei Brötchen haben?“ Die Antwort, der von der Antwort zur Frage metamorphisierten Bitte, schon wissend, bestellte er auch gleich. „Einmal Ei und einmal Heringssalat.“ Er richtete den Blick von Henrys Teller auf Roxys fragenden Augen.
„Ja mach ich“, sagte sie nach einem „Danke, Roxy“ von Henry und ging wieder hinter den Tresen um Kaffee einzuschenken. Tommy stand auf und ging zum Telefon, das auf dem Tresen stand. Er kramte in seiner Tasche und fischte fünfzig Pfennig heraus, die im Geldschlitz von dem Telefon verschwand, aber gleich an der Seite wieder heraus kam, weil er den Hörer noch nicht abgehoben hatte. Tommy brummte missbilligend, nahm das Geldstück wieder, hob den Hörer ab und steckte das Geldstück erneut wieder in den Schlitz. Nach einem zweimaligen Knacken, die das Geldstück im Telefon verursachte, wählte er eine Telefonnummer auf den Tasten und wartete. Er musste nicht lange warten, denn nach kurzer Zeit begann er, aufgekratzt zu sprechen.
„Ja, hy, hier ist Tommy. Sag mal, kann ich meine Papiere bei dir aus dem Keller holen? ... Nein, wenn es geht, gleich. ... Nein, ich beeile mich. ... Okay, bin schon los.“ Tommy legte den Hörer auf und sagte im Hinausgehen „Roxy, ich komme gleich wieder.“ Dann war er auch schon draußen.
Roxy sah ihm durch das Schaufenster nach, schüttelte den Kopf, lachte kurz und meinte: „Der hat schon wieder Hummeln im Mors.“
„Wo wohnt er eigentlich?“, fragte Henry.
Roxy, die noch zum Fenster sah, antwortete, ohne vom Fenster wegzusehen. „Weiß ich nicht. Ich glaube, er hat gar keine Wohnung.“ Roxy schaute Henry an, der betroffen nickte. „Ich habe ihn schon mal angeboten, bei mir zu wohnen, aber das wollte er nicht. Er sagte, er wolle mir nicht auf der Tasche liegen.“ Roxy ging an den Tisch, an dem Tommy gesessen hatte, und räumte die Tasse mit dem kalten Kaffee weg. Sie ging wieder hinter den Tresen, kippte den kalten Kaffee in den Ausguss und stellte die leere Tasse in die Spülmaschine. Dann strich sie weiter Margarine auf die Brötchenhälften. Sie hatte noch viel zu tun, denn hier kamen oft Leute vorbei, die Brötchen mitnehmen wollten und es eilig hatten. Deswegen belegte sie die Brötchen auf Vorrat und legte sie auf einem Tablett in den Glaskühltresen, der mit dem anderen Tresen verbunden war.
„Ach, ich rauch mal Eine“, sagte Roxy schließlich und kam mit einer großen Tasse Kaffee, ihren Zigaretten und ein Feuerzeug hinter den Tresen hervor. Sie ging zu Henrys Tisch und stellte ihren Kaffee ab. Dann steckte sie sich eine Zigarette an und sog genüsslich daran. Sie blickte zum Fenster und blies den Rauch wieder aus.
Dann kamen auf einem Mal mehrere Leute in den Imbiss.
„Immer wenn man sich gerade eine angesteckt hat“, sagte sie leise zu Henry und drückte die Zigarette aus. Mit dem Kaffeebecher, dem Feuerzeug und den Zigaretten ging sie wieder hinter den Tresen. Dann bediente sie die Leute. Doch es kamen immer mehr herein. Das Geschäftstreiben hatte begonnen. Nach einer halben Stunde bezahlte Henry die Brötchen und verließ den Laden, um sich eine Zeitung zu kaufen und in dieser zu Hause, eine Arbeit herauszusuchen.

Henry nahm sich sogar gleich zwei Arbeitsstellen, morgens am U-Bahnhof Feldstraße Zeitungen verkaufen und abends putzte er in einem Gymnasium Schulräume. Tommy bekam Arbeitslosengeld und suchte sich eine Wohnung in der Nähe des U-Bahnhofes St. Pauli. Er blühte wieder auf. Im Tierheim Süderstraße kaufte er sich einen Berner Sennhund, den er ‚Ozzy‘ nannte. Henry und Tommy ging es besser. Sie hatten beide ein neues Leben begonnen. Wenn sie sich trafen, war es meistens bei ihrer Roxy oder am U - Bahnhof Feldstraße.

Der Anfang ... vom Ende ... Teil zwei




Henry Braun stand nervös hinter seinen Zeitungsstapeln. Seine gelblichen Zähne nagten an der Unterlippe. Er sah sehr nachdenklich aus. „Rauch ich noch eine oder lieber nicht?“ Seine müden Augen sahen nach unten. Sieben ausgetretene Zigarettenkippen lagen auf dem Boden. Er erschrak und riss dabei die Augen auf. „Sieben Zigarettenkippen! Sieben Zigaretten in zwei Stunden. Henry du rauchst zu viel“, sagte er ermahnend zu sich selbst. Energisch schob er die Roth Händle ohne Filter wieder in die Weichschachtel zurück. Seine Augen starrten auf den leeren Platz vor dem Bahnhof. Hinter dem Platz verlief die Feldstraße. Einige Autos mit anonymen Fahrern fuhren an den Platz vorbei, wahrscheinlich zur Arbeit. Henrys Zunge fuhr über seine Lippen. Er schmeckte deutlich den Geschmack von Nikotin der letzten Zigarette. „Ach scheiß drauf, ich rauch noch eine Zigarette“, sagte Henry erleichtert und fischte sich eine Zigarette mit seinen zitternden Fingern aus der Weichschachtel. Dann steckte er sie sich an und bemerkte sarkastisch wieder zu sich selbst: „An irgendetwas muss man ja sterben.“ So, als ob sein Körper den letzten Satz mitgehört hätte und ihn dafür bestrafen wollte, begann wieder sein allmorgendlicher Raucherhusten. Er bekam kaum noch Luft. Er hustete und hustete. Sein Kopf lief hochrot an. Er krümmte sich hustend und stützte sich auf den Zeitungen. Sein Brustkorb tat jetzt weh. Bei jedem Mal Husten stach es in der Lunge. Es war ein starker Husten mit braunem Auswurf. Es dauerte lange, bis sich der Husten beruhigte, der Hustenanfall abebbte. Doch dann bekam Henry wieder Luft. Es war schön, nach solch einem Anfall wieder Luft zu bekommen. Er atmete mehrmals tief durch und besah sich die glimmende Zigarette, die er noch in der rechten Hand hielt. Vorsichtig sog er wieder an der Zigarette. Der vermutete Hustenreiz blieb aus. Sichtlich erleichtert nahm er noch einen Zug von der Zigarette.
Eine Frau in einem beigefarbenen Trenchcoat rannte hastig, an den Zeitungen vorbei, in den Bahnhof.
Mürrisch blickte Henry ihr nach und atmete den inhalierten Rauch durch die Nase wieder aus.
„Es ist wie verhext, fast kein Mensch kauft heute eine Zeitung. Nein, ich glaube, heute ist nicht mein Tag“, dachte Henry, drehte sich wieder um und sah zur Bäckerei, rechts am Platz. Die Bäckerei war ein flacher Bau kurz vor dem Bahnhof. Einige kleine Tische und Stühle standen davor. Aus der offenen Glastür schlich sich süßlicher Backgeruch heraus. Der Wind hatte sich gedreht, denn vorher roch Henry den Backgeruch noch nicht. Henrys Magen knurrte laut hörbar. Obwohl durch den Geruch Henrys Magen rebellierte, genoss Henry den Duft. Den Duft und die wärmenden Sonnenstrahlen, die auf sein Gesicht schienen. Sie erwärmten sein müdes Gesicht. Er schloss die Augen und atmete den lieblichen Duft durch die Nase ein, ein paar Sekunden lang. Es war herrlich, diesen Duft einzusaugen.
„Eine Morgenpost, aber heute noch, wenn es geht!“, befahl eine junge verärgertscheinende, männliche Stimme. Henrys Gesicht wurde ernst. So einen Befehlston konnte er gar nicht ab. Und schon gar nicht, wenn er ihn aus einem schönen Erlebnis herausriss. Er wollte gerade einen passenden Spruch loslassen, wie: „Einen anderen Ton bitte, sonst können sie ihre Zeitung woanders kaufen.“ Angriffslustig öffnete er die Augen. Als er sah, wem die Stimme gehörte, vergaß er den im Hirn zurechtgelegten Spruch und schimpfte freudig und sehr laut: „Ach du bist das, du blöder Hund, du. Beim nächsten Mal warte, bis ich die Augen wieder aufhabe, sonst muss ich dich leider übers Knie legen.“
„Hab ich dich geweckt?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, fügte Tommy hinzu: „Ich hätte mal in deinem Tiefschlaf die Zeitungen verschwinden lassen sollen.“
„Das wäre gar nicht so schlecht gewesen. Dann könnte ich nämlich endlich frühstückengehen.“ überlegte Henry und fügte barsch hinzu: „Du musst mal deinen hässlichen Zinken in die Luft halten. Dann riechst du nämlich einen wunderbaren Duft.“
Tommy tat es und schnupperte übertrieben wie ein Hund.
„Na, was riechst du?“, fragte Henry, der jetzt ungeduldig wirkte, aber schmunzelte.
„Ich rieche, ich rieche Autoabgase und Hundedreck. Seit wann findest du Autoabgase und Hundedreck wunderbar?“, fragte Tommy lachend. Henry wirkte jetzt etwas ärgerlich.
„Ach, du Arsch. Ich meine einen anderen Geruch, einen viel schöneren.“
Tommy wusste, was für ein Geruch Henry meinte, spielte aber sein humoristisches Spiel belustigt weiter.
„Ach, jetzt weiß ich, was du für einen Geruch meinst. Ich rieche Menschenfleisch.“
„Du bist doch ... . Den Brötchenduft meine ich. Und überhaupt, wo hast du Ozzy gelassen?“
„Ozzy? Den habe ich hinter der Bäckerei angebunden, damit du nicht sehen kannst, wenn ich Brötchen kaufe.“ Jetzt wurde Henrys Gesicht wieder freudiger. „Tommy, du Schweinehund, sag bloß, du hast in der Tüte Brötchen?“, fragte Henry aufgekratzt und zeigte auf die dunkelblaue Plastiktüte, mit der weißen Aufschrift ,Darboven Kaffee‘, die Tommy in der Hand hielt. Tommy schaute in die Tüte, fragte und stellte fest: „Hier drinnen? Oh, ja, tatsächlich. Hier sind Brötchen drin. Und was ist das? Drei belegte Brötchen? Die kann ich aber gar nicht gebrauchen, denn meine Brötchen schmiere ich zu Hause immer selbst. Was mache ich denn jetzt mit den belegten Brötchen? Denn muss ich wohl dir sie geben.“ Henry leckte sich hungrig über die Lippen. „Oder Ozzy.“ Henrys Zunge verschwand. Er sah beleidigt aus.
„Na ja, ich will mal nicht so sein, aber mit Kaffee kann ich dir leider nicht dienen, oder hast du hier eine Kaffeemaschine?“ Tommy legte die Brötchen auf einem mit durchsichtigen Plastik verpackten Zeitungsstapel. Henry schielte auf die Brötchen und sagte begeistert: „Tommy, du bist mein Lieblingszeitungskäufer!“
„Ja, ja, nun fang mal nicht an, zu weinen. Das ist doch nur, weil ich der einzige bin, der dir eine Zeitung abkauft.“
Henry biss genussvoll von einem Ei-Brötchen ab. Es gibt nicht viele, die mit vollem Mund deutlich reden konnten, aber Henry konnte das. „Wie viel Geld bekommst du?“, fragte er, schmatzte etwas und biss noch einmal ab, ohne runterzuschlucken.
„Heute nur eine Morgenpost“, antwortete Tommy, nahm sich eine, und sah dann zu einer Blondine, die plötzlich in seinem Blickfeld aus dem Bahnhof kam.
„Gut, dann bezahle ich dir morgen deine Brötchen“, sagte Henry kauend. Sein Blick folgte Tommys Blick, weil er ihn nicht ansah und etwas Interessantes zu sehen schien.
Die Blonde war an den beiden schon vorbei und ging über den Platz. Sie trug schwarze Pumps, schwarze Perlon-Strumpfhosen mit Naht, einen schwarzen Minirock und ein weißes Jackett, das nur bis zur Hüfte ging. Sie schien es eilig zu haben. Ihre hochhackigen Pumps knickten bei jedem Schritt, den sie machte, leicht zur Außen- oder Innenseite.
„Oft trägt sie die wohl nicht“, dachte Tommy und sah etwas höher, auf die Beine, die jetzt fast die Straße erreicht hatten.
„Huu, sieh dir mal die Beine an, Henry“, sagte er begeistert.
Die Frau hatte die Straße erreicht und wartete an der Ampel. Sie sah zu deren beiden Kolleginnen, den Ampeln in der Mitte auf der Verkehrsinsel und auf der anderen Straßenseite. Ungeduldig wartete sie auf ein Lächeln, auf grünes Licht, das sie hinüberlocken sollte.
Henry nickte und sagte leicht grinsend: „Nicht übel, aber zu jung für mich.“
Tommy drehte sich um und sah Henry lächelnd an und sagte spaßend: „Hey, alter Mann, die ist ja auch für mich.“ Tommy sah jetzt in ein beleidigtes Gesicht, das Henry gehörte.
„Wieso alter Mann? Ich laufe zehnmal um dich herum, bevor du auch nur einmal ‚Scheiße‘ sagen kannst. Pah, ich, und ein alter Mann, dass ich nicht lache.“
Tommy sah auf seine Armbanduhr und sagte feststellend: „Oh, es ist schon Viertel nach zehn.“
Tommy sah zur Bäckerei, so als könne er durch sie hindurch Ozzy sehen.
„Du, Henry, ich muss los. Ozzy wartet und ich habe noch nicht gefrühstückt.“
„Denn hau mal rein, denn du siehst aus, als ob du schon tagelang fastest.“
„Wenn ich fasten würde, dann nur im Winter, dann sind nämlich die Tage kürzer“, witzelte er.
„Tschüs, Henry“, sagte er verabschiedend und mutmaßte: „Wir sehen uns bestimmt nachher bei
Roxy.“ Gleich setzte er hinterher: „Und lass die Brötchen nicht im Freien liegen. Ich würde sie im Magen einsperren. Lass es dir schmecken, Henry. Ciao!“
„Ja, mach ich“, sagte Henry. „Und danke noch mal“, rief er gleich danach halblaut hinter Tommy her, der schon über dem halben Platz gegangen war und dann, ohne sich umzudrehen, die Zeitung kurz hochhielt und so, auf Henrys Rufen reagierend, noch mal zum Abschied grüßte. Deswegen wurde das „für die Brötchen“ wieder leiser.
Henry schaute ihm nach und lächelte zufrieden. Er mochte Tommy sehr gerne, wie man einen guten Freund eben sehr gerne mochte. Als Tommy um die Ecke der Bäckerei herum verschwand, biss Henry wieder von seinem Ei-Brötchen ab. Hätte Henry in die Zukunft sehen können, wäre ihm der Bissen im Halse stecken geblieben.
Doch er wusste nicht, dass er Tommy zum letzten Mal sah, zum letzten Mal lebend sah.

Das Haus am Raakmoor




Tommy schaltete das kleine Radio an, das auf der Fensterbank zwischen dem Toaster und einer kleiner
Yuccapalme stand. Es erklang ein Lied von Sting, das er noch nicht kannte. Es war stark reggaebeeinflusst. Tommy mochte es nicht besonders, obwohl er normalerweise Reggae oder Sting ganz gut fand.
Die Sonnenstrahlen schienen durch das ungeputzte Küchenfenster und ließen es schmierig wirken. Die Strahlen erhellten den gerade gedeckten Frühstückstisch. Es roch nach frischem Kaffee. Die Kaffeemaschine tropfte vor sich hin und auf dem Elektroherd kochte in einem Topf das Wasser mit zwei Eiern darin. Heißer Wasserdampf
stieg in Form einer Säule aus dem Topf empor und breitete sich nach oben hin aus. Tommy sah auf die Armbanduhr. Fünf Minuten waren vorbei. Er stellte den Herd aus, nahm die Eier mit einem Esslöffel aus dem kochenden Wasser und schreckte sie unter dem laufenden Kaltwasserhahn ab. Dann stellte er ein Ei in den gelben Plastikeierbecher, auf den Tisch und legte das zweite daneben. Es rollte in Richtung Tischkante. Doch Tommy stoppte es, indem er den Eierlöffel vor das rollende Ei legte.
„Mist, dass der Kaffee noch nicht fertig ist“, dachte Tommy etwas ungeduldig.
Eine nette sympathische Frauenstimme im Radio sagte den Titel des nächsten Liedes an. Sebastian von
Far Corporation. Die Folge war, dass Tommy ein lautes „Oh!“ ausstieß, denn das Lied war nämlich im Moment sein Lieblingslied. Tommy setzte sich auf den weißen Korbstuhl, der zwischen Kühlschrank und dem Küchentisch an der Wand stand. Beim Hinsetzen knirschte und knackte der Korbstuhl. Er hörte damit erst auf, als Tommy ganz ruhig saß. Übervorsichtig, damit der Korbstuhl nicht knisterte und er das Lied weitgehend ungestört hören konnte, beugte er sich vor und nahm eine Zigarette aus der rotgoldenen ‚Pall Mall de Luxe‘ Schachtel, die auf dem Tisch lag. Er wollte die Zigarette gerade mit einem hellblauen Einwegfeuerzeug anstecken, indem er das kleine Rädchen mit dem Daumen drehte und dabei den roten Gashebel herunterdrückte. Eine Stichflamme schoss aus dem Feuerzeug und versengte ihm Augenbrauen und Haare, die ihm die Stirn verdeckten. Erschrocken ließ er das Feuerzeug los und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Es waren nicht viele versengt. Es stank nur penetrant. Mit einem Seufzer hob er das Feuerzeug vom Boden wieder auf und stellte die Flamme kleiner. Dann steckte er sich die Zigarette an und legte das Feuerzeug auf den Tisch. Er sah zur Kaffeemaschine. „Immer noch nicht fertig. Scheiß Maschine“, dachte Tommy, noch etwas gereizt. Doch er beruhigte sich sehr schnell durch die Musik aus dem Radio. Er lehnte sich in den Korbstuhl zurück, der wieder knisterte. Doch das störte Tommy nicht. Genüsslich sog er wieder an seiner Zigarette. Er saß jetzt fast wie ein König auf seinem Thron, gemütlich, die Beine vor sich unter den Küchentisch gestreckt. Tommy öffnete den Mund und formte mit dem Lippen einen Kreis, sodass der Rauch beim stoßweiseartigen Ausatmen in Form eines Ringes aus seinem Mund schwebte. Am Ende des Tisches stieß der Ring gegen das Orangenmarmeladenglas und zerriss. Der zweite Ring, der aus Tommy Mund schwebte, flog über das Glas hinweg und zerriss erst, als er gegen den gegenüberstehenden Korbstuhl flog. Den Rest Rauch atmete Tommy normal durch den Mund aus. Er lauschte jetzt dem Lied und sang leise, so gut er den Text konnte, mit. Nur ab und zu störte das gequälte Röcheln der verkalkten Kaffeemaschine, die die letzten Wassertropfen mit viel Dampf in den Filter spritzen ließ. Tommy stand auf und stellte das Radio lauter. Er sah aus dem Fenster, die Zigarette noch in der rechten Hand. Tommy summte jetzt das Lied und nickte gedankenverloren, in der Musik versenkt, leicht mit dem Kopf zum Rhythmus.
Da der Ausblick des Fensters nicht zur Straße, sondern nach hinten auf den Hof ging, konnte er nichts Besonderes sehen, außer den verdreckten Hof, übervolle Mülleimer und Frau Lybzinsky, Tommys Nachbarin. Sie saß auf der alten Holzbank, die sich bedrohlich unter den Massen ihrer jahrelangen Fresssucht durchbog und fast zusammenbrach. Sie las intensiv in einem Arztroman, den man an jedem x-beliebigen Bahnhofskiosk kaufen konnte.
Auf der Titelseite konnte Tommy einen lächelnden Arzt mit Hornbrille und weißem Kittel erkennen. Neben dem Arzt war ein kleines Mädchen mit zwei geflochtenen Zöpfen abgebildet. Tommy glaubte, Sommersprossen zu erkennen. Das Mädchen hielt einen Teddybären in ihrer Hand und sah zufrieden aus. Plötzlich brach im Radio das Lied ab. Entgeistert sah Tommy auf das Radio.
„Ausgerechnet bei dem Lied. Es ist bestimmt wieder das blöde Verkehrsstudio mit einer noch blöderen Ansage
wie: ‚Wir unterbrechen unser Programm wegen eines Beitrages aus dem Verkehrsstudio. Der Stau auf der A 7 hat sich gelegt. Die A 7 ist wieder in beiden Richtungen frei befahrbar.‘ Nur weil Tausende zur Ostsee fahren, kann ich mein Lied nicht zu Ende hören. Scheiß Schulferien.“
Doch Tommy irrte mit seiner Mutmaßung.
„Wir unterbrechen unser Programm wegen einer polizeilichen Suchmeldung.“ sang fast die nette sympathische Frauenstimme. Ihr folgte eine ernste Männerstimme.
„Liebe Hörer, seit gestern Abend, zwanzig Uhr, wird die zwanzigjährige Daniela Balier vermisst. Vermutlich wurde sie zuletzt um dreiundzwanzig Uhr an der Autobahnraststätte Hohlmoor gesehen. Augenzeugen berichteten, dass sie in einen grünen Opel-Kadett, unbekannten Baujahres, stieg. Wer Daniela gesehen, beziehungsweise mit dem Auto mitgenommen hat, damit gemeint ist auch der Fahrer des grünen Kadetts, wird gebeten, sich mit der Polizei Hamburg in Verbindung zu setzen. Daniela war bekleidet mit einer modischen, zerschlissenen, hellblauen Jeanshose, hellbraunen Wildlederstiefeln mit Fransen und flachen Absätzen. Unter ihrer ebenfalls hellbraunen Wildlederjacke mit Fransen trug sie ein weißes T-Shirt. Daniela hat hellblaue Augen, hellblonde, lange Haare und ist einen Meter fünfundsiebzig groß. Sie ist schlank und hat eine auffallende, gerade Körperhaltung. Hinweise nimmt jede örtliche Polizeidienstelle entgegen. Die Polizei Hamburg schließt nicht aus, dass es sich hierbei um ein Verbrechen handelt.“
Nach einer kurzen Pause ertönte wieder die Frauenstimme. Sie wirkte etwas abwesend und betroffen.
„Es ist jetzt genau neun Uhr fünfundvierzig. Wir machen weiter mit Musik.“ Paul Anka fing an sein ‚Freedom for a World’ zu singen. Doch Tommy hörte es kaum. Er musste noch an die monotone Männerstimme der Suchmeldung denken. Er hasste solche Suchmeldungen. Oder treffender gesagt, Männer, die sich an unschuldigen Mädchen und Frauen vergreifen, sie vergewaltigen, bestialisch misshandeln und oft tot, irgendwo versteckt, zurücklassen, so als wären sie Dreck. Nur ihrem Sexualtrieb, oder ihrer Wahnvorstellung folgend, ohne Achtung vor Leben, das sie zerstören. Sie sind schlimmer als wilde Tiere. Kein wildes Tier tötet nur zur Befriedigung. Kein Tier misshandelt, schlägt, würgt oder vergewaltigt. Nein, es sind Viren, Schöpfungen unserer Zivilisation in unserer Zivilisation. Fehlgeprägte und deshalb fehlgeleitete Hirne, die glauben nicht anders zu können, die meist abnormale, oft ähnliche Erlebnisse in der Kindheit hatten und keine andere Prägung, als die ihre, für richtig halten. Eine andere Prägung kommt ihnen erst gar nicht in den Sinn. Sie können ihre Gefühle nicht beherrschen. Sie können ihren Verstand nicht beherrschen. Wie die meisten der normalen Menschen. Es gibt Psychiater, die sie nach Spritzen, Tablettenkuren, Therapien, Sterilisationen oder Kastrationen wieder in die Öffentlichkeit laufen lassen. Doch Medikamente helfen kaum. Und Sterilisationen und Kastrationen helfen erst recht nicht bei einem fehlgeprägten Hirn. Die Körperteile sind nicht krank. Diese Lehrbuchstümper, die sich fast für alleswissende Götter halten, sind mitschuldig. Mitschuldig mit ihrem Dilettantismus und ihrer Verantwortungslosigkeit, der anderen Menschen Leid und das Leben kostet. Auch sie verlassen sich auf ihrer unvollkommenen, verstaubten Schulprägung. Helfen könnte man nur, wenn man jeden Tag und jede Nacht monatelang, jahrelang den Patienten versucht, zu verstehen, auf ihn einwirkt und ihn neu prägt. Das geht aber nur, wenn er sich bedingungslos öffnet, was wohl nie der Fall sein wird. Auch müsste es so viele Ärzte, wie Patienten geben. Es gibt keine Mittel dagegen, glaube ich, deshalb morden und vergewaltigen sie weiter. Todesstrafe wäre eine, für die Allgemeinheit, sichere Lösung für die Sicherheit. Doch dann töten wir auch, für den Idealismus, fürs Gesetz. Nein, sie müssen von der normalen Welt ferngehalten werden, denn sie leben in ihrer Welt. Sie müssen eingesperrt werden. Wenn es sein muss, bis an ihr Lebensende, sollte die Umprägung nicht möglich sein.
Das waren Tommy Gedanken. Ihm lief es eiskalt den Rücken hinunter. Er bekam eine Gänsehaut. Früher hätte er gesagt: „Die Typen gehören mit den Hoden an dem Baum genagelt“, oder: „Dieses Schwein müsste man mit den Füßen an die Decke binden, sodass er über Kopf im Raum hängt. Dann müsste man die Partner, die Eltern oder die Verwandten des Opfers in den Raum lassen und hinter ihnen die Tür abschließen. In den Raum wäre nur ein Tisch mit Instrumenten wie eine mehrschwänzige Peitsche, die an den Enden Bleikugeln hat, Rasierklingen, Messer, Skalpelle, Baseballschläger, Elektroschocker, Fleischerhaken, Astscheren, Bolzenschneider und was es sonst noch so alles gibt, wenn die Hände nicht reichen sollten oder man sie sich nicht schmutzig machen will. Auf Wunsch könnte man ja vorher den Mund zukleben oder die Stimmbänder durchschneiden, wegen der Schreie und des Heulens. Dann hat man dabei seine Ruhe.“ Heute dachte Tommy anders. Er wusste, dass solche Menschen krank sind, wenn Falschprägung eine Krankheit ist. Doch er konnte ihre Taten nicht billigen. Er konnte sie nicht begreifen, so weit war er noch nicht. Für Tommy waren Frauen Göttliches und schöne Frauen Kunstwerke der Natur. Er verehrte sie, bewunderte sie, liebte sie. Tommys vorherige Laune war wie weggeblasen. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Sein Speichel hatte einen merkwürdigen Geschmack und war dickflüssig, weil der Speichel sich mit Blut vermischt hatte, als er sich vorher unbewusst auf die Lippen gebissen hatte. Er drehte sich vom Fenster weg und sah zur Kaffeemaschine. Der Kaffee war fertig. Tommy nahm den Kaffeefilter von der Kanne und stellte ihn in das Abwaschbecken. Er lauschte wieder der Musik, um auf andere Gedanken zu kommen. Nebenbei schenkte er sich in einer großen Tasse Kaffee ein. Der Kaffeepott trug die Aufschrift: I like coffee. Darunter war ein kleines rotes Herz abgebildet. Tommy stellte die Kanne auf die Warmhalteplatte der Kaffeemaschine. Fünf gehäufte Teelöffel Zucker gaben dem Kaffee den richtigen Geschmack. Ein langer Strahl Kondensmilch färbte den Kaffee fast hellbraun. „Genauso braun war bestimmt die Wildlederjacke von dieser Daniela. Scheiße, du musst an etwas anderes denken“, dachte Tommy. Er rührte den Kaffee lange um, während er versuchte, sich auf die Musik zu konzentrieren. Als er das Rühren beendet hatte, nahm er mit gespitzten Lippen einen vorsichtigen Schluck. „Mmpphhff, ist der heiß“, stieß Tommy hervor.
Er pustete ein paar Mal in den Kaffee, um ihn so etwas abzukühlen. Er wollte gerade noch einen Schluck nehmen, als es klingelte. Die Haustürglocke schien fast zu schreien. Tommy wollte losgehen, um die Haustür zu öffnen. Aber er schaffte nur einen halben Schritt nach vorne, denn sein Fuß stieß gegen ein Hindernis. Er stolperte über Ozzy, der vor seinen Füßen lag. Er verlor sein Gleichgewicht und fiel mit einem lauten „Aaah!“ der Länge nach auf dem Küchenboden. Das ergab ein klatschendes Geräusch. Die Kaffeetasse landete einige Zentimeter klirrend neben seinem Kopf, blieb aber heil. Tommy drehte sich um und starrte entsetzt an die Zimmerdecke.
„Oh nein“, stöhnte er.
Ein großer Kaffeefleck schien ihn hämisch anzugrinsen. Der Fleck verlor Tropfen für Tropfen, die auf Tommys Gesicht aufklatschten. „Patsch, Patsch, Patsch.“
Ozzy, der sich bei dem Sturz seines Herrchens unter den Küchentisch verzogen hatte, kam jetzt schwanzwedelnd hervor und leckte das nasse Gesicht ab, so, als wolle er sich entschuldigen.
„Ist ja gut, Ozzy, du kannst ja nichts dafür“, sagte Tommy und schob Ozzys leckenden Kopf zur Seite.
Die Klingel kreischte wieder, doch diesmal länger und ungeduldiger.
„Ja doch, ich komme ja schon!“, schrie Tommy und stand hastig auf. Beinahe wäre er auf dem nassen Kaffeefleck, der sich auf dem Küchenboden befand, ausgerutscht und wieder hingefallen. Doch diesmal konnte er sich an der Klinke, der offenen Küchentür festhalten. Aber er stieß mit der Stirn gegen die Türkante.
„Scheiße!“, schrie Tommy und trat wütend gegen die Tür, die krachend ins Schloß fiel. Durch den Tritt hatte er sich etwas abreagiert und rieb sich nun die schmerzende Stirn. Dann fiel ihm wieder ein, dass es geklingelt hatte. Er öffnete die Küchentür, ging schnell in den Flur und öffnete die Haustür. Ozzy trottete hinterher. Als Tommy sah, wer geklingelt hatte, vergaß er das Vorhergewesene. Es war Marcel Dessange. Ozzy begrüßte ihn als erster, natürlich auf seiner Art mit Schwanzwedeln, Anspringen und wildem Lecken. Marcel klopfte ihm auf die Seite und zog sein Kopf weg von Ozzys herumwirbelnder, nasser Zunge. „Ist ja gut, Ozzy. Aus, Ozzy!“, schrie Tommy und zeigte mit der linken Hand auf die Wohnzimmertür. „Geh ins Wohnzimmer, ab!“ Beleidigt trottete Ozzy widerwillig in das ihm gezeigte Zimmer.
„Guten Morgen! Ist ja merkwürdig, wen man hier alles im Aufzug trifft“, zog Marcel sofort danach Tommy auf.
„Aufzug? Putz dir die Füße ab, wenn du meine Villa betreten willst“, entgegnete Tommy Marcels Aufzug, ebenfalls spaßend, und ging wieder in die Küche. Marcel schloss die Haustür hinter sich, blieb aber im Flur stehen. „Wo ist denn hier die Toilette?“, fragte er und verlagerte sein Gewicht auf das rechte Bein. Unbeobachtet kniff er die Beine zusammen. Er musste mal dringend auf die Toilette, äußerst dringend.
„Toilette? Scheiße, ich habe doch gewusst, dass irgendetwas in diesem scheiß Loch fehlt“, hörte er Tommy aus der Küche rufen. Marcel wurde nervöser. Entnervt griff er sich mit der rechten Hand zwischen seinen Beinen und versuchte, den Druck in der Blase zu lindern, indem er hastig knetete. Nun wurde es langsam eilig, auf die Toilette zu kommen. „Nun sag schon, sonst mach ich in deinem Flur einen großen See!“
„Gleich die Tür neben der Haustür, die mit dem angeklebten Marilyn Monroe Spiegelbild“, antwortete Tommy und hörte auch schon die genannte Tür laut ins Schloss fallen. „Piss aber nicht daneben oder setz dich gleich hin. Das Klo ist sauber“, schrie er, der keine Lust hatte, fremden Urin wegzuwischen.
„Ja, ja“, kam es kurz genervt von dem Mitsichselbstbeschäftigten zurück. Tommy musste grinsen. Aber schnell verzog er seine Miene, als er die Kaffeeflecken an der Decke und auf dem Fußboden sah. Er nahm schnell einen Lappen aus der Spüle und wischte den Fleck vom Boden. In einem hohen Bogen flog der Lappen wieder zurück in die Spüle. Der Korbsessel knirschte wieder, als Tommy sich hinsetzte. Es dauerte nicht lange, und die Toilettenspülung donnerte brausend los. Marcel kam in die Küche mit einem sehr zufriedenen Gesichtsausdruck.
„Mann, das war Rettung in letzter Not. Ein paar Sekunden länger und es hätte eine Sintflut gegeben. Was ist denn mit deiner Klospülung? Die ist ja monsterlaut. Ich habe gedacht, die explodiert gleich“, übertrieb Marcel und fügte gleich noch eine Frage hinzu. „Was hast du denn mit Marilyn Monroe gemacht? Die hat ja lauter Falten.“ „Das Bild hing vorher mal an der Wand, bis es meine Ex-Freundin mal zerschmiss. Wahrscheinlich, weil das Bild schöner war als sie. Ich wollte die Scherben nicht wegschmeißen. Also klebte ich sie, mit einem kleinen Abstand zueinander, an die Tür, wie ein Mosaik“, erzählte Tommy.
„Sieht echt nicht schlecht aus“, sagte Marcel anerkennend und schielte dabei mit einem Seitenblick zur Kaffeekanne. Tommy bemerkte diesen Blick und sagte scherzend: „Zu fragen, ob du einen Kaffee möchtest, brauch ich wohl nicht. Ich glaube, du hast den Kaffee schon bei dir zu Hause gerochen.“
„Richtig, ich habe im Schlaf mit deinem Kaffee telepathiert. Seine Gedanken riefen mich. ‚Marcel, Marcel, aufstehen. Die Aktion Weiterschlafen ist beendet. Komm her und genieße mich.’ Der Kaffee verriet mir dann deine neue Adresse, und hoppla, hier bin ich.“ Schmunzelnd ließ Marcel sich auf den anderen Korbsessel nieder und steckte sich danach eine Marlboro an.
Tommy, der in einer Tasse mit der Aufschrift ‚Morgenmuffel’ Kaffee eingeschenkt hatte, stellte diese vor Marcel auf den Tisch. „Hier.“
„Wie spät ist es eigentlich?“, fragte Marcel.
„Wenn es stimmt, dass Zeit Geld ist, dann ist es jetzt genau neun Mark und sechsundvierzig Pfennig“, entgegnete Tommy grinsend. Auch Marcel grinste, während er drei Teelöffel voll Zucker in seinem Kaffee verschwinden ließ, natürlich ohne den Löffel. Dann folgte ein Schuss Kondensmilch. Sorgfältig rührte er um und nahm vorsichtig einen Schluck Kaffee. „Oh, Mann, ist der heiß“, sagte Marcel überrascht. Tommy, der sich wieder einen Kaffee eingeschenkt hatte, entgegnete: „Tut mir leid, aber ich habe keine Eiswürfel mehr.“ Dann setzte er sich wieder auf seinen Korbstuhl. „Wenn du auch ein Brötchen möchtest, musst du dir ein Messer aus der Schieblade holen“, sagte Tommy und griff nach einem Brötchen aus dem Brotkorb. Sorgfältig schnitt er es über dem Korb auf, damit keine Brötchenkrümel auf den Tisch fielen.
„Nein danke, ich habe schon im Schach-Café, in Altona gefrühstückt“, sagte Marcel und sog nachdenklich an seiner Zigarette. Tommy strich sich Butter und Orangenmarmelade auf die obere Hälfte des aufgeschnittenen Brötchens und biss genussvoll ab. Kauend sah er Marcel an. Dieser sah gedankenverloren zum Fenster, bis er Tommys Blick bemerkte. Dann fing er an zu reden. Er kam endlich zur Sache. Tommy kannte Marcel schon lange genug, um zu wissen, dass er irgendetwas von ihm wollte. Neugierig, und immer noch kauend, sah er Marcel an. „Nicht, dass du denkst, ich wäre schwul, oder so etwas.“ Marcel wurde nervöser und schaute seine Zigarette an. „Ich wollte dich nämlich fragen, ob du zu mir ziehst.“
Tommy hörte auf zu kauen. Darauf war er nicht gefasst. Mit halboffenen Mund hörte er Marcel weiter zu.
„Ich habe von meinem Großvater ein großes Haus geerbt und will da nicht alleine wohnen.“
Hastig drückte Marcel seine fast noch ganze Zigarette in den Aschenbecher aus und nahm einen großen Schluck aus der Tasse, soweit es möglich war bei dem heißen Kaffee, so als hätte er zwei Tage lang nichts mehr getrunken. Wahrscheinlich war sein Hals genauso trocken. Er sah Tommy an, der noch sprachlos war und jetzt langsam das abgebissene Brötchenstück hinunterschluckte.
„Nicht, dass du denkst, ich habe Angst. Ich habe nur, ... ich habe einfach keine Lust, alleine in einem so großen Haus zu wohnen. Es wäre mir zu langweilig. Also, was hältst du davon? Du brauchst auch nur die halbe Telefon- und die halbe Stromrechnung zu bezahlen. Das ist alles. Viel billiger als dieses Loch. Es ist einfach gesagt hundertmal geiler als hier.“
Als Marcel endete, sah er Tommy fragend an. Tommy legte das angebissene Brötchen aus der Hand, stand wortlos auf und ging zum Fenster. Aus dem Fenster sehend, stand er nun mit den Rücken zu Marcel. Ohne sich umzudrehen, fragte er dann: „Wo ist denn das Haus?“
„Ich glaube das Grundstück gehört noch zu Hamburg Langenhorn. Ich habe mir das Haus gestern Abend noch angesehen. Es ist tierisch groß und hat höllisch viele Zimmer. Es hat einen monstergroßen Garten und dahinter ist gleich ein Wald. Stell dir mal vor, du hörst keine nervigen Nachbarn, keine nervigen Türkenmelodien, wie die im Treppenhaus eben, kein Kinder- und Babygeschrei und keinen Straßenlärm. Du siehst keine dreckigen Hinterhöfe und ... . Stell dir mal vor, als ich gestern in dem Haus das Fenster öffnete, hörte ich richtiges Vogelgezwitscher. Ja okay, ein bisschen müssen wir da natürlich noch machen, saubermachen und so. Aber die Hälfte der Zimmer gehört dir. Und für deinen Hund ist es doch auch besser. Ich glaube, er dreht ab, wenn er den Wald sieht. Er bekommt einen Krampf im Bein, wenn er die vielen Bäume begießen will. Sogar ich wurde im Kopf ganz wischig, als ich die vielen Bäume sah. Mann, in einem Zimmer können wir einen Poolbillardtisch hinstellen und vielleicht sogar eine kleine Bar einrichten. Huuu, das Haus ist irre. Ich glaube, ... . Hey, du kannst dort auch in Ruhe schreiben. Du schreibst doch noch, oder?“
Marcels Redeschwall, der dem eines Autoverkäufers glich, ebbte mit dieser Frage ruckartig ab.
Tommy nickte, immer noch aus dem Fenster sehend.
„Ja, aber nur noch selten. Mir fehlt hier die Ruhe und meine Musik“, antwortete Tommy genervt dreinblickend.
„Was meinst du mit ‘meine Musik’?“, fragte Marcel.
Tommy drehte sich von dem Fenster weg und ließ sich lustlos auf den Korbstuhl fallen.
„Ach, ich Arschloch habe meine ganze Plattensammlung jemanden als Pfand gegeben, der sie dann verkauft hatte. Und jetzt sind alle Platten weg. Verstehst du? Ohne Musik bin ich nur ein halber Mensch. Bei den Platten war alles dabei, fast jede Musikrichtung, eben einfach alles.“ Resigniert steckte Tommy sich eine Zigarette an und erzählte weiter. „Einige Lieder erinnern mich an Geschehnisse, gute und schlechte, ja, fast wie Erinnerungsfotos. Einige Lieder machen mir gute Laune, andere machen mich eher melancholisch. Sie versetzen mich einfach in jede Stimmung, und ich Arsch habe sie nicht mehr.“
Tommy sah Marcel an und lächelte verlegen. Genauso verlegen nahm er ein Zug von der Zigarette und ließ beim Reden den Rauch mit hinaus. „Aber was solls. Ich jammere dir hier die Ohren dick. Lass uns lieber über das Haus reden. Aber vorher“, sagte Tommy, stand, sich mit den Händen auf den Tisch stützend, auf und sprach, den Satz beendend: „gehe ich noch einmal auf die Toilette.“ Er ging aus der Küche. Marcel trank den Kaffee aus seiner Tasse und schenkte sich einen neuen ein. Im Radio erklang ein Lied von Yello. Es hieß ‚The Race’. Marcel wunderte sich, dass er das Radio vorher akustisch nicht bewusst wahrgenommen hatte. Er wollte sich gerade Dosenmilch in den Kaffee gießen, als das Telefon in einem anderen Zimmer, wahrscheinlich im Wohnzimmer, klingelte. Tommy schrie aus dem Badezimmer: „Geh mal bitte rann! Wenn es Gabi, meine Ex-Freundin, ist, sage ihr, ich bin nicht da. Sie soll in einem Jahr noch mal anrufen.“ „Mach ich!“, schrie er zurück und folgte dem Klingeln. Ja, es war im Wohnzimmer. Er nahm den Hörer von der Gabel. „Hier bei Hervik.“
Am anderen Ende der Leitung redete eine Frauenstimme, die Marcel nicht kannte.
„Ja, hier ist Roxy. Ist Tommy nicht da?“
„Doch, bitte warten Sie einen Moment, Tommy kommt gleich.“
Als die Frauenstimme „Ja, ist gut“ sagte, legte Marcel den Hörer neben die Gabel und ging zur Toilettentür.
„Es ist ein Huhn. Roxy heißt sie, glaube ich.“
„Roxy? Oh, ja, ich komme gleich.“
Marcel ging wieder in die Küche und setzte sich hin. Im Badezimmer explodierte wieder die Toilettenspülung. Kurz darauf hörte er die Toilettentür aufgehen und Tommy sagen: „Ja, hallo? ... Roxy, wie geht es dir? ... Was? ... Ja, ich weiß, dass man ‚Wie bitte‘ sagt. ... Nein, wieso soll ich mich denn hinsetzen? ... Ja. ... Ja, echt? ... Was hast du? ... Das gibt es doch nicht. Nein. ... Nein. ... Ich glaub, ich spinne!“
Tommy hörte sich jetzt sehr aufgeregt an. Freudenschreie kamen aus dem Wohnzimmer.
„Wuuuuh! ... Ey, Mann, ich tille. ... Ich brech ins Essen. Ich könnte dich küssen!“
Marcel schaute fassungslos zur Küchentür und lauschte neugierig, was ihm bei Tommys Stimmenlautstärke nicht schwerfiel. „Roxy, wo bist du denn jetzt, bei der dicken Bertha? Bei dir zu Hause? ... Gut, dann komme ich gleich vorbei. ... Ja, natürlich habe ich Geld. Hast du schon mal erlebt, dass ich kein Geld hatte? ... Na ja, sagen wir meistens, oft, manchmal, selten, nie. ... Ja, ich komme gleich vorbei, mit Geld. ... Ja, okay, bis gleich. Tschüs. ... Tschüs tschüs. Ach, Roxy, danke, ich ... Roxy?“
Roxy hatte schon aufgelegt. Tommy kam tanzend in die Küche herein.
„Wuuuh! Weißt du, wer meine Platten hat?“, fragte Tommy euphorisch.
„Diese Roxy?“
„Ja, richtig. Mann, ich glaub, ... Mann.“
Es dauerte Minuten, bis Tommy sich etwas beruhigt hatte. Marcel freute sich mit ihm. So aufgekratzt hatte er ihn schon lange nicht mehr gesehen. Tommy sah aus, als hätte er ein paar Millionen D-Mark im Lotto gewonnen.
„Ich glaube, heute ist mein Glückstag. Ha, Freitag der Dreizehnte, mein Glückstag.“
Euphorisch berauscht schritt Tommy in der Küche hin und her und schien, mit der Endorphinausschüttung in seinem Hirn nicht klarzukommen. Er konnte sich einfach vor Glück scheinbar nicht mehr einkriegen. „Marcel? Äh ...“ „Ja, wir können die Platten abholen“, unterbrach Marcel den Nachworteringenden.
„Ey, das ist echt geil, das ist ... . Dann können wir ja gleich losfahren, oder?“ Tommy zappelte hin und her wie ein Übernervöser. Sein fragendes Gesicht sah im Moment nicht gerade intelligent aus. Das war der Grund, warum Marcel grinsen musste. „Klar, wohin?“, sagte er, das Lachen sich verkneifend.
„Erst mal zu Roxy und dann zu dem Haus, unserem Haus vielleicht. Mal ankucken, den Schuppen.“
„Klar Mann. Wenn du willst, können wir gleich los“, stieß Marcel freudig aus, das Ziel seines Anliegens näherrückendsehend. Tommy ging aus der Küche. Marcel stand auf und folgte ihm. Doch beinahe wäre er gegen Tommy gelaufen, weil dieser ruckartig stehenblieb und sich umdrehte. Sie standen jetzt dicht an dicht, Nase an Nase, und sahen sich in die Augen.
„Ozzy können wir doch gleich mitnehmen, oder?“
„Natürlich. Aber warte mal, ich mach noch eben deine Kaffeemaschine und dein Radio aus“, sagte Marcel, wobei er ‚deine‘ und ‚dein‘ stark betonte. Er ging in die Küche zurück und schaltete die Geräte aus, während Tommy nach Ozzy rief. „Ozzy! Oooozyyyy! Come on, ausgehn!“
Wie immer mit dem Schwanz wedelnd, kam Ozzy aus dem Wohnzimmer gelaufen.
„Komm Ozzy, wir fahren in ein neues Leben.“ Tommy öffnete die Haustür. Ozzy sprang an ihm vorbei mit einem großen Satz. Auch Tommy begab sich nach draußen. Marcel blieb an der Tür stehen und fragte: „Hast du den Schlüssel?“ Nach dem „Ja, hab ich.“ zog Marcel die Haustür von außen ins Schloss.
In der Wohnung war es jetzt still, nur aus der Küche kam das monotone Ticken der Küchenuhr. Und von der oberen Wohnung drang ein türkisches Lied durch die Decke, interpretiert von einer wunderschönen, weiblichen Stimme.

„Was ist denn das für eine miese Bagalutengegend? Hier möchte ich noch nicht mal tot übern Zaun häng. Da muss man ja Angst haben, dass dir die Kapeiken die letzten Klamotten vom Leibe reißen und dich nackend übern Zaun hängen lassen. Wieso wohnt diese Roxy denn hier im Betonwald? Ein Hochhaus neben dem anderen und überall Ausländer“, schimpfte Marcel und schüttelte fassungslos seinen Kopf. Er hatte eigentlich nichts gegen Ausländer, aber alleine, nur von Ausländern umgeben, wie in einem Ghetto, würde er nicht wohnen wollen, er war anderes gewohnt.
Tommy mochte die Gegend auch nicht, denn Hochhäuser haben ihn noch nie begeistert. Deswegen erwiderte er: „Schade, dass Beton nicht brennt. ... Da vorne ist es. Mümmelmannsberg. Ha, Hasensberg, dass ich nicht lache. Betonberg würde besser passen. Hier sehe ich keine Hasen. ... Doch da. Guck dir die geile Sau an, Beine bis zum Boden!“ „Wow, auf die Matratze hätte ich auch Bock drauf“, begeisterte Marcel sich, sah dann aber wieder nach vorn auf die Straße. Auch Tommy sah wieder nach vorn.
„Da vorne ist es“, sagte Tommy und zeigte nach rechts, wo Roxy im Erdgeschoss des Hochhauses schon ungeduldig auf dem Balkon stand. Marcel hielt den Wagen an. Beide stiegen aus und gingen über den mit Hundekot übersäten Rasen zum Balkon.
„Ihr kommt aber spät. Ich muss gleich wieder ins Geschäft!“, rief Roxy den beiden entgegen.
„Entschuldigung, aber wir mussten noch eine Bank überfallen“, log Tommy scherzend, der vorher von seinem Konto Geld abgehoben hatte, und wedelte mit ein paar blauen Hundertmarkscheinen in der Luft.
„Ich habe die Platten schon auf dem Balkon stehen. Ich brauche sie nur noch rüberzureichen.“
Tommy gab ihr das Geld und sagte: „Danke noch mal, Roxy. Langt das Geld für die Platten?“
„Du bekommst sogar noch fünfzig Mark wieder zurück“, sagte sie und gab Tommy einen Stapel mit ungefähr fünfzig Schallplatten.
„Die fünfzig Mark sind für Blumen. Ich hatte keine Zeit mehr, welche zu holen“, log, einen Dandy mimend, Tommy, der glaubte, dass Roxy sich dafür keine Blumen holen würde, weil sie täglich nur wenige Stunden in ihrer Wohnung aufhielt. Er nahm den Stapel Schallplatten und ging in Richtung des Autos. Roxy wusste, dass es keinen Zweck hätte, zu versuchen, die fünfzig Mark Tommy wiederzugeben. Was er einmal ernsthaft jemanden als Dank schenkte, nahm er auch nicht wieder zurück. Sie gab Marcel mit einem kurzen „Hallo“ einen zweiten Stapel Platten. Prompt kam ein „Hy!“ wieder zurück. „Hallo, hallo! Bagger die Frau da nicht an!“, schrie Tommy, der sich vom Auto auf dem Rückweg befand, wieder scherzend. Marcel drehte sich um, ging los, rief: „Zu spät! Morgen heiraten wir“, und grinste. Roxy lachte. „Ist dein Freund blind?“, flachste sie, ihre gereifte Schönheit unterschätzend und gab Tommy wieder eine Menge Schallplatten, der scherzend einen draufsetzte. „Nein, der will jede heiraten. Gestern haben sie ihn wieder beim Fensterln im Altersheim erwischt.“ Roxy lachte von neuem.
Tommy ging wieder zum Auto. Als Marcel aufs neue Platten annahm, lächelte er nur etwas verlegen, weil er nur das Lachen gehört hatte und weil ihm kein Spruch einfiel, was selten geschah. Marcel und Tommy gingen insgesamt jeder viermal zum Balkon und tänzelten dabei um die Hundekothaufen herum.
„So, das sind alle gewesen. Ich muss jetzt los, ins Geschäft.“ sagte Roxy und sah auf ihre Armbanduhr, als Tommy zum fünften Male am Balkon war. „Danke Roxy. Das werde ich dir nie vergessen.“
„Ja ja, pass lieber auf, dass du nicht in Hundescheiße trittst“, sagte Roxy scherzhaft abfällig und schloss die Balkontür. Sie winkte noch einmal kurz und zog dann mit einem Ruck die Gardinen zu. Marcel, der dazugekommen war, sowie Tommy drehten sich um und gingen in Richtung Auto.
„Wenn das keine Freundin ist“, sprach Tommy begeistert und wollte noch etwas hinzufügen, doch er stockte. Er spürte plötzlich etwas Weiches unter seinem linken Nike-Turnschuh.
„Scheiße! Äääh! ... Die ganze Zeit pass ich auf, dass ich nirgends reintrete, und dann? Hier nimm mal die Platten“, pöbelte Tommy, drückte den lachenden Marcel die Platten in die Hände, hob sein linkes Bein und sah sich die stinkende Bescherung an.
„Scheiße!“, fluchte Tommy wieder.
„Richtig, Mann! Das ist Scheiße. Wie hast du das erraten? Ha ha ha...“ Marcel lachte laut los, bis er nicht mehr konnte vor Lachen. Er lachte sich halb tot und hörte erst auf, als sie am Auto waren. Tommy humpelte die ganze Zeit und zog seinen beschmutzten Fuß über den Rasen. Marcel verstaute grinsend den Rest an Platten im Kofferraum und knallte diesen zu. Dann ging er nach vorne, um einzusteigen und drehte den Kopf zu Tommy. Als er sah, wie dieser versuchte den Hundekot am Kantstein des Bürgersteiges abzuschaben, fing er wieder an zu lachen. Er konnte nicht mehr aufhören, zu lachen. Er schmiss sich auf die Haube seines alten Ford Taunus 17 Ms und lachte. Marcels Tränendrüsen öffneten sich. Lachtränen schossen ihm in das Gesicht. Roxy kam aus der Eingangstür des Treppenhauses neben dem Balkon und ging zu Marcels Auto. „Was ist denn hier los?“, fragte sie, glaubte aber die Antwort schon zu kennen, denn Tommy Bewegungen und Marcels Reaktion darauf, waren viel zu eindeutig. „Tommy ist in Gold getreten. Hahaha, soll ja Glück bringen. Ha ha ha ha he he he he.“ Marcel ringelte sich. Seine Bauchmuskeln fingen an zu schmerzen. Roxy ging schmunzelnd zu ihrem roten Ford Kombi und schrie noch einmal zurück: „Viel Glück, Tommy!“, was zur Folge hatte, dass Marcel noch lauter lachte. Sie stieg dann ein, schloss die Tür, startete und fuhr los. Ein kurzes Hupen, dann war sie auch schon um die Ecke gebogen und nicht mehr zu sehen. Marcel war immer noch mit seinem Lachen beschäftigt. Aus dem Lachen wurde jetzt ein meckerndes „Äh äh äh!“, was sich fast wie das Meckern eines Ziegenbockes anhörte. „Jetzt hör endlich auf, du Arsch!“, schrie Tommy, der langsam sauer wurde. „Gib mir lieber mal ein Taschentuch oder einen Lappen!“ Marcel verkniff sich nur sehr schwer sein Lachen. Er prustete, was sich wie Schnauben oder Grunzen anhörte, als er zum Heck seines Wagens ging. Er öffnete seinen Kofferraum wieder und zog einen ölverschmierten, aber trockenen Lappen heraus. „Hier, die Serviette. Willst du nicht auch noch Messer und Gabel haben? Hä hä hä ...“ Lachend knallte Marcel die Kofferraumklappe zu, als Tommy ihm den Lappen aus der Hand riss, ging nach vorn, öffnete die Fahrertür, stieg ein und schloss sie, ebenfalls mit einem Knall. Jetzt konnte Tommy nur noch das gedämpfte Lachen von Marcel, der sich nicht mehr einkriegen konnte, aus dem Auto hören.
„Ha, ha. Schadenfreude ist die beste Freude. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht mehr zu sorgen“, dachte Tommy leicht verärgert. Bis auf den feinen Rillen des Profils, die man wohl nur mit Wasser säubern konnte, hatte er den Schuh jetzt gereinigt. Endlich war er fertig. Er schmiss den Lappen einfach unter das Auto und stieg dann auf der Beifahrerseite ein. Marcel grunzte. Er gab sich sichtlich Mühe, sein Lachen zu verkneifen. Er startete den Motor und fuhr los. Tommy schaltete das Radio an, um Marcels Grunzen nicht mehr zu hören. Und so fuhren sie ohne etwas zu sagen. Marcel wurde ruhig und Tommy nachdenklicher. Nach etwa einer Minute stellte Tommy das Radio leiser und fragte Marcel: „Weißt du, was mit dem Typ passiert ist, der vor Roxy in der Wohnung gewohnt hatte?“ „Ist der auch in Scheiße getreten?“ Ein Grinsen begleitete Marcels Gegenfrage. An einer Ampel, die auf Rot umstellte, hielt er den Wagen an. „Arschloch. Nein, den haben Einbrecher in seiner Badewanne überrascht und ihn dann erstochen und aufgeschlitzt. Deswegen habe ich, als Roxy in die Wohnung einzog, ihr beim Saubermachen geholfen. Schlecht abgewischte Blutspritzer und schwarze Flecken, die von diesem Zeug, zum Sichtbarmachen von Fingerabdrücken, stammen. Einen halben Tag haben wir geschrubbt. Ich würde die Badewanne nie benutzen. Roxy ist das egal. Na ja, die hat ja auch schon mehr erlebt. Ist schon ein merkwürdiges Gefühl, in einem Raum zu sein, wo einer vor Kurzem umgebracht wurde.“ Tommy verstummte und schwieg. „Noch ein Grund, hier nicht herzuziehen“, sagte Marcel und fuhr wieder los, weil die Ampel auf Grün geschaltet hatte. Beide schwiegen jetzt und gingen ihren Gedanken nach.
Marcel dachte an sein Haus und sein Grundstück, Tommy glücklich an seinen Platten. Eine Ozzy Osbourne Platte hatte er vorhin beim Tragen gesehen. Jetzt kam ihm die Platte wieder in den Sinn. Er drehte sich um und sah zum Rücksitz nach Ozzy. Der schlief. Tommy sah wieder nach vorne und versuchte sich das nochnichtgesehene Haus mit Grundstück vorzustellen. Ungefähr eine Dreiviertelstunde später waren sie da.
„Da vorne ist es, Wolfsmoor 41“, sagte Marcel und drehte das Radio aus. Tommy schreckte aus seinem Halbschlaf, in den er gefallen war, hoch. Er gähnte und sagte: „Huuaah. Mann, ist das eine Affenhitze, da ...“
„Das letzte Haus auf der linken Seite“, unterbrach ihn Marcel. Tommy konnte nichts sehen, da ihn die grelle Sonne blendete. Marcel bog von dem baumwurzeldurchbrochenen, schadhaften Asphaltweg nach links ab und fuhr auf eine schmale Kiesauffahrt.
Tommy, der seine Augen schützend vor der Sonne zukniff, konnte deutlich, durch die offenen Fenster, den Kies unter den Autoreifen knirschen hören. Kurz vor dem Haus stoppte Marcel den Wagen. Dann nahm er seine Sonnenbrille ab, die er, als Tommy schlief, aufgesetzt hatte. Das Auto stand jetzt im Schatten des Hauses, etwa fünfzehn Meter vom Asphaltweg entfernt. Tommy und Marcel stiegen aus. Ozzy sprang raus, hob sein Bein an einem Baum, markierte ihn und lief in einer großen Zickzacklinie vor dem Haus herum. Er sah aus wie ein Jagdhund, der eine Fährte verloren hatte und sie jetzt suchte. Dann verschwand er schnüffelnd hinter dem Haus, da wo Tommys Meinung nach, der Garten sein musste. Tommy sah gebannt auf das Haus. Marcel beobachtete in triumphierend. „Na, wie findest du das Haus?“, fragte er. Tommy sagte nichts. Er staunte überwältigt. Der Anblick des Hauses berauschte ihn. Er fand, empfand das Haus wie einen schönen Traum. So ein Haus hatte er noch nie gesehen. Er fand es irgendwie eigenwillig. Es war sehr alt und wirkte zugleich nobel. Es war zum Teil aus Fachwerk und zum Teil aus Naturfelssteinen. Das Dach war mit Schiefer gedeckt. Das Haus wirkte wie zwei zusammengefügte Häuser. Das vorstehende Haus, das wie eine kleine alte Waldkapelle im gotischen Stil aussah, hatte über der Eingangstür mit gotischem Spitzbogen, einen kleinen, wahrscheinlich später angesetzten Erker mit drei Fenstern, eins an jeder Seite, ebenfalls im gotischen Stil. Die Seitenfenster des Erkers liefen schräg zum Haus, sodass von oben gesehen, der Erker wie ein halbes Sechseck aussah.
Über dem Erker im Giebel war ein kleineres Fenster mit gotischem Bogen eingelassen. Es erinnerte Tommy an eine Schießscharte. Darüber befand sich das Dach, das nach rechts und links stark abfiel. Es war genauso hoch wie das Dach des anderen Baues und mündete in ihm. Links neben dem Eingang hatte das vorstehende Haus nur eine Etage mit eingefügtem gotischen Fenster und eine kleine Dachschräge, die von der Wand des anderen Baues nach vorne hin schräg abfiel. Links daneben war ein riesigwirkender Schornstein, der auf halber Höhe noch oben hin etwas verjüngte, schmäler wurde und das ganze Gebäude überragte. Das vorstehende Gebäudeteil und, zum größten Teil, der Schornstein, bestanden aus rundlichen, vorne abgeflachten Naturfelssteinen. Der obere Teil des Schornsteines wurde wohl später erhöht und war dort mit rötlichen Mauersteinen gemauert. Auch die ungefähren, unteren dreißig Zentimeter der Wand des übrigen Gebäudes wurden aus Naturfelssteinen gefertigt, dem vorstehenden Gebäudeteil angepasst. Der Rest der Wand war aus Fachwerk. Neben dem Schornstein maß das Haus in der Breite etwa sechs Meter. Dann folgten Schornstein und vorstehender Bau, auch ca. sechs Meter lang. Und rechts daneben, ebenfalls sechs Meter Länge mit Fachwerk und Naturfelssteinen. Daran schmiegte sich noch ein kleiner Anbau, etwa zwei Meter in der Breite, der in der Höhe ungefähr nur halb so groß war, wie der übrige Bau. Auch dort herrschten für einen guten geschmacklichen Gesamteindruck Naturfelssteine und Fachwerk vor, nur befanden sich auf dieser kleinen sichtbaren Fläche keine Diagonalstreben. Diesen Platz beanspruchte zierend ein gotisches Fenster. Im Bau links neben dem Schornstein reichte ein großes Sprossenfenster vom obersten Fachwerkbalken unter dem Dach, bis zu den unteren Fachwerkbalken über den Naturfelssteinen. Der Raum dahinter musste sehr groß sein. Auf der rechten Seite des Fachwerkbaus waren zwei große Fenster übereinander, getrennt von einem Fachwerkzwischenraum. Folglich befanden sich dahinter zwei Etagen. Über den beiden Fenstern war noch ein drittes, aber klein und gotisch, das wahrscheinlich dem Dachboden Licht spendete und sich in der dreieckigen Erweiterung der Hauswand nach oben hin befand. Auf dem Fachwerkbau war ein langgezogenes Dach. Darunter müsse sich wohl ein sehr großer Dachboden befinden, mutmaßte Tommy. Über dem kleinen gotischen Fenster war ein kleines Extradach, das oben bündig in das Hauptdach mündete. Über dem Fenster im linken Fachwerkbau steckte ein kleines Dachfenster in der Schräge des Daches. Hinter dem Hauptdach sah Tommy noch einen Schornstein, etwas weiter weg. Tommy schlussfolgerte daraus, dass das Haus nach hinten hin ziemlich weit ginge.
„Wie groß ist denn das Haus?“, fragte Tommy, ohne vom Haus wegzusehen.
„Was du hier siehst, ist nur der kleinere Teil, etwa zwanzig Meter lang. Das ganze Gebäude hat, von oben gesehen, die Form eines Ls, wobei, wie gesagt, dies hier nur der kleinere Teil ist. Der andere Teil ist etwa dreißig Meter lang.“ Marcel zeigte auf die rechte Ecke und sprach gleichzeitig weiter. „Der Anbau da geht auch über die ganze Länge. Ich bin das Haus gestern umgangen.“ Marcel steckte sich eine Zigarette an und hielt Tommy die Marlboroschachtel und ein gelbes Einwegfeuerzeug hin. Dieser nahm sich eine, sagte: „Danke.“, und steckte sich ebenfalls eine Zigarette an. Marcel schob dann das Feuerzeug, das Tommy ihm wiedergab, mit der Schachtel in seine rechte Hemdtasche und erzählte weiter. „Ein Keller muss da unten auch noch sein. Ich war gestern aber nicht mehr unten, weil es schon dunkel wurde.“ Als Marcel dies sagte, wirkte sein Gesicht ernst und fast schon ängstlich, was Tommy überhaupt nicht kannte von Marcel. Als Marcel Tommys nichtverstehenden Blick sah, legte er ein unsicheres Lächeln auf sein Gesicht, das aber sicher wirken sollte. „Komm mal mit in den Garten“, sagte Marcel ablenkend und ging links am Fachwerkbau vorbei. Tommy folgte ihm nachdenklich.
Kaum waren beide um die Ecke des Hauses abgebogen, strahlte blendend die Sonne in ihre Augen. Tommy kniff die Augen zu, während Marcel sich seine Sonnenbrille, die er vorher, nach außen hängend, mit dem Bügel in der linken Hemdtasche trug, aufsetzte. Er drehte sich nach Tommy um. „Wenn du willst, ich habe noch eine Sonnenbrille im Wagen“, informierte Marcel Tommy, der dankend verneinte und an Marcel vorbei in den Garten ging. „Nein danke, es geht schon.“ Begeistert pfiff Tommy gleich danach leise durch seine Zähne und blieb stehen. Auch Marcel stoppte seine Schritte und stand nun gleich neben Tommy, der staunend den Garten betrachtete. Beide blickten jetzt auf ein großes Grundstück, das von Bäumen und Buschwerk umgeben war. Am Ende des Geländes befand sich ein großer Teich. Er lag im Schatten der hohen Bäume, die hinter ihm in den wolkenlosen Himmel ragten. Seerosen schmückten den Teich und bedeckten ihn wie ein grünweißes Tuch. Die gesamte Wasseroberfläche glich, bis auf einen kleinen Teil, einem Blumenmeer.
Es war für Tommy ein selten schöner Anblick.
Links, aber noch vor dem Teich, war ein offener weißer Sommerpavillon. Rechts daneben stand eine große Trauerweide, dessen dünne Zweige fast bis zum Erdboden herunterhingen. Jetzt sah Tommy auch Ozzy, der sich im Schatten unter den Weidenzweigen ein kühles Versteck vor der Hitze gesucht hatte und mit feuchter herunterhängender Zunge sich frische Luft zuhechelte. Es war sehr heiß geworden. Zu heiß, um draußen zu stehen. Schweißperlen bildeten sich auf Marcels und Tommys Stirnen und liefen als kleine Rinnsale in ihre Gesichter. Marcel blinzelte. Ihm rann gerade eine Schweißperle in das linke Auge. Er wischte sich mit dem Handrücken über das besagte Auge. „Lass uns lieber ins Haus gehen. Es ist mir hier zu heiß“, sagte er und ging wieder zurück, wieder nach vorne. Vor der Eingangstür blieb er stehen und wartete auf Tommy, der sich beim Gehen die Stirn mit seinem Arm abwischte. Marcel zog ein Schlüsselbund aus seiner Hosentasche, der aus einem Ring und ungefähr acht Schlüsseln bestand. Er suchte den größten und verschnörkelsten davon heraus und schob ihn in das leicht angerostete Schloss. Er drehte den Schlüssel zweimal herum und sagte dann laut: „Sesam, öffne dich!“ Dann wollte er die Tür elegant aufschwingen lassen, wollte mit dem Fuß ihr einen sanften Schub geben, doch es wurde ein sanfter Tritt gegen die nichtnachgebende Tür. Sie blieb zu, bewegte sich nicht. Entgeistert sah er Tommy an. „Das verstehe ich nicht.“ Dann galt seine ganze Aufmerksamkeit wieder der Tür. Er drehte an dem Knauf über dem Schlüsselloch und rüttelte an der Tür. „Das gibt es doch nicht, diese scheiß Tür!“, zischte er. Aus seinem Rütteln war heftiges Gegendrücken geworden. Jetzt war sein ganzes Gesicht mit Schweißperlen bedeckt. Sein Fluchen wurde lauter. „Diese abgefuckte Tür!“ Jetzt trat er mit voller Wucht gegen die bewegungslose Tür, die bewegungslos blieb. Marcel wurde wütend. „Dieses verfickte Miststück!“ Er stolperte einige Schritte zurück und rannte, rammte mit der Schulter gegen die Tür, so wie er es aus Filmen kannte, doch die Realität sah anders aus. Keine auffliegende Tür, nur ein dumpfer Knall mit dumpfem Hall und eine schmerzende Schulter bildeten das Ergebnis. Die Tür blieb zu. Doch das ließ Marcel noch wütender werden. Wieder ging er mehrere Schritte zurück und rannte, rammte erneut gegen die Tür. Und wieder gab es nur einen dumpfen Knall, einen dumpfen Hall durch den Aufprall. Tommy sah Marcel grinsend zu. Er fand, dass Marcel jetzt einem Stier glich, der wutschnaubend gegen ein rotes Tuch anrennt, nur dass in diesem Falle, das Tuch, die Tür nicht nachgab und furchtbar hart war. Marcel prallte wieder ab. Er schnaubte: „Scheiß Tür! Gestern hatte sie doch noch nicht geklemmt.“ „Hast du denn auch den richtigen Schlüssel genommen?“, fragte Tommy helfenwollend. „Natürlich habe ich den richtigen Schlüssel genommen. Ich bin ja nicht beknackt“, antwortete Marcel, in der Lautstärke abnehmend, und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Schweiß aus seinem hochroten Gesicht. Er war sichtlich ratlos. Tommy ging zur Tür und bewegte den Drehknauf. Die Tür schwang langsam und knarrend auf. „Wa? Was ist das denn?“ Marcel sah Tommy entgeistert an. Er war fassungslos.
„Weiß ich auch nicht. Vielleicht solltest du mal Body Building machen“, stichelte Tommy neckisch.
„Ha ha, das musst du gerade sagen, du Spargel“, entgegnete Marcel. Tommy grinste und schaute zur offenen Tür. Er wusste, dass er die Tür nur leicht berührt hatte. Er wusste aber auch, dass Marcel Kraft hatte. Warum schwang bei ihm die Tür bei leisester Berührung auf, so als hätte sie einen versteckten Aufgehmechanismus, der nur auf ihn reagierte? Marcel riss ihn aus seinen Gedanken, lenkte ihn vom Thema der scheinbar eigenwilligen Tür ab. „Was meinst du? Willst du hier mit einziehen? Ich frage nur, weil ... . Dann könnte man die Schallplatten schon reinbringen, denn im Auto ist es derbe heiß. Nicht, dass sie schmelzen und nach her nur noch verflüssigtes Vinyl sind“, sagte er und starrte Tommy fragend an. Marcel wirkte jetzt nervös und unsicher. Seine Augen bewegten sich unruhig, eher hektisch. Er schien, Angst zu haben, dass Tommy Nein sagen könnte.
Tommy, der sich schon entschlossen hatte, antwortete spontan: „Ja klar, wäre Scheiße, wenn die Platten Wellen bekommen würden und der Tonarm des Plattenspielers mir nachher auf die Platten kotzt, weil er seekrank geworden ist.“ Marcel wirkte jetzt sichtlich erleichtert. Euphorie machte sich in seinen Gesichtszügen bemerkbar. Rasch ging er zum Wagen und öffnete den Kofferraum. Er nahm einen Stapel Platten und trug sie zum Haus. Auch Tommy nahm einen Stapel und folgte ihm. Marcel betrat das Haus nur ganz vorsichtig, so, als hätte er Angst, dass die Tür wieder zuschlagen und ihn treffen könnte, und blieb nach ein paar Schritten stehen. „Was ist? Hier brauchst du nicht vorsichtig sein. Hier liegt keine Hundescheiße. Oder hast du Angst, dass dich das Haus auffrisst?“, tönte Tommy übermütig und stellte die Platten gleich rechts hinter der Tür ab. Marcel, der leicht unsicher wirkte, tat es ihm nach. „Wa, wa, wa, ich bin das fressende Hauuuuus!“, grölte Tommy, fuchtelte wild mit seinen Armen herum und versuchte, furchterregend auszusehen, indem er Grimassen schnitt.
Doch Marcel fand die Grimassen überhaupt nicht furchteinflößend. Er lachte und fing an, zu versuchen, wie ein Wolf zu heulen, was ihm auch sehr gut gelang. „Whouuuuuuuuh! ... Whouuuuuuuuuuuh! ... Rrrroooooaaaaarrr! ... Aaaahhrrg! Ich rieche Menschenbluuut, Bluuuut. Whouuuuuuuuh!“ Marcel hörte auf, denn er musste, durch Kratzen im Hals, husten. Tommy nickte anerkennend und stieß einen Urschrei aus. „Uuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaarrrr!“
Marcel war begeistert und Tommys Kopf hochrot, wegen des Luftmangels und der Anstrengung. Jetzt hustete Tommy. „Höllisch!“, rief Marcel aus. „Das sollten wir mal bei Vollmond im Wald machen. Auf einem Baum setzen und den Mond anheulen.“ „Nein", sagte Tommy heiser, „Lieber auf dem Ohlsdorfer Friedhof.“ Marcel überlegte: „Weißt du, dass das der größte Parkfriedhof der Welt ist? Der ist gar nicht so weit weg von hier.“
„Weiß ich. Übrigens, weißt du, dass Friedhofsgärtner ein geiler Job ist? Da hat man eine Menge Leute unter sich.“ Marcel lachte kurz und folgte Tommy, der schnell wieder hinausging, um noch mehr Platten zu holen.
Ozzy kam mit hechelnder, herunterhängender Zunge um die Hausecke, blickte beim Laufen kurz zu Marcel und Tommy und verschwand schnell durch die offene Tür in die Kühle des Hauses.
„Mein Alter liegt auch auf dem Friedhof“, sagte Marcel und fügte sarkastisch hinzu: „Jetzt weiß meine Mutter wenigstens immer, wo er gerade ist.“ Tommy grinste und sagte dann ernster werdend: „Dein Vater ist bestimmt in der Hölle gelandet, so oft, wie er deine Mutter nach seinen Sauftouren verprügelt hatte.“ Marcel wollte schnell das Thema wechseln, denn über seine Familie redete er nicht gerne, und wenn es sein musste, dann nur kurz und oberflächlich. Tommy hatte er zwar schon alles erzählt, aber sich darüber unterhalten, mochte er einfach nicht. Das ging ihm zu nahe.
Es waren schlimme Jahre, Jahrzehnte. Dann, eines Tages, fand er seinen Vater. Er hatte sich im Keller des Mietshauses an einem Heizungsrohr aufgehängt. Die Leiche lächelte. Das war das einzige Mal, dass er seinen Vater lächeln gesehen hatte. Die Blase der Leiche hatte sich geleert. Eine Urinpfütze befand sich auf dem staubigen Kellerboden unter der Leiche. Seinen Vater hatte Marcel immer gehasst, bis er den Brief, der im Schraubstock eingespannt war, fand. Es war der Abschiedsbrief seines Vaters. Er las ihn einmal, zweimal, viele Male las er ihn. Es war das erste Mal, dass er seinen Vater verstand. Aus Hass wurde Mitleid. Er begriff vieles, warum er sich betrank, warum er immer aggressiv war und warum er sich erhängte. Er war unzufrieden mit sich und seinem Leben. Aber das war eine andere Geschichte. Eine Geschichte, die Marcel nicht gerne erzählte. Nun ja, um es jetzt so kurz wie möglich zu machen: Marcels Mutter war nach dem Tod ihres Mannes nicht mehr in der Lage alleine zu leben. Sie kam in eine Nervenheilanstalt und blieb da. Marcel besuchte sie oft. Aber sie saß nur noch apathisch auf ihrem Bett und starrte vor sich hin. So als würde sie fernsehgucken, nur, dass niemand mehr vermochte, den Fernseher auszuschalten, damit sie sich auf ihre Umgebung konzentrierte. Auch Marcel gelang es nicht, den sie sehr liebte. Die selbe Liebe, die ihren Lebenswillen über all die Jahre, trotz der Brutalität des Vaters, am Leben hielt. Doch nach dessen Tode, wurde entmündigt.
Das war auch der Grund, dass Marcel, nach dem Tod seines Großvaters, das Haus erbte. Andere Verwandte hatte er nicht. „Scheiß Hitze heute. Kaum ist man draußen, läuft einem schon der Schweiß über das Face“, sagte Marcel ablenkend. „Stimmt“, bestätigte Tommy kurz. Beide gingen nun ihren Gedanken nach und sprachen nicht mehr, bis alle Platten im Haus waren. Marcel schloss den Kofferraum, und als er wieder im Haus war, die Haustür. Dann sagte er, während er sich den Schweiß abwischte: „So, jetzt zeige ich Ihnen das Gebäude. Ich hoffe, Sie haben keine Kinder.“ Marcel war wieder zu Scherzen aufgelegt. Tommy spielte das Spiel mit, indem er mit dekadenter Mimik hoch und wie mit verstopfter Nase sprach: „Oh, nein. Ich mache doch keine Fickfehler. Wo denken sie hin? Kinder, wie entsetzlich. Ich habe nur ein paar niedliche Haustierchen, Harvey, meinen Alligator, meine kleine Boa Constrictor, die auf den Namen Alice hört, oder auch nicht, und zwei kleine Skorpione, Max und Moritz. Ach, beinahe hätte ich die Spinnensammlung, beziehungsweise die Spinnenzucht vergessen. Ich versuche, Schwarze Witwen und Vogelspinnen zu kreuzen, aber es kommen einfach keine Kreuzspinnen dabei heraus.“
„Gut, gegen Haustiere habe ich nichts. Wir beginnen mit dem Erdgeschoss. Links, nach dieser Eingangshalle, sehen sie das hohe Zimmer.“ Sie gingen durch den Vorraum, bogen links ab und gelangten in den Raum des linken Fachwerkbaus. An jeder Seite, bis auf der, wo sie sich gerade befanden, reichten die großen Sprossenfenster bis unter die Decke. Der Raum war so hoch wie zwei normale Etagen. Darüber befand sich nur noch der Dachboden. Am Ende des Raumes war eine drei Meter breite Zwischendecke aus dunklem Holz eingelassen und trennte den Raum dort in halber Höhe. Ein Geländer sollte auf der offenen Seite dafür sorgen, dass man nicht herunterfallen konnte. Das hintere Fenster war nur einen schmalen Spalt ausgespart, sowie die Wendeltreppe, die ebenfalls aus dunklem Holz bestand und nach oben führte. „Da oben steht sogar noch ein verstimmtes Klavier“, bemerkte Marcel. „Tatsächlich?“, fragte Tommy und stieg die Wendeltreppe hinauf. Musikinstrumente zogen ihn immer magisch an. „Natürlich, glaubst du ich lüge?“, sprach Marcel in leicht beleidigter Aussprache, was aber wieder nur Spaß war, zu Tommy, der die Zwischenetage erreicht hatte. „Von wegen, verstimmtes Klavier, das ist ein Spinett, du Musikbanause“, freute sich Tommy und betätigte vorsichtig, voller Ehrfurcht, einige Tasten der Klaviatur. Der Klang gefiel Tommy. „Das ist bestimmt tierisch alt. Hast du das auch geerbt?“, kam es ruhig von Tommy der, von den Tönen beseelt, die von seinen Fingern bewegte Klaviatur betrachtete. „Ja, wir können das alte Ding ja auf dem Sperrmüll schmeißen“, sagte Marcel barsch. Tommy bekam fast einen Herzinfarkt. So sah es jedenfalls aus. „Sperrmüll?“, schrie er, „Weißt du nicht, wie viel so ein Spinett wert ist? Und außerdem ... .“ Marcel unterbrach Tommy. „Dann verkaufen wir eben das Ding. Oder wollen wir es behalten? Was meinst du dazu?“ sagte und fragte er, die Antwort schon wissend.
„Wieso sagst du eigentlich immer ‚wir‘ oder ‚uns‘? Es gehört doch alles ‚dir‘. Du hast es doch geerbt.“ Während Tommy dies sagte, tippte er immer bei ‚Du‘ und ‚dir‘ Marcel mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Du kannst alles genauso benutzen wie ich. Wir sind eine Wohngemeinschaft. Und in einer Wohngemeinschaft sollte es demokratisch zugehen. Deswegen sage ich ‘wir’ und ‘uns’. Also, was ist jetzt mit dem Spinett?“, erklärte und fragte Marcel und tippte bei dem ‚Also‘ der Frage ihn zurück auf die Brust. „Gut, dann behalten ‚wir‘ das Spinett“, sagte Tommy und tippte beim überdeutlich ausgesprochenen ‚wir‘ ihn wieder auf die Brust. Um noch ein Fingertippen zu vermeiden, trat Marcel vorsichtshalber einen Schritt zurück und lehnte sich an das Geländer, das plötzlich laut knarrte, wie ein umstürzender, gefällter Baum, und dabei erzitterte, erschütterte, ja fast bebte. Von Panik erfasst, sprang Marcel mit einem Satz zurück und rempelte dabei Tommy an. Rasch atmend blieb er neben Tommy stehen. Die Angst stand ihm noch in das Gesicht geschrieben. Ohne etwas zu sagen, ging Tommy vorsichtig zu dem Geländer und fasste es an. Als nichts geschah, rüttelte er daran. Es passierte nichts. Kein Erschüttern, kein Laut, nichts. Tommy lehnte sich jetzt auf das Geländer. Doch es blieb still.
„Merkwürdig“, sagte Tommy leise. Marcel, der bis eben sprachlos blieb, ergriff jetzt das Wort. Seine Stimme flatterte etwas. „Langsam glaube ich, das Haus hat etwas gegen mich.“ „Quatsch!“, zischte Tommy, nachdenklich und prüfend auf das Geländer blickend. „Kein Quatsch. Gestern wollte ich im hinteren Teil, auf der anderen Seite, in der zweiten Etage, ein Fenster öffnen, weil es da so stickig war. Das Fenster klemmte. Also stieß ich mit mehr Wucht gegen das Fenster und fiel fast hinaus, als es nachgab. Ich konnte mich gerade noch am Rahmen festhalten.“ Nach einem tiefen Atemzug sprach Marcel weiter. „Im Garten wäre ich beinahe ausgerutscht und in den Teich gefallen.“ Beschwichtigend sagte Tommy: „Alte Fensterrahmen aus Holz klemmen meistens und um einen Teich ist es immer matschig und rutschig.“ Tommy kräuselte jetzt die Stirn, wie ein belehrender Professor. „Aber nicht, wenn drei Tage hintereinander die Sonne so scheint, wie jetzt. Und was ist mit der Haustür vorhin? Und dem Geländer eben?“ Marcel starrte Tommy vorwurfsvoll an, der keine neue Antwort parat hatte, und sagte gestehend: „Deswegen will ich hier ja auch nicht alleine einziehen, um ehrlich zu sein.“
„Es wird schon eine vernünftige Erklärung geben“, sprach Tommy mit ruhiger Stimme, um Marcel zu besänftigen. Doch Marcel wollte sich überhaupt nicht beruhigen lassen. Aufgeregt redete er weiter. „Und dann gestern, ich sagte dir vorhin, ich wollte gestern nicht in den Keller hinuntergehen, weil es schon dunkel war. Das hätte mir überhaupt nichts ausgemacht, denn ich hatte meine Taschenlampe aus dem Auto bei mir. Was mich davon abgehalten hat, ist ...“ Marcel schluckte einmal und versuchte die passenden Worte zu finden. „Ich, ich hatte im Keller seltsame Geräusche gehört.“ Marcel verstummte und blickte starr hinunter in das Erdgeschoss. Jetzt war es im Haus still, gespenstisch still. Kein Laut drang von außen herein. Die Atmoshäre wirkte bedrückend. Bedrückende, beklemmende Totenstille im ganzen Haus.


Eine alte Kritik zu dem unvollendeten Roman



 

Impressum

Texte: Raimund J. Höltich
Bildmaterialien: Raimund J. Höltich
Tag der Veröffentlichung: 12.02.2009

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