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Der Leuchtturm

Pünktlich zum Sommerbeginn, wenn das Leben in den Grossstädten ob der Hitze unerträglich wird, zog es mich an die idyllische Küste der geschichtsträchtigen Halbinsel Cape Cod. Einst wuchs ich an diesem Ort auf, verliess ihn allerdings mit achtzehn Lenzen und tauschte die weiten Strände gegen die grauen Häuserschluchten von New York ein, um dort meinem Geschichtsstudium nachgehen zu können. Von da an zog es mich nur noch hin und wieder in die Heimat, wobei ich nach dem Ableben meiner Eltern viele Jahre überhaupt nicht mehr zurückkehrte. Nun, meine lieben Leserinnen und Leser, bin ich ein gestandener Mann im Alter von sechzig Jahren und gewiss wird mir der eine oder andere jene wachsende Sehnsucht nachempfinden können, die mich jedes einzelne Mal packt, wenn ich an die alten, verträumten Sommertage zurückdenke, die ich in meiner Kindheit an den weitläufigen Stränden von Cape Cod verbracht habe. Im Alter wird man eben rührselig, wird man gewiss bei sich denken und sicherlich haben Sie damit nicht unrecht. Allerdings ist es nicht ausschliesslich das Aufleben alter Erinnerungen, was mich vor einigen Wochen dazu bewegt hat New York hinter mir zu lassen. Viel mehr ist ein altes, behütetes Geheimnis der Grund meiner Rückkehr, und wie manche Mysterien so sind, lastet man ihnen die Gabe an den wachen Verstand niemals zur Gänze loszulassen, wenn sie sich erst einmal im Gedankengut etabliert haben. Derlei Fragen, auf die niemand eine klare Antwort kennt, gibt es fürwahr so viele wie Sand am Meer, doch handelt es sich bei ´meinem´ Geheimnis um eine Geschichte, der man bisher einfach nicht auf den Grund gehen wollte. Manches, so sagte mein Onkel dereinst zu mir, sei in den Weiten des Vergessens am besten aufgehoben und so wäre es auch mit der Antwort auf die Frage, warum der Leuchtturm auf den Klippen seit vielen Jahren brachliegt. Und selbst wenn mein Oheim mehr über jenen Turm gewusst hätte, der wie ein ghoulischer Grabstein hoch oben auf dem Felsgestein steht und in trauriger Verlassenheit auf das Kap hernieder blickt, wäre es ihm wohl kaum in Sinn gekommen, einem Kind davon zu erzählen. Fünfzig Jahre sollten demnach vergehen, bis ich vor wenigen Wochen auf jenes Fünkchen Wahrheit stiess, der das lodernde Feuer der Neugier in meiner Seele vollends entfachte. Ich sass wie jeden Morgen in der Küche und trank meinen Frühstückskaffee, als mir meine Frau folgende Schlagzeilen aus der New York Times vorlas:

 

Sensationsfund in Cape Cod

 

Gestern hat das Forscherteam des Ozeanologen Robert Frost in den Tiefen vor der Küste Cape Cod´s ein altes Wrack entdeckt. Ersten Erkenntnissen zufolge handelt es sich bei diesem Schiff um eine Schaluppe aus dem siebzehnten Jahrhundert; ein kleiner Einmaster mit sehr umfangreichem Segelwerk, schnell und wendig. Vermutlich ist es die berühmt berüchtigte „Timebandit“ des Piratenfürsten Sirius Harkness, dem legendären Schrecken der sieben Weltmeere. Schon seit ein paar Jahren vermutet der New Yorker Geschichtsprofessor William B. Gosnold, dass Captain „MadEye“ Harkness´ Schaluppe vor der Halbinsel Massachusetts havarierte und sank. Schuld an seinem Kentern soll der Jahrhundertsturm von 1672 gewesen sein, der just dann seinen Höhepunkt erreichte, als Sirius nach einem blutigen Überfall auf die einstige Pilgerstadt Cape Cod erneut in See stach. Ob es sich bei diesem sensationellen Fund tatsächlich um den Einmaster eines Piraten handelt, wird sich wohl aber erst in den kommenden Wochen zeigen.

 

Es erschien mir naheliegend, dass bei diesem Fund ausgerechnet auch mein Name erwähnt wurde, schliesslich habe ich die Geschichte meines Geburtsortes bis aufs tiefste verinnerlicht. Ausserdem ist die Chronik meiner Familie seit jeher mit dieser Halbinsel verwoben, denn es war mein Urahne, der diesen Ort überhaupt so benannt hat. Nun werden Sie, liebe Leserinnen und Leser, vielleicht sogar verstehen, weshalb das Interesse in mir so ausgeprägt ist. Zudem erschien es mir als passender Zufall, dass ich nur wenige Stunden nach dem interessanten Artikel ein Telefonat erhielt, in dem man mich bat, Robert Frosts Forscherteam als Berater zur Verfügung zu stehen. Dies wiederum liess ich mir gewiss nicht zwei Mal sagen. Als Geschichtsprofessor im Ruhestand mangelte es mir nicht an Zeit und so buchte ich für mich und meine Frau den nächsten Flug in die Heimat. Um eine Unterkunft brauchte ich mich natürlich nicht zu kümmern, was die Reise nach Cape Cod wesentlich vereinfachte. Das Haus meiner Eltern ist nach ihrem Ableben vor vielen Jahren in meinen Besitz übergegangen. Obschon ich es nicht übers Herz gebracht habe jemals wieder dahin zurückzukehren, war es mir ebenfalls nicht möglich das Haus am Strand zu verkaufen. Nun zahlte sich dies zu meinen Gunsten aus!

 

Wir erreichten das Familienanwesen kurz vor Sonnenuntergang und waren froh über die Tatsache damit dem Schlimmsten entgangen zu sein. Seit Stunden berichteten die Medien von einem herben Unwetter, dessen Zentrum sich fortwährend auf das Kap zu bewegte. Kurz nachdem wir jene Brücke, die vom Festland auf die Halbinsel führte, passiert hatten, wurde diese zur Sicherheit für den weiteren Strassenverkehr gesperrt. Und just dann, als wir die knarrende Eingangstür geöffnet hatten und ins Innere meines Hauses traten, begann ein sintflutartiger Regenguss auf die Erde herniederzuprasseln. Darüber war ich wahrlich nicht erbost, denn schliesslich eröffnete es mir die Möglichkeit eine Weile in Erinnerungen zu schwelgen, bevor man mich dann an die Front des Geschehens berief. Ich hatte durch die Jahrzehnte völlig vergessen, wie gut es mir in diesem Domizil ergangen ist - wie viel Liebe und Zuneigung mir hier zuteilwurde und jene Wärme war selbst nach so viel vergangener Zeit noch immer deutlich spürbar. Alten Gewohnheiten folgend, entschied meine Frau uns in meinem alten Kinderzimmer einzuquartieren, welches nach meinem Auszug ohnehin zu einer Rückzugsmöglichkeit für Gäste umfunktioniert worden war. Natürlich stimmte ich ihr zu, brachte unser Gepäck hurtig an ihren Bestimmungsort und legte mich mit dem Vorhaben auf dem Bett nieder einen kleinen Moment die Augen zu schliessen. Es war nicht meine Absicht so tief einzuschlafen und so dauerte es einen Moment die Aufregung meiner Frau zu verstehen, die mich aus meinen Träumen riss und irritiert zum Fenster deutete. „Der Leuchtturm!“, kam es über ihre Lippen, „Jemand ist im Leuchtturm ... bei diesem Wetter.“ Nun verstand ich noch nicht zur Gänze, wie meine Gemahlin über diese Entfernung hinweg derlei wundersame Dinge erkennen wollte, doch verschlug es mir für eine Sekunde den Atem, als mein Blick ihrem Zeigefinger folgte und hoch empor zu den Felsklippen wanderte. Tatsächlich hatte sich Meggie, meine liebe Göttergattin, nicht geirrt. Im Laternenraum des halb zerfallenen Turms waberte ein pulsierendes Leuchtfeuer, das kontinuierlich in bekannten Intervallen aufleuchtete: Drei Mal kurz, drei Mal lang, drei Mal kurz!

„Sos“, hörte ich mich selbst sagen und fragte mich sogleich, ob die Laternentechnik nach so vielen Jahren überhaupt noch würde funktionieren können. Selbstverständlich gab es darauf viele rationale Erklärungen. Eine davon war gewiss, dass man den Leuchtturm in den Jahren meiner Abwesenheit renoviert und neu eröffnet hat – schliesslich war dessen Standort der dortigen Untiefen wegen strategisch wertvoll. Und genau so erklärte ich es Meggie, die sich daraufhin langsam vom ersten Schreck erholte. Wir liessen es auf sich beruhen, legten uns für die stürmische Nacht zur Ruhe und erwachten erst dann wieder, als uns die ersten fahlen Sonnenstrahlen an der Nasenspitze kitzelten. Mein erster Blick hoch zum Leuchtturm empor war naheliegend und mir wurde klar, dass ich mich getäuscht hatte. Baufällig wie eh und je stand das Gebilde auf den Felsen, doch wie konnte die seltsame Sichtung am Vorabend dann erklärt werden? Vielleicht, so dachte ich bei mir, hat man lediglich den Laternenraum neuerlich hergerichtet … doch warum sollte man das tun? Es war keinesfalls so, dass sich Cape Cod vom Finanziellen her nur halbe Renovierungsarbeiten leisten konnte. Ich beschloss, nach meinem ersten Treffen mit dem Forscherteam, dem Bürgermeister einen Besuch abzustatten. Mal abgesehen davon, dass er sich darüber gewiss freuen würde, könnte er mich vielleicht sogar über das seltsam wabernde Leuchtfeuer aufklären.

 

Gleich nach dem Frühstück gab ich meiner Frau einen Kuss und verabschiedete mich, um meiner eigenen Wege zu gehen. Diese wiederum führten mich sogleich voller Erwartungen zum Hafen und ich hoffte darauf, genau da auf den Forscher und sein Team zu treffen. Diese Erwartungen wurden allerdings übertroffen, denn mein Ziel erst einmal erreicht fand ich dort nicht nur Robert Frost, sondern einen bienenschwarmähnlichen Mob in hellster Aufregung vor. Natürlich verwunderte mich dieser Anblick zutiefst! Wer hätte schon gedacht, dass eine vor so vielen Jahrzehnten havarierte Schaluppe zu derlei regem Interesse führen konnte? Selbstverständlich gab es bei jedem Sensationsfund den einen oder anderen Schaulustigen – hauptsächlich waren es aber ein paar vereinzelte Geschichtsliebhaber oder Hobbyarchäologen, doch was ich am Hafen von Cape Cod vorfand überschritt meine Erwartungen über alle massen. Feuerwehr, Polizei, Küstenwache und Rettungsschwimmer passten tatsächlich nicht ganz in mein Bild und so begann ich schon nach wenigen Sekunden an meiner Vermutung zu zweifeln, dass sich diese Menschenmassen ausschliesslich der Entdeckung wegen hier eingefunden hatten. Und ich sollte recht damit haben, denn wie ich wenig später erfuhr, hatte die stürmische See neuerlich Opfer gefordert. Kurz nach ein Uhr in der Früh sei vor der Küste des Kap's ein Motorboot gegen ein hochragendes Riff geprescht und gesunken. Sechs Personen sollte das kleine Schiff getragen haben und keiner der Studenten wäre älter denn einundzwanzig Jahre. Nur einem der jungen Schar war Gott gnädig gewesen und was der Überlebende zu berichten wusste verstörte mich weitaus mehr als die Tatsache, dass die wilde See wohl fünf so unglaublich junge Leben zu sich genommen hat.

„Wir haben im Sturm die Orientierung verloren.“, erklärte der mir noch unbekannte Schiffbrüchige, ehe man ihn auf direktem Weg zum nächstgelegenen Krankenhaus transportierte. „Auf einmal sahen wir ein Licht und ich habe mich darüber gewundert, dass es noch weitere Idioten wie uns gibt, die trotz der Schlechtwetterwarnungen aufs Meer hinausfahren.“ Ob jenen Worten sahen sich die Rettungshelfer etwas verdutzt an. „Sie meinen, dass da draussen ein zweites Schiff in Seenot geraten ist?“ Hörte ich einen der durchtrainierten Männer beunruhigt von sich geben, während das wilde Gemurmel der Menschentraube um ihn herum nahezu jäh verebbte. Der Überlebende nickte matt, ehe er seinen Erklärungen Folgendes hinzufügte: „Da unsere Bordcomputer ausgefallen sind, kann ich nicht genau sagen, in welcher Himmelsrichtung wir es gesichtet haben, doch waren die Morsezeichen deutlich zu sehen … Lichtcodes! Drei Mal kurz, drei Mal lang, drei Mal kurz.“ Ein jeder hier Anwesender wusste, dass es sich hierbei um einen Notruf handelte, doch bevor sich die Küstenwache auf eine zweite Rettungsaktion konzentrierte, anstatt sich ausschliesslich um die fünf noch vermissten jungen Erwachsenen zu kümmern, war es an mir dem ganzen Einhalt zu gebieten.

„Das Signal kam nicht von der See“, platzte es fast übereilig aus mir heraus, auf das ich spüren konnte wie sich hundert Augenpaare irritiert an mich hefteten, „Meine Frau und ich haben es ebenfalls gesehen. Es wurde aus dem zerfallenen Leuchtturm auf den Südklippen ausgesandt.“ Auf einmal war ich einer Skepsis ausgesetzt, die ich der Menschenfront mir gegenüber nicht einmal übelnehmen konnte. Man versicherte mir halbherzig, dass dies mit absoluter Sicherheit vollkommen abwegig sei. Über hundert Jahre hinweg habe es keine Menschenseele mit Verstand gewagt, die baufällige Schuttruine zu betreten.

 

Nun konnte sich von meiner Warte aus ein Augenpaar sicherlich irren, doch wie war es mit Zweien – oder wie sich herausgestellt hatte, Dreien? Dennoch liess ich es vorerst auf sich beruhen, und da sich meine vom Heldenmut getriebene Verabredung den Rettungstrupps anschloss, hielt mich nichts mehr am Hafen. Ein prüfender Blick zum Himmel empor verriet, dass wir in den nächsten Stunden höchstwahrscheinlich nicht mit starken Niederschlägen rechnen mussten und so revidierte ich mein erstes Vorhaben auf direktem Weg nach Hause zu gehen. Stattdessen zog es mich zum verwaisten Leuchtturm auf den Klippen und ich muss gestehen, dass das flaue Gefühl in der Magengegend mit jedem Schritt noch eingehender aufflammte, den ich meinem Ziel entgegenging. Von weither schon konnte ich den Turm sehen, dessen Mauern von Generationen an Stürmen gezeichnet waren und durch den Zahn der Zeit zu bröckeln begannen. Gewiss schien es einem Wunder gleich, dass das baufällige Gebilde nicht schon längst dem Alter erlegen war und je näher ich ihm kam desto eingehender spürte ich eine unheilvolle Präsenz, die ich mir nicht erklären konnte. Obschon mir mein gesunder Menschenverstand hoch und heilig schwor, alleine meiner Wege zu gehen, und mir mein Augenmerk genau das Bestätigen konnte, glaubte ich mich ungesehenen Blicken ausgesetzt. Ganz gleich wie gut ich mir selbst zuredete, einige Meter vom Leuchtturm entfernt tat ich mich äusserst schwer darin die schrillen Alarmglocken in meinem Innern zu ignorieren, den Fluchtreflex zu überwinden und weiter zu gehen. Und als ob es an Merkwürdigkeiten gemangelt hätte, setzte just in diesem Augenblick der Regen aufs Neue ein. Donnergrollen und Blitzleuchten bewegten mich dazu gegen meinen Willen zu handeln, denn anstatt diesen unheimlichen Ort so schnell wie möglich hinter mir zu lassen, entschloss ich mich dazu die vom Alter ächzende Tür aufzuhebeln und ins Innere des grauenerregenden Turmes zu flüchten. Hier erwartete mich stockfinstere Dunkelheit. Es dauerte einen Moment bis meine Augen sich an jene gewöhnten. Erst nach geraumer Zeit erkannte ich die Silhouette eines Treppenskeletts und in der Tat erinnerte es mich an die verstümmelten Knochen längst vergangener Tage. Mir wurde klar, dass es einem halsbrecherischen Akt gleichkam, die Stufen zum Laternenraum in Angriff zu nehmen, doch war ich fest davon überzeugt, dass es am Abend zuvor jemand in Kauf genommen hatte, sein Leben für einen Scherz in Gefahr zu bringen – einen Schabernack, der letzten Endes vermutlich fünf Menschen das Leben zu rauben wusste!

 

Ein ächzendes Knarren im Obergeschoss liess das Blut in meinen Adern klamm werden. Und dem Knarren folgte ein grauenvolles Stöhnen bei dem ich mir äusserst sicher war, dass es keiner menschlichen Kehle entsprungen sein konnte. Spätestens jetzt verfluchte ich meine unbändige Neugier und den jugendlichen Drang mich trotz meiner alten Tage urverwandt in leichtsinnige Abenteuer zu stürzen, doch bevor mir die wüste Selbstbeschimpfung über die Lippen gekommen wäre, vernahm ich über mir Schritte. Mucksmäuschenstill lauschte ich ihnen, während sich ein wüster Sturm aus Tausenden von Fragen, auf die ich keine Antwort besass, in meinem Hirn zusammenbraute. Dabei wagte ich es nicht einen einzigen Ton von mir zu geben, hauptsächlich aus dem simplen Grund heraus, weil mein gesunder Menschenverstand sich vehement gegen die Tatsache sträubte, dass hier jemand sein könnte. Dennoch, und obschon mir die Angst das Herz wild gegen den Brustkorb schlagen liess, obsiegte die Neugier. Langsam schleichend setzte ich mich in Bewegung und tastete mich bis zum Fuss der Treppe voran. Ein Blick die Treppenschlucht empor verdeutlichte, dass der Aufstieg gewiss kein Leichtes sein würde, aber dennoch mit genügend Vorsicht machbar war. Noch immer vernahm ich die unheilschwangeren Laufgeräusche aus dem Obergeschoss, doch verebbten sie schlagartig, als mein nächster Schritt ein derartiges Knarren verursachte, dass es selbst mir darob angst und bang wurde. Erstarrt und mit dem Angstschweiss auf der Stirn blieb ich eine gefühlte Ewigkeit auf der ersten Stufe stehen, wobei ich fast erwartungsvoll in die gähnende Finsternis emporblickte. Stille! Nichts rührte sich mehr und selbst das tosende Unwetter ausserhalb der baufälligen Mauern schien für einen kleinen Moment seinen wilden Atem angehalten zu haben.

 

Die darauf folgenden Schritte die Treppenschlucht empor gingen weitaus leiser vonstatten und mit der Zeit setzten auch die knarrenden Schrittlaute wieder ein, auf die ich mich, scheinbar von einer regelrechten Abenteuerlust gepackt, mutig zubewegte. Und je näher ich ihnen kam, desto hektischer schienen diese zu werden, ehe ich ungelenk auf eine morsche Stufe trat, die unter meinem Gewicht unüberhörbar ins Ächzen geriet. Abermals folgte ein unerträgliches Schweigen, lediglich von den auflodernden Regenböen gebrochen, welche tobende Wellen mit brachialer Gewalt gegen die Meeresklippen unter mir preschen liessen. Was dann geschah, brachte den nächsten Schreck und Erlösung zugleich.

„Hallo?“ Dieses Wort drang keinesfalls unmenschlich, aber äusserst eingeschüchtert an meine Ohren, wobei ich mir einen Moment nicht im geringsten sicher war, ob mir mein verschreckter Verstand nicht ein Schnippchen schlagen wollte. „Hallo, ist hier jemand? Ich brauche Hilfe!“ Unverkennbar die Stimme einer Frau, die von Hoffnung getragen in die unteren Geschosse drang. Können Sie sich vorstellen wie erleichtert ich darüber war nicht mitten in einer furchterregenden Geistergeschichte zu stecken? Schnell stellte sich heraus, dass die Besitzerin der angsterfüllten Stimme eine Stadtstreunerin war, die es in ihrem jugendlichen Leichtsinn für gut erachtet hatte beim gestrigen Sturm ein Obdach im zerfallenen Turm zu suchen. Hoch oben, unmittelbar vor dem Leuchtraum, hatte die Treppe dem Gewicht des Mädchens nicht mehr standhalten können. Zwar konnte sie sich nach oben hin retten, doch waren die Stufen so weit zerstört, dass eine Flucht nach unten nicht im Geringsten mehr möglich gewesen wäre. Scheinbar war das junge Ding aber mindestens so gerissen wie töricht, war es ihr mit etwas Geschick gelungen, mit einem kleinen Feuer das alte Signallicht zu entfachen und auf diese Weise auf sich aufmerksam zu machen. Ich hielt es für unnötig ihr im Moment der Not kundzutun, welch schreckliches Schicksal durch die ausgesandten Morsezeichen ausgelöst worden war. Stattdessen mahnte ich die Fremde Ruhe zu bewahren und verfluchte mich des Umstandes wegen mein Handy am heutigen Tag in der Küche liegen gelassen zu haben. Somit blieb mir nichts anderes übrig, als die in Not gekommene noch einmal alleine zu lassen, um auf schnellstem Wege nach Hause zu laufen und nach Hilfe zu telefonieren – die sich in Form von Feuerwehr und Sanitäter auch sofort auf den Weg machte.

 

Nun, meine lieben Leserinnen und Leser, ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die Geschichte auf den einen oder anderen etwas seltsam, ja gar absurd wirken könnte. Es dauerte seine Zeit, bis sich der Rettungsdienst einen Weg zum Leuchtraum empor gebahnt hatte, doch was sie an der oberen Spitze des Turmes zu sehen bekamen stand gegen meine Aussage, die ich vor wenigen Stunden am Telefon aufzugeben wusste. Obschon man etwas fand, waren es lediglich sterbliche Überreste, deren einstiges Geschlecht man über die Kleider bestimmen konnte, in denen das längst verstaubte Skelett gebettet lag. Bestimmt, so sagte man es mir am Ende nach, hat mir mein Verstand in der dort herrschenden Finsternis einen Streich gespielt. Ob dem wirklich so gewesen ist, kann ich nicht sagen, allerdings bin ich der festen Überzeugung jene Stimme tatsächlich gehört zu haben die so angsterfüllt nach Hilfe rief. Allerdings war der erschütternde Fund der toten Frau nicht alles was es vom jetzigen Standpunkt der Sanitäter zu sehen gab, glaubte einer der hartgesottenen Männer gesichtet zu haben, wie sich in der stürmischen Gischt des Ozeans etwas unnatürlich regte. Helle Aufregung brach aus, als eilends ein Fernglas herbeigeschafft wurde und man damit die offene See genauer unter die Lupe nahm. Tatsächlich sah man von hier, dem höchsten Punkt des Kaps, Bruchteile eines zerschellten Motorboots durch die hohen Wellen gleiten … ebenfalls eine verzweifelte Gestalt, die anhand letzten Kräften mit dem tosenden Meer um ihr Leben kämpfte.

 

Letzten Endes, so kann ich ihnen guten Herzens versichern, hat der besagte Sturm zwar seine Opfer gefordert, aber auch zwei Überlebende zurückgelassen. Selbst jetzt, wo das Geschehen einige Wochen zurückliegt und ich mich mit dem wahren Grund meiner Rückkehr beschäftigen kann, versuche ich mir noch immer mein Erlebnis hoch oben auf den Klippen zu erklären. Als Mensch, der sich zeit seines Lebens offenkundig als Atheist bezeichnet hat, ist ein Teil meiner selbst der festen Überzeugung erlegen, dass mir mein Verstand tatsächlich einen gewaltigen Streich gespielt haben muss … wie aber waren dann die sterblichen Überreste einer Frau zu erklären, die man ja unweigerlich im Leuchtraum des alten Turmes gefunden hat? War es Zufall? Oder doch eine übernatürliche Gewalt, die auf sich aufmerksam machen wollte … gar mit der Absicht ein junges Leben zu retten? Fakt ist, und diese Erkenntnis zu erlangen war für mich nicht einfach, dass sich William Shakespeare nicht geirrt hat! Tatsächlich gibt es mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt. Vermutlich werde ich mir die Zusammenhänge dieses Tages bis zum Ende meiner Zeit nicht erklären können, doch wird mir dieses Erlebnis bis dahin ein steter Begleiter sein.

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Tag der Veröffentlichung: 24.06.2014

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