Ich stand am Ufer der Zeit
zum gehen war ich bereit
denn wer bezahlt des Fährmanns Sold
dem ist des Todes Gnade hold.
Wellen der Erinnerungen
Schwellen der Erniedrigungen
Ich stand am Gestade des Styx
Charon fest im Blick
mit Münzen in der Hand
der Lebenswille schwand
wogende Entehrung
flutende Entbehrung
Ich stand am Strand der Vergangenheit
verabscheute meine Gelassenheit
die letzte Stunde schlug
befreite mich vom Fluch
die Stille im Tod
vergangen im Blut
Ich stand an der Schwelle zum Totenreich
des Fährmanns Antlitz kreidebleich
Charon, nimm meine Münzen an
jenes Leben, dass mir durch die Finger rann.
Ich befinde mich an einem dunklen, nebulösen Ort. Nur von einer Kerzen erhellt, deren Flamme flackernde Schatten an die Wände wirft. Ich kann mich nicht genau daran erinnern, wie man mich einst hierher gebracht hat. Hier an diesen unvorstellbar hochbejahrten Ort, in diesen unheimlich alten Raum, dessen Wände unter dem Zahn der Zeit zu bröckeln beginnen. Ganz egal worauf ich mein blaues Augenmerk richte, es wähnt sich alles in der schummrigen Finsternis der Nacht. Kein Sonnenstrahl erfreut meinen Blick, kein Lächeln weiss meiner Seele Trost zu spenden. So hat man mich zurückgelassen, verlassen in einer Welt, die mir zur Gänze unbekannt ist. Anfangs war es schwierig sich an den neuen Alltag zu gewöhnen, an die lebenden Schatten an den Wänden, die Ratten im Gemäuer und die Stille, die bis tief ins Herz reicht. So versuche ich mich zurückzuerinnern, mich an das letzte Gefühl zu entsinnen, das mit warmem Blut durch meinen Körper pulsierte. Es war angst, eine unvergessliche Furcht! Doch wovor? Was war die Ursache dieser alles durchdringende Emotion? Was war dazu in der Lage meinen Körper so dermassen zum Zittern zu bringen, mir den kalten Schweiss über den Rücken perlen zu lassen? Langsam schliesse ich die Augen und sehe mich selbst. Es regnete in Strömen und ich starrte in einen glanzlosen, düsteren Abendhimmel. Warum liege ich auf dem Boden? Es ist beinahe wie in einem Traum. Schwerelos schwebe ich über mir und sehe mir beim sterben zu. Blut tropft in feinen Rinnsalen aus meiner Nase, vermischt sich mit dem eiskalten Regen, der mich von allen Sünden reinwaschen will.
„Die Engel weinen um dich, mein liebes Kind!“, höre ich eine vertraute Stimme sagen. Das die erhabenen Wesen aus dem Himmelsreich tatsächlich nur eine einzige Träne für mich vergiessen bezweifle ich allerdings stark. Ich bin es nicht wert betrauert zu werden, schliesslich bestand mein tristes Dasein aus mehr Fehlern als Gutem. Niemand würde von mir behaupten, dass ich zeit meines Lebens ein guter Mensch gewesen bin. Zwar kann ich mich nicht erinnern, wie ich gestorben bin, doch bin ich mir sicher meinen Tod verdient zu haben. Dies wiederum ist nicht der springende Punkt, denn ich war noch nicht bereit zu gehen. Möglicherweise ist dies auch der Grund, weshalb ich hier nirgends einen Schimmer am Horizont ausmachen kann. Da ist kein Licht am Firmament, keine Strasse die ins himmlische Reich führt. Es haben sich ebenfalls keine Höllentore aufgemacht, aus denen der Teufel höchstselbst emporsteigt, um mich in die labenden Flammen der Unterwelt zu ziehen. Es geschah ganz einfach überhaupt nichts, aber wie kann das sein? Hat sich die Menschheit geirrt? Gibt es da letztlich weder Himmel noch Hölle? Mittlerweile gehe ich davon aus, dass man mich vergessen hat. Mutter sagte einst, dass die auf Erden wandelnden Seelen noch etwas zu erledigen hätten. Aber was sollte meine Wenigkeit noch grossartig vollbringen können? Ich habe mein Leben nicht sonderlich gut genutzt, bin schon in jungen Jahren in Fluten gerutscht die man gut und gern als Drogensucht bezeichnen könnte. Vieles hat sich nicht verändert, denn ich war im Leben allein und bin es wohl auch im Tod. Somit ist mir nun klar, dass mein Leben ein tragisches Ende genommen hat. Ich liege im Regen, auf einer asphaltierten Strasse und um mich herum eine Vielzahl von Menschen. Die meisten von ihnen sind mir unbekannt – Rettungssanitäter und Schaulustige, Gaffer und Spanner ... das ganze Pack, dass sich an derart tragischen Situation zu laben weiss. Mir tut sich die Frage auf, wie ich wohl zu Tode gekommen bin? Am Ende meines Lebens habe ich keinen Schmerz gefühlt. Da war lediglich diese alles umfassende Furcht, nur diese Angst, die sich in meine Seele gefressen hat. Ich habe vor lange Zeit gelesen, dass sich das letzte vor dem Tod gesehene Bild in die Iris frisst. Was würden meine Augen wohl zu berichten wissen? Noch immer schwelge ich in Erinnerungen, sehe mich auf der Strasse liegen und spüre die von Kälte klammen Finger jenes Mannes nicht, der vergebens nach meinem Puls fühlt. Ein leidvolles Kopfschütteln lässt einen Schrei gebären, der sich tief in meine Gedanken ätzt. Ich kenne diese Stimme, war es die gleiche, die zuvor behauptete die Engel würden meinetwegen weinen. Mutter! Ich kann sie nicht sehen, doch spüre ich ihre Präsenz so deutlich als wäre sie in diesem trostlosen Moment ganz nahe bei mir. Und vielleicht ist sie dies sogar, denn ihre Trauer ist mir so gewahr, als wäre es die meine. Weiter zurück können meine Erinnerungen nicht dringen, so sehr ich mich auch bemühe. Abermals beugt sich eine Gestalt über meinen leblosen Leib. Eine schattenhafte Kreatur, so schwarz wie die Nacht selbst und so unsichtbar, dass niemand nur ansatzweise Notiz von ihr nahm. Und plötzlich erinnere ich mich an meinen letzten Atemzug, das letzte Bild, den letzten Blick, den ich auf diese finstere Welt warf. Ich erinnere mich an bernsteinfarbene Augen, an leuchtende Seelenspiegel, die meinen Blick einfingen. Das Grinsen auf den Lippen der unscheinbaren Person zeugte von einer Genugtuung, die ich meiner Lebtage kein einziges Mal verspüren durfte. „Wer ... bist du?“, verlangte ich dem Tode nah zu erfahren, während meine Stimme kaum dazu in der Lage war den Windstoss zu durchbrechen, der heulend durch die Strasse fegte. Eiskalte, leblose Fingerspitzen berührten mich; streichelten nahezu liebevoll über meinen Hals und wischten das Blut hinfort, das mit dem Regen vereint über meine bleiche Haut rann.
„Ich bin der, den man Tod nennt, mein kleines Herz!“, sprach die in schwarzes Tuch gehüllte Gestalt und beugte sich zu mir hernieder, auf dass ich bei den nächsten Worten seine eiskalten Lippen an meinem Ohr spüren konnte. Sie liebkosten mich, labten sich an der letzten Wärme, die mein Körper noch zu entbehren hatte und so schenkte mir der Tod die letzte Zärtlichkeit. „Komm mit mir, Sternenlicht“, fügte der Schnitter seinen Worten hinzu, während sein Atem eiskalt über meine Halsbeuge streichelte. Er musste mir kein Versprechen geben, ich folgte ihm aus freien Stücken! Mit diesem Wissen beseelt legte er seine toten Lippen sanft auf die meinen und stahl mir den letzten Atem mit einem unvorstellbar leidenschaftlichen Kuss. So viele Unbekannte hatten mein Sterben mit eigenen Augen gesehen, doch keiner konnte beobachten, wie mir der Tod jene Liebe schenkte, die mir im Leben niemals zuteilgeworden ist. So endete ein trostloses Dasein mit wahrhaftem und vollkommenem Begehren.
Allmählich wird mir klar, dass es keine Angst war, die mich durch mein Sterben begleitet hat. Lediglich habe ich tief in meinem Herzen etwas empfunden, das mir bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt gewesen ist. Wissen wir nicht alle, wie schnell das Unbekannte mit Furcht in Verbindung gebracht wird? Mein Tod war die Geburt von etwas Neuem und dieses Neue wiederum ist dazu in der Lage mich blind für dieses Licht zu machen, das mich aus meinem jetzigen Zustand befreien soll. Ich kann diese Welt nicht verlassen, nicht solange mir die Liebe und die Herzenswärme fast gänzlich unbekannt sind. Natürlich habe ich geliebt, doch das ist es nicht, wonach ich strebe. Ich will nicht lieben, ich will geliebt werden. Danach habe ich mich mein Leben lang gesehnt und diese Sehnsucht soll durch meinen Tod nicht zum Sterben verdammt sein! Mein fleischloser Zustand wird es mir gewiss nicht einfacher machen die mir vorliegenden Ziele zu erreichen, dessen bin ich mir durchaus bewusst, aber man soll mich ja auch nicht meiner Hülle wegen verehren. So mancher hat mein schönes Antlitz geliebt, doch hat es keiner gewagt nach Höherem zu streben. Niemand wollte meine wahre Schönheit erkennen, niemand mein wahres Wesen lieben. Mittlerweile glaube ich, dass meine Natur – dieser Mensch der ich war – auch überhaupt nicht liebenswert gewesen ist. Wie kann man auch jemanden lieben, der sich selbst bis auf die letzte Faser seines Daseins verabscheut? Nun weiss ich auch, dass mich der Tod hierher gebracht hat. Und für immer bleibe ich da, wo ich am glücklichsten bin. Die Minute meines Todes war die schönste meines Lebens.
Stunden vergehen. Tage rinnen mir sekundengleich durch die bleichen Finger, aber nichts geschieht. Allmählich beginne ich zu glauben, dass der Tod nicht mehr zu mir zurückkehrt. Er ist nur einer von vielen, die mich mit Hoffnungen erfüllt und dann zurückgelassen haben. Ich hätte es besser wissen müssen, oder nicht? Aber dennoch warte ich, bleibe in diesem unbekannten Raum mit den trostlosen Fresken an der Decke, deren Figuren mir leeren Blickes entgegensehen. Ihre toten Augen erinnern mich stets aufs Neue an die meinen ... an mich, wie ich im Regen lag und mein Blut sich mit den eiskalten Tropfen vermengte. Und je mehr Zeit ich dafür aufopfere meine Seelenspiegel gen Zimmerdecke zu richten, sie mit meinem Blick förmlich zu malträtieren, desto inniger verspüre ich die Erkenntnis, dass die toten Gesichter die mir entgegensehen, mit unverkennbarem Hohn beseelt sind. Es ist mir, als würden sie lachen ... als wären sie von der Hand einer unbekannten Kreatur erschaffen worden, die genau wusste, dass ich eines Tages an diesen Ort gelangen würde. Jedes einzelne Antlitz, jede grotesk gezeichnete Figur und schemenhafte Gestalt verkörpert einen Schatten, der mich zeit meines Lebens verfolgt hat. Sie erinnern mich daran, wie wenig ich meine Lebtage genutzt habe und ich frage mich, wie sinnvoll diese Strafe sein kann, wo es mir doch eindeutig vergönnt ist, meine Fehler wieder gut zu machen. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass meine Mutter sich geirrt hat. Oder das ihre Vermutung auf alle anderen, nur nicht auf mich zutrifft. Ich habe in der Welt der Sterblichen nichts mehr zu erledigen. Die Gelegenheit ist vertan, die mich zu einem besseren Menschen gemacht hätte. Aber dennoch besteht mein einziger Fehler darin, dass ich mich selbst aufgegeben habe. Abermals lenken sich meine Gedanken in die Vergangenheit, zu dem schicksalsergebenen Abend zurück, der mich den letzten Atemzug gekostet hat.
„Warum bist du hier?“, verklingt eine Stimme im Zwielicht der hier herrschenden Finsternis. Es ist deutlich zu spüren, wie ihr Klang die alles umfassende Stille zerfetzt und die düstere Stimmung ins Wanken bringt. Ich kenne diese Stimme! Es ist nicht die meiner Mutter, nicht die meines Bruders und schon gar nicht die des Todes. Viele Jahre sind vergangen, seit sie zum letzten Mal so vertraut an mein Ohr gedrungen ist. Mein Blick wendet sich vom Deckenfresko ab und legt sich auf eine schemenhafte Silhouette, die sich vor mir aus dem Nichts herauskristallisiert. Es ist mir nicht möglich mehr als einen Schatten zu erkennen, einer von vielen, die sich an diesem Ort mit dem Lichtschein der einzelnen Kerzenflamme verbinden und goulisch über die Wände tanzen. „Ich habe dir versprochen, dass wir uns eines Tages wiedersehen! Allerdings habe ich gehofft, dass dieser Tag nicht so schnell auf uns zukommt.“ Obschon mir der Sinn seiner Worte durchaus klar ist, verletzt mich das gesagte zutiefst. Schleppend beginne ich zu verstehen, wer sich da in meine unerträgliche Einsamkeit geschlichen hat. Ich habe ihn schon vor vielen Jahren verloren, kurz bevor ich mit Gott für immer gebrochen habe ... unmittelbar, bevor ich dazu verdammt war, mich selbst für immer aufzugeben.
„Mein Herz ist damals mit Dir gestorben“, antworte ich nach geraumer Zeit. Es mag sein, dass ich Minuten oder gar Stunden gebraucht habe, um die wenigen Worte zu einem Satz zu schmieden, aber die Zeit, wie man sie in der sterblichen Welt wahrnimmt, hat hier keine Bedeutung. „Was auf dieser Strasse verendet ist war lediglich eine leere Hülle. Ein karges Gefäss, verstehst du das?“
Das schemenhafte Wesen lachte, doch klang es keinesfalls boshaft oder gemein. Es war jenes Lachen, das mir viele Jahre so unglaublich gefehlt hat und es bringt mich dazu, meine blassen Lippen selbst zu einem kleinen Lächeln zu formen. Hoffnung macht sich in mir breit, bringt mein totes Herz zum Glühen und flehen zugleich. „Ich wollte bei dir sein!“, höre ich mich selbst wispern, auch wenn diese Worte kaum dazu in der Lage gewesen sind, meinen Mund zu verlassen. Mein Gegenüber nickt wissend, während seine schattenhafte Gestalt sich bald so weit materialisiert hat, dass ich sein Gesicht deutlich vor mir sehen kann.
„Ich weiss, meine kleine Schönheit!“ Abermals peitscht er meine Seele mit Worten, die dazu in der Lage sind mich tief im Innersten zu treffen, „Und von nun an wirst Du es auch sein. Was Du durch dein Sterben verloren hast, war lediglich Einsamkeit, denn hier wirst du immer meine Seite zieren.“ Langsam hob sich seine Hand, streckte sich der meinen entgegen und ich fühle, wie sich die Ketten der Sehnsucht sprängen. Mir scheint als hätte ich Jahre damit verbracht auf diesen einen Moment zu warten und genau so war es auch. Mir wird klar, dass ich in meinem Leben nicht immer einsam gewesen bin ... dass ich das Gefühl von vollkommener und einzigartiger Liebe einfach nur vergessen habe. Wie konnte es mir nur entfallen? Eine Frage, die von Sekunde zu Sekunde an Wert verliert. Ich lege meine Hand in seine und so folge ich jener einen Seele, an die sich mein Herz vor so unvorstellbar langer Zeit gebunden hat. Die Erkenntnis ereilt mich. Die Gewissheit wieder ganz zu sein, lässt mich in Frieden ruhen.
Tag der Veröffentlichung: 19.02.2014
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