Cover

Das dunkle Zimmer

Die Nacht war finster und die Turmuhr schlug zehn.
Anna und Lukas lagen immer noch wach in ihren Betten und erzählten sich Geschichten.
Sie wussten, dass sie das nicht tun sollten, denn sie hatten das Nachtgebet längst aufgesagt. Und sie wussten auch, dass Mama böse werden würde, wenn sie herausfinden sollte, dass sie nicht schliefen. Aber es war halt sooo aufregend!
Lukas erzählte Anna gerne von der Schule. Er ging ja schon in die vierte Klasse, während sie erst in der zweiten war. Das ärgerte sie sehr. Sie wollte nicht die kleine Schwester sein. Vielmehr wollte sie den Ton angeben. Aber sie musste auch zugeben, dass ihr Bruder immer sehr nett zu ihr war und stets ein offenes Ohr für sie hatte. Und das war ja nicht bei allen Geschwistern so.
Anna besaß eine sehr lebhafte Fantasie, die oft mit ihr durchging. Sie erzählte dann von Hexen und Drachen, fliegenden Hunden und sprechenden Buntstiften. Am liebsten aber erfand sie Geschichten, die in der Märchenwelt von Schlaraffia spielten. Nicht selten sahen sie ihre Klassenkameraden deshalb komisch an, manchmal lachten sie sogar über sie. Aber Anna war das egal. Sie wusste, dass die anderen im Grunde bloß neidisch auf ihre Vorstellungskraft waren.
Lukas blickte zum Fenster hinaus. Der Mond war aufgegangen. Heute Abend leuchtete er besonders hell.
»Pssst!«, flüsterte Anna.
»Was ist?«, fragte Lukas.
»Kennst du schon die Geschichte vom Mond, der immer kleiner wurde?«
»Nein, nie gehört.«
»Dann pass auf! In der Welt von Schlaraffia bekommen die Menschen alles, was sie sich wünschen. Einmal hatte ein Mann so großen Hunger, dass er …«
Plötzlich wurde die Tür sperrangelweit aufgestoßen, das Licht ging an.
Die beiden Kinder versteckten sich vor lauter Schreck unter ihren Bettdecken.
»Anna! Lukas!«, hörten sie die polternde Stimme ihrer Mutter, »Wie oft muss ich euch eigentlich noch sagen, dass jetzt Schlafenszeit ist?! Hm?!«
Anna blinzelte hinter ihrer Decke hervor.
»Entschuldige, Mama«, wisperte sie schuldbewusst.
Auch Lukas plagte das schlechte Gewissen.
»Wird nicht wieder vorkommen …«, meinte er leise.
»Ja ja, das kenn’ ich schon … Aber eines sag’ ich euch: Wenn ihr nicht ruhig seid, dann kommt der Sandmann. Und der trägt euch fort ins Nimmerland! Von dort ist erst ein einziges Mal jemand zurückgekommen. Und der spricht seitdem vor lauter Angst kein Wort mehr. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt?!«
»Ja, Mama …«
»Dann ist ja gut! … Schlaft jetzt! Gute Nacht!«
»Gute Nacht, Mama!«
Die Tür fiel ins Schloss; der Klang von Mutters Schritten wurde stetig leiser.
Anna kroch unter ihrer Decke hervor und holte tief Luft. Der Schrecken war ihr ziemlich in die Glieder gefahren, aber nun, da Mutter fort war, konnte sie es wagen. Sie musste ihre Geschichte erzählen. Es ging nicht anders. Wie oft war es schon vorgekommen, dass sie die schönsten Märchen bereits am nächsten Morgen wieder vergessen hatte ...
»Okay«, flüsterte sie, »Also, der Mond …«
»Sei jetzt still«, unterbrach sie ihr Bruder augenblicklich, »oder willst du, dass Mama zurückkommt?«
»Nein …«
»Dann leg dich besser schlafen! Gute Nacht!«
Anna zögerte. Aber schließlich wünschte auch sie ihrem Bruder eine gute Nacht. An Schlaf war für sie jedoch nicht zu denken. Minutenlang starrte sie zur Decke hoch.
»Glaubst du, die Sache mit dem Sandmann ist wahr?«, fragte sie schließlich.
Lukas seufzte und zuckte mit den Schultern.
»Was weiß ich …«, erwiderte er. »Gesehen hab’ ich ihn noch nie ... Schlaf jetzt!«
»Hm … Na gut.«
Auf einmal hörten die beiden ein leises Rumpeln aus dem Schrank.
»Was war das?«, fragte Lukas verwundert.
Anna richtete sich auf.
»Ich weiß es nicht …«, meinte sie kopfschüttelnd.
Da war es wieder! Aber dieses Mal war das Geräusch um einiges lauter!
Plötzlich begann der Schrank zu vibrieren; durch den Türspalt drang gleißendes Licht in das finstere Kinderzimmer.
Anna stieß einen stummen Schrei aus und verkroch sich gleich darauf unter ihrer Decke.
Lukas jedoch setzte sich auf. Er wollte wissen, was da vor sich ging.
Die Schranktür sprang auf. Eine dunkle, furchterregende Gestalt tappte heraus und blickte sich akribisch um. Ihre Augen leuchteten hell und bedrohlich.
»Sooo …«, sprach sie zu sich selbst. »Ich dachte, ich hätte eine Stimme gehört. Eine Mädchenstimme … Aber jetzt? Jetzt ist sie weg. Hm … Brave Kinder sollten doch schon längst schlafen … um diese Zeit!«
Die Gestalt drehte sich blitzschnell zu Lukas um. Sein Gesicht wurde hell erleuchtet.
Starr vor Furcht wagte er es nicht, sich zu bewegen. Nicht der kleinste Laut entkam ihm, obwohl sein Mund weit offen stand.
Anna beobachtete alles durch einen dünnen Spalt zwischen Decke und Matratze. Sie presste ihre Handfläche gegen den Mund, um nicht vor lauter Angst loszuschreien. Ihr Puls raste, sie schwitzte. War er das? War das der Sandmann?!
Die dunkle Gestalt näherte sich dem Jungen. Ganz langsam.
»Ahaaa …«, zischte sie, »Ein Bursche also … Und er schläft nicht … Weiß deine Mutter davon, hm?«
Lukas war immer noch wie gelähmt. Ganz zaghaft schüttelte er schließlich seinen Kopf.
»Mhmmm … So ist das also … «, feixte die Kreatur. »Nun denn! Strafe muss sein, hiä, hiä! ... Sieh mich an … Sieh mich an, junger Mann!«
Die Gestalt ballte ihre Hand zur Faust und öffnete sie gleich darauf wieder. In ihrer Handfläche befand sich jetzt aber ein winziges Häufchen glitzernden Sandes. Rasch blies sie dem verängstigten Jungen den Staub ins Gesicht.
Lukas’ Augen wurden glasig. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem abscheulichen Grinsen. Er stand auf.
»Jaaa … So ist’s brav«, kicherte die dunkle Gestalt.
»Komm! … Komm nur her!«
Der Junge gehorchte widerspruchslos. Es war, als hätte der Glitzerstaub seinen Willen ausgeschaltet.
»Sehr gut! Und jetzt: Nimm meine Hand … Ich trag’ dich fort … ins NIMMERLAND!! Hiä, Hiä!«
Die Kreatur packte Lukas und verschwand mit ihm im gleißenden Licht.
Anna sprang atemlos hoch. Schweißperlen tropften von ihrer Stirn zu Boden. Dieses Monster hatte soeben ihren Bruder entführt … Mama! Sie musste Mama Bescheid sagen!
In Windeseile lief sie zur Tür. Aber sie ließ sich nicht öffnen! Die Kleine rüttelte daran, stützte sich sogar mit beiden Beinen an der Mauer ab – zwecklos! Sie ging nicht auf! Anna fing an, zu schreien. Klar, hell und laut. Aus vollen Leibeskräften. Doch niemand kam … Wie konnte das sein? Vor wenigen Minuten noch hatte ihre Mutter selbst das leiseste Geflüster wahrgenommen, und jetzt …? Womöglich war das ja ein Werk dieses Monsters! Was sollte sie bloß tun? Sie konnte ihren Bruder doch nicht seinem Schicksal überlassen …
Zaghaft bewegte sie sich auf den Schrank zu und öffnete ihn. Drinnen schien alles normal zu sein, bis auf … Da hinten an der Wand! Da klaffte ein merkwürdiges Loch! Es sah aus, wie ein dunkler, flüssiger Spiegel.
Anna tauchte ihre Hand hinein und zog sie blitzschnell wieder heraus. Die Flüssigkeit klebte an ihr wie Kaugummi, schnalzte aber gleich darauf zurück.
Sollte sie es riskieren, ihrem Bruder zu folgen? Sie hatte kaum eine andere Wahl! Die Tür ließ sich nicht öffnen, und Mama reagierte nicht auf ihre Rufe.
Sie holte tief Luft, dann gab sie sich einen Ruck und sprang in das Loch.

Im Nimmerland

Anna flog mit atemberaubender Geschwindigkeit durch einen dunklen Tunnel. An seinen Wänden, die feurig rot glitzerten, bildeten sich dicke, schwarze Buchstaben. Sie besagten: »Nächster Halt: NIMMERLAND.«
Anna bekam es mit der Angst zu tun, schrie wie am Spieß! Da schlug sie plötzlich in einer pechschwarzen, gelatineartigen Flüssigkeit auf. Es war die gleiche Flüssigkeit wie in ihrem Wandschrank zu Hause. Offenbar war sie am Ziel ihrer Reise angelangt.
Sie richtete sich auf und blickte sich um. Das konnte doch nicht sein! Dies war das Nimmerland? Hier war rein gar nichts! Bloß eine weite Ebene, die … Halt! Da vorne bildeten sich aus der gelatineartigen Flüssigkeit auf einmal Häuser … und Straßen … Autos … Menschen … eine ganze Stadt – ihre Heimatstadt!
Eine Sirene heulte los. Sie hörte gar nicht mehr auf!
»Alarm! Sofort in die Schutzbunker!«, rief jemand aufgeregt. »Frauen und Kinder zuerst!«
Anna verstand überhaupt nichts mehr. Was war hier los?!
Flugzeuge brausten im Sturzflug durch die engen Gassen und warfen ihre tödliche Fracht ab. Heftige Explosionen ließen die Häuser wackeln wie ein Erdbeben der Stärke neun. Dutzende Panzer rollten durch die Straßen und nahmen sich gegenseitig unter Feuer.
Plötzlich packte ein Soldat Anna am Arm.
»Mädchen, was tust du hier?!«, schrie er laut. Sein Gesicht war voller Narben und Blut. »Weißt du nicht, dass Krieg herrscht?!«
»Was? Krieg …?«, stutzte sie. »Aber … Ich suche meinen Bruder!«
Der Mann ging nicht auf sie ein.
»Los, los! Rein mit dir in den Bunker!«, wies er sie hektisch an.
Anna gehorchte und versteckte sich.
»So! Und da bleibst du jetzt!«, rief der Soldat.
Auf einmal hallte lautes Geschützfeuer durch die Luft. Der Mann rannte mit der Waffe im Anschlag los.
Eine gewaltige Explosion zerstörte mehrere Häuser.
Anna sah, wie der Soldat im Kugelhagel starb. Panisch warf sie sich in Deckung.
»Ahhh! Nein …! Mama!«, heulte sie erschrocken los.
Dann fiel die Tür hinter ihr zu, und es war wieder finster.
Anna zitterte am ganzen Leib und weinte bittere Tränen. Was um alles in der Welt passierte da draußen? Sie wollte doch bloß ihren Bruder finden …
»Schhht, mein Kind! Ist ja schon gut«, flüsterte jemand in der Dunkelheit. Es war eine Frauenstimme, sie flößte Anna Vertrauen ein. »Hier drin kann dir kein Leid geschehen.«
Anna atmete tief durch.
Es war ihre Schuld gewesen, dass der Sandmann Lukas geholt hatte. Ihre Stimme hatte ihn angelockt. Hätte sie doch bloß auf Mama gehört …
»Komm, setz dich zu uns. Es gibt Milch und Kekse«, bot die freundliche Frau an.
Anna hörte Kinder lachen. Ganz leise zwar, aber doch wahrnehmbar. Welch eine Wohltat für ihre geschundene Seele! Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft im Nimmerland fühlte sie sich nicht mutterseelenallein. Sie richtete sich zaghaft auf und trocknete ihre Tränen.
»Hier sind wir. Folge einfach der Stimme.«
Anna konnte nichts sehen, im Bunker war es stockdunkel. Blindlings tastete sie sich vorwärts. Vielleicht würde ihr die nette Frau ja bei der Suche nach Lukas helfen.
»Gleich bist du da. Nur noch ein kleines Stückchen.«
Eine einzelne Glühbirne ging an. Ihr diffuses Schimmern reichte kaum aus, um auch nur die Hälfte des Raumes zu erhellen.
Da vorne saß sie, die Frau mit der freundlichen Stimme. Von hinten sah sie sogar ein bisschen aus wie … Mama?
»Mama, bist du das?!«, fragte Anna aufgeregt. Sie begann zu laufen.
Als sie nur noch wenige Meter von ihr entfernt war, drehte sich die Frau auf einmal zu ihr um.
Die Kleine erschrak fürchterlich. Nein, es war nicht Mama, es war der Sandmann!
Seine glühenden Augen starrten tief in Annas Seele hinein. Akribisch und unbarmherzig suchten sie nach ihren größten Ängsten und labten sich an ihrer Panik.
Rings um ihn tauchten kleine Kinder aus der Dunkelheit auf – es wurden immer mehr. Sie hatten dasselbe abscheuliche Grinsen im Gesicht, wie es auch ihr Bruder gehabt hatte.
»Nimm einen Keks!«, riefen sie wieder und wieder, während sie langsam näherkamen. »NIMM EINEN KEKS!«
Die Plätzchen, die sie in ihren Händen hielten, waren riesig. Viel größer als normal.
»Lukas!«, rief Anna laut.
Auf dem süßen Backwerk prangte sein Bildnis. Und es bewegte sich!
»Hilf mir, Anna! Bitte!«, hörte sie plötzlich seine Stimme. »Ich will hier raus! … Ich will heim zu Mama!«
Die Kinder kamen immer näher. Nun erhob sich auch der Sandmann.
Anna wich panisch zurück. Hinter ihr befand sich eine Wand, sie konnte nicht mehr weiter.
»NIMM EINEN KEKS!«
»Lukas!«, schrie Anna ohne Unterlass. Ihr wurde schwindlig, sie bekam keine Luft mehr, sank zu Boden.
Da traf eine Bombe den Bunker und riss ein gewaltiges Loch in eine der Mauern. Die Druckwelle war so groß, dass die Kinder und der Sandmann durch die Gegend geschleudert wurden.
Mit einem Schlag war Anna wieder hellwach. Sie nahm die Beine in die Hand und lief hinaus ins Freie. Ohne zu wissen, wohin. Bloß nicht stehen bleiben, bloß nicht zurückblicken! Sie wollte nur eins: Weg von hier! So schnell wie möglich!
Nachdem sie etwa einen halben Kilometer gelaufen war, fiel sie keuchend zu Boden. Sie musste sich ausruhen. Aber nur kurz, denn …
Anna blickte sich verdattert um. Erst jetzt bemerkte sie, dass sich die Umgebung völlig verändert hatte. Dies war nicht mehr die Stadt von vorhin! Kein Flugzeuglärm, keine Panzer, keine Schüsse! Dafür Felder, so weit das Auge reichte! Und dort vorne … War das nicht eine Burg? Einer ihrer Türme war so hoch, dass er bis in die Wolken hineinragte.
In einiger Entfernung konnte Anna zwei Personen erkennen – einen Mann und einen Jungen. Der Fremde zog den Kleinen hinter sich her. Es sah so aus, als wollte er ihn zur Burg bringen.
»Lukas?«, wisperte Anna leise. »Lukas!«
Auf einmal drehte sich der Knabe zu ihr um. Er rief ihren Namen, und er rief um Hilfe!
Ja! Lukas! Er war es tatsächlich! Dieses Mal war es dem Sandmann nicht gelungen, sie zu verwirren. Anna lief los.
Sie hatte die beiden schon fast erreicht, da spürte sie die Druckwelle von mächtigen Flügelschlägen und eine gewaltige Hitze. Instinktiv warf sie sich in Deckung.
Über der Burg kreiste ein roter Drache. Er brannte die Felder ringsum nieder. Sein Odem entflammte auch die Hütten und Scheunen der Bauern, die die Äcker bestellten.
Anna erblickte Dutzende Soldaten auf den Zinnen der Burg. Sie beschossen den Lindwurm mit Pfeilen und Bolzen. Doch seinen Panzer konnten sie nicht durchdringen.
Der Sandmann ließ sich von alldem nicht abhalten. Immer noch steuerte er mit Lukas auf die Burg zu.
»Anna! Hilf mir!«, schrie der Junge panisch.
Der Drache flog einen weiteren Angriff. Nun spie er sein Feuer aber nicht mehr auf die Felder, sondern auf die Soldaten, die die Burg verteidigten. Gleich darauf schlug er mit dem Schwanz gegen einen der Türme. Er stürzte laut krachend in sich zusammen.
Die wenigen Verteidiger, die noch lebten, flohen in alle Himmelsrichtungen.
Jetzt erst erkannte Anna, dass das ja gar keine Menschen waren, sondern Schlangen, die mittelalterliche Rüstungen, Schwerter und Lanzen trugen. Sie kannte sich gar nicht mehr aus!
Die Burg schien den Attacken des Lindwurms von nun an schutzlos ausgeliefert zu sein.
Der Drache flog eine weitere Runde, brach den Angriff jedoch plötzlich ab. Stattdessen schoss er wie ein Pfeil auf Anna zu. Er musste ihre Witterung aufgenommen haben. Sie befand sich in höchster Gefahr!
Schnell wie der Wind rannte sie auf einen kleinen Weiher zu und sprang hinein. In letzter Sekunde! Das Feuer des Lindwurms hatte ihre Haare angesengt. Aber sie lebte.
Laut prustend kroch sie ans Ufer. Sie blickte nach oben und sah ein Paar Stiefel. Es war der Sandmann, er stand direkt vor ihr! Anna erschrak fürchterlich, aber für eine Flucht war es nun zu spät.
Der Schurke packte das Mädchen und hob es hoch.
»Soooo stur und unnachgiebig … Trotz all meiner Bemühungen, tststs!«, zischte er.
Anna bemerkte aus dem Augenwinkel, dass der Drache erneut auf sie zuflog. Sie zeigte in den Himmel und begann zu schreien.
Doch der Sandmann lächelte bloß. Wenige Sekunden, bevor die Bestie sie erreicht hätte, hob er die Hand und schnippte.
Der Lindwurm stürzte leblos zu Boden und begrub die restlichen Scheunen und Häuser unter sich.
Nun war Anna alles klar: Der Sandmann war der Herr über das Nimmerland! Er hatte all diese Schreckgespenster erschaffen, um sie zu verängstigen! Aber warum bloß?
Als ob er Gedanken lesen könnte, sprach er plötzlich: »Eure Angst hält mich am Leben! Ich sehne mich nach eurer Furcht, labe mich an eurer Panik und trinke euer Grauen!«
Er ließ Anna herunter und steckte seine Hand tief in den Boden hinein. Als er sie wieder herauszog, war sie voll mit schwarzem Glibber. Begierig saugte er diesen in sich auf.
»Mmh …«, schmatzte er.
»Wo ist mein Bruder?!«, rief Anna zornig.
»Eingelegt in Aspik, hiä, hiä!«, lachte der Sandmann laut. Dann schnippte er erneut.
Im Boden tat sich ein Riss auf. Hunderte Kinder lagen darin dicht an dicht. Sie waren gefesselt, und ihre Körper gaben die dunkle Flüssigkeit von sich, die das Nimmerland speiste.
Anna erblickte ihren Bruder.
»LUKAS!!«, schrie sie wie von Sinnen. Sie wollte sich aus der Gewalt des Sandmanns befreien, hatte aber keine Chance. Sie war nicht kräftig genug.
»Geduld, Geduld …«, grinste das Scheusal, »Bald seid ihr wieder vereint!«
Anna wand sich hin und her - es war zwecklos!
»Wehr dich nicht … Es gibt kein Entkommen!«
»Doch! Es gibt einen Weg hier raus!«, rief Anna laut. »Einmal ist dir ein Kind entwischt! Meine Mama hat mir davon erzählt!«
»Pah … Das ist schon ewig her!«, tat der Sandmann den Einwand sofort ab. »Durch eine Unachtsamkeit ist mir ein einziges Mal ein Knabe entlaufen und in die Burg geflohen – zum König der Kobras. Über den Wolkenturm gelangte er wieder zurück in eure Welt. Aber das funktioniert jetzt nicht mehr! Ich habe nämlich den Eingang versiegelt!«
Plötzlich schossen zahlreiche schwarze Lianen aus der Erdspalte hervor und umschlangen Annas Körper. Eine gewaltige Kraft zog sie nach unten. Sie konnte nichts dagegen tun.
Der Sandmann stand am Rand der Spalte und winkte ihr hämisch grinsend hinterher.
»Leb wohl, Anna!«, rief er ihr zu, »Ich werde dich nicht sehr vermissen, hiä, hiä!«
Der Riss schloss sich über ihr.
»Neeeeiiiiin …!!!«

Die Geschichte mit dem Mond ...

»Neeeiiin … Nein! Lass mich! … Der Sandmann!«
»Anna! Wach auf! … Anna!«
Anna riss die Augen auf. Sie befand sich in ihrem Bett. Der Schweiß klebte an ihrer Stirn, sie atmete schwer. Ihre Mutter hatte sich über sie gebeugt.
Was war hier los? Hatte sie geträumt? Blitzschnell richtete sie sich auf.
»Wo ist Lukas?!«, fragte sie atemlos.
»Ich bin hier …«, meinte ihr Bruder lächelnd.
Er saß auf seinem Bett und blickte sie ein wenig beunruhigt an.
»Du hast so laut geschrien, aber ich hab’ dich einfach nicht wach bekommen«, erklärte er. »Darum hab’ ich dann Mama geholt …«
Anna atmete tief durch.
Gott sei Dank …, dachte sie erleichtert.
»Siehst du, junge Dame? Das passiert, wenn man zu lange aufbleibt …«, scherzte ihre Mutter. »Komm! Steh jetzt auf, es ist schon halb sieben! Unten gibt es Milch und Kekse. Das magst du doch immer zum Frühstück, oder?«
»Mhm«, murmelte Anna.
»Na also!«, lächelte ihre Mutter. »Lass dir nicht zu viel Zeit. Um acht Uhr beginnt die Schule …«
Sie stand auf und ging nach draußen.
»Ist gut, Mama …«, rief ihr Anna hinterher.
Die Tür fiel ins Schloss.
Anna ließ den Kopf in ihren Nacken fallen und atmete mehrmals tief ein und aus.
»Nun sag schon!«, meinte Lukas neugierig. »Was hast du denn Schlimmes geträumt?«
Anna lächelte zaghaft.
»Vom Krieg, von Lügnern, vom Drachenfeuer und von Dingen, die beißen …«, fasste sie ihre Erlebnisse zusammen. »Ich bin jedenfalls froh, dass dir nichts passiert ist …«
»Mir?«, fragte ihr Bruder spöttisch, »Ha! Was soll mir schon passieren? … Komm jetzt! Mama wartet auf uns!«
»Ich zieh’ mich nur schnell an …«
Lukas sprang grinsend vom Bett herunter und ging zur Tür. Plötzlich drehte er sich aber noch einmal um.
»Eine Sache würde mich noch interessieren …«, sagte er.
Anna blickte ihn an.
»Die Geschichte mit dem Mond, der immer kleiner wird … Wie ging die noch mal?« 

Impressum

Texte: W. A. Wolff
Bildmaterialien: Pixabay
Cover: W. A. Wolff
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2018

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /