„Hinter dem Fenster beginnt eine andere Welt“, dachte sich Aila. „Dort singt der Wind gemeinsam mit den Vögeln in der alten Birke,und dahinter ist so viel Platz, der nur kurz von Wolken unterbrochen wird und sich ansonsten über alles Bekannte hinaus und gewiss noch ein bisschen weiter erstreckt.“
Eine Berührung an der Schulter riss sie aus den Gedanken. Ihr Kopf drehte sich weg vom Fenster und statt der alten Birke sah sie nun ihre nicht ganz so alte Mutter. „Hast du jemals ...“, begann Aila, wurde jedoch sogleich unterbrochen.
„... mein Zimmer aufgeräumt? Davon kannst du aber ausgehen, und es wäre schön, wenn du dir daran ein Beispiel nehmen würdest.“
Der energische Tonfall ihrer Mutter ließ auf wenig Verhandlungsspielraum hoffen, Aila ließ es dennoch auf einen kläglichen Versuch ankommen: „Mama, hier ist doch alles ordentlich.“
„Ja, ordentlich durcheinander. Überall diese Bücher auf dem Boden, die Pflanzen könnten auch mal wieder gegossen werden, und wieso sitzt du überhaupt auf dem Tisch?“
„Weil das so viel bequemer ist.“ Aila tätschelte ihre Knie, die ganz vorne aus dem Schneidersitz hervorlugten, und streckte genüsslich den Rücken durch.
Ihre Mutter lächelte kurz, blieb jedoch am Ball: „Dann hast du dich jetzt ja jetzt fein ausgeruht und kannst aufräumen.“
„Wenn es so einfach wäre“, seufzte Aila. „Rein physikalisch betrachtet ist die Entropie dieses Zimmers ...“
„Nein, stopp, nicht noch ein Physikvortrag!“ Ihre Mutter formte mit den Händen ein Kreuz und zeigte auf ihren Ohrstöpsel. „Den höre ich schon seit ein paar Minuten von Mary.“
„Du telefonierst gerade mit Mama? Gibt es Neuigkeiten aus dem Labor?“
„Physik, ganz viel Physik, und irgendwas mit Quantiteilchen.“
„Antiteilchen ...“, murmelte Aila, aber ihre Mutter hörte schon gar nicht mehr zu, zeigte noch einmal auf all das Chaos, das zu beseitigen war, und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.
Damit war Aila nun also wieder einmal allein. Sie rutschte vom Tisch, stemmte die Hände in die Seite und stellte sich der niemals enden wollenden Herausforderung. Im Grunde war auch gar nicht so viel zu erledigen. Ihr Zimmer war nicht signifikant größer als die Zimmer ihrer Freundinnen (darüber hatte Aila sogar einen Bericht verfasst), und auch die Pflanzen sahen durchschnittlich verdurstet aus, ein bisschen Wasser würde für die nächste Woche reichen. Der Mülleimer war schnell geleert, und somit blieben neben dem üblichen Kleinkram, der sich so über die Zeit ansammelt, nur noch die überall herumliegenden und zweifelsohne wunderbaren Objekte namens Buch.
Aila kniete nieder und griff zum ersten Schmöker, einer Übersicht über Quanteneffekte, die Mary ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Auch ihre andere Mutter hatte dieses Buch erhalten, aber nie gelesen. „Quantiteilchen ...“, lächelte Aila in sich hinein. Es war schon erstaunlich, dass ausgerechnet diese beiden Frauen geheiratet hatten. „Hilft aber alles nichts!“
Die Bücher über höhere Physik landeten auf einem Stapel und dieser im Regal, und so sollte es weitergehen, doch als sich Aila wieder dem Boden zuwandte, fiel ihr Blick auf ein Buch, das zu hoch war, um noch dort unten zu liegen: eben jene Übersicht über Quanteneffekte.
„Hab ich dich nicht gerade weggeräumt?“ Aila runzelte die Stirn. Mittlerweile hatte sie den Überblick über all ihre Bücher verloren, vielleicht besaß sie dieses sogar doppelt. Oder ihre Mutter hatte es bei ihr entsorgt, wer weiß. Ohne weiter darüber nachzudenken, stellte Aila es erneut ins Regal und versuchte sich dann daran, die Mathematikbücher zu ordnen. Analysis, Indifferenzrechnung, Lineare Algebra, zum Glück nur ein einziges Buch über Numerik, und was es nicht noch so alles gab. Ein Fach im Regal reichte jedenfalls aus, zu viel Mathe ist auch ungesund.
„Jetzt seid ihr dran!“, rief sie und zeigte auf einen kleinen Stapel in der Ecke – auf dem zuoberst die Übersicht über Quanteneffekte lag. Aila kniff die Augen zusammen. So sollte das nicht sein. Sie taxierte das Buch und hielt den Finger auf es gerichtet, während sie langsam Schritt für Schritt zu ihm ging. „Du. Sollst. Ins. Regal.“ Sie packte es, drehte sich um, holte aus und schleuderte es Richtung Regal.
„Hätte ich dich losgelassen, hättest du dir jetzt ganz schön weh getan“, flötete Aila. „Kleine Bücher wie du sollten sich nicht auf dem Boden herumtreiben, sondern fein ordentlich im Regal bleiben.“
„Das fände ich aber gar nicht gut.“
„Na so weit kommt es noch, dass ich mit dir diskutiere.“ Aila steckte das Buch in die Lücke, aus der es gekommen war, und nickte. „So ist’s gut.“
„Ich finde das wirklich nicht gut“, meinte die Stimme, die nicht wie ein Buch klang, sondern eher wie ein Mädchen.
Aila sprang instinktiv einen Schritt zurück und starrte auf die Quantenübersicht.
„Wenn es hier nicht ordentlich aussieht, schafft Papa sein Experiment nicht, hat er gesagt.“ Das Buch wackelte ein bisschen, als würde es jemand Unsichtbares greifen, und fiel dann kraftlos auf dem Boden. „So, jetzt ist’s gut!“, rief die Stimme hörbar erfreut.
„Das passiert gerade nicht nur in meinem Kopf, oder?“, fragte Aila, deren Hirn rasend versuchte, die Situation einzuordnen. Selbstgespräche mit Büchern waren ihr nicht fremd, aber das hier hatte eine andere Qualität.
„Nein, du hast ganz real ein Durcheinander in meinem Zimmer angerichtet. Das kann ich heute echt nicht gebrauchen.“
„Hier ist doch alles ordentlich!“, jammerte Aila, und fügte hinzu: „Bis auf dich komisches Buch natürlich.“
Da brach die Stimme in ein heiteres Lachen aus. „Haha, du denkst also, ich wäre das Buch? Mensch, Aila, wir sind doch Quantiteilchen, du müsstest das genauso gut verstehen wie ich.“
Aila verstand es nicht. Verwirrt irrten ihre Augen durchs Zimmer, auf der Suche nach diesem fremden Mädchen, dessen Stimme nun ins Belehrende überging.
„Quantiteilchen, kurz für quantenmechanisch aneinander gekoppelte Antiteilchen. Es reicht nicht anzunehmen, dass es zu jedem Teilchen auch ein Antiteilchen gibt, denn dadurch alleine ist die Symmetrie nur statisch und damit zu schwach. Es braucht die Kopplung, die Fernwirkung, das Prinzip des Ausgleichs, du weißt schon, ein bisschen quantitastische Dynamik.“
„Nein, weiß ich nicht“, murmelte Aila, obgleich sich langsam eine gewisse Ahnung anbahnte. Zuerst musste sie aber den Ursprung dieser Stimme genauer lokalisieren. Sprach sie etwa durch das Regal hindurch?
„Es ist ein Nullsummenspiel. Wenn jemand bei einer Wette gewinnt, verliert eine andere. Was raus kommt, muss auch wieder rein. Der eine Kühlschrank ist voll, der andere dafür voll leer. Das große Quin und Quang.“
„Oder aber“, meinte Aila trocken, „du versteckst dich einfach nur hinter meinem Regal.“ Sie umfasste alle Physikbücher und zog sie mit einem Ruck zu sich heran, sodass sie auf den Boden fielen und den Blick hinter das Regal ermöglichten.
„Na, siehst du mich?“
Aila schmollte. „Da ist nur eine Wand.“
„Natürlich! Ich bin nicht in deinem Zimmer, sondern in meinem. Ein Zimmer für Aila, eines für Alia, einfacher kann ich es nicht erklären.“
„Also gut.“ Aila hatte beschlossen, es einfach hinzunehmen. Auch ohne jede theoretische Basis sprachen die empirischen Tatsachen für sich. „Du bist also Alia, lebst irgendwo in deinem Zimmer, und wir sind quantitastisch miteinander verbunden.“
„So sieht’s aus“, stimmte Alia zu. „Und wie das eben so ist bei Quantiteilchen, kehrt sich so manches ins Gegenteil um, wenn man die Symmetrieachse überschreitet.“
„Wie unsere Namen zum Beispiel?“
„Genau. Und viel wichtiger: Was bei dir ordentlich ist, ist bei mir durcheinander, und umgekehrt. Nicht der Drang zu höherer Entropie schafft die Unordnung in unseren Zimmern, sondern unsere Quantimutter, die unser Quantiteilchen dazu auffordert, das Quantizimmer aufzuräumen.“
„Was für ein Irrsinn!“, rief Aila. „Es ist doch wohl klar, dass es quantiphysikalisch unmöglich ist, dass bei uns beiden gleichzeitig Ordnung herrscht.“
„So wie bei all den anderen Kindern auch“, pflichtete Alia bei. „Der Gesamtzustand ist immer ordentlich durcheinander. Entweder auf beiden Seiten im Extrem, oder so, dass sich Ordnung und Unordnung gegenseitig gespiegelt ergänzen. So ein entspanntes Durcheinander auf beiden Seiten wäre am besten, das passt quantisymmetrisch perfekt zusammen.“
„Richtig.“ Aila schlug mit ihrer flachen Hand gegen das Regal und hoffte, dass Alia auf ihrer Seite ebenso einschlug.
„Jetzt ist es jedenfalls wichtig, dass du mir beim Aufräumen hilfst, damit Papa sein Experiment schafft.“
Aila nickte. Ihr war zwar nicht klar, wie ein aufgeräumtes Zimmer kausal mit dem Erfolg des Experiments von Quantimary zusammenhing, aber beim Aufräumen zu helfen, indem sie Unordnung machte, war einfach zu verlockend, um Fragen zu stellen. Während sich beide an die Arbeit machten, erklärte Alia dennoch ungefragt so einiges, und Ailas Vorfreude wuchs und wuchs, bis sie nach nicht einmal einer Viertel Stunde breit grinsend inmitten des ordnenden Chaos saß. „Ich denke, wenn es heute nicht klappt, klappt es niemals.“
„Und ich denke ergänzend, dass es irgendwann bestimmt klappen wird“, fügte Alia hörbar zufrieden hinzu.
„Also bis gleich!“
Es dürfte nicht länger als fünf Minuten dauern, doch diese waren entscheidend, nichts durfte das ordentliche Durcheinander stören. Also lief Aila zu ihrer Mutter im Nebenzimmer, kuschelte sich an sie und tat so, als wäre sie eine Katze, die sich streicheln ließ.
„Da scheint sich jemand beim Aufräumen so richtig verausgabt zu haben.“
„Miaui“, stimmte Aila zu. „So aufgeräumt wie heute habe ich noch nie! Alles Dank der Kraft der Physik.“
Wie aufs Stichwort öffnete sich in diesem Moment die Wohnungs-tür und Mary trat herein.
„Schatz, du bist ja doch schon daheim, hast du es geschafft?“
„Nicht so ganz“, murmelte Mary geknickt. „Wir wissen nicht, wieso, aber wir konnten keinen Kontakt zu den Quantiteilchen aufnehmen. Die Maschine ist kaputt.“
„Nur so ein bisschen kaputt?“, fragte Aila, um jeden Zweifel auszuschließen.
„Nein, ganz kaputt.“
Bildmaterialien: Cover Image by 3209107 from Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 17.01.2024
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, denen ein ordentliches Durcheinander ganz lieb ist