Cover

Clara, eine Studie


Oft hört man Erzählungen von der großen Liebe, die auf den ersten Blick aufloderte und auch nach Monaten und Jahren noch so hell leuchtet wie in diesem Augenblick. Ein Feuerwerk der Gefühle, das alles andere vergessen macht, blind für die Fehler, blind für die Zukunft – und eines Tages, so geht die Geschichte oft weiter, wenn man nur lange genug lauscht, wacht man auf, die Augen haben sich an das Blendwerk gewöhnt und diese schöne Beziehung, von der alle dachten, sie würde für immer halten, ist urplötzlich passé.

Wer so leben möchte, dem sei es freigestellt. Eine wunderbare Zeit miteinander zu verbringen, bis man sich unter großer Trauer trennt, mag besser sein, als den Blick vor der Welt völlig zu verschließen und im Keller einsam dahinzuvegetieren. Wie so oft, wenn man zwischen zwei Extremen zu wählen hat, stellt es sich allerdings als die beste Möglichkeit heraus, den Mittelweg zu probieren – und damit beginnt nun meine Geschichte.

 


Ich habe Clara – und wir alle wissen, dass dies nicht ihr richtiger Name ist – während des Studiums kennengelernt, als ich die Hoffnung schon längst aufgegeben hatte, überhaupt noch jemanden zu finden, an dem ich interessiert sein könnte. Man sagt, um zu finden, darf man nicht suchen, und so schlich sie sich auch langsam in mein Leben, ohne dass ich wüsste, wann genau ich sie das erste Mal bewusst als Einzelperson und nicht nur als eine von vielen wahrgenommen habe.

Damals beantwortete ich einmal in der Woche Fragen von Studenten der unteren Semester zur Vorlesung und zu ihren Übungsaufgaben. Besser gesagt überlegte ich mir, welche Fragen sie haben könnten, auf die ich eine Antwort geben konnte und auch durfte, denn Studenten der Mathematik, das kann ich versichern, stellen ungern Fragen, mit denen sie sich eine Blöße geben würden.

Clara allerdings hielt sich nicht an das übliche Muster: Sie schrieb mir elektronisch, wie denn gewisse Dinge zu verstehen seien, woraufhin ich ihr meine Gedanken dazu darlegte, und auch nach der Veranstaltung kam es ab und zu zu einem launigen Frage-Anwort-Spiel, das in eine nette Plauderei überging. Kein Wunder also, das sich meine Augen auf sie richteten und meine Gedanken anfingen, munter um sie zu kreisen.

Dabei kannte ich anfangs nicht einmal ihren Namen, weil ich nicht fragte und sie ihn mir nicht mitteilte. So war es für einige Tage ein nettes Rätsel, herauszubekommen, ob diese beiden Personen – die elektronische und die reale – übereinstimmten. Indizien sammeln, kleine Andeutungen machen, Wahrscheinlichkeiten abschätzen und irgendwann selbstbewusst die Wahrheit als bekannt zu proklamieren, das liegt mir mehr als direkt zu fragen, was ich wissen will.

So erkundigte ich mich natürlich nicht direkt nach einem möglichen Freund oder ob wir etwas zusammen unternehmen könnten, was ihr direkt erläutern würde, wonach mir der Sinn stand. Immerhin bestand die Gefahr, dass ihre Deutungen, die sie gewiss ebenso anstellte, zu einem Schluss gekommen wären, die mich in ein falsches Bild gerückt hätten. Im Nachhinein betrachtet wäre es wohl schlauer gewesen, direkt auf sie zuzugehen, aber im Nachhinein ist man bekanntlich immer schlauer.

Ich beließ es also dabei, mich mit ihr zu unterhalten, wann immer sich die Gelegenheit ergab, und sie dabei stets ein wenig mehr in den Geheimnissen der Mathematik zu unterweisen. Wir trafen uns außerhalb der Universität, aber doch noch immer bildungsnah in einer Bibliothek, um dort in Ruhe über die Welt der logischen Symbole zu reden. Die Atmosphäre war dabei nie angespannt, wir dachten angestrengt nach und lachten ab und zu, wenn wir uns in die Augen sahen und erkannten, dass keiner von uns beiden so recht wusste, wie das vor uns liegende Rätsel zu lösen war. – Zwei Akademiker unter sich, wozu braucht man da Klischees?

Nachdem die Arbeit getan war, begleitete ich sie heim und erfreute mich dabei daran, wie schnell sie mit ihrem Rad zu fahren wusste, und dann stand ich allein vor ihrer Tür und fragte mich, ob ich es jemals auf die andere Seite schaffen würde. Frustriert war ich dabei keineswegs. Nette Zeit zu zweit zu verbringen und danach das Bett für sich zu haben, das war so schlecht nicht.

Die Tage gingen ins Land, Herbst wurde zu Winter, das Wetter verharrte in einem merkwürdigen jahreszeitlosen Zustand ohne jede Charakteristik, und noch immer trafen wir uns ein-, zweimal die Woche in bekannter Manier. Wissenswert ist es dabei möglicherweise noch, dass wir abwechselnd leckeres Essen mitbrachten, um uns den Abend zu versüßen. An einem Tag nahm ich gar frisches Gemüse mit zur Universität, schnitt es nach allen Vorlesungen vor der Tafel, vorne auf dem Tisch des Dozenten, in kleine Stücke, und brachte so zu meinem Treffen mit Clara frisch geschnittene Utensilien und auch etwas Ei und Käse mit, damit wir uns Körnerbrötchen ganz nach Belieben belegen konnten. Bessere Brötchen habe ich in meinem ganzen Leben nicht gegessen, aber wie gesagt: Ich weiß nicht, ob das abgesehen vom Geschmack wirklich von Belang ist.

Es muss nicht weiter erwähnt werden, wie mein Interesse an ihr ins beinahe Unermessliche wuchs: Eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung ergibt, dass die Stunden, die ich damit verbrachte, mich mit für mich leichten Aufgaben zu beschäftigen, durch ein immenses positives Gefühl aufgewogen werden mussten, das sie mir gab. Kurz: Ich fühlte mich wohl. Wie es bei ihr stand, war leider auf diese Weise nicht zu ermitteln, und die Zeichen, die ich versuchte, zu deuten, waren äußert widersprüchlich, auch ohne die Tatsache, dass man jedwede Äußerung ohne Probleme in alle Richtungen auslegen kann. Dennoch war ich voller Hoffnung, dass es ihr ebenso ging, wie mir. Kommt Zeit, kommt Rat, und ein guter Tee hat noch jedes Warten erträglich gemacht.

Als sie jedoch eines Tages wie nebenbei von Treffen mit einem anderen erzählte, konnte ich meine ruhige Arbeit nicht gedankenlos fortsetzen und fragte sie nach dem wahren Hintergrund. Sie druckste herum, wollte mit der Antwort nicht herausrücken, aber nach einigen Minuten entfleuchte ihr widerwillig der folgende Satz: »Ich bin zu 85 Prozent mit ihm zusammen.«

Man kann sich vorstellen, wie meine kleine sorgsam aufgebaute Welt der gegenseitigen stillen Sympathie zerbrach. 85%! In der Sprache der gewöhnlichen Menschen bedeutete dies, dass sie sich ziemlich sicher war, sehr bald wirklich mit ihm zusammen zu sein. Mit ihm, der nicht ich war. Ich bewahrte den Anschein eines hellauf glücklichen Menschen, lachte dabei viel zu viel, gab ihr zu verstehen, sie solle mich auf dem Laufenden halten, und verschwand dann in die Nacht, um mich meinen einsamen Gedanken hinzugeben.

Das sollte es also gewesen sein. Zehn Wochen der aufgeregten Vorfreude, gekrönt von einer enttäuschenden Antwort, aus der ich lernen könnte. Das Vermächtnis von Glück und Leid ist die Erfahrung und auch ein paar Nächte, in denen ich kaum noch schlief, einfach so auf dem Bett saß und die Wand anstarrte. Viel mehr Fragen als sonst schon gingen mir durch den Kopf und keine war leicht zu beantworten. Was ist der Unterschied zwischen Freundschaft und Partnerschaft, zwischen Sympathie und Liebe? Wie erkennt man dies, wie baut man es auf und zerstört es wieder? Und was hat die Gesellschaft damit zu tun, die all die ungeschriebenen Regeln aufgestellt hat, deren Unlogik ich mich nie beugen wollte?

Einige Antworten fielen mir ein, doch hier muss jeder für sich selbst wissen, was ihm wichtig ist. Mein zentraler Begriff war dabei das Glück und ich empfand es – noch immer –, wenn ich an Clara dachte. Drei Tage später fasste ich also einen folgenschweren Entschluss: Ich würde ihr weiterhin helfen, die Mathematik zu verstehen, und dabei ihre Nähe genießen und alle Gedanken an eine Welt außerhalb des von uns beiden bewohnten Mikrokosmos vergessen.

Wir trafen uns also, scherzten weiterhin munter über die vielen so fremde Welt der linearen Gleichungssysteme und in meinem Kopf drehte sich alles. Ihre lockere Art, ihr Lächeln, ihre Augen, die mich keck anschauten: Wenn ich nicht wüsste, wie sehr sie schon mit einem anderen im Bunde wäre, so würde ich die Idee einer gemeinsamen Zukunft für überaus wahrscheinlich halten, doch …

Was wäre, wenn es eine versteckte Realität geben würde, in der alles nicht so war, wie ich dachte? Wenn ich in dieser einfach ignorieren würde, was Clara über den anderen gesagt hat, der doch nichts damit zu tun hat, was zwischen uns beiden geschieht?

Wenn ich ihr weiterhin näher käme, Tag für Tag?

Wenn ich irgendwann ihr Zimmer betreten dürfte, um ihr leckeres Essen vorbeizubringen?

Wenn wir dann gemeinsam kochten?

Wenn ich manchen Tag bei ihr daheim wäre, für mehrere Stunden, bis es Nacht wird?

Wenn wir dabei wie gehabt lernten, ich ihr dabei aber eine Massage gab?

Wenn ich ihr währenddessen einen Arm um die Hüfte legte, um sie sanft zu streicheln?

Wenn sie es still genießen würde, wie ich ihren Nacken kraule und hinter den Ohren?

Wenn, ach wenn! Diese Konjunktive!

All dies hing nur von einem einzigen Satz ab, der mich durch die Nächte begleitete, bis mein Unterbewusstsein zu einem Schluss kam, der mir erlaubte, mit ein wenig Hoffnung in die Zukunft zu sehen: »Du kennst ihren Satz, keine Frage, aber kennst du auch dessen Bedeutung? Was, wenn sie nicht meinte ›Ich bin schon zu 85% mit ihm zusammen‹ sondern ›Ich bin nur noch zu 85% mit ihm zusammen‹? Was dann?«

Ich lag wach. Dachte darüber nach. Schlief kurz ein, wachte wieder auf und dachte weiter nach. Es war eine interessante Nacht, die ich erlebte, und wie ich es auch wendete und drehte, mein Unterbewusstsein hatte die richtige Frage gestellt. Ich konnte mir nicht sicher sein, was sie wirklich dachte. Niemals, egal, was sie tat, egal, was sie sagte. Es gab nur eine einzige logische Schlussfolgerung aus dieser Geschichte, ein Erbe, das ich mir gut einprägen sollte: Wenn du etwas erreichen willst, so denk nicht nur darüber nach, was sein könnte, sondern versuche, es zu erreichen. Eine umständliche Formulierung des wohlbekannten ›Probieren geht über Studieren‹.

Also probierte ich es, und siehe da: Die eben erklärte Realität, die ich mir so schön ausgemalt hatte, ward Wirklichkeit, in jedem einzelnen Punkt, und wie es weitergeht, das werde ich morgen erfahren.

Impressum

Texte: Covasol Libri
Bildmaterialien: Rainer Sturm / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 11.01.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diesem Wohlgefühl gewidmet, das sich in ihrer Nähe einstellt

Nächste Seite
Seite 1 /