Man fragt sich wahrscheinlich: "Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen der Mathematik und der Schriftstellerei? Sind das nicht zwei vollkommen verschiedene Gebiete?"
Und wie meist, wenn eine rhetorische Frage gestellt wird, gibt es eine fabelhafte Antwort:
In meinen Augen nicht. Ich sehe sogar sehr viele Gemeinsamkeiten, und beide Gebiete beflügeln sich in meinem Leben gegenseitig.
Da den meisten wohl nicht daran liegt, die Mathematik besser zu verstehen, möchte ich in diesem Büchlein erklären, wie man umgekehrt Erfahrungen der Mathematik auf die Schriftstellerei anwenden kann. Und dabei werde ich, nett wie ich bin, (fast) keine Formeln aufstellen oder komische, seitenlange Rechnungen zu einem finalen Vorzeichenfehler führen.
Ich hoffe, das bringt euch einige Ideen, wie man seine eigenen Geschichten erschaffen und gestalten kann.
Mathematische Ideen entwickeln sich nicht von alleine, sie sprießen aus schon Bekanntem. Mit ein wenig Erfahrung rät man, was gelten könnte, und dann versucht man, es zu beweisen. Dabei ist zu Beginn nicht bekannt, ob der Beweis erfolgreich sein wird, und daher sucht man parallel auch nach einem Gegenbeispiel.
Das Problem in diesem Stadium ist also, eine möglichst starke Aussage zu formulieren, die das Gewünschte liefert.
Wie also hilft die Mathematik dabei, Probleme zu lösen, die ihr selbst zu schaffen machen? Nun, indem man ihr etwas in die Hand gibt. Die wenigsten sitzen vor einem Blatt Papier, wollen etwas schreiben, aber haben überhaupt gar keine Idee im Kopf, um was es gehen soll. Irgendein springender Funken ist meist da, den man sich aus dem Alltag geholt hat.
Eine Figur, ein Wort, eine spezielle Handlung, ein Gefühl, ein Ding, ein Witz, ...
Was nun machen mit dieser Idee? Ersteinmal aufschreiben und dann sicherstellen, dass die Idee so verarbeitet wird, dass etwas Neuartiges entsteht, das andere überrascht. Niemand möchte lesen, was er schon dutzendmal gesehen hat. Eine Geschichte sollte neuartig in mindestens einer Komponente sein.
Dies ist der Zusammenhang zum Gegenbeispiel. Auch diese findet man nicht unter Konstellationen, die schon lange bekannt sind, denn dann würde es schon irgendwo stehen. Die Frage ist also nicht: "Was soll ich schreiben?", sondern: "Was hat sonst noch niemand geschrieben?", oder: "Was erwartet niemand?"
Man versuche es einmal so: Definiere alle Dinge, die die Idee beinhaltet, so exakt wie möglich, und versuche dabei, möglichst wenig Worte zu nutzen. Dabei stößt man auf weitere Begriffe, die man genauer definieren kann. So entsteht mit ein wenig Anstrengung und ohne jede Kreativität ein kleines Netz aus Erklärungen, das mit Leben gefüllt werden will.
In diesem Netz nun sucht man nicht nach dem herkömmlichen Beispiel, sondern versucht, die dortigen Definitionen so abwegig wie möglich zu erfüllen. Wobei "abwegig" natürlich nicht mit "unmöglich blödsinnig" oder "absolut unlogisch" gleichzusetzen ist. Man versuche, so weit um die Ecke zu denken, wie möglich.
Eine mathematische Aussage ist nutzlos ohne einen Beweis, der einwandfrei ihre Gültigkeit nachweist. Eine Reihe von logischen Schlussfolgerungen ist nötig, um sich von den Voraussetzungen bis hin zur gewünschten Aussage zu hangeln.
Um diese Kette zu erstellen, kann man keinen Vorgaben folgen, sondern muss mehre Möglichkeiten probieren, von vorne und hinten zugleich anfangen und sich dann irgendwo in der Mitte treffen. Ist dies geschafft, werden alle unnützen Äste gestützt und es erscheint, als wäre der Mathematiker ein Genie voller Intuition, der genau weiß, wolang er gehen muss.
Der Beweis entspricht in der Geschichte nun der Handlung. Die Idee gibt ein paar grobe Voraussetzungen wie etwa "2 Personen, nachts" und eine Aussage, die erreicht werden soll: "Beide verlieben sich, sehen sich aber nicht." Die Behauptung dazu ist: "Daraus lässt sich eine interessante Geschichte basteln."
Wie lässt sich dies erreichen? Wie oben beschrieben: Man fängt von beiden Seiten an und überlegt sich, wohin sich die Personen zeitlich und örtlich bewegen könnten, und zugleich, wo sie sein müssten, um alle Aspekte der Idee umzusetzen. Dabei können folgende Probleme auftreten:
1) Alles passt prima zusammen, aber die Geschichte ist noch nicht "rund". Dann braucht es eine erweiterte Aussage, und sei sie nur: "Das Ende soll rund sein." Wenn man nun wieder genau definiert, was genau an der aktuellen Handlung stört und wie es sein müsste, dass sie gefällt, steht die passende Idee schon fast im Raum.
2) Alles passt zusammen, aber ist ziemlich weit hergeholt, funktioniert nur mit erstaunlichen Zufällen oder einem plötzlichen Sinneswandel. Dann muss die Behauptung überarbeitet werden, und zwar so, dass die aktuelle Handlung nicht mehr möglich ist. Für diese Probleme beispielsweise: "Antagonist und Hauptperson haben ihre Handlungen schon vorab präzise formuliert."
3) Man findet keinen Weg, der alles miteinander verbindet. Die beiden mögen sich einfach nicht, besitzen kein Reisemittel oder dummerweise ist es Winter. Dann müssen nun die Voraussetzungen herhalten und hinzugefügt (er sieht aus wie ein Sandkastenfreund), abgeändert (die Feier findet nun doch im selben Ort statt) oder fallengelassen (Winter war niemals wichtig für die Geschichte) werden.
Wendet man diese drei Schritte wiederholt an, so findet sich stets eine Möglichkeit, das eigene Ziel zu erreichen, und all die Ideen, die man sich sonst so gemacht hat, können entweder als Seitenstrang einfließen oder die Basis für eine andere Geschichte bilden.
Die Bewohner der mathematischen Welt sind x, y und z, die Variablen, die je nach Kontext andere Eigenschaften haben. Mal sind sie ganze Zahlen, mal Spiegelungen, mal Gruppen von Abbildungen, die die Eigenschaften (i), (ii) und (iii) erfüllen. Doch immer nur sind sie genau dies.
Anfangs fällt es vielen schwer, mit Variablen statt mit expliziten Objekten zu rechnen, weil man ja nicht weiß, wie genau sie aussehen. Der Vorteil jedoch ist, dass man sich darüber gar keine Gedanken machen muss. Man nutzt nur die Eigenschaften, die man kennt, und alle Rechnungen sind für x, y und z gültig, solange sie nur die richtigen Eigenschaften haben. Dies erspart eine Menge Arbeit.
Dieses Prinzip lässt sich problemlos auf die Charaktere (und alle anderen Objekte und Plätze) einer Geschichte anwenden. Oftmals versucht man, diese so gut wie möglich zu verstehen, schreibt sie Aussehen, Fähigkeiten und Vorgeschichte auf, damit man weiß, wie sie in etwaigen Situationen handeln würden. Dies ist durchaus praktisch, wenn man nicht weiß, wie es weitergehen soll, doch entspricht es nur einer Vergrößerung der Voraussetzungen.
Mathematisch gesehen ist es schlechter Stil, mehr Voraussetzungen zu stellen, als wirklich gebraucht werden. (Es sei denn, es handelt sich um gängige Begriffe. Niemand wird zum Beispiel den Menschen, der gut Klavier spielen kann, durch ein humanoides Geschöpf mit derselben Fähigkeit ersetzen, nur weil dies ebenso seinen Zweck erfüllen würde.) Wieso es also mit den Charakteren machen?
Erschafft euch die Charaktere so, dass ihr selbst nicht mehr wisst als die Leser, der wiederum nicht mehr erfährt, als für das Verständnis der Geschichte notwendig ist. Das heißt jedoch nicht, dass die Figuren platt und eindimensional sind. Es ist beispielsweise eine legitime Forderung, dass ein Charakter ein wirklich bunter Vogel sein soll, und zu einer gut geschriebenen Geschichte gehört schließlich mehr, als eine straffe Haupthandlung.
Die Vorteile dieser Technik liegen auf der Hand.
1) Man ist nicht eingeschränkt im Fortlauf der Geschichte. Sollte es zu einem Zeitpunkt notwendig sein, einen Pfadfinder im Boot zu haben, so kann er ohne Probleme demjenigen Charakter angedichtet werden, der sich am wenigsten dagegen sträubt. Dazu gibt es zwei Kapitel vorher ein kleines Gespräch, in dem beiläufig darauf hingewiesen wird, und schon fügt sich alles zusammen. Schwieriger wäre es, im Nachhinein alle Stellen zu ändern, die darauf hindeuten, dass eine Figur wahrscheinlich kein Pfadfinder ist, und ärgerlich, wenn all diese Andeutungen ohne tieferen Sinn eingefügt wurden.
2) Der Leser ist freier in seinen Gedanken. Beim Lesen macht man sich automatisch ein Bild der Figuren, auch wenn sie nicht explizit beschrieben werden. An ihre Stelle treten unterbewusste Gedanken von Freunden, Feinden und Leuten von der Straße, und die gesamte Szenerie fühlt sich für den Leser natürlich an. Je spezieller aber die beschriebene Person wird, desto schwieriger wird es, solch ein Bild aufrecht zu erhalten. Die Hauptperson wird niemand schon zuvor im Kopf gehabt haben, eine große Anstrengung für den Kopf. Frustrierender dann, wenn gerade diejenige Eigenschaft, die man am meisten mochte, für die Geschichte absolut ohne Belang ist.
Aus diesen Gedanken ergeben sich zwei Dinge:
1) Nebencharakter besitzen wenige Eigenschaften und werden eher klischeehaft beschrieben, damit jeder Leser sofort ein klares, individuelles Bild vor Augen hat. "Der Depp von nebenan" wird in jedem Kopf anders aussehen, aber da für die Geschichte nur notwendig ist, dass er ein Depp ist, ist dies absolut nicht von belang.
2) Wichtige Eigenschaften der Hauptcharaktere sollten früh eingeführt werden, ehe sich ein festes Bild dieser gebildet hat. Wenn es nach der Hälfte des Buches plötzlich wichtig ist, dass sie blond ist, sollte das nicht beiläufig erwähnt werden, da dies allen Lesern mit schwarzhaarigen Gedanken vor den Kopf stoßen würde. Entweder also, die Haarfarbe war schon früher Thema, oder sie wird nie thematisiert, da sowieso eine langhaarige Perücke aufgesetzt wird, die zufällig auch blond ist.
Dies ist sogar eine große Stärke des geschriebenen Wortes. Im Gegensatz zu Film und Theater wird dem Leser kein festes Bild in den Kopf gelegt. Hier kann er die Welt ganz nach seinen eigenen Gedanken formen, so, wie es ihm am besten passt. Es ist geradezu ein Frevel, seine Fantasie abzuschalten, indem jede Szene im Kleinklein beschrieben wird.
Bislang klang es so, als wäre das Wichtigste Element der Mathematik die Wahrheit. Doch dem ist nicht so. Eingeweihte sind von der andauernden Perfektion so gelangweilt, dass sie nach einer höheren Qualität streben, der Ästhetik. Ein wahrhaft gute Beweis ist nicht einer der vielen, sondern ein besonders eleganter.
Was nun diese Ästhetik ausmacht, liegt im Auge des Betrachters, doch gibt es ein paar allgemeingültige Punkte: Man fängt nicht von allen Seiten zugleich an, sondern löst die Probleme strukturiert. Man schreibt nicht mehr, als unbedingt notwendig, aber genug, um jeden Schritt nachvollziehbar gelöst zu haben. Man bedient sich keiner langwierigen Berechnungen, sondern einer schlauen Ideen.
Für einen Text nun hat die Ästhetik viel mit der Formulierung der Gedanken zu tun und ist damit oft wichtiger als der Inhalt. Daher kann hier der Vergleich mit der Mathematik nicht viel leisten, in der es auf die Logik ankommt und eher selten auf geschwungene Sprache. Der Nutzen liegt daher mehr auf dem Aufbau des Interesses beim Leser.
(Nur so viel zur Wahl der Wörter: Genauso, wie man das Lösen von Mathematikaufgaben durch jahrelange Übung und Studien erlernen muss, ist es unabdingbar, die eigene Sprache (wie auch Techniken zum Erstellen von Geschichten) durch stetes Schreiben zu verfeinern. Jeder Mensch schreibt anders, und manchem wird es gefallen, manchem wiederum nicht.)
Nun jedoch zu den Ableitungen aus der Mathematik:
1) Gib deiner Geschichte einen Plan, dem sie folgt. Einerseits sollte dem Leser bei jeder Szene klar sein, wer wo wann warum wie handelt, damit er sich nicht komplett in der Geschichte verliert. Der rote Faden ist hierbei sei wichtig. Andererseits sollte auch der Autor wissen, welche Bedeutung eine Szene für die gesamte Geschichte hat. Führt sie einen Charakterzug näher aus, löst sie ein Problem oder zündet sie eine Nebelkerze? Spätestens, wenn der Text fertig ist, sollte jedes Wort erklärbar sein - sonst kann man es auch streichen.
2) Verliere dich nicht in abschweifenden Erklärungen über die Welt oder seitenlange Dialoge, weil du etwas weißt, was der Leser nicht weiß. Gönne ihm ein wenig Abwechslung und lass seine Fantasie arbeiten. Aber noch wichtiger: Lass nicht den Zufall walten, wir leben in einer größtenteils kausalen Welt. Irgendwann im Buch sollten es keine großen Rätsel mehr geben. Kleine Zufälligkeiten treten immer auf, doch sollten diese nicht plötzlich das Hauptproblem lösen - dafür ist der Held da. Oftmals ist es am besten, wenn sich der Leser bei einem Ereignis denken kann: Daran hätte ich auch denken können, da stand etwas in Kapitel 2. Dies erhöht zudem den Wiederlesewert ungemein.
3) Erzähle nicht, was alle Welt schon kennt. Das eigene Leben findet man vor der Haustür. Finde besser das Besondere im Alltäglichen, die geschickte Abzweigung auf der Straße oder auch die verborgene Welt im Hintergrund. Die langatmigen Probleme des gemeinen Menschen mit ihren komplizierten, meist nicht funktionablen Lösungen langweilen - zeige, wie es sein könnte, wenn man ein wenig an den Voraussetzungen wackelt.
In der Mathematik gibt es eine Unmenge an Fachbegriffen, die in jeder Sprache anders heißen, erstaunliche Symbole, die je nach "Schule" eine andere Bedeutung haben, und in jedem Beweis wird eine Vielzahl an Variablen verwendet, die meist doch nur "x" oder "epsilon" heißen.
Doch alles ist exakt definiert und wird gemäß seiner Definition verwendet. Studiert man daher einen mathematischen Text, so weiß man stets, wie etwas zu verstehen ist, und man kann sogar Bücher in fremden Sprachen mit Gewinn lesen.
Selbiges gilt für jeden Autor, der nicht nur für sich selbst schreibt. Er muss sich zwar keine Gedanken über Formeln machen, doch darüber, wie seine Sprache und sein Text aufgebaut ist. Der Inhalt eines Textes darf beliebig abenteuerlich sein, nicht jedoch seine Form. Darauf verlässt sich der Leser. Jedes Wort sollte gemäß seiner Bedeutung genutzt werden und korrekt geschrieben sein, und der Satzbau sollte den gängigen Regeln entsprechen.
Auch die Welt, in die er den Leser wirft, gehorcht dabei gewissen Gesetzen, physikalischen und weltlichen. Und ganz egal, wo die Charakter leiden - es wird in einer Geschichte stets nach denselben Regeln geschehen. Wird ein Bauer ermordet, weil er nicht vor dem Herrn kniet, so macht sich der Leser Sorgen um die junge Bauerstochter, die aufbegehrt. Geschieht ihr wider Erwarten nichts, so ziehen sich Brüche durch die Welt.
Welche Regeln man dabei nutzt, ist gleichgültig, solange man sich konsequent an diese hält. Es spricht nichts dagegen, einen Dialekt zu nutzen, alle Kommata und Großbuchstaben zu unterlassen oder sich dem Konjunktiv zu verweigern. Genauso spricht nichts gegen utopische Zustände, die Abkehr von jedweder Physik oder gegen unserer Zeit, ganz einfach so, wie sie ist.
Die genutzten Regeln erkennt man an den ersten Zeilen eines Textes oder dann, wenn ein Wort das erste Mal auftritt. Ist dies geschehen, so hat sich der Leser ein Bild gemacht und der Text sollte fortann dabei bleiben. Gleiche Wörter werden stets gleich geschrieben (zurzeit, zur Zeit), Absätze nach gleichen Regeln gesetzt und Fremdwörter entweder konsequent kursiv geschrieben oder nicht. Gleiches gilt für die Welt.
Möchte man mit seinem Werk möglichst viele Leute ansprechen, so ist es dabei hilfreich, sich dem Regelwerk der deutschen Sprache zu entsinnen. Dieses ist den meisten bekannt und so müssen sie sich nicht umgewöhnen, und hält man sich daran, muss man sich nicht merken, dass in der eigenen Regel "richtig" mit "d" statt "t" geschrieben wird. Ob man nun aber in der eigenen Welt bleibt, oder sich eine gänzlich neue erdenkt, ist gänzlich egal, solange man sich in dieser auskennt.
Genau wie bei der Schreibweise für Wörter und Beschreibungen der Welt macht sich der Leser auch ein Bild über Personen, die in einem Buch vorgestellt werden. Da sie für ihn unbekannt und für die Handlung wichtig sind, wird er auf alles, was mit ihnen zu tun hat, sogar sehr stark achten. Behandelt daher eure Charaktere wie Wörter mit festgelegter Schreibweise, grammatikalischen Formen und Rollen im Satz: Sie sind wohldefinierte Wesen mit eindeutigem Namen und Aussehen, die sich von Zeit zu Zeit auf bestimmte Art verändern, wenn sie mit anderen Objekten in Beziehung treten.
Natürlich hat man bei Personen eine gewisse Freiheit, Menschen handeln impulsiv und verändern sich mit der Zeit. Doch wenn der Charakter unstet ist und Veränderungen nicht erklärt werden, weiß der Leser nicht, worauf er sich einstellen soll und wirft dem Autor Willkür vor.
In der Mathematik gibt es nichts Schlimmeres, als einen Fehler begangen zu haben. Die gesamte Logik baut darauf auf, dass nirgends eine falsche Aussage getroffen wurde, und jeder Mathematiker lebt im glücklichen Bewusstsein, über die Wahrheit zu verfügen.
Daher ist man notgedrungen damit beschäftigt, Fehler zu finden, indem man sich die Definitionen klar macht und schaut, wo man eine nicht erlaubte Umformung durchgeführt hat. Enthält ein Beweis auch nur einen nicht zu beseitigenden Fehler, ist er wertlos.
Ganz so schlimm ist es außerhalb der exakten Wissenschaften nicht, Fehler sind nahezu gesellschaftlich akzeptiert. Dennoch sind sie an Anzeichen dafür, seine eigenen Definitionen nicht zu beherrschen.
Wenn man einigermaßen geübt im Schreiben ist, so gelingt es, ohne nachzudenken 95% der Wörter und Zeichen richtig zu setzen. Die restlichen Fehler teilen sich auf in zwei Gruppen:
1) Fehler, die nicht sein müssten. Hierzu zählen die Rechtschreibung bekannter Wörter, Groß- und Kleinschreibung, vergessene Leerzeichen, fehlende Kommata zwischen Nebensätzen, ... Also sogenannte Schusselfehler, die man nur aus Versehen macht.
Diese lassen sich zu großen Teilen beseitigen, wenn man die Rechtschreibkontrolle beachtet und seinen Text nochmals gründlich liest. Und der Leser kann mit gutem Recht erwarten, dass der Autor diese Arbeit durchführt. Wenn der Text selbst dem Urheber zu langweilig ist, um ihn zwei-, drei-, viermal zu lesen, so ist er auch nichts für den Leser.
Alle Schusselfehler zu eliminieren, ist für den Verfasser des Textes sehr schwer - die berühmte Autorenblindheit. Darum werden sich auch die wenigsten beschweren, wenn ab und zu ein solcher Fehler auftritt. Gerade bei kostenlosen Geschichten geht dabei nicht die Welt unter.
2) Unbewusste Fehler. Von außen sehen sie aus wie Schusselfehler, doch erkennt man sie daran, dass sie stets auftreten. Der Autor weiß hier offenbar nicht, dass er einen Fehler macht. Wenn dies der Leser auch nicht weiß, ist alles gut, aber wenn er es weiß, wird es ihm bei jeder Wiederholung umso stärker ins Auge fallen.
Aus Sicht des Autoren gibt es zwei Möglichkeiten:
Er weiß um seine Fehlerhaftigkeit. Jeder hat Regeln, mit denen er einfach nicht klarkommt. Seien es Pronomen, die Kommasetzung bei erweitertem Infinitiv oder die Schreibung von Zusammensetzungen. Wenn man allerdings etwas schreibt und sich nicht sicher ist, ob das so überhaupt stimmt, dann ist es die falsche Entscheidung, einfach darüber hinwegzusehen. In solch einem Fall macht man sich schlau, Suchmaschinen nutzen kann jeder. Der Rest ist Übungssache.
Er ist sich des Fehlers nicht bewusst. Dies ist die einzige halbwegs vernünftige Ausrede, einen Fehler begangen zu haben. Hat man irgendwann einmal etwas falsch verstanden oder nie genauer über etwas nachgedacht, so passiert dies schnell. Hier helfen zwei Dinge: Andere Texte lesen und sich bei deren vermeintlichen Fehlern fragen, ob man es selbst wirklich besser weiß - oder sich ein paar Testleser beschaffen.
Ähnliches gilt für Fehler inhaltlicher Art, wobei solche in der Regel schwerer wiegen als bloße Rechtschreibfehler, da sie die Illusion der intakten Welt vernichten. Hier sollte man also umso mehr aufpassen, welche Farben die Socken haben, und sich schlau machen, wie Kanibalen handeln.
Und warum kann das nicht der Korrektor für mich machen?
Ein Korrektor ist beinahe unabdingbar, um Fehler im Text (auch und besonders inhaltlicher Art) aufzudecken. Doch sollte man nicht seine Verantwortung auf ihn abwälzen. Er ist keine Tante für alles, sondern eine Art letztes Aufgebot der Qualitätskontrolle. Er verwendet seine Energie darauf, auch noch den kleinsten Fehler zu entdecken, und möchte sich nicht mit den 99 Prozent abquälen, die der Autor selbst finden kann. Dem Autor selbst obliegt es, seine Kunst zu beherrschen.
Anders gesagt: Niemand möchte einen Superstar, der nur vor der Kamera nett ist. Niemand möchte einen Politiker, der zwar Visionen hat, aber nicht weiß, wie diese umzusetzen sind. Niemand möchte einen Bäcker, der die leckersten Kuchen erschafft, aber seinen Arbeitsplatz danach nicht säubert.
Die Mathematik ist allerdings keine Lösung für alle Fragen, die mit der Schriftstellerei zusammenhängen. (Beziehungsweise müsste man dafür sehr komplizierte Formeln aufstellen, die nur unter bestimmten Annahmen an die Welt ihre Gültigkeit behalten.)
In der Mathematik ist man ohne exakte Logik verloren. Die Wörter dürfen nicht zweideutig sein und in Formeln hat jedes Zeichen an seinem Platz zu stehen. Ohne diese Ordnung wäre es unmöglich, sich zu verständigen.
Schreibt man eine Geschichte, so sollte man an sich denselben Anspruch stellen, jedoch leicht abgeschwächt. Übermäßige Exaktheit ermüdet Schreiber und Leser, viele Fakten reimt sich die Alltagserfahrung zusammen. Daher ist es gar nicht notwändig, jede Aussage glasklar zu formulieren. Dennoch sollte man verstehen, wovon die Geschichte handelt.
Im Gegensatz zur Mathematik jedoch dürfen Geschichten die Wahrheit verbergen, wenn sie eigentlich ans Tageslicht müsste, indem man geschickt Zweideutigkeiten nutzt, und man kann sich sogar an einer Lüge versuchen, um den Leser zu foppen. Man muss hier abwägen, welches Vorgehen im Sinne des Leses gewinnbringender ist.
Gleichsam ist der Aufbau der Mathematik recht dröge. Es gibt Definitionen, einige Hilfsaussagen und dann ein Satz, der Schritt für Schritt so bewiesen wird, wie es am passabelsten erscheint. Manches Mal hat man das Bedürfnis, eine Erkenntnis zu beklatschen, doch in der Regel weiß man schon vorher, wohin der Zug fährt und verfolgt währenddessen nicht den Beweisfortschritt. Danach flaut die Vorlesung langsam ab mit einigen eher langweiligen Beispielen.
Ein Text nun aber lebt von der Spannung, die er erschafft. Kleine und große Geheimnisse halten den Leser fest und lassen ihn ein Buch verschlingen, die ganz große Konflikt bleibt bis zum Ende hin offen. Und wenn die Katze aus dem Sack ist, endet das Buch bestenfalls noch vor dem Epilog.
Es obliegt dem Autor, zu jedem Zeitpunkt ein Zugpferd zu präsentieren, auch wenn er den Fall schon längst aufklären könnte. Die Probleme werden nicht brav Stück für Stück gelöst, sondern sie schaukeln sich parallel immer höher. Ein Buch ist ein Spiel um die Macht, die der Autor besitzt und der sich der Leser freiwillig unterwirft.
Schlussendlich ist die Mathematik exakt, sie lässt keinen Raum für Interpretationen und Auslegungen.
Ein Text jedoch darf mit mehreren Bedeutungsebenen hantieren - oder so tun, als ob er dies täte. Jeder Leser macht sich sein eigenes Bild von einer Geschichte, und das ist gut und richtig so. Vorschriften sind nur dann zu gebrauchen, wenn von einer allgemeinen Übereinstimmung Leib und Leben abhängt.
Andererseits heißt dies aber auch, dass in der realen Welt keine Regel ohne Ausnahme ist. So steht es auch um dieses Büchlein hier. Alle Worte sind als Ratschläge gedacht, nicht als Anleitung. Wer von ihnen abweicht oder sie gar in ihrer Gegenteil verkehrt, muss sich allein sich selbst gegenüber rechtfertigen, ob das, was er tut, am besten geeignet ist, seine Ideen umzusetzen. Dies ist bei aller Kritik, die er zu erwarten hat, das Einzige, was wirklich zählt.
Texte: Covasol Libri
Tag der Veröffentlichung: 21.07.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die Wissenschaft, die mir so vieles gegeben hat