Irritiert ließ sich 38899 mit festen, eindimensionalen Seilen an den Stuhl fesseln. Er hatte seiner Geliebten zwar versprochen, jedwede Prozedur über sich ergehen zu lassen, aber damit hatte er nicht gerechnet. „Doktor, ich schwöre“, versuchte er es nochmals. „Mich verlassen nur wahre Worte!“
Der Doktor, ein in Alter ergrauter Kreis, schmunzelte vor sich hin und wies die unreifen Ellipsen an, fortzufahren. „Herr 0568, Sie wissen, in welch einer Welt wir leben. Bloße Behauptungen sind nichts wert, wir brauchen Beweise.“
„Aber wie sollte es anders sein? Ich liebe sie!“
Der Kreis schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Dann haben Sie doch nichts zu befürchten, oder?“
Davon konnte 38899 mit Wahrscheinlichkeit 1 ausgehen, völlig sicher war er sich dennoch nicht. Doch er nickte schicksalsergeben. „Also gut, starten Sie die Maschine.“
Dichter Rauch quoll langsam in die Kugel, in der sie sich aufhielten, und das grausige Quietschen einer schlecht geölten Apparatur schmerzte in den Ohren. Als auch noch grelle Blitze durch den Raum zuckten, lachte der Doktor irre los: „Ich liebe meinen Beruf!“
38899 verstand dessen Freude nicht im Geringsten, aber so waren sie, die Formen. Ein wenig verrückt.
„Nun antworten Sie, 0568, die Frage kennen Sie schon!“, schrie da der Kreis und rollte wie wild herum.
Die Zahl verscheuchte den Frosch aus ihrem Hals und sprach so ruhig und besonnen wie möglich: „Ich liebe Fräulein 11081 8941 und ich bin ihr niemals fremdgegangen.“
„Ausgezeichnet, junger Freund, Sie haben es vollbracht!“, schrie der Doktor, drehte sich enthusiastisch um den eigenen Mittelpunkt und fiel vor Freude zu Boden. „Sie haben es vollbracht“, wiederholte er leise und kichernd. „Sie haben es … vollbracht.“
Zwei Stunden später saß 38899 in einer anderen Kugel, die hoch oben über der Stadt angebracht war. Der Ausblick über all die Viertel und Achtel reizte ihn jedoch nicht so sehr wie der Anblick seiner geliebten 11081, die auf der anderen Seite saß, flankiert von zwei uniformierten Parallelen. Solange die Gefahr einer Falschaussage im Raum stand, war es so am besten. Ordnung musste sein, dem stimmte sogar 38899 zu. Dies hielt ihn freilich nicht davon ab, ihr einen stummen Kuss zuzuwerfen.
„Wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten darf“, durchschnitt da die Stimme eines Epsilons den Raum. „Wir haben uns heute zusammengefunden, um die Liebe des Herrn 0568 zu ergründen. In Zuge dessen verlesen wir nun die zu Protokoll gegebenen Aussagen.“
Schlagartig kehrte Stille unter den Zahlen und Formen ein, eine dicke Menge mit genügend Elementen, um sich um solcherlei Vorschriften keine Sorgen machen zu müssen, redete dennoch weiter und ließ ihre Lakaien mitschreiben.
„Herr 0568 tätigte Aussage A: Ich liebe Fräulein 11081 8941 und ich bin ihr niemals fremdgegangen; ein Vertreter der hochverehrten Menge Z gab die folgende Aussage B zu Protokoll: Dies ist eine Lüge, er liebt sie nicht; und eine namentlich nicht näher bekannte und heute nicht anwesende Variable gab schriftlich Aussage C an: 38899 0568 hat mit mir eine lustvolle Nacht vollbracht.“
Es fiel 38899 schwer, Ruhe zu bewahren bei diesen abenteuerlichen Falschaussagen, und auch 11081 schlug verschreckt die Hand vor den Mund, wenngleich sie nur glaubte und fest wünschte, es mit Falschaussagen zu tun zu haben. Zum Glück würde die Wahrheit nun ans Licht kommen, denn das Epsilon verlas das Ergebnis der Maschine, die, gesteuert vom Doktor, nachweislich keiner Lüge fähig war, doch dies stets ein wenig verklausuliert zum Besten gab:
„Von diesen drei Aussagen ist genau eine falsch.“
Nachdenkliches Schweigen kehrte ein, sogar die dicke Menge strengte ihr Gehirn an, um etwas zu verstehen. Dabei war es wirklich leicht, wie es 38899 erschrocken in den Sinn kam: Da seine Worte ohne Zweifel der Wahrheit entsprachen, mussten diese lächerlichen Aussagen B und C beide falsch sein. Ein klarer Widerspruch zur Maschine und damit …“
Die Menge Z, der ein Berater gerade eben diese Schlussfolgerung eingeflüstert hatte, sprang auf und schrie: „Also hat dieser 0568 gelogen!“ Mit einem breiten Grinsen schritt er zu der lieblichen 11081. „Es ist eindeutig! Er liebt Sie wirklich nicht, holde Maid. Dürfte ich nun die Gunst der Stunde ergreifen und um Ihre Hand anhalten?“
„Bitte … wie … das kann doch …“ Sie stammelte sichtlich verstört und wandte sich von ihm ab. Wie konnte ihr das 38899 nur antun? Nach all den liebenden Worten, nach all der Zeit?
Mit Tränen in den Augen suchte sie seinen Blick, doch er wich ihr aus. Was sollte er auch tun? Er war sich absolut sicher, die Wahrheit gesagt zu haben. Aber die Maschine … die anderen Aussagen …
Die hohe Null konnte nur auf eine Art und Weise entscheiden und mit ihrem Hammer sorgte sie für Ruhe. „Die Logik gibt uns eine eindeutige Lösung an die Hand. Herr 0568, Sie haben sich der Falschbehauptung zu verantworten, die Strafe dafür ist allgemein bekannt. Zwei Jahre in den gesetzlosen Gebieten der physikalischen Anstalt werden Sie sicher zu Vernunft bringen.“
„Nein, hohe Null!“, schrie er daraufhin.
„Ich höre wohl nicht recht, junger Mann! Bewahren Sie die Würde dieses Ortes!“
„Hohe Null! Ich habe nicht gelogen! Ich liebe 11081, das ist die Wahrheit! Ich liebe sie!“
„Machen Sie sich nicht lächerlich! Herr Doktor, bitte erklären Sie Herrn 0568 den Unterschied zwischen falsch und wahr.“
Der Kreis rollte kichernd herbei und freute sich auf das nun Kommende. „Die Angaben der Maschine sind mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit richtig, doch mag es durchaus sein, dass dies nicht reicht, um zu wissen. Es gibt … gewisse Lücken.“
„Herr Doktor?“ Die hohe Null schien verwirrt, und mit ihr alle im Raum. Was mochte das bedeuten?
„Lassen Sie es mich erklären.“ Er grinste über seine gesamte Peripherie. „Die Maschine wurde vor langer Zeit gebaut und nie ist ihr ein Fehler unterlaufen, man hat das überprüft und ab und zu die erhabene Unendlichkeit befragt. Was wir darüber vergessen haben: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Maschine richtig liegt, beträgt lediglich einhundert Prozent. Kennt man ihre Mechanismen – und ich bin mir durchaus sicher, dass Z über genügend Elemente verfügt, um sich dieses Wissen zu erkaufen – so kann man gewiss unter Zuhilfenahme geeigneter Variablen, Approximationen und Differentiale Aussagen erschaffen, die falsch sind, aber nicht als solche erkannt werden.“
Die Menge wollte empört dazwischenrufen, doch die hohe Null gebot Ruhe. „Erzählen Sie mehr, Doktor, wie können einhundert Prozent nicht genug sein?“
„Ganz einfach, hohe Null, ganz einfach. Beschauen Sie sich eine Kugel, die die Zahlen 1 und 2 enthält, und weisen sie eine Parallele an, wahllos eine Zahl herauszuholen. Mit welcher Wahrscheinlichkeit kommt sie ohne die 1 zurück?“
„Nun, doch mit fünfzig Prozent, möchte ich meinen. In einem von zwei Fällen.“
„Korrekt, und wenn die Zahlen 1 bis 10 vertreten sind, so haben wir es mit neunzig Prozent zu tun, bei 1 bis 8943 beispielsweise, womit das adrette Paar des Abends gemeinsam ohne Zweifel vertreten wäre, schon mit gigantischen neunundneunzig-komma-periode-neun-acht-acht-acht-eins-acht-null-sechs-neun-neun Prozent, womit der Vorteil der Ziffernschreibweise – wenn nicht gar der gemeinen Brüche – eindrucksvoll belegt wäre.“
Er holte tief Luft und verlieh damit seinem Durchmesser die nötige Dominanz.
„Wie Sie nun gewiss schon gesehen haben, nähert sich die Wahrscheinlichkeit recht schnell den hundert Prozent an, und diese wird in der Tat erreicht, wenn wir in der dann zugegeben recht großen Kugel alle Zahlen vereinen, die vom Wert, aber natürlich nicht vom Intellekt her, die 0 übertreffen. Und dennoch ist es ein Leichtes, mit der 1 zurückzukehren, es genügt, sie laut auszurufen.“
„Einhundert Prozent, und dennoch nicht sicher, das leuchtet nun ein, Herr Doktor. Nur, was schlagen Sie vor, um hier noch Recht zu sprechen?“
Ein verwegenes Grinsen huschte über sein Gesicht. „Ich denke, es ist an der Zeit, die erhabene Unendlichkeit höchstselbst anzurufen, und zwar mit einer ganz offensichtlichen Falschaussage.“
Es räusperte sich und hielt sich die Ohren zu, um nicht mithören zu müssen, was er da Abscheuliches von sich gab, und kurz darauf stand die Unendlichkeit vor ihnen, in all ihrer wohlbekannten Pracht, glänzend und leuchtend – und ganz offensichtlich müde.
Sie gähnte herzhaft. „Was gibt es? Ich hörte etwas wahrlich Grauenhaftes."
Der Kreis errötete dezent. „Es tut mir Leid, es ausgesprochen zu haben, eure Hoheit.“
„Was?“ Sie lachte auf. „Nicht doch, Kreislein, solche Worte denken sich Schüler beinahe pausenlos, das lockt mich doch nicht hervor, schon gar nicht in meinem Alter. Aber hier, diese junge Liebe!“ Sie betrachtete 11081 und 38899 mit einem bedauernden Blick. „Einfach tragisch, und ja, meine Junge, du darfst reden.“
38899 spielte nervös an seinen Bögen herum, solch einer Gestalt stand er noch nie gegenüber. „Erhabene Unendlichkeit … ich liebe sie.“
„Ja, ich weiß, das sagt man mir ständig“, scherzte die Unendlichkeit, „aber lass dich nicht beirren, mir ist bekannt, dass ich deiner Liebsten nicht das Wasser reichen kann.“
Er lächelte verlegen. „Ja, dem ist wohl so. Darum sagen Sie doch bitte, wie sehr die Maschine daneben liegt. Nicht nur eine Lüge gibt es, sondern sogar zwei.“
„Mein Junge, das wäre nicht ganz richtig.“ Die Unendlichkeit seufzte schwer und wandte sich an alle im Raum. „In der Tat ist es so, dass jede einzelne Aussage falsch ist.“
„Was?“, riefen 11081, 38899, Z und eine Parallele gleichzeitig. „Das kann nicht wahr sein!“ Der Kreis indes freute sich, einer solchen Ausnahme beizuwohnen.
„Doch“, sprach die Unendlichkeit bestimmt, keinen Widerspruch zulassend. „Mathematisch mag alles mit rechten Dingen zugehen, aber in den Gefilden der Liebe gelangt die zweiwertige Logik rasch an ihre Grenzen.“
Das junge Fräulein wollte schon schluchzend den Raum verlassen, deutlicher konnte man ihr nicht sagen, dass ihre Beziehung am Ende war, doch 38899 sprang auf und hielt sie zurück. Er hatte verstanden.
„11081, lass mich bitte noch mindestens einmal das Wort an dich richten.“
Durch Tränen hindurch blickte sie ihn an. „Was bleibt mir übrig, du hast doch schon begonnen. Aber denke nicht, dass du mein Herz noch mehr brechen könntest.“
Er fasste zart ihre Hand und sah ihr fest in die Augen. „Liebste 11081, als ich sagte, ich würde dich lieben und dir nie fremdgegangen sein, war das selbstverständlich eine Lüge. Dies wäre so, als würde man sagen, Parallelen würden lediglich nebeneinander liegen, ein Kreis wäre zumindest nicht eckig und die Unendlichkeit wäre dem Wert nach gewiss größer als 1. Mathematisch tadellos, ohne Frage, doch ohne Gefühl für die wahren Umstände. In der Liebe kann man sich dies nicht leisten, und so sage ich dir, wie es wirklich ist: Ich bin dir nicht nur nicht fremdgegangen, ich habe viel mehr nicht einmal eine einzige Sekunde daran gedacht, auch nur eine andere anzurühren. Und ich liebe dich nicht nur, wie ich viele zugleich lieben könnte.“
Er trat vorsichtig zu ihr heran und sah, wie ihre Tränen dem Glück wichen und aus dem Augenwinkel, wie die Unendlichkeit bestätigend nickte. Und während sie sich einem Kuss asymptotisch annäherten, flüsterte er nur für sie hörbar:
„11081, von allen Positiven und Negativen, von allen Rationalen und Irrationalen, von allen Infinitesimalen und Transzendenten im Land gilt meine Liebe allein nur dir.“
Abschließend ist es mir eine Freude, ein paar Informationen über die Welt, in der "reine Logik" spielt, an den Mann zu bringen. Ein jeder wird seine Theorie haben, welcher mathematische Fachterminus - ähnlich wie in Fabeln - welchem menschlichen Charakter zuzuschreiben ist. Hier ist meine, die freilich keinen Anspruch auf absolute Korrektheit erhebt. Dieses Gebiet ist Gegenstand aktueller Forschungen und wasserfeste Beweise wurden noch kaum formuliert.
Zahlen mit Vor- und Zunamen:
Leute wie du und ich, unterteilt in Bewohner verschiedener Bereiche. 11081 8941 und 38899 0568 gehören einer recht gehobenen Klasse an, sind sie doch Komplexe, Rationale, Ganzzahlige und Positive, können sich also mit vielen Bezeichnungen schmücken.
Wie von den Namen auf Eigenschaften wie etwa das Geschlecht geschlossen werden kann, wird derzeit untersucht. Man munkelt jedoch, dass all diese Ziffern nur codierte Buchstaben sind und somit in ihrer Gesamtheit einem menschlichen Namen entsprechen. A wird zu 1, J zu 0 und K wieder zu 1. Der Rest folgt analog, von der Zahl lässt sich jedoch nicht eindeutig auf den Namen schließen.
Formen:
Wissenschaftlich interessierte Zeitgenossen, die freilich stets nur ein Teilgebiet ihres Faches abdecken können, nie den gesamten Raum. Je mehr sie wissen, desto weniger Ecken zeigen sich, Dreiecke sind demnach recht simpel gestrickt. Man mag sich an ein gewisses Flächenland erinnert sehen.
Mengen:
Vertreter einer gehobenen Klasse, deren Einfluss man erkennt, wenn man ihre Elemente abzählt. Mengen mit unendlich vielen Elementen wie Z = {1, 2, 3, 4, ...} können es sich leisten, beliebig hohe Beiträge auszugeben. Aber im Kopf haben sie leider nicht viel, sind ja nur ein paar Klammern, wenn man die Elemente weglässt.
Die leere Menge ist dabei die einzige Ausnahme, man kann sie schließlich auch anders schreiben. Da man aus ihr leicht alle Zahlen konstruieren kann (wie bekanntlich 3 = {{{{}},{}},{{}},{}}), wird sie auch als Schöpfer angebetet. Sie selbst sieht sich jedoch eher als Philosoph und läuft mit verklärtem Blick durch die Welt.
Parallelen:
Haben nicht viel mehr im Kopf, als schnurgerade jeder Vorgabe zu folgen; geeignet für alle Handlangerdienste und Berufe, bei denen man strikt Vorschriften beachten muss.
Infinitesimale:
Ziemlich kleine Zahlen, wie etwa das Epsilon. Sie fühlen sich in der Politik zuhause, in der Juristerei und ähnlichen Gebieten, da sie gelernt haben, ihr eigenes Ego zu unterdrücken und nur noch an die Allgemeinheit zu denken. Die höchste Steigerungsform ist
die Null:
Vor ihr sind alle gleich, sie macht keine Unterschiede. Egal, wie groß eine Zahl auch ist oder wie viele Elemente sie enthält: Wenn sich die Null auf sie stürzt, werden sie alle zu 1 exponenziert.
die Unendlichkeit:
Einfach nur unglaublich.
Texte: Covasol Libri
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Tag der Veröffentlichung: 03.03.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
der missverstandenen Wissenschaft der Wahrheit