Cover


Die Klappe schlägt und das hektische Treiben beginnt seinen Lauf. Zuerst stellen sich fünf kräftige Männer im Kreis auf, die Arme um die Körper der Nachbarn gelegt und fest verschränkt. Dann klettern fünf weitere Männer, etwas schmächtiger, auf ihre Schultern und bilden ebenfalls einen festen Ring. Noch während sie sich positionieren, folgt die nächste Welle aus nunmehr drei schlanken Jungspunden und darauf eine vierte von drei jungen Frauen. Es muss schnell gehen, dreißig Sekunden haben sie Zeit, doch die vielen Übungsstunden machen sich bezahlt: Pünktlich mit dem Schlusspfiff schafft es ein Kind auf die Spitze und schwenkt fröhlich die Vereinsfahne.
Ein sicheres Zeichen, dass der Algorithmus funktioniert. Wie sonst wäre das Bündnis gegen Bahnbummelei zu dieser verrückten Idee gelangt? Der lapidaren Ausrede, was könne man schon wegen dreißig Sekunden Verspätung versäumen, stellt es eine Reihe Kurzfilme entgegen, die landesweit im Fernsehen laufen sollen. Vom blumenreichen Liebesgeständnis bis hin zur blutigen Horrorszene für das Abendprogramm wird alles vertreten sein, ausnahmslos gespielt von Leuten, die diese Welt bewohnen. Wie etwa Herr Mary, der überaus korrekte Herr, der beifällig das Schauspiel betrachtet und sich denkt: „Lieber dreißig Sekunden zu spät, als dreißig Sekunden zu früh, möchte ich meinen.“ Dann lächelt er und sieht auf seine Armbanduhr, die sein Leben aus den Fugen bringen wird. Passend zum Kontext zeigt sie 11:59:30 Uhr an, nur – und dies fällt Mary erschrocken auf – schon seit einiger Zeit. Das alte Ding war stehen geblieben, so hatte es der Zufallsgenerator gewollt, und das gerade heute, wo er – ebenfalls passend und langsam auffällig – seinen Zug erreichen muss. Gar ein „Verdammt!“ entfleucht seinem Mund und schon rennt er los, die Einkaufspassage hindurch Richtung Bahnhof.
Auf seiner rasanten, keuchenden Jagd vorbei an Menschen, die selten einen Herrn im Anzug mit Aktentasche rennen sehen, kommt ihm dennoch der Gedanke: „Schon seltsam, dass manche Dinge, sobald sie das erste Mal in dein Leben treten, kurz darauf erneut auftauchen.“ Als er über ein am Boden liegendes, lauthals plärrendes Kind springt, vergisst er dies jedoch wieder, dennoch ist der Zeitpunkt gut gewählt. Zweifel an der inneren Raumstruktur sind überaus hinderlich und nur schwer wieder einzudämmen. Ich könnte freilich auf das Fräulein vertrauen, dem er entgegenstrebt, auf die Liebe und ihre Eigenschaften, den Fokus zu verschieben. Doch wieso ein Risiko eingehen?
Herr Mary erreicht den Bahnhof, hetzt, mal zwei, mal drei Stufen zugleich nehmend, die Treppe zum Bahnsteig hinauf und schafft es gerade so noch, den Zug pünktlich zu betreten. Dann wartet er griesgrämig fünf Minuten darauf, dass alle Passagiere der verspäteten Bahn vom Nachbargleis zugestiegen sind, bis er endlich in Bewegung gesetzt wird. Langsam, etwas schneller und schließlich brausend durch die Landschaft. Nachdem der Fahrkartenkontrolleur sein Werk vollbracht hat und Mary beschließt, aus dem Fenster zu schauen, trete ich auf den Plan:
Ich widersetze mich gerade den Regeln, doch hören Sie mir zu.


Mary reißt die Augen auf, wendet seinen Kopf irritiert nach allen Seiten des Raumes und zieht nachdenklich die Augenbrauen kraus. „Nein, ein Irrtum“, denkt er.
Kein Irrtum, lieber Herr Mary. Realität.


„So?“ Vorerst akzeptiert er es. Was bleibt ihm auch übrig?
Ich möchte ehrlich mit Ihnen sein. Sie sitzen in einer riesigen Simulation, Ihr Körper existiert nicht wirklich.


Er lauscht und denkt. Was denkt er? Ich klinke mich ein und erlebe hautnah mit, wie er seinen Finger betrachtet, ihn plötzlich fest packt und daran zieht. „Scheint echt zu sein“, huscht ihm durch den Kopf, „doch ist das kein Beweis. Hast du einen Beweis für deine Aussage, fremdes Wesen?“
Ich kann Ihre Gedanken lesen und in diesen zu Ihnen sprechen. Das sollte Beweis genug sein.


„Nein“, beschließt er zu denken. „Als ob Gedankenkontrolle schwer wäre. Hast du nicht mehr zu bieten? Nur eine kleine Präsentation deiner Macht.“
Einen Moment bitte, ich denke mir etwas aus.


Schwierig, dieser Herr Mary, mit seinen unabhängigen Gedanken. Aber so wurde es gewollt. Eigene Gedanken, ein eigenes Leben, größtmögliche Autarkie. Keine Möglichkeit, Erfahrungen zu implementieren, lebenslanges, selbstständiges Lernen. Kein Vergleich zu all den anderen Programmen, die ihn umgeben. Ein Zug ist nicht mehr als die graphische Oberfläche, ein Schaffner folgt Tag für Tag denselben Wegen, ändert ab und zu sein Aussehen. Die Fahrgäste besitzen kein Ziel und verschwinden in dem Moment ins Datennirvana, in dem sie aus dem Einflussgebiet aller unabhängigen Programme und aller zahlender Beobachter treten. Würde man ihnen folgen, so ständen Bibliotheken bereit, die in Sekundenschnelle ein typisches, langweiliges Leben erschaffen. Aber wer macht das schon, viel interessanter sind solche wie Herr Mary. Doch auch viel anstrengender in der Pflege.
Ich drücke auf Enter.
Herr Mary, der bislang möglichst gelassen dagesessen und weitere Fragen in seinem Notizblock hinterlassen hatte, blickt verwundert auf und rümpft die Nase. Das Programm scheint seinen Auftrag zu erfüllen, vorsichtshalber stelle ich die Möglichkeit ab, den Geruch direkt wahrzunehmen. Meine Kunden würden sich ansonsten gewiss beschweren. An seiner Mimik ist auch so genau zu erkennen, was den Wagon durchströmt: Herrlichster, frischer Leichengeruch. Angeekelt erhebt er sich, um ein Fenster zu öffnen, doch wird er von einer Passagierin abgehalten. „Es ist so schon kalt genug hier drinnen“, plappert sie einen Satz aus der Datenbank in der richtigen Stimmlage. „Lassen Sie das Fenster zu.“
„Aber es stinkt!“, kontert Herr Mary aufgebracht, doch nutzlos. Nur ihn selbst befällt dieses Virus, und als ich ein weiteres Mal die Taste betätige, löst sich seine Qual auf und er fällt zurück in den Sitz.
Habe ich Sie überzeugt?


„Positiv“, stimmt Herr Mary tonlos zu. Jeder andere wäre wohl wahnsinnig geworden, er jedoch akzeptiert die neuen Voraussetzungen. „Ein Computerprogramm also.“ Er blickt auf seine Liste und wählt die wichtigste Frage: „Wieso erzählst du mir das? Durch mein Wissen wird diese erstaunliche Illusion zerstört.“
Ganz einfach: Die Beobachter bleiben nur so lang, wie Sie in der Lage sind, spannende Minuten zu erzeugen. Bald schon wird der letzte Zuschauer abschalten.


„Und dann verschwinde ich für immer?“, zieht er den richtigen Schluss. Mein Schweigen bestätigt ihn. „Meine Hingezogenheit zu Lora, die ich gerade gewillt bin, das erste Mal im Leben zu sehen, genügt nicht?“
Dafür braucht es nun wahrlich keine kostspieligen Simulationen. Die Chancen stehen neunundneunzig zu eins, dass alles bestens funktioniert und Sie einer perfekten Bilderbuchehe entgegenstreben. Es braucht Abwechslung!


„Mit ein wenig Zeit könnte ich einen Plan ausarbeiten …“
Dafür ist es zu spät! Sie haben dreißig Sekunden.


Wieder einmal drücke ich Enter und die Uhr an seinem Handgelenk beginnt zu ticken. Dreißig Sekunden, die lautstark in seinen Ohren widerhallen. Was wird er tun? Die Speichermedien laufen, diesen Profit schöpfe ich ab.
Er blickt auf seine Uhr. Noch fünfundzwanzig Sekunden. Mit einem lässigen Grinsen dreht er am Rädchen, um sich einige Stunden Bedenkzeit zu verschaffen – doch was wäre ich für ein Programmierer, hätte ich dies nicht vorhergesehen? Der Zeiger tickt weiter unerbittlich Richtung Zwölf. Noch zwanzig Sekunden. Entschlossen steht er auf, geht zu der netten Frau von eben, die scheinbar gefroren hat, und drückt ihr einen Kuss auf.
„Booäh!“, ruft sie und schlagartig springt die Uhr um einige Sekunden nach hinten. Ein guter Anfang, doch nicht genug. Dies bemerkt auch Herr Mary, der frustriert die Uhr im Auge behält und gegen allen Widerstand fortfährt, sich zu nehmen, was andere wohl sehen wollen. Die Szenen sind bekannt aus Film und Fantasie und enden mit guten fünf Minuten auf der Uhr und einem Haufen aufgebrachter Personen, die ihn zu Boden drücken und dort festhalten. Nicht schlecht.
Ganz passabel, Herr Mary. Doch was nun?


„Ich überlege“, antwortet er mir und versucht, wenigstens etwas entspannt zu liegen.
Können Sie sich nicht befreien, so verfliegt Ihre Zeit.


„Wie gesagt, ich überlege. Habe ich einen Plan, so ist die Befreiung nicht schwer, nutzt man das goldene Gesetz der Mechanik.“
Dann beeilen Sie sich, die Zeit läuft schneller.


Irritiert schaut Herr Mary auf die Uhr: Der Zeiger bewegt sich doppelt so schnell wie zuvor, die Sekunden scheinen davon zu rasen. „Was soll das?“
Die Meute ist auf Sie aufmerksam geworden, es wird nun nicht nur für Sie, sondern auch gegen Sie gewettet. Beeilung.


Herr Mary überlegt krampfhaft, doch sonderlich spannend sind seine Ideen nicht. Ich öffne mir eine Dose Wasser und studiere seine verzweifelte Mimik. Vierunddreißig Jahre ist er nun in seiner Welt, das entspricht ungefähr einen Monat der Simulation bei voller Auslastung, die spannenden Momente wurden natürlich in Echtzeit übertragen. Ich kenne ihn und sein Leben, aber irgendwann ist immer Schluss und andere werden folgen.
Das laute Ticken beginnt wieder, ihm bleiben nur dreißig kurze Sekunden. Tick-Tack-Tick-Tack – und mit einem kräftigen Stoß richtet er sich auf, hastet zu dem Nothammer, zerschlägt die Scheibe und springt bei voller Fahrt aus dem Zug. Weit genug, der gewiefte Physiker, um die Büsche am Rand zu erreichen, die seinen Fall gerade soweit abbremsen, dass er zwar blutüberströmt, doch lebend zur Ruhe kommt und vor sich hin kichert. Mit dieser Aktion denkt er, für die nächsten Tage Zeit gewonnen zu haben.
Äußerst interessant, auf jeden Fall. Doch …


Das einsetzende Ticken lässt Herrn Marys Züge gefrieren. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“
Als würde ich entscheiden. Die Nutzer sind es leid, Ihrem langweiligen Leben zu folgen. Was soll jetzt auch geschehen? Sie liegen zerschunden irgendwo in der Wildnis. Man wird Sie eventuell finden, eventuell auch nicht, dann werden Sie im Krankenhaus dahinvegetieren. Nein, das war es.


Nun malt er sich aus, was er alles noch hätte erleben können, und er denkt an einige schöne Momente seines Lebens zurück. Wie süß. Und drei, und zwei, und eins. Ende.
Nun, das war wirklich nicht Ihr bester Einfalls, Herr Mary.


Wo bin ich? Ich sehe nichts, fühle nichts!
Sie sind im Zwischenspeicher. Ich habe mir erlaubt, Ihre Gedankengänge zu konservieren.


Was soll das nutzen, du Wahnsinniger!
Nun, immer mit der Ruhe.


Ruhe? RUHE? Ich bin ein gottverdammter Geist ohne Körper!
Und dies ist nicht interessant?


Es ist … es ist … es ist wirklich interessant. Ich hätte nicht gedacht, dass ein solches Programm existieren könnte. Kleine, bunte Welten sind nicht das Problem, damit spielen unsere Kinder. Aber echte Kreativität, eigenständiges Denken? Ich bin mir bewusst, ein Programm zu sein und spreche mit meinem Schöpfer.
Es freut mich, Ihre Einsicht zu hören. Nur muss ich Ihnen mitteilen, dass ich nicht gewillt bin, Ihren Geist auf Dauer zu bewahren und mich als eine Art Schöpfer der Philosophie hinzugeben. Ich möchte Ihnen nur sagen: Machen Sie es nun besser, eine weitere Rückkehr wird es nicht geben.


Wie? Rückkehr? Was soll das werden?
Und schauen Sie in Ihre Tasche.


Er schlägt die Augen auf, findet sich wieder von der Masse bedrängt. Vor Jahren hat unsere Industrie dieses Verfahren für sich entdeckt, um ein alternatives Ende anbieten zu können. Wie wohl Herr Mary mit dem Messer umzugehen weiß? Der gleiche, geschickte Stoß wie eben lässt ihn plötzlich frei im Gang stehen, dann zieht er die Waffe. Sie ist lang, sie ist scharf, sie besitzt ein paar Spezialeffekte. Solange man die Macht über das Programm hat, kann man ein normales Leben ohne Probleme in ein blutiges, explosionsgeladenes Schauspiel verwandeln. Nun denn, möge er seine Erfahrung der menschlichen Anatomie einsetzen, um die halbe Stunde bis zum Zielbahnhof zu überleben. Genial, wie er die Klinge einsetzt, entsetzlich, wie die Personen schreien. Auf Knopfdruck erhöht sich ihre Abwehr, auf Knopfdruck besitzen auch sie eine Waffe, auf Knopfdruck herrscht die Hölle auf Erden, und ehe man sich versieht, springt Herr Mary am Zielbahnhof aus dem Zug – und dies, wie auch immer er das berechnet hat – ohne einen einzigen Kratzer am Leib und kaum besudelt.
Seine sehnsüchtig wartende Lora steht am anderen Ende des Bahnsteiges, seine Uhr tickt laut. Die Zuschauer überbieten sich gegenseitig. Noch zweiundzwanzig Sekunden. Wird er es schaffen, oder nicht? Sein Leben ist egal, nunmehr geht es nur noch um das Prickeln, um das Ungewisse. Noch sechzehn. Er rennt, sie rennt. Sie beide nur noch getrennt durch wenige Meter und ein paar Sekunden. Noch zehn. Die Zeit läuft langsamer, die Zeit läuft schneller. Noch elf. Was wird nur geschehen, kann er stolpern? Hektisch blickt er auf die Uhr, nun sind es noch fünf. Dies dürfte reichen für die letzten zwei Meter. Voller Glück breitet er die Arme aus.
Und vorbei.


Was? Wie? Wieso bin ich? Die Uhr! Auf ihr waren noch fünf Sekunden!
Ihre Zeit ist abgelaufen, Herr Mary.


Ich hatte noch fünf verdammte Sekunden! Schick mich zurück zu Lora! SCHICK MICH ZURÜCK!
Jemand mit sehr viel Geld wird die letzten Sekunden gekauft haben, da kann man nichts machen.


Das kann doch wohl nicht sein! Ich wünsche sofort eine Revision!
Das kann ich Ihnen nicht gewähren – und damit beende ich unsere kurze Bekanntschaft.


Das wirst du nicht!
Oh doch, und ich muss nicht mit Ihnen diskutieren, ich bin der Programmierer.


Doch, das musst du!
Nein.


Impressum

Texte: Covasol Libri
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Herrn Mary, der schon wieder leiden musste - langsam finde ich Gefallen daran

Nächste Seite
Seite 1 /