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In einem weißen Winter vor vielen Jahren tollten zwei Geschwister voll von Freude durch den Schnee. Die Seen und Flüsse waren von einer dicken Eisschicht bedeckt, die Felder und Wälder knisterten und knackten vor all dem Frost und selbst der Himmel schien ein riesiger Eiskristall zu sein, der drohte, herab zu fallen. Es war der kälteste Winter seit einem Jahrhundert, doch Mara und Paul störten sich nicht daran. In ihrem Spiel mit dem Schneemann und seinen Augen aus Schneebällen wurde ihnen so warm, als wenn es Sommer wäre, und keine noch so garstige Kälte konnte sie schrecken.
Da stand urplötzlich ein alter Mann vor ihnen, den das Leben gezeichnet hatte. Sein Gesicht war voller Falten, sein grauer Bart verfilzt und ungepflegt, doch seine Augen leuchteten in einem tiefen, unendlichen Blau, das die gesamte Welt gesehen hatte. Er sprach zu den Kindern: „Seht an, ihr habt einen Spaß miteinander. Was gäbe ich doch dafür, noch einmal so jung zu sein.“ So recht wussten Mara und Paul nicht, was sie ihm antworten sollten, durften sie doch nicht mit fremden Menschen reden. Da sprach er weiter: „Könnt ihr einem alten Mann einen Gefallen tun? Mein Hase ist mir weggelaufen, hier durch das Gebüsch, aber ich komme nicht hinterher.“ Da stimmten die beiden sofort zu und bahnten sich einen Weg durch die kahlen Zweige.
Hinter den Büschen lag eine kleine Lichtung, die weder Paul noch Mara noch irgendein anderes Kind je gesehen hatte, und auf dieser war alles ganz und gänzlich aus Eis. Der Boden war glatt und spiegelte, die Blumen und auch die Pilze glitzerten durchsichtig, und selbst der Hase, der ängstlich zu ihnen hoch sah, bestand völlig aus gefrorenem Wasser, das sich knirschend bewegte. „Was bist du nur für ein Schelm“, sprach Mara zu dem Häschen, „diesem netten alten Mann hierher auszubüxen, wohin er nicht folgen kann.“ Gemeinsam mit Paul fing sie den Eishasen ein und obwohl er heftig zappelte, schafften sie es, ihn zurück durch die Büsche zu tragen.
Der alte Mann aber war verschwunden und auch Pauls lauter Ruf blieb ohne Antwort. Nicht einmal Fußabdrücke hatte der Fremde auf dem hartgefrorenen Schnee hinterlassen, und so nahmen die Geschwister den Hasen mit in ihr Zimmerchen. Dort hoppelte er neugierig zwischen Schrank und Bett hin und her, schnüffelte an den alten Märchenbüchern und ließ sich schließlich nahe dem Fenster nieder. Dieses blieb die Nacht über offen, damit der Hase nicht schmelzen würde, so hatten sich die Kinder geschworen. Der Kälte wollten sie schon trotzen, teilten sie doch Bett und Decke miteinander und hatten sie doch ihre dicken Wintersachen anbehalten.

Am dunklen Himmel funkelten die Sterne wie kleine Sonnen und der Mond schien silbern auf die schlafenden Gesichter der Geschwister. Er wärmte jedoch nicht, und darum war er dem alten Mann mit dem grauen Bart, der durch das offene Fenster geflogen kam, viel lieber als die Sonne, welche seinen Schnee und sein Eis zerstören wollte. Er fühlte sich wohl, wenn die kalte Nordluft über seine Haut fuhr, er klatschte in die Hände, wenn er das Geräusch fallender Schneeflocken vernahm, er wünschte sich, die gesamte Welt würde zu Eis erstarren. Der alte Mann war die Sagengestalt, die über den Winter herrschte, er war der Frostkönig. Und er stand mit einer hämischen Grimasse am Fußende des Bettes und betrachtete die Kinder, die ihm in die Falle gegangen waren. Den sich windenden Hasen hielt er schon in der Hand, jetzt waren Mara und Paul an der Reihe. Er schrie: „Ihr habt meinen Hasen gestohlen, ihr Bälger! Also raube ich nun euch!“ Und ehe sie noch wussten, wie ihnen geschah, hatte der Frostkönig die beiden in einen großen Sack gepackt. Sie schrien so laut sie konnten, nach ihren Eltern, nach den Lehrern, um ihr Leben, sie strampelten und traten so stark sie konnten und bissen sogar einmal einen Finger – allein es half nichts, der Frostkönig ließ sie nicht gehen und erschöpft fielen sie in einen tiefen Schlaf.

Als Paul erwachte, glaubte er, inmitten eines Eisbergs zu liegen. Links und rechts, vorne und hinten, oben und unten bestand alles aus klarem, reinem Eis. Nur er und seine noch schlafende Schwester und das Stroh, auf dem sie lagen, leuchtenden nicht in dieser kühlen, weißblauen Farbe. Mit steifen Gliedern richtete er sich auf, um sorgsam die stabilen Wände zu untersuchen. Nirgends sah er einen Ausweg, nur an einer Stelle war das Eis dünn und klar, dort konnte er hinaus blicken auf weiteres Eis, das runde Türme und steile Mauern formte zwischen Unmengen von Schnee, soweit das Auge reichte. Einzig ein paar schwarze Raben stachen aus dieser Winterwelt heraus und ganz leise vernahm Paul ihr krächzendes Gelächter.
Als er sich umdrehte, um Mara zu wecken, stand wie aus heiterem Himmel der kleine Eishase vor ihm, wackelte mit den Ohren und schlüpfte durch ein winziges Loch, das sich in der Wand aufgetan hatte. Paul sollte ihm folgen, das hatte er verstanden, also rutschte er auf allen Vieren dem seltsamen Tier hinterher, das an der nächsten Ecke auf ihn wartete. „Wohin führst du mich?“, rief Paul ihm zu, aber der Hase wackelte nur wieder mit seinen Ohren und rannte weiter. Also nahm der Junge die Beine in die Hand und sauste hinterher. Sie rannten durch lange und durch kurze Gänge, durch weite Säle und kleine Kammern, durch dunkle Keller und über luftige Zinnen, und schon nach kurzer Zeit hatte Paul völlig vergessen, woher er kam und wo Mara auf ihn wartete. Ihm blieb nichts weiter übrig, als dem Hasen durch dieses riesige Schloss zu folgen, das ganz aus Eis bestand und keinen Anfang und kein Ende zu besitzen schien. Sein Weg führte über Bahnen aus rutschigem Eis und durch Berge von tiefem Schnee, und er sah dutzende Skulpturen wilder Tiere, die ihn anbrüllten, und auch Bilder längst Verstorbener mit Eisblumen in der Hand, und oben auf dem höchsten Dach, da sah er eine Flagge wehen, die eine einzelne Schneeflocke zeigte, und noch höher, droben am Himmel, da lachte der silberne Mond, obwohl es helllichter Tag war.
Als Paul schon dachte, nie seine Reise beenden zu dürfen, da hielt der Hase vor einem gigantischen Tor an, das den Weg versperrte. „Hier geht es nicht weiter“, stellte er erstaunt fest, aber wie als Antwort öffneten sich die Flügel und ein kalter Windzug strömte heraus und umspielte seine rote Nase. Von Neugierde getrieben trat er ein und erblickte einen herrlichen Saal voller Kristalle an den Wänden und Decken, die glitzerten und funkelten, und inmitten all der Pracht einen gewaltigen Thron, auf dem der Frostkönig saß und ihn mit seinen Augen durchbohrte. „Der kleine Junge hat also zu mir gefunden. Seht ihn euch an, ist er nicht putzig?“, sprach er mit all seiner Bosheit und unter lauthalsem Lachen, das den gesamten Saal erzittern ließ, sodass kleine Eisklumpen zu Boden fielen.
„Ich bin nicht klein“, antwortete Paul, und er wurde so wütend, dass er dem Alten vors Schienbein treten wollte. „Bring uns wieder nach Hause, du Monster!“
„Schweig!“, brüllte der Frostkönig und erhob sich von seinem Platz. Seine blauen, zu zornigen Schlitzen verengten Augen fixierten Paul und aus seinem Mund strömte eine eisige Kälte, um sich auf dessen Herz zu legen, fest zuzudrücken und ihm jede Lebensfreude zu nehmen. „Zieh dich aus, kleiner Wicht!“, befahl er, und Paul konnte nicht anders, als zu gehorchen. Er legte Jacke, Schuhe und Hosen ab, und stand schließlich nur noch im Unterhemd vor dem bösartigen, alten Mann, der sich an seiner Macht erfreute und herrisch befahl: „Renne im Kreis!“ Auf bloßen Füßen machte sich Paul daran, den Thron zu umrunden, vorbei an den mannshohen Kristallen und über fürchterlich kalten Schnee, der wie Sand am Meer verstreut lag. Nach der ersten Runde waren ihm die Beine steif gefroren, nach der zweiten saß ihm der Frost beißend im Nacken und nach der dritten waren seine Lippen blau und seine Finger taub. „Es genügt!“, rief der Frostkönig, und endlich konnte Paul innehalten. „Und nun sag mir“, fragte er weiter, „spürst du noch Wärme in dir?“
„Nein“, antwortete Paul, „mein Herz ist so kalt, als lebe ich nicht mehr.“
Da befiel den Frostkönig eine große Freude und er ließ Paul mitsamt seinen Sachen aus einem Nebeneingang fliehen.

Kein Hase wartete auf ihn, also lief Paul alleine durch die Burg und suchte einen Weg, der ihn zurück zu Mara führen würde. So sehr zitterte er, dass er an gar nichts anderes denken konnte, während er durch lange und durch kurze Gänge lief, durch weite Säle und kleine Kammern, durch dunkle Keller und über luftige Zinnen, und zu Orten, die ihm immer neu und unbekannt waren.
Nach einiger Zeit kam er zu einer Brücke, die über eine tiefe Schlucht führte. Keine Mauer versperrte ihm mehr die Sicht und hinten am Horizont erblickte er im Nebel einen Wald aus echten, grünen Bäumen, die von der Heimat kündeten. Vor der Brücke aber lag ein großer, grauer Wolf und hielt Wache. Ohne die Augen zu öffnen erschnupperte er Paul und fletschte die Zähne: „Mein frostiger Herr hat mir aufgetragen, niemanden über die Brücke zu lassen.“ Und wie er dies sagte, spannten sich unter seinem dichten Winterfell die starken Muskeln an. Ohne Zweifel war er bereit, sich blitzschnell auf jeden Flüchtling zu werfen und ihn ohne Gnade zu zerfleischen.
„Darf ich mich wenigstens in dein Fell kuscheln?“, fragte Paul, der immer noch bitterlich fror, und trat vorsichtig näher.
„Ich bin einverstanden“, knurrte der Wolf beinahe freundlich. Die Furchtlosigkeit des Jungen beeindruckte ihn, schon lange hatte kein Wesen mehr gewagt, ihn anzusprechen, und als er den fremden Herzschlag an seiner Brust spürte, begann er von der alten Zeit zu erzählen. „Einst, als ich noch jung war, nannte man mich Hati. Ich durchstreifte zusammen mit meinem Bruder Skalli die gesamte Welt und wir sahen Dinge, die ihr Menschen heute nur noch aus Sagen und Märchen kennt. Häuser aus Backwerk neben meterhohen Dornbüschen, allerlei Zwerge, die mit und gegen Hexen kämpften, und auch hübsche Prinzessinnen mit langem, goldenem Haar oder gläsernen Schuhen. Es gab keine Geheimnisse vor uns und nichts blieb uns verborgen. Allein die beiden Gestalten dort oben am Himmel blieben uns fern, solange wir sie auch jagten.“
„Und was geschah dann?“, fragte Paul, der mit großen Augen gelauscht hatte und die Kälte gar nicht mehr wahrnahm.
Der Wolf seufzte tief und hob seinen Kopf gen Mond. „Vor vielen, vielen Jahren haben wir uns getrennt. Skalli verfolgte die Sonne in ferne Wüsten, wo sie niemals untergeht, und ich rannte dem Mond nach in diese trostlose Einöde, deren Schutzpatron er ist.“ Jetzt erst öffnete er seine Augenlider und mit Schrecken blickte Paul in die blinden silbergrauen Pupillen. „Tag um Tag heulte ich zu ihm hinauf, er möge doch bitte herunter kommen, und selbst, als meine Augen seine Farbe angenommen hatten und ich ihn nicht mehr sah, konnte ich nicht damit auf-hören. Junge, die alten Narren sind die schlimmsten.“
„Das ist doch kein Problem“, rief Paul erstaunt. „Selbst meinem Schneemann habe ich ein Augenlicht geschenkt.“ Eifrig sprang er zu einem nahen Schneehaufen und formte zwei faustgroße, möglichst runde Schneebälle, die er zu Hati brachte und mit flinken Handgriffen gegen die alten, unbrauchbaren Augen austauschte.
„Ich kann wieder sehen!“, sprach der Wolf verblüfft, hob seinen Kopf und heulte seine Freude hinaus, so laut es ihm möglich war. „Ich danke dir, Junge. Zum Dank lasse ich dich über die Brücke ziehen, der alte Meister wird es schon nicht bemerken.“
Da freute sich Paul und schon wollte er dieses garstige Schloss auf immer verlassen, da fiel ihm etwas ein: „Aber nein! Werter Herr Wolf, ich muss doch zurück zu meiner Schwester, sie wartet sicherlich auf mich.“
„Wenn dies dir wichtiger ist“, schmunzelte Hati, „dann geh von hier aus einmal links, einmal rechts, die Treppe hinauf und wieder hinunter und du wirst ein Loch finden, das dich zu deiner Schwester führt.“
Das ließ sich Paul nicht zweimal sagen, und ohne noch einmal zurück zu blicken stürmte er los. Links, rechts, treppauf, treppab, durch den Tunnel gekrochen und schon hielt er Mara im Arm, die bitterlich weinte und ihn fest an sich zog. „Paul, ich habe eben einen Wolf fürchterlich heulen gehört“, berichtete sie unter Tränen. „Ist dir auch nichts zugestoßen?“
„Aber nein, liebe Schwester“, sprach Paul leise und streichelte ihr Haar. „Alles ist gut, solange wir nur uns haben. Und nun lass uns von diesem grässlichen Ort fliehen, der Ausgang ist ganz nah.“ Er zog sie zu dem kleinen Loch in der Wand, das ihm Hati gewiesen hatte, doch welch Schreck! Wo er eben noch gekrochen war, versperrte nun eine feste Eisschicht die Flucht. Nur Sekunden hatte es gedauert und die Geschwister waren wieder Gefangene des unbarmherzigen Frostkönigs. Einzig die fensterhafte Eisfläche bot ihnen noch Kontakt zur Außenwelt, doch bis auf die Raben, die sich auf den Türmen tummelten, war nichts zu erkennen. Und so legten sie sich eng umschlungen nieder auf das karge Stroh und schlossen unter dem entfernten Heulen des Wolfes die Augen.
„Werden wir je wieder nach Hause finden?“, fragte Mara noch leise, doch Paul war schon erschöpft eingeschlafen.

Mara wollte ihre Augen nie wieder öffnen und so lange liegen, bis sie zu Eis erstarrte, aber der kleine Eishase hörte nicht auf damit, sie zu stupsen, bis sie sich verschlafen aufrichtete und gerade noch sah, wie er mit seinen Ohren wackelte und in der Wand verschwand. Noch völlig benebelt von ihren Träumen ferner, warmer Orte, an denen die Sonne stets am Himmel hängt, folgte sie dem Tierchen, ohne vorher Paul zu wecken. Und wie nur wenige Stunden zuvor bei ihm verschloss sich der Tunnel hinter ihr mit festem Eis und nur der Weg dem Hasen hinterher blieb ihr frei. So rannte auch Mara durch lange und durch kurze Gänge, durch weite Säle und kleine Kammern, durch dunkle Keller und über luftige Zinnen, und ab und zu, an windgeschützten Stellen, sah sie die Fußspuren von Paul, die schon fast mit frischem Schnee bedeckt waren.
Nach einer langen Reise durch das Schloss erreichte sie das gigantische Tor, das sich mit einem hohlen Knarren öffnete, und ohne den Eishasen, der ängstlich davon hoppelte, betrat sie die Halle.
„Ich gewähre Euch großherzig eine Audienz, junge Dame“, begrüßte sie der Frostkönig voller Hohn. Er wusste, dass die Hasen nur seinen Befehl ausführten, dennoch fragte er gespielt erstaunt: „Was führt Euch in dieses weit entfernte Land voller Gefahren?“
Mara wusste nicht, was er von ihr erwartete, also antwortete sie nur leise: „Wir möchten bitte nach Hause.“
„Schweig still, törichtes Mädchen, und leg deine Kleidung ab!“, platzte es aus dem Frostkönig heraus, während seine blauen Augen zu erkennen versuchten, ob sie eine Gefahr für ihn darstellte. Die tiefe Kälte, die ihm dabei entströmte, machte auch Mara gefügig, die wunschgemäß ihre Schuhe, ihre Hose und selbst ihre Bluse auszog und zu einem ordentlichen Stapel zusammenlegte. Nur in ein dünnes Leibchen gehüllt stand sie auf dem Eis und der Frostkönig begutachtete sein wehrloses Opfer, dem er schroff befahl, einige Runden zu drehen.
So rannte Mara also um den Thron herum in dieser bitterlichen Kälte, doch ihr Herz wollte nicht kalt werden, denn mit jedem Schritt, den sie tat, zielte sie auf die Fußstapfen ihres Bruders, und die Gedanken an ihn wärmten ihre Brust und den gesamten Körper. Nach drei Runden unter dem finsteren Blick des Frostkönigs lief ihr lediglich die Nase und er befahl sie vor seinen Thron.
„Sag mir, kleines Mädchen, spürst du noch Wärme in dir?“
„Ja“, antwortete Mara wahrheitsgemäß und zeigte zum Beweis ihre nackten Arme und Beine, die ihre Farbe längst inicht verloren hatten.
Da sprang der Frostkönig mit grimmigen Blick auf und schmiss sie grob zu Boden. „Willst du dich mir widersetzen? Bist du der Bote des Frühlings, ausgesandt, um mich zu Fall zu bringen?“
„Nein“, stotterte Mara verängstigt. „Mir wird schon kalt werden, wenn ich lange genug renne.“
„Dann renne!“, schrie der Frostkönig so laut, dass ihm Eistropfen aus dem Mund flogen. Mit seinen blauen Augen beobachtete er jeden Schritt, jede Handbewegung, jeden Wimpernschlag Maras, um zu sehen, ob ihr der Frost auch wirklich zusetzte. Nach der ersten Runde begann sie heftig zu zittern, nach der zweiten legte sie die Arme so fest wie einen Schraubstock um sich, und nach der dritten schließlich fingen Eiskristalle auf ihrer Haut zu wachsen an, die dem Frostkönig ein sicheres Zeichen waren. Dennoch fragte er: „Und nun sag mir, spürst du noch Wärme?“
„Nein“, flüsterte Mara kaum hörbar, „mein Herz ist so kalt, als lebe ich nicht mehr.“
Da rieb sich der Frostkönig froh die Hände und setzte sich kichernd auf seinen Thron. Vor Mara brauchte er keine Angst zu haben, sie war ihm wie jedes andere Wesen unterlegen.

Eilig zog sich Mara wieder an und versuchte, ihre Glieder warm zu reiben. Sie musste zu ihrem Bruder finden, doch ohne die Führung des Hasen wusste sie nicht, wohin sie sich wenden sollte. Anfangs noch versuchte sie Pauls verstreuten Spuren zu folgen, doch schon nach kurzer Zeit endeten diese an einer undurchdringlichen Mauer. Stetig war das Schloss im Wandel, Wände bauten sich auf und zersplitterten zu Staub, Wege wurden von frostigem Wind freigelegt und versanken schon Minuten später unter eine dicken Schneeschicht. Es war schlicht unmöglich, einen Weg von A nach B zu finden, und so irrte Mara durch lange und durch kurze Gänge, durch weite Säle und kleine Kammern, durch dunkle Keller und über luftige Zinnen, die ihr zugleich bekannt und unbekannt schienen.
Nach hunderten Schritten stand sie am Beginn eines schier endlosen Feldes, das sich soweit erstreckte, wie sie blicken konnte, und dort, wo sich Welt und Himmel berührten, in den Schimmer der Heimat überging. Davor aber saßen unzählige Raben auf der vereisten Erde und sahen sie aus tiefschwarzen Augen an. Bevor Mara noch versuchen konnte, sich an diesen vorbei zu schleichen, kam die beiden größten zu ihr geflogen und ließen sich vor ihr nieder. Sie sprachen gemeinsam mit krächzenden Stimmen: „Niemand darf diesen Flecken Land überqueren, so hat es uns der frostige Herr aufgetragen, so wahr wir Hugin und Munin heißen.“ Viele weitere Raben kamen da herbeigeflogen und bildeten einen engen Kreis um die drei, zeigten ihre scharfen Krallen und klapperten mit ihren spitzen Schnäbeln. Mit Mäusen und anderem Getier hatten sie leichtes Spiel, und auch diesen Menschen würden sie zerhacken, wagte er es, zu fliehen.
„Liebe Vögel, so gebt mir wenigstens etwas von eurer Wärme ab“, bat Mara, und die Raben, die keinesfalls ein schwarzes Herz besaßen, rückten zusammen, breiteten ihre Flügel aus und wärmten das Mädchen mit ihren flauschigen Daunen.
„Wir kennen dich gut“, hob Hugin an zu erzählen. „Unsere Brüder und Schwestern haben uns von dir erzählt. Oft hast du ihnen ein Stück Brot zugeworfen, als du vorbei zogst, und nie hast du nach ihnen getreten. Gerne würden wir dir helfen, doch der Frostkönig lässt es nicht zu.“
„Wieso gehorcht ihr diesem garstigen Mann?“, fragte Mara.
Da trat Munin hervor und erinnerte sich an eine längst vergangene Zeit. „Einst trugen wir Raben leuchtend weiße Federn, die uns über Wälder, Seen und Berge trugen. Wann immer wir dabei auf einen unserer Art trafen, tauschten wir unsere Erfahrungen aus, sodass uns alle Welt um unsere Schläue und Allwissenheit beneidete. Dies aber war unser Verhängnis. Der Frostkönig lud uns in einem Winter, kälter noch als der jetzige, zu einem Gastmahl ein, und unbedacht folgten wir seinem Ruf. Was hatten wir auch zu befürchten, schließlich konnten wir uns notfalls im Schnee verstecken. Während des Essens befragte uns, wo der Frühling wohnte, den er mehr als alles auf der Welt fürchtete, doch wir erkannten, dass er ihn töten wollte und verrieten ihm nichts. Da wurde er so zornig, dass er uns alle mit Ruß bedeckte, um uns jederzeit im Auge zu behalten und allen Geheimnissen lauschen zu können. Seitdem weiß er weit mehr noch als wir, und da wir nirgends Sicherheit vor ihm finden, befolgen wir wie in Gefangenschaft jedes seiner Worte.“
„Ihr seid also nur mit Ruß beschmutzt?“, fragte Mara verwundet. „Dabei kann ich euch helfen. Meine Mutter hat mir beigebracht, diesen zu entfernen, als ich einmal in den Kamin geklettert bin.“ Vorsichtig nahm sie einen Raben in die Hand und rieb ihn mit ihrer Kleidung und etwas Schnee so lange sauber, bis er von allen Seiten weiß wie eine Taube strahlte. Dann hüpfte schon der nächste auf ihren Schoß, um sich säubern zu lassen, und so folgte einer nach dem anderen, bis Mara von einer Schar weißer Raben umgeben war, die im Schnee kaum mehr zu erkennen waren.
„Wir wissen gar nicht, wie wir dir danken sollen“, bedankten sich Hugin und Munin bei ihr, die glücklich sich und ihre Kameraden betrachteten. „Lauf über das Feld, der Alte kann uns nun nichts mehr anhaben.“
Fröhlich richtete sich Mara auf, und schon wollte sie entfliehen, da kam ihr Paul in den Sinn. „Aber nein! Liebe Raben, ich muss doch zurück zu meinem Bruder, ohne ihn will ich nicht gehen.“
„Wir kennen den Weg“, riefen da alle Raben gemeinsam, und als wären sie ein Chor, krächzten sie: „Geh links, dann rechts, die Treppe hinauf und wieder hinunter, dann wirst du bei Paul sein.“
Ohne sich zu verabschieden rannte Mara freudestrahlend los, bog links ab, nahm den rechten Gang, flitzte treppauf und gleich darauf treppab, aber kein Loch in der Wand führte sie zu ihrem Bruder. Nur ein kleiner Eishase stand vor ihr und wackelte stumm mit seinen Ohren.
„Häschen, warum sitzt du vor mir, und wo ist Paul, ich spüre ihn ganz deutlich?“, fragte Mara, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. „Selbst die Raben haben ihren Schnabel geöffnet“, meinte sie vorwurfsvoll und hob das eisige Tier vor ihr Gesicht. Da sah sie den furchtbaren Grund der Stummheit: seine Schnauze war zugefroren!
„Was bist du nur für ein armes Tier“, sprach sie voller Mitgefühl und sacht hauchte sie einen Kuss auf das Eis, sodass es schmolz.
Voller Dankbarkeit drückte sich der Hase an ihre Brust und aufgeregt begann er zu erzählen. „Vor einigen Monaten noch lebten meine Freunde und ich fern hier in einem kleinen Waldstück, doch dann erschien der Frostkönig und verwandelte unsere Körper in blankes Eis, damit wir ihm untergeben seien. Nie hätten wir gedacht, auf so liebe Kinder wie euch zu treffen.“ Und während er sprach, hoppelten dutzende andere Eishasen herbei, die zur Hälfte schon sprechen konnten, und hinterdrein lief Paul, den sie befreit hatten, und rief ihr zu: „Schwester, die Häschen erzählten mir gar schreckliche Dinge. Dieser garstige Alte will einen ewigen Winter über die Welt bringen, wir müssen ihm das Handwerk legen.“
„Ja“, stimmte ihm Mara pflichtbewusst zu, „doch wie wollen wir ihn finden?“
„Das lass unsere Sorge sein“, sprach eines der Schlappohren, und frohen Mutes fassten sich die Geschwister an den Händen und folgten den kreuz und quer hoppelnden Hasen durch lange und durch kurze Gänge, durch weite Säle und kleine Kammern, durch dunkle Keller und über luftige Zinnen bis hin zu dem gigantischen Tor, hinter dem der Frostkönig hauste und sich sicher wähnte.

Die Hasen mit ihren wiedergefundenen Stimmen schlugen heftig gegen die Barriere, die sich freilich keinen Millimeter rührte, so sehr sie sich auch bemühten. Der Frostkönig wünschte keine Gäste.
Fast schon wollten sie aufgeben, doch just in diesem Moment ertönte die raue Stimme Hatis: „Ich denke, meine Hilfe wird dankend angenommen.“ Langsam schob er sich durch das Rudel Hasen, lehnte seine kräftige Schulter an das dicke Eis und mit einem einzigen kräftigen Stoß hob er das Tor aus den Angeln, womit der Weg für Mara und Paula frei war.
Ohne Furcht schritten sie voran und stellten sich dem alten Wesen, das mit weit aufgerissenen Augen auf seinem Thron saß und sie anstarrte. Eisige Kälte entströmte ihm, die sich um ihre Herzen legte, doch verzagten sie diesmal nicht und hielten sich tapfer an den Händen. „Haltet sofort inne und zieht euch aus!“, befahl der Frostkönig dröhnend, die Geschwister aber liefen weiter, bis sie nur noch eine Armeslänge von ihm entfernt waren. „Wir fürchten deiner nicht mehr“, sprachen sie gemeinsam und sahen ihn fest entschlossen an. Eine ganze Minute dauerte dieses stumme Duell der Gedanken, dann endlich setzten sich Mara und Paul in Bewegung und rannten zur Freude des Frostkönigs eine Runde um dessen Thron. Seine Kälte machte ihnen jedoch nichts mehr aus. Vielmehr tollten sie umher, jagten sich im Spaß und lachten, als sie zu Boden fielen. Aus dem Schnee formte sie Bälle, die sie jauchzend durch den Saal waren, und aus den Eisflächen formten sie mit jahrelanger Erfahrung Rutschbahnen. Dem Frostkönig war dieses kindliche Treiben ein Dorn im Auge. Grollend sprang er auf und befahl einen Eissturm herauf, dessen klirrende Kälte den Atem gefror und zu Boden sinken ließ. Die Geschwister aber fühlten sich nur bestärkt und fröhlich sprangen sie zu dem Alten heran und nahmen ihn an der Hand. „Winter ade, scheiden tut weh“, sang Mara mit heller Stimme, „aber dein Scheiden macht, dass mir das Herze lacht“, schloss Paul ab, und frohlockend drehten sie sich im Kreis und lachten in das alte, faltige Gesicht. „Winter ade, scheiden tut weh.“
Da spürte der Frostkönig eine Wärme in seinem Herzen, die er den Kindern hatte austreiben wollen, und er begann zu schmelzen und kleiner und kleiner und kleiner zu werden, bis nur noch ein kleiner Gnom übrig blieb, nicht größer als eine Mohrrübe. Der Frühling steckte nicht in Mara und nicht in Paul, nein, er steckte in ihrer Freude und Liebe füreinander.
Schon wollte Paul das kleine Wesen zertreten, da sprang Hati dazwischen und sprach: „Dank dir sehe ich nun, was für ein Wurm er ist, und es graust mich, dass ich ihm gehorchte. Aber auch dem Bösen ist ein Platz in dieser Welt zugedacht. In Frühling, Sommer und Herbst wachsen die Pflanzen, gelangen zur Blüte und werfen Früchte, lieben sich die Tiere und bekommen Kinder, doch im Winter ruht das Leben und schöpft neue Kraft. Dies zu ermöglichen ist die Pflicht dieses Geschöpfes und gemeinsam mit den Eishasen will ich ab heute darüber wachen. Euch beiden gebührt all unser Dank, und nun kehrt zurück in die Heimat, euer Herz wird euch den rechten Weg weisen.“
Keine Sekunde zu lange wollten die Geschwister in diesem schaurigen Schloss verweilen, und so liefen nach einer raschen Verabschiedung ein letztes Mal durch lange und durch kurze Gänge, durch weite Säle und kleine Kammern, durch dunkle Keller und über luftige Zinnen, bis sie zu einem Meer kamen, das trotz der Temperaturen weit unter dem Nullpunkt noch immer schaumige Wellen schlug.
„Wie sollen wir herüber kommen?“, fragte Paul verzweifelt und blickte sehnsüchtig über die Wogen.
„Unseren Freunde werden uns helfen“, antwortete seine Schwester fröhlich und zeigte hoch in den Himmel. Wie eine Wolke riesengroßer Schneeflocken flogen dort die weisen Raben Hugin und Munin mit ihrem Gefolge und senkten sich elegant herab. Einen Gefallen waren sie Mara noch schuldig, und so griffen ihre starken Krallen in die weiche Kleidung der Kinder und trugen sie sie hinweg, als wären sie so leicht wie die kleinen Eishasen. Mit Leichtigkeit überquerten sie so die dunklen Fluten und die letzten Meter bis hin zu dem Fenster an ihrem kleinen Zimmer, das immer noch offen stand, als wäre nichts geschehen.

Als sie am nächsten Tag erwachten, erzählten sie ihren Eltern von all ihren Erlebnissen, doch glaubten diese kein Wort, denn obwohl sie so lange in Gefangenschaft verbracht hatten, war in der Welt der Menschen nur eine einzige Nacht vergangen. Als sie aber auf einem Spaziergang einen weisen Raben trafen, der mit seinen schwarzen Augen freundlich zu Mara sah, da waren sie sich nicht mehr ganz so sicher, und eine Woche später schmolz der Schnee und der Frühling zog ins Land.

Impressum

Bildmaterialien: Daniel Bleyenberg / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 28.02.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für all die Kinder, die noch Schneeballschlachten durchführen

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