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„Wer nichts verändern will,
wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.“



Gustav Heinemann




Frohgemut stand Lena in der Küche und werkelte an einer kleinen Überraschung, bestehend aus frisch gepresstem Orangensaft, knusprigem Toast und selbstgemachter Marmelade. Die Morgensonne lachte ihr über die Schulter, als sie das Tablett ins Nebenzimmer trug und über die am Vortag eilig verstreute Wäsche stieg. Es war ein wunderbarer Abend gewesen und sie hegte keinerlei Zweifel daran, dass sich dieses Wunder nun fortsetzen würde.
Vorsichtig hockte sie sich neben Marius und flüsterte ihm mit glockengleicher Stimme ins Ohr. „Liebster, wach auf, ich habe uns ein leckeres Frühstück zubereitet.“
Mit einem missfälligen Grunzen und verquollenen Augen startete Marius in den Tag und vergrub seinen Kopf sogleich unterm Kissen. „Nicht jetzt. Noch vor zwölf.“ Ohne Weiteres schlief er wieder ein und überließ Lena die uneingeschränkte Macht über den Vormittag.
Diese nutze sie unverdrossen, ihren Hausarbeiten nachzugehen, zu putzen und zu säubern, was dem Drecke lieb gewesen, im tiefsten Vertrauen an die gute, liebe, nette Seele in ihres Freundes Brust. Ganz warm wurde ihr ums Herz, als der Angebetete dann endlich aus seinem Zimmer kam und auf sie zu.
Liebe, was für ein Segen, dachte sie sich.
Gib ihr einen Kuss, dann ist sie ruhig, dachte zugleich er und schließlich saßen sie nebeneinander, still und andächtig lauschend vor dem Fernseher. Eine Reportage über die neuesten Entwicklungen in der Technik, schon viel zu oft gesehen, aber bestens geeignet, sich nicht mit lästigem Reden bemühen zu müssen.
Lena kuschelte sich glücklich an ihren Marius, konnte der Versuchung nach einiger Zeit dann aber doch nicht widerstehen. „Liebster? Weißt du was?“, flüsterte sie mit einem Lächeln im Gesicht.
„Hol mir ein Bier und sei still“, lautete die genervte Antwort, die ihn einen kurzen Moment von den Vor- und Nachteilen abhielt. Was hatte er mit dieser Lena nur falsch gemacht, dass sie nicht nur das tat, wofür er sie brauchte: Putzen, Kochen und die Nächte versüßen?
Derweil stand Lena am Kühlschrank. Du liebst ihn, du liebst ihn – ein Mantra so oft schon in ihrem Kopf verklungen. Und er liebt dich, sicherlich, sicherlich. Die Hand fest um die Flasche gepresst, keine Schwäche zeigen, nein. Ihr liebt euch, wir lieben uns, es ist alles gut und schön und so, wie es sein sollte. – Das kühle Glas zersprang und schaumbenetzte Scherben bohrten sich in ihr weißes, zartes Fleisch.
Vom schrillen Schrei herbei gelockt sah Marius sein blutendes Weib am Boden knien, weinen, die Welt verfluchen, und wirklich dachte er daran, sie hochzuheben, zu trösten, zu umsorgen. Doch nur ganz kurz, den Bruchteil einer Sekunde. Dann wurde ihm wieder bewusst, wie sie nur eine von vielen war, die er haben konnte, und mit einem zweiten Bier, lässig geöffnet, ging er zurück zum Sofa.
Auf halbem Wege zischte eine blutgetränkte Scherbe knapp an seinem Ohr vorbei und zerschellte klirrend an der Wand. Das verbliebene Muster glich dem einer toten Mücke, das plärrende Ungetüm in seinem Rücken jedoch war nur Lena.
„Merkst du es noch, Bastard?“
Wie hatte sie ihn genannt? Langsam dreht er sich um, die linke Hand zur Faust geballt, da flog eine weitere Scherbe, diesmal zielsicher gegen seinen Schädel.
„Ich bin kein Stück Dreck! Ich lebe!“
Dieses Flittchen. Perplex betastete er seine blutende Schläfe. Wieso musste es immer so enden, was war nur falsch an diesen Frauen?
„Arschloch!“
Mit voller Wucht schlug sie ihm ins Gesicht, die Schmerzen vor Ekstase nicht spürend. Marius' Lippe platzte auf, vermischte sein Blut mit ihrem. Ihr kurzer Triumph, gefolgt von mit Abscheu getränkter Spucke.
„Ich gehe! Auf Nimmer..“
Ihre Stimme brach mitten im Wort, ihr gesamter Körper sofort ein zitternder Klotz, die Augen starr auf die Mündung gerichtet.
„Ich lasse dich nicht gehen.“ Mit eiskaltem Blick richtete er die Waffe direkt auf ihre Stirn, ohne Bedauern, hatte er ganz ähnliche Szenen doch schon oft gesehen.
Lautlose Worte formten sich auf Lenas Lippen; betete oder bettelte sie? Weder das eine noch das andere wäre ihr noch nützlich gewesen.
Ein leichtes Lächeln legte sich um seine Lippen, welches sie verstört erwiderte.
Dann fiel der Schuss.


Kleine Regentropfen vermischten sich mit der frisch aufgeworfenen Erde, eine sternenlose Nacht diente Marius als weiterer Schutz für sein schändliches Tun. Wie viele Löcher hatte er schon ausgehoben? Waren es acht, neun? Er könnte die Kreuze auf der billigen Faltkarte in seiner Tasche zählen, dann wüsste er es genau.
Im Kofferraum warteten die blutigen, schon oft genutzten Säcke darauf, entleert zu werden. Ein letzter Blick auf die Körperteile seiner Lena, dann erfreuten sich nur noch die Würmer an ihr. Niemand würde sie hier finden, seine Technik hatte er in den letzten Jahren perfektioniert.
Beinahe stolz beschaute er den ungetrübten Waldboden,doch wollte sein Lächeln, seit dem Abschied vor einigen Stunden unentwegt auf seinen Lippen, auch jetzt keine Freude werden. Aus seiner Jacke zog er einen kleinen, weißen Stein und legte ihn bedächtig zwischen die Sträucher. Dies musste reichen, und nach einem kurzen Moment des Innehaltens fuhr er, ohne sich noch einmal umzuwenden, hinweg.

Daheim angekommen stapfte er mit leerem Blick durch die Glasscherben, achtete nicht auf die Blutlache am Boden, griff nach einem kühlen Bier und setzte sich hinaus in den Regen, vor den großen, weißen Stein im Garten, einfach auf den Rasen.
Auch hier ein eingeritztes Herz, doch viel größer, darunter des Grabes verblichener Inhalt: „Lena, viel zu früh gegangen“
Mit geschlossenen Augen lehnte er sich an das Mal längst vergangener Zeiten und lauschte dem Regen. Tropfen um Tropfen, alle sich gleich doch jeder ein Unikat und so vergänglich.
„Liebste..“, begann er mit gebrochener, erstickter Stimme, „ich vermisse dich“, und endlich erstarb das starre Lächeln und stille Tränen liefen über sein Gesicht, hinter dem sich Bildfetzen vergangener Zeiten abwechselten mit lauten Gedanken des Jetzt.
Ein strahlendfröhlicher Spätsommerstag, ein Pärchen im Garten, junges Glück, wenige Wochen alt. Was ist nur aus dir geworden? Beide lachen im Duett, sehen nicht die dunklen Wolken am Horizont. Du hast sie doch geliebt. Hast sie alle geliebt, jede Einzelne. Ein kleiner Stein liegt im Weg, kaum sichtbar, aber groß genug. Du wolltest doch glücklich werden mit ihr, auch wenn es nicht sie war. Sie passt nur kurz nicht auf, stolpert, stürzt, unglücklich mit dem Kopf voran zu Boden. Die neue Lena sah doch aus wie die Alte, hatte denselben Körper, denselben Geist. Wieso wollte es nicht funktionieren? Ein eilig gerufener Krankenwagen, Stunden am Sterbebett, der Abschied im Kreis. Deine Lena hätte sich nie von dir getrennt, niemals. Als letztens nur noch der junge Mann, einsam und alleine, im Regen nach Hoffnung suchend. Lena um Lena hast du so überlebt, bist ihnen auf die Schliche gekommen, weißt, wie du sie testen kannst, ob sie wollen oder nicht. Die jetzige hat nach zwei Wochen versagt. Wann erschießt du die Nächste, nach drei Tagen?

Der Regen hatte aufgehört, nur Marius saß noch vor ihrem Stein, wie damals alleine, einsam, weinend. Die Morgendämmerung versuchte, neue Hoffnung zu schenken, doch konnte es diese geben? Lena war perfekt gewesen, ein Engel auf Erden. Alle, die danach kamen, waren Abschaum, grässliche Missgeburten, kein Vergleich zu seiner Liebsten.
Er berührte zärtlich den Stein, streichelte ihn. „Dies war deine letzte Auferstehung, Lena. Versprochen.“ Ein kurzer Kuss auf die kühle, raue Oberfläche. „Ruhe in Frieden.“

Der Wille war da, gewiss, doch ohne Nährboden im leerem Bett, in diesem Haus ohne Frau, bei dieser Liebe an das Vergangene.
Punkt zehn Uhr stand Marius in der Klinik, die nötigen Unterlagen in der Hand, das Konto gedeckt, und bestellte sich die nächste Kopie der Verblichenen, durchaus üblich zu seiner Zeit und keiner Beachtung wert. Selbst im Fernsehen liefen Sendungen dazu.
Eine Woche später würde er wieder mit Lena vereint sein, die zarte Liebe genießen wie zum Zeitpunkt ihres tragischen Todes. Er war sich sicher, dieses Mal die wirkliche Lena zurück zu erlangen.
Und wenn nicht, dachte er sich leise lächelnd, hätte er noch Genmaterial für siebzehn weitere Versuche.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.07.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für jenen Traum, der mir Lena schenkte

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