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Seit Tagen hatten wir uns schon auf den gemeinsamen Ausflug ins Grüne gefreut, uns genau überlegt, wo wir wann sein wollten, was wir an geschmacklichen Köstlichkeiten mitnehmen würden und wo dann der romantische Kuss geschah. Diese Planung war dringend notwendig, da Laura und ich, seit wir vor rund vier Wochen zusammengezogen sind, nicht den kleinsten Zipfel Zeit gehabt hatten, unsere zarte Liebe weiter aufblühen zu lassen. Im Leben ist schlicht zu viel los, und gemein ist es obendrein: Als wir in der Tür standen, öffnete der Himmel seine Pforten und versuchte, unseren gemeinsamen Tag hinwegzuspülen.

Mehrere Sekunden lang standen wir bloß stumm da, Hand in Hand, und betrachteten ungläubig den Wolkenbruch. Dann nickten wir wie auf ein geheimes Zeichen, reckten dem da oben den Mittelfinger entgegen und schritten fest entschlossen hinaus in die Natur. Unseren Tag ließen wir uns nicht so leicht nehmen.

Pitschnass standen wir also auf der Wiese, genau so, wie es der Plan vorsah, und zogen unseren Kuss durch. Romantisch sollte er sein, so war es vorgesehen, und wirklich stieß direkt in diesem Moment die Sonne durch die Barrikaden und ließ uns umgeben von Tropfen, Licht und Regenbogen im gemeinsamen Glück aufgehen.

Dies war geschafft, also durften wir nun endlich essen. Der Korb war randvoll gefüllt mit belegten Broten, mundgerechten Käsestückchen, einer Tomate, prickelnden Getränken und Keksen. Ein wahres Festmahl stand uns bevor und gerade wollten wir schon anstoßen, da rannte ein kleines Mädchen an uns vorbei und begrüßte jedes kleine Bäumchen einzeln mit Handschlag. So eine Frohnatur! Sogleich blickte ich zu Laura mit sehnlichem Kinderwunsch in den Augen, aber sie tat so, als bemerkte sie es nicht. Dafür lockte sie die Kleine mit einem Keks – und diese biss an.

Das zutrauliche Mädchen hieß Sophie, wie sie uns schmatzend mitteilte, und war mit Tante und Onkel ebenso auf einer Reise ins Grüne, ihnen jedoch um einiges vorausgeeilt. "Los", flüsterte ich meiner Freundin zu, "wir schnappen sie uns und rennen einfach weg. Dann haben wir ein süßes Töchterchen." Laura verdrehte die Augen und wollte mir schon einen Klaps auf den Kopf geben, als besagte Tante und Onkel hinter einer kleinen Hügelkuppe zum Vorschein kamen und sich freundlich vorstellten. Anika und Jonas, zwei neue Freunde für den Tag, mit denen wir gerne unseren Korb teilten.

Zwei Stunden lang scherzten wir gemeinsam, beschäftigten Sophie mit immer neuen Keksen, und dann war es Zeit, sich wieder zu trennen. Als Abschiedsgeschenk schlug Anika vor, doch ein Foto von uns allen zu machen, als Erinnerung an diesen Tag und auch für Sophies Eltern, die sich für heute kinderfrei genommen hatten, danach aber sicherlich wissen wollten, was erlebt worden war. Wir stellten uns also auf, nutzten die Automatik des Fotoapparates und verewigten uns in verschiedensten Konstellationen und Posen. Es folgte eine tränenreiche, theatralische und vollkommen übertriebene Abschiedsszene; und dann waren wir wieder für uns.

Für den Rest des Tages hielten wir uns wieder an den ausgearbeiteten Plan, besuchten ein Eiscafé, schauten Sterne am Strand und schliefen schließlich erschöpft in unserem Liebesnest ein mit dem guten Vorsatz, bald wieder gemeinsame Freuden zu durchleben.

Als ich am nächsten Tag die Küche betrat und Laura einen Abschiedskuss geben wollte, bedeutete sie mir nur mit ausdrucksloser Miene, ich solle mich setzen. Ich tat wie geheißen und wartete beunruhigt, was sie zu sagen hatte. Sie schluckte schwer. "Ich glaube, du solltest heute nicht zur Arbeit gehen. Wir müssen zur Polizei." Ehe ich nach dem Grund fragen konnte, legte sie die Tageszeitung vor mich und auf der Titelseite sah ich Laura und mich, wie wir fröhlich mit Sophie in unserer Mitte Grimassen schnitten. Als Bildunterschrift stand:

"Sophie (Mitte) mit ihren mutmaßlichen Entführern."



Ich blickte mit trockener Kehle zu Laura, doch sie starrte nur noch apathisch aus dem Fenster. Kalter Schweiß lief mir den Rücken hinunter und fassungslos las ich den Artikel.

Kindesentführung - wer kann helfen?

Merseburg. Gestern morgen wurde Sophie Linde (4) aus ihrem Zimmer entführt. Ihre Eltern hatten im Garten gefrühstückt, und als sie das Haus wieder betraten, war das Mädchen verschwunden. Die alarmierte Polizei stellte fest, dass die Haustür geschickt aufgebrochen worden war, konnte jedoch ansonsten keine verwertbaren Spuren finden. Die Einrichtung war noch komplett intakt und da die Eltern keine Schreie gehört hatten, ist davon auszugehen, dass Sophie freiwillig mit ihren Entführern verschwunden ist.

Am späten Nachmittag traf dann obiges Foto bei Familie Linde ein, auf der Rückseite in geschwungener Schrift die Forderung: "Zwei Millionen Euro in kleinen Scheinen." Deponiert werden sollen diese auf einer bestimmten Wiese abseits der Stadt, auf der sie mit Sophie "eine Menge Spaß" gehabt hätten. Weiterhin hieß es, man wolle Sophie keineswegs ein Leid antun, aber würde das Geld nicht eintreffen, so hätten die Entführer kein Problem damit, die, so wörtlich, "unheimlich süße und nette Sophie" als eigenes Kind zu behalten.

Die Eltern entschlossen sich daraufhin, das Bild in der Zeitung abdrucken zu lassen, und appellieren an die Entführer, Sophie zurück zu bringen. Die Polizei bittet dabei um Beihilfe der Bevölkerung: Wer kennt die beiden Menschen auf dem Bild, oder hat sie schon einmal gesehen? Es ist möglich, dass es sich dabei um Sophies Entführer handelt. Jeder Hinweis kann helfen, ihr Leid zu verkürzen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 18.06.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für das kleine Mädchen, von dem ich nicht weiß, ob es eine Sophie ist

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