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„Hast du deine Formel endlich erfunden?“ Lea stand, mit Stiefeln und Mantel bekleidet, in der Tür und schaute ihn fragend an.
Hätte in der Stimme seiner Freundin auch nur ein Funken Begeisterung, wenigstens etwas höfliches Interesse gesteckt, so wäre Sirius gerne bereit gewesen, nur kurz über sein Ergebnis zu berichten – er untersuchte gerade beliebig-dimensionale Würfel – und anschließend mit ihr zu spazieren. Beiden hätte der Ausflug wunderschöne Momente beschert, gefolgt von sinnlichen Stunden in heimischen Gefilden; und mit einem Lächeln auf den Lippen hätten sie schließlich ihre Gedanken ins Traumland entlassen. Doch leider konnte Sirius beim besten Willen nichts Derartiges in ihre unverhohlene Ungeduld hineininterpretieren, und so ließ er sich, obgleich er wusste, wohin das folgende Streitgespräch führen würde, nicht davon abhalten, sie über ihren Fehler aufzuklären.
„Genau genommen habe ich die Formel nicht erfunden, Schatz. Ich habe sie lediglich entdeckt.“
Das war nicht das schlichte Ja, welches Lea erwartet hatte. „Und wo bitte soll da jetzt der Unterschied liegen?“
„Eine Formel existiert unabhängig von mir als reine Idee – und dieser ist es völlig gleich, von wem sie gedacht wird.“
Erbost stemmte Lea ihre Hände in die Seiten. „Und dir ist es wohl auch egal, was in meinem Kopf vorgeht, solange nur mein Körper fröhlich weiter macht?“
Egal welche Antwort Sirius jetzt geben würde, es wäre die falsche. Also versuchte er erst gar nicht, sich sonderlich geschickt herauszureden: „Ähm..“
„Arschloch!“
Die Tür schlug zu und schon war Sirius wieder allein mit sich und seiner Mathematik. Ein Weilchen versuchte er noch, das Problem elegant zu lösen, dann gab er auf und schaute resignierend aus dem Fenster, beobachtete die dicken, weißen Wolken. Nicht nur, dass ihm Lea mitsamt einigen möglichen (und viel mehr unmöglichen) Entschuldigungen durch den Kopf flog, dieser selbst ließ sich heute kaum für sein Thema begeistern und lieferte bloß unmotiviert ein paar nichtige Ansätze.

Die Sonne blinzelte nun frech hervor und beobachtete, wie sich die Erde mitsamt dem grübelnden Sirius um sie drehte. Was wohl auf der Seite geschah, die sie nicht ausleuchtete, verborgen vor ihrem Blick? Sie wusste nicht um ihre wundersame Wirkung, und so erschien es ihr durchaus wahrscheinlich, dass dort das Leben weiter florierte, die Erde aus sich selbst heraus leuchtete, der Tag ein endloser war.
Eine wunderbare Vorstellung, doch Sirius kannte die bittere Wahrheit: der Tag starb.
War diesem bewusst, wie er mit der Nacht zugleich seinem unwiderruflichen Ende entgegenstrebte, oder dachte er, einige Stunden später dem brodelnden Meer wieder entsteigen zu können? Und gesetzt den Fall, er würde aus der einmal erlebten Morgendämmerung auf seine zweite schließen – wie könnte man ihn von der traurigen Realität überzeugen?
Solche Art der Philosophie war Sirius durchaus beliebt, wenn auch recht schwierig. Besonders die Frage nach einem Bewusstsein des Tages schied die Geister, und so ließ er davon ab. Zeitgleich verlagerte sich sein eigenes, durchaus vorhandenes Bewusstsein in seiner perfiden Existenz zurück zu Lea – seiner geliebten, abwesenden Lea – und machte damit eine erneute Ablenkung unabdingbar.

Wie beinahe jeden Tag erwachte der Computer aus seinem Schlummer, lud aus den Tiefen seines Körpers die passenden Programme in sein temporäres Gedächtnis und agierte genauso störrisch, wie es Sirius gewohnt war. Eine erstaunliche Leistung, innerhalb von Sekunden einen Haufen Elektrokram in einen klugen Gegenüber zu verwandeln, doch wieso um alles in der Welt war dieser eine Diva? Wieso nur? Wieso? – Einige Streicheleinheiten später öffnete sich dann doch ein Fenster und Sirius war mit der Welt verbunden.
Gordon: Ich hab die Lösung für all deine Probleme!
Sirius: Ja, klar: Salzsäure.
Gordon: Nein, im ernst. Bastle dir einfach einen Klon.
Sirius: Alter! Ich komm schon mit einer Freundin nicht klar..
Gordon: Nein, Mensch! Ein Klon von dir natürlich! Pass auf, hier kommt mein Plan:
Gordon tippt gerade...


Wunderwerk der Technik, dachte sich Sirius. Früher hat man noch den Körper gebraucht, um zu kommunizieren, heute reicht im Zweifelsfall ein Finger. In Zukunft werden wir womöglich Telepathie betreiben oder nur noch als reine Gedanken durch Glasfaserkabel flitzen.
Gordon: Zuerst brauchst du Stammzellen. Frag mal deine Mutter, ob sie noch deine Nabelschnur hat. Wenn nicht, programmieren wir uns ein paar Zellen um. Und dann züchten wir in fünf Jahren so zwei, drei von deiner Sorte heran. Wenn wir die haben, müssen wir nur noch dein Gehirn kopieren und in sie übertragen. Et voilà: deine eigenen Sklaven.
Sirius: Ich sehe da ein Problem.
Gordon: Ist technisch alles machbar – irgendwann. Und Lea gehört nur dir, dem Original.
Sirius: Oh, Lea.. Ich glaube, ich muss diesbezüglich noch etwas erledigen.
Gordon: Kein Problem, ich rede noch ein wenig weiter.

Es war an der Zeit, sich seinen Ängsten zu stellen: „Lea, ich..“
„Ja?“ Sie stand da, wie Frauen in solchen Situationen dazustehen pflegen, mit all ihrer einschüchternden Präsenz.
„Ich.. ich wollte dir sagen..“, stammelte Sirius, ohne wie so oft gar nicht zu wissen, was er sagen wollte. Konnten sie nicht einfach nur körperlose Schemen sein, lebend in einer Welt ohne den

Blick? Das schwerste an solch einer Entschuldigung war immer, diesem standzuhalten. „Ich.. ich liebe dich.“
Kein Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. „Du weißt, dass dich das nicht rettet.“
„Ich..“ Ich wünsche mich in meine körperlose Gummibärchenwelt, schoss es Sirius durch den Kopf. Man braucht doch keinen Körper, um glücklich zu sein.
„Aber es freut mich dennoch. Denn weißt du was? Ich liebe dich auch.“ Sie zog ihn an sich heran und gab ihm einen langen, langen Kuss. „Und als Bestrafung massierst du mich am ganzen Körper. Jetzt sofort.“
Dies ließ sich Sirius nicht zweimal sagen und froh darüber, einen Körper zu besitzen, eilte er mit seiner Freundin ins Schlafzimmer und tat die nächsten Stunden sein Bestes, möglichst nicht zu denken.

Keinen einzigen Gedanken verschwendete er mehr an diese beliebig-dimensionalen Würfel, die, unserer einfachen Welt entsprungen, die beinahe unendliche Komplexität des Seins zum Ausdruck bringen.
Erschaffen kann sie jeder, indem er sich Abfolgen aus Nullen und Einsen denkt – und zwar nicht irgendwelche, sondern alle möglichen, die gleich lang sind. Dies sind die abstrakten Ecken des Würfels. Die Kanten fügt man dann zwischen denjenigen Ecken ein, die sich in genau einer Ziffer unterscheiden. Das ist alles, und leicht und schnell gedacht. Das genaue Aussehen gleichwohl übersteigt jeden menschlichen Geist sowohl physisch als auch psychisch, sobald die Abfolgen mehr als drei Ziffern enthalten.
Würde aber jemand an der reinen Existenz dieser Würfel zweifeln, bloß weil diese lediglich vage vorstellbar, nicht jedoch durch eigenes Unvermögen direkt erlebbar sind?

Die beiden hatten inzwischen ihr Abendbrot gegessen und ihr nächstes Ziel bestand darin, es sich auf den dicken Matratzen gemütlich zu machen, in die weichen Decken einzurollen und tief und fest zu schlafen. Zuvor jedoch wollte Sirius noch den Computer ausschalten, und so entdeckte er Gordons Worte:

Gordon: Du müsstest da natürlich aufpassen. Nicht dass die Klone auch der Meinung sind, du zu sein, und deinen Platz einnehmen wollen. Schließlich haben sie quasi denselben Körper wie du.
Gordon: Und wir haben ihnen ja auch deine Gehirn-struktur eingepflanzt, womit sie dieselben Erinnerungen an gestern, vorgestern und so weiter haben.
Gordon: Eigentlich können sie gar nicht wissen, dass sie Klone sind. Sie sind wie du der festen Meinung, sich gestern als du schlafen gelegt zu haben. Und heute sind sie sich alle ganz sicher, du zu sein. Nur plötzlich sind da noch viele andere, die dasselbe behaupten.
Gordon: Folglich denkt jeder, er sei das Original, und ihr habt keine Möglichkeit herauszufinden, ob ihr schon einmal gelebt habt oder nicht.
Gordon: Allein der Versuchsleiter weiß die Wahrheit. Der bin aber ich, und ich bin gemein und vergesse ganz einfach, wer alles ein Klon ist. Damit seid ihr dann alle identisch und müsst Lea unter euch aufteilen.
Gordon: Komische Sache, aber durchaus lustig.

„Du hast Ideen, Junge. Da kann man nur hoffen, dass nirgendwo jemand mit meinem Körper herumläuft, der nicht ich ist.“ Sirius schloss das Fenster und bewegte den Mauszeiger zum Aus-Knopf. „So schlafen Sie denn fein, Verehrteste.“ Der Bildschirm blinkte ein letztes Mal auf, und verabschiedete sich dann in die verdiente Ruhe der Nacht, welche auch schon die restliche Welt erfasst hatte. Lediglich vereinzelte Frösche quakten noch gegen die dichte Dunkelheit an, und kurz blieb Sirius stehen, um ihnen zu lauschen.
„Quak, quaaaak. Quaak, quaaak.“
Nachdenklich schlurfte er ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Wie von selbst griff er nach den benötigten Utensilien und begann das einstudierte Treiben, während er seinem Spiegelbild in die Augen schaute. Hatte er heute genug erlebt, war er damit so zufrieden, dass er sich getrost schlafen legen konnte? Sein Kopf nickte schwerfällig und müde – es war wirklich an der Zeit, die Augen zu schließen.
Im Bett rückte er nahe an Lea heran, legte seinen Arm um ihre Schulter, und dann begann die Zeit des stillen Sinnierens.

Er sah sich selbst als kleines Kind, wie er auf einem sonnigen Platz stand, umgeben von einigen Blumen, manche schon halb verdorrt, und drei kleinen Eichen. Es war ein schöner, großer Platz, doch ihm zu trist, also zeigte er auf diese und jene Stelle, woraufhin bunte Blümchen aus dem Boden schossen. Gerne hätte er auch einen mächtigen Baum erschaffen, der die Eichen überragte, doch als er es versuchte, wuchs nur ein kümmerliches Pflänzchen, viel kleiner noch als die Blumen. Also versuchte er sich daran, eine der vorhandenen Eichen größer zu machen, und mit einiger Anstrengung gelang es ihm, ein neues Blatt und einen neuen Höhenzentimeter zu erzeugen. Mit kindlicher Freude wollte er noch mehr schaffen, doch plötzlich stand ein Greis neben ihm, der den Kopf schüttelte.
„Du hast genug vollbracht. Nun ist es Zeit, dich zu unserer Runde zu gesellen.“
„Was soll ich bei euch alten Leuten?“, fragte Klein-Sirius. „Ich bin doch noch ein Kind, voller Elan und quietschfidel.“
Da lachte der Alte auf. „Ja, das haben wir auch gedacht, aber die Zeit vergeht schneller, als man denkt.“
Da begann die Sonne wie wild über den Himmel zu wandern und während sich die Schatten in die Länge zogen, fühlte Sirius, wie er Falten bekam, und ganz plötzlich, als es fast schon Nacht war, schmerzte ihm der Rücken.
„Nun komm mit zu uns. Morgen werden wir den Neuen begutachten“, meinte der Alte, und gemeinsam liefen sie zum Rand des Platzes, dessen neue Blumen fast schon wieder verblüht waren. Die Eiche aber, so bemerkte Sirius noch, hatte ihr Blatt behalten.
Dann erlosch das Licht.



Schwer atmend schreckte Sirius auf. Merkwürdig, dass er so panisch war, wo er doch bloß von Blumen und Rentnern geträumt hatte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es kurz vor zwölf Uhr war, er also noch nicht länger als eine Stunde im Bett lag. Fast fielen ihm auch die Augen zu, doch seine Blase hatte stärkere Reize zu bieten, und so schleppte er sich noch einmal ins Bad.
In seinem Kopf war nicht mehr viel los. Alle Gedanken hatten sich schon damit abgefunden, schlafen gelegt zu werden, und sein Körper verrichtete alle Arbeit automatisch. Die Augen, die ihm entgegen blickten, wirkten nur noch leer und antriebslos, und leicht lächelte Sirius über die Behauptung, diese wären der Spiegel der Seele. Seine Seele jedenfalls stand nicht kurz davor, sich für immer aufzulösen.
Behäbig schlich er zurück ins Bett und versuchte sich an Lea zu kuscheln, was gar nicht so leicht war. Sie wälzte sich hin und her, brabbelte unverständliches Zeug und schlug ihm einmal sogar auf die Nase. Sirius wusste sich nicht anders zu helfen, als sanft ihren Kopf zu streicheln, und nach einiger Zeit verstummte sie einfach so und lag völlig bewegungslos da. Dies war wohl die Tiefschlafphase, dachte sich Sirius. Kurz darauf schlief auch er.

Nun war Sirius' Bewusstsein alleine mit sich und dem Unterbewusstsein, welches deutlich zu erkennen gab, dass der Tag beinahe beendet war. Nur noch einige Sekunden standen ihm zur Verfügung.
Gern würde es noch länger hier verweilen, diesen Körper noch einen weiteren Tag führen, doch waren seine Kräfte begrenzt. Niemandem war geholfen, wenn das Bewusstsein aufgrund mangelnder Fitness anfing, zu halluzinieren, und so nutzte man die Schlafenszeit aus, um den Wechsel ohne viel Aufsehen durchzuführen.
Seine letzte Tat bestand darin, noch einmal die Erlebnisse des Tages Revue passieren zu lassen, um Unwichtiges zu verwerfen und Behaltenswertes sorgfältig in kleine Kästen einzusortieren. Diese würde alles sein, was von ihm blieb, und so, wie es heute, würden seine Nachfolger in den kommenden Tagen, Wochen und Jahren ihre gesamte Handlung auf diesem Wissen aufbauen.
Als es Leas Körperwärme eingeordnet hatte, sah es sich noch ein letztes Mal um, befand mit einem Nicken, dass es gut war, und übergab dann schweren Herzens die letzten Körperfunktionen an das Unterbewusstsein. Und dann.. ja dann verblasste es langsam und war schließlich für immer verschwunden.

Die kleine Eintagsfliege blickte betrübt über den See, der von ihren toten Ahnen übersät war. „Was ist das nur für ein Leben? Ein Tag, und das soll alles gewesen sein?“
Neben ihr saß eine andere auf dem Schilf, und lächelte ihr zu. „Ein Tag ist mehr, als den meisten Dingen zugestanden wird. Komm, lass uns das Beste daraus machen und die Welt verändern!“



Ein neuer Tag ärgerte Sirius mit strahlendem Sonnenschein und müde öffnete er die Augen. Vergeblich versuchte er, die letzten Fetzen des Traumes zusammenzuhalten, doch verflüchtigten sich diese schnell. Er war einfach noch nicht bereit, so viel zu denken, und beschloss, die Augen wieder zu schließen.
Ein Fehler, wie sich herausstellte: Mit voller Wucht schlug ein Kissen auf seinen Kopf und er hörte, wie Lea kichernd in die Küche rannte.
„Na warte..“ Musste er also doch aufstehen. Schwerfällig erhob er sich und streckte die Arme aus. Nach dem Schlaf fühlte er sich immer etwas ungelenk, so, als könne er noch nicht sein volles Körperpotential nutzen. Als er aber schief in der Tür stand und Lea mit einer Tasse starken Kaffee sah, war er sich sicher: Bald schon würde sein Geist wieder Großartiges leisten.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.04.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für die kleinen Eintagsfliegen, so unverdrossen in ihrem Streben nach Glück

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