Starr blickte ich an die dunkle Decke und lauschte meinem Atem, der sich langsam wieder beruhigte. Von draußen klangen die Geräusche des Nachtverkehrs an mein Ohr, sowohl von der Straße als auch aus der Nachbarwohnung. Wegen dieser war ich jedoch nicht aufgewacht, einfache Töne lernt man auszublenden. Ein Albtraum war es gewesen, der mich weckte, ein Albtraum, der mich an das erinnert hatte, was ich doch vergessen wollte.
Ich stand auf dem Dach des Hauses, der Wind zerzauste mir das Haar und wehte kühl unter mein Nachthemd. Vor mir stand Jonas, und lächelte mich an. Damals, in der Zeit des Traumes, ist er noch mein Freund gewesen, denn er lebte noch. Ich hätte mich freuen sollen, ihn zu sehen, auf ihn zuspringen sollen, am besten in Zeitlupe. Wir standen aber nicht auf einer Blumenwiese, sondern auf diesem flachen, grauen Dach. Dies hatte etwas zu bedeuten und ich verschränkte meine Arme. Ich wollte nicht hier oben sein, wollte mit ihm zurück in unsere Wohnung.
Er schüttelte langsam den Kopf, drehte sich dann um, lief über das Flachdach bis hin zum Rand. Elf Stockwerke trennten ihn vom Boden, von der Straße, vom Tod. Ich wusste schmerzlich genau, was jetzt folgen würde, wollte zu ihm rennen, ihn halten, doch konnte ich mich nicht bewegen. Kein Finger rührte sich. Kein Wort entsprang mir.
In völliger Ruhe stürzte Jonas hinab.
Seit zwei Wochen träumte ich jeden Tag diesen Traum, seit zwei Wochen ist nichts mehr, wie es einmal war. Wieso hatte er das nur getan? Auf diese Frage würde ich wohl nie eine Antwort erhalten. Selbst in seinem Abschiedsbrief hatte nur ein unverständliches, mathematisches Rätsel gestanden: Zwei sind Eins, und was ist Null?
Niemand wusste, was dies zu bedeuten hatte, am allerwenigsten ich. Klare Worte waren nie seine Stärke gewesen, und grübelnd blickte ich in die Nacht. Erst kam die Zwei, dann die Eins. Zieht man immer Eins ab, so kommt als nächstes Null. Ist Null also die Folgerung aus Zwei und Eins? Seine Lebensuhr, die unweigerlich abgelaufen war? – Das ergab keinen Sinn, er war kerngesund und immerzu fröhlich gewesen.
Mein Blick wanderte ziellos durch die Schwärze meines Zimmers, dank meiner Rollos drang kein noch so kleiner Lichtstrahl heran. Dennoch versuchten meine Augen Formen auszumachen, in kleinen Unregelmäßigkeiten der Nacht etwas Sinnvolles zu erkennen. Es war ihnen nicht recht, blind zu sein, also erfanden sie ihre eigene Welt. Als kleines Kind hatte ich immer Angst gehabt, dies könnten böse Geister sein, jetzt hoffte ich, es wäre Jonas. Dieses unstete Flimmern, welches mich zu locken schien, es waren die Überreste meiner großen Liebe. Meine Freundinnen hätten mich für verrückt erklärt, wüssten sie, wie ich manchmal stundenlang mit diesen Erscheinungen redete, also behielt ich es für mich, es war meine ganz persönliche Art, den Verlust zu verarbeiten.
Es war noch mitten in der Nacht, und meine Augen fielen nach einiger Zeit wieder zu. Die letzten Tage hatte ich kaum geschlafen, immer nur nachgedacht, doch irgendwann überfällt der Schlaf jeden Körper. Den Geist kann er freilich nicht davon abhalten, zu arbeiten, und so erschuf dieser einen neuen Traum.
„Kleine Nachtmaus, wach auf.“ Ich spürte seine Lippen auf meiner Stirn, seine warmen Hände, die meine Schultern berührten. „Ich muss dir unbedingt etwas erzählen.“
Verschlafen öffnete ich die Augen und sah ihn, meinen Jonas. Er hatte diesen Ausdruck im Gesicht, der mir genau sagte, dass er nicht locker lassen würde, bis ich alles verstanden hätte. Also setzte ich mich auf, und hörte ihm zu.
„Es gibt kein Wesen auf der Welt, dass ich mehr liebe, als dich.“ Er nahm meine Hände in die Hand und zog mich hoch. „Das ist die volle Wahrheit.“
Das fand ich schön und gab ihn einen Kuss. „Wieso weckst du mich deswegen?“
„Komm mit, ich zeig es dir.“
Er zog mich in die Küche, dort brannte eine kleine Lampe und beleuchtete ein Stück Papier. „Hier, ich habe es aufgeschrieben.“ Stolz zeigte er auf das Blatt, und ich beugte mich nieder, um zu lesen, was da stand: 2 = 1.
Verwirrt sah ich ihn an. „Das ist falsch.“
„Nein, Nachtmaus, ist es nicht“, widersprach er mir mit kindlicher Freude. „Wir sind zwei Personen, nicht wahr?“
Ich nickte.
„Und wir bilden eine Einheit auf ewig, stimmt's?“
Wieder nickte ich und bekam eine wage Ahnung davon, was er mir sagen wollte.
„Also ist Zwei gleich Eins“, schloss er feierlich.
So wie er es erklärte, klang es sinnvoll, obwohl ich bezweifelte, dass ich diese Weisheit einem Dritten nahelegen könnte. Dennoch war er froh, dass ich verstanden hatte, und gab mir einen Kuss auf die Wange.
Ich mochte seine Küsse, und glücklich sah ich ihn an. „Ich will für immer bei dir bleiben, Jonas.“
Da wurde sein Gesicht ganz ernst, und er flüsterte: „Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist.“
Ich riss die Augen auf. Dieser Traum war neu gewesen, und er hatte sich vollkommen real angefühlt, so, als würde Jonas noch leben. Und als ich realisierte, wo ich saß, lief es mir kalt den Rücken runter: in der Küche, am Tisch mit der kleinen Lampe, vor dem kleinen Zettel, auf welchem lediglich 2 = 1 stand.
Dieser Traum hatte nicht bloß real gewirkt, er war es auch gewesen – zumindest der Teil, der mich aus dem Bett geführt hatte. Hektisch sprang ich auf und blickte ich mich um, vielleicht waren auch die Erlebnisse der letzten Wochen nur ein Traum gewesen und Jonas würde grinsend an der Tür lehnen, doch niemand war da, selbst das Flimmern hatte sich verzogen.
Enttäuscht goss ich mir ein Glas Wasser ein und setzte mich wieder an den Tisch. Wenn das so weiterging, würde ich echt verrückt werden. Wer träumt schon von Gleichungen? Ich blickte auf das Blatt vor mir. Es war, als hätte mir Jonas einen Hinweis geschickt, und nun lag es an mir, den restlichen Code zu entschlüsseln.
Zwei sind Eins. Okay, das waren wir beide, das liebende Paar, und keine blöden Zahlen. Und was ist Null? Ein leeres Konto, ein Nichtsnutz oder doch das Ende? So kam ich nicht weiter, also schrieb ich eine weitere Zeile auf das Blatt: 0 = ?. Die erste Zeile lautete 2 = 1. Wo war der Zusammenhang, den ich nicht erkannte? Da meldete sich eine längst vergangene Mathematikstunde in meinem Kopf: Man darf auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens dieselbe Zahl abziehen. Also tat ich genau dies, und erhielt: 1 = 0. Das war die Lösung! Wenn Zwei gleich Eins ist, dann ist Eins auch Null. Ich fühlte mich wie einst Archimedes und wollte schon jubilieren, als sich mir eine ernüchternde Frage stellte: „Und was bedeutet das jetzt?“
Ich zerknüllte das Papier und schaltete das Licht aus. Dieses blöde Rätsel brachte mir meinen Freund auch nicht zurück. Wie konnte er nur alles zerstören, was wir uns aufgebaut hatten? Eine große Liebe sollte es sein, und übrig blieb nichts. Er hatte mich verlassen, war schändlich geflohen vor der Welt, und ich brüllte in die Dunkelheit hinein, so laut ich konnte. Keine Worte, nein, einfach nur die Trauer und die Einsamkeit und die Wut. Es war nicht gerecht. Kleine, salzige Tränen liefen meine Wangen hinunter und tropften auf die Fließen. So gern hätte ich mich jetzt an seine Schulter gelehnt, alles hätte ich dafür hinter mir gelassen, und da sah ich das Flimmern. Es war nicht so schwach, wie die letzten Tage; es leuchtete stärker und fordernder als sonst. Ich konnte zwar wie immer keine Konturen ausmachen, kein genaues Bild erkennen, aber es war eindeutig Jonas, der mein Flehen erhört hatte.
Als ich schluchzend auf den Schemen zusprang, löste er sich auf und ließ mich fast gegen den Kühlschrank rennen. Er war jedoch nicht gänzlich verschwunden: In meinem Nacken spürte ich seine Blicke, sie kamen von der Wohnungstür. Dort schwebte er in der Luft, diffus und unwirklich, und ich hatte das Gefühl, er wollte mir etwas zeigen. Dann glitt er durch die Tür und ich war wieder allein. Ohne eine Sekunde zu verlieren, stürzte ich ihm hinterher, zur Tür hinaus ins Treppenhaus. Auf die innere Stimme, die mir verriet, dass mein Nachthemd keine passende Bekleidung für eine nächtliche Verfolgung war und dass ich doch bitte den Schlüssel mitnehmen sollte, hörte ich dabei nicht; das alles war nicht mehr wichtig. Ich sah das Flimmern den Treppenschacht hinauf gleiten, und mit einem breiten Grinsen lief ich Stufe um Stufe hinauf, bis in die oberste Etage zu der Tür, die auf das Dach führte. Diese hatte Jonas vor zwei Wochen aufgebrochen, und bisher hatte sich niemand verantwortlich gefühlt, das Schloss zu reparieren oder wenigstens einen Riegel anzubringen. Mein Glück, dachte ich mir, und betrat ohne zu zögern das Flachdach.
In der Luft schwebte das flimmernde Abbild einer vergangenen Wirklichkeit, und diesmal so deutlich, dass ich seine wunderbaren, braunen Augen erkennen konnte. Dies war Jonas, daran bestand kein Zweifel, und er war zurück gekehrt, damit wir beisammen sein konnten. Langsam und bedächtig schritt ich auf ihn zu, ich wollte nicht, dass er wieder verschwand, und reichte ihm meine Hand. Er aber wich so weit zurück, wie ich näher kam, immer weiter und weiter, bis er über den Rand des Daches hinaus glitt und frei über dem Abgrund schwebte.
„Zwei sind Eins, und was ist Null?“, trug mir der Wind seine Worte ans Ohr.
Leise flüsterte ich die Antwort, „Eins ist Null“, und in diesem Moment verstand ich deren wahre Bedeutung. Die Eins stand hierbei für all die einzelnen Dinge auf der Welt, und die Null besagte, dass dieses nicht wichtig waren. Wenn man wahre Liebe gefunden hat, so ist sich diese selbst am wichtigsten. Wir beiden waren bestimmt, für immer beisammen zu sein, und ich streckte meine Arme aus zu dem, der vor mir schwebte. „Komm zu mir, ich brauche dich.“ Ich sah genau, dass er verstanden hatte, doch er rührte sich nicht, blieb einfach in der Luft und schimmerte. „Bitte, komm mit mir. Nur zu zweit können wir bestehen.“ Ich ging so weit auf Jonas zu, wie mir möglich war, stand nun am Rand des Daches und schaute hinunter. Nur ein Schritt trennte mich noch davon, in die Tiefe zu stürzen. Wieso hatte er das nur getan, was hatte er gehofft zu finden?
„Das Leben ist nicht wichtig, wenn man liebt“, säuselte abermals der Wind, „nur wir beide, vereint in der Ewigkeit, sind von Bedeutung.“
Für ihn gab es kein zurück, da war ich mir sicher, und nun sollte ich zu ihm finden. Nur einen Schritt war ich vom ewigen Glück entfernt und euphorisch betrachtete ich das flimmernde Wesen. Es trug unverkennbar die Züge, die ich so liebte, denen ich bald wieder nahe sein würde, doch da war noch mehr, beziehungsweise weniger: ich konnte durch ihn hindurch sehen, auf die Hauswand hinter ihm, und sah, wie sein Körper nur noch ein Nichts war, verloren zwischen Diesseits und Jenseits. Würde ich auch so werden? Wollte ich so werden? – Ja, ich war bereit, alles zu tun. Zuvor musste ich nur noch eine letzte Frage stellen, die wichtigstes überhaupt: „Liebst du mich?“
Der Schatten sah mich lange an, legte sich seine Worte zurecht und sprach: „Ja, ich liebe dich. Ich liebe dich mehr als alles in der Welt, ich vergöttere dich. Alles, was ich möchte, ist mit dir zusammen sein.“ Ein Windstoß ließ seinen Körper erzittern, und als er sich wieder gefasst hatte, sagte er die Worte, die alles beschließen sollten. „Spring in den Tod.“
Er wollte tatsächlich, dass ich springe und mein Leben aufgebe, um in seine Welt zu gelangen; aber dabei dachte er nicht an mich, wie mir plötzlich bewusst wurde. Es ging ihm nur um sich selbst und seine verquere Anschauung einer Liebe, die er selbst mit seiner schrecklichen Tat beendet hatte. Dies war nicht der Abgang, den ich mir erwünscht hatte, und so änderte seine Forderung einfach alles. Meiner großen Liebe hätte ich jeden Wunsch erfüllt, ich wäre sogar bereit gewesen, für sie zu sterben, doch eine wahre Liebe verlangte nicht den Tod, sondern bestand voll und ganz auf das Leben. Für diese Illusion, die hilflos im Wind zappelte, lohnte es nicht meine Zukunft aufzugeben.
Ein letztes Mal blickte ich ihn an, diesen Mann, mit dem ich alles hatte teilen wollen, und ich konnte nicht verhindern, dass ich anfing zu weinen. „Nein, Jonas, ich bleibe hier. Wir haben eine schöne Zeit zusammen verbracht, doch diese ist nun endgültig vorbei. Diesen Weg, den du gewählt hast, musst du allein bestreiten.“ Ich warf dem verblassenden, schimmernden Jonas einen letzten Kuss zu, dann drehte ich mich entschlossen um und verließ ihn für immer.
Tag der Veröffentlichung: 10.03.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
für
den Kurzgeschichtenwettbewerb
zum Thema
Fata Morgana