Cover

Kein Zurück

 

 

Wie schon so oft prasseln die Graupelkörner gegen die beschlagenen Scheiben des Busses. Wie ich den Winter hasse.

Naja, eigentlich ist ja noch nicht einmal Winter. Wo sind die schönen langen Sommer hin, an die ich mich aus meiner frühen Kindheit so gerne erinnere? Ich weiß es nicht.

Aber eins weiß ich. Immer schneller kommt jetzt der Winter. Von Tag zu Tag wird es kälter und ich glaube, irgendwann gibt es keine Sommer mehr.

„Hey Cassie, hast du die Hausaufgaben?“ Mike brüllt mir fast ins Ohr, da der Bus so voll ist, dass wir kaum Platz zum Stehen haben.

Ja, wir stehen. Leider steigen wir relativ spät in den Bus ein, dann sind eigentlich immer alle Plätze schon belegt. Aber was soll´s, es sind ja sowieso nur 15 Minuten.

Ich versuch zu ihm aufzusehen und brülle zurück: „Sehe ich etwa so aus?“

Er grinst. Jeden Tag ist es das gleiche. Jeden Tag die gleiche Unterhaltung. Irgendwie ist dieses Gespräch schon zu einem eigenen Ritus verkommen.

„Denkst du, Milena hat die Hausaufgaben gemacht? Die kleine Streberin hat sie doch eh immer.“

Ich sehe mich schnell um, um mich zu vergewissern, das Milena außerhalb unserer Hörweite sitzt. Sie starrt traurig in den Regen hinaus.

Irgendwie reizt mich allein ihr nachdenklicher Blick wieder ein paar Spitzen in ihre Richtung fallen zu lassen. Aber heute sollte ich mich erstmal zusammenreißen.

„Du kennst sie doch. Sie wird dich nicht abschreiben lassen. Sie sagt doch immer, wir sollen uns unsere eigenen Lösungen überlegen. Ob sie immer Stundenlang alleine vor den Hausaufgaben sitzt, weil sie keine Freunde hat?“ Ich grinse gehässig als ich sehe, dass sie uns nun anschaut.

Sie weiß, dass wir über sie reden. Vermutlich denkt diese gutgläubige Streberin auch noch, dass wir Sachen sagen wie: „Oh guck mal, hast du die tolle Jacke gesehen?“ oder: „Mensch, heute sehen Milenas Haare aber wieder schön aus.“

Aber so etwas würden wir nie sagen. Ihre Haare sind lockig und sie trägt sie immer in einem Zopf gebunden.

Einmal in der dritten Klasse hat sie die Haare aufgemacht. Wir haben stundenlang über ihre Haare gelacht, es sah aus, als wären ihre Haare ein Vogelnest. Eines, das ungeordnet und zerwühlt ist. Irgendwann ist sie dann heulend nach Hause gerannt. Seitdem habe ich sie nur mit Zopf gesehen. Und ihre Jacke! So eine Jacke wie sie trägt würde nicht einmal meine Oma tragen. Sie sieht fast aus wie selbstgestrickt mit ein paar Pferden darauf, als wäre sie noch ein kleines Kind, das von der Mutter angezogen wird.

Aber wer weiß, vielleicht legt ihre Mama ihr ja auch noch die Anziehsachen hin.

 

Endlich kommt der Bus zum Stehen und wir stürmen hinaus, rennen durch die nasskalte Luft auf das Schulgebäude zu, in die schützende Umgebung der Schule.

Im Klassenzimmer ist es wie immer laut, mehr als laut, um genau zu sein. Ein paar Outsider sitzen in einer Ecke und reden über die Hausaufgaben.

Die meisten coolen reden über die gestrigen Erlebnisse oder verabreden für heute etwas Neues.

„Ey Cassie, kommst du heute mit ins Kino?“ fragt Jasmin mich. Alle starren mich erwartungsvoll an. Ohne mich haben sie immer nur halb so viel Spaß.

„Nein, tut mir leid, meine Mum hat den blauen Brief wegen der nicht gemachten Hausaufgaben gefunden, deswegen muss ich heute und morgen leider zu Hause bleiben.“

„Ach, scheiß auf Hausaufgaben!“ brüllt Torben und sieht dabei bedeutungsvoll zu Milena hinüber. Ich weiß gar nicht, wieso, aber, obwohl sie ein Streber ist, halten sich auch die anderen Streber von ihr fern, sodass sie immer allein ist.

Erschrocken sieht sie auf und versucht danach krampfhaft in ihre Bücher zu stieren, wie erbärmlich.

Torben schlendert langsam zu ihrem Tisch und schmeißt wie beiläufig ihre Schultasche um. Alle lachen. Ihr Gesicht läuft puterrot an und sie bückt sich hastig nach ihren Heften.

So oft das auch passiert, Milena wird doch immer wieder rot und immer wieder gibt sie uns neuen Grund, sie zu ärgern, im Endeffekt ist sie doch selbst schuld, denke ich und lache lauthals mit.

„Hey Milena, wie wäre es, wenn du mich und meine Freunde deine Hausaufgaben abschreiben lässt?“ meint Torben mit seinem süßesten Zahnpastalächeln.

Arrogant reckt sie ihr Kinn vor und zickt ihn an: „Lernt gefälligst mal eigene Leistungen zu erbringen, statt immer die Lorbeeren von anderen einzuheimsen!“

Seine Hand zuckt über ihren Tisch und fegt ihr Schreibetui herunter: „Ups! Das tut mir aber leid.“

Erneut bückt Milena sich, um ihre Sachen aufzuheben, sie von dem staubigen Schulboden aufzulesen und erneut lachen wir sie alle aus.

Die dumme Kuh hat sogar vergessen gehabt, ihr Etui zuzumachen, sodass überall ihre Stifte verstreut liegen. Auch Torben bückt sich und hebt den Radiergummi von Milena auf.

Entrüstet starrt sie ihn an: „Gib mir meinen Radiergummi wieder!“

„Nur wenn du ganz lieb bitte sagst.“ Brülle ich lachend in die Runde.

„Gut, gebt ihr mir bitte meinen Radiergummi wieder?“ fragt sie jetzt sichtlich genervt.

„Nur, wenn du uns abschreiben lässt,“ meint Torben gehässig und wie schon so oft gibt Milena nach und reicht ihm das Heft.

Bevor die Lehrerin kommt, haben wir alle abgeschrieben, doch Torben versteckt Milenas Heft in seiner Schultasche, und als die Lehrerin nach ihren Hausaufgaben fragt, muss sie gestehen, dass sie ihre Hausaufgaben gerade nicht parat hat.

Ein einziges Mal ist es passiert, dass Milena in einer solchen Situation sagte, dass wir ihr Heft hatten, wir bekamen tierischen Ärger, aber Torben regelte das mit seinem Zahnpastalächeln und sprach nach der Schule noch allein mit Milena. Seither hat sie uns nie wieder verraten.

Was er ihr wohl gesagt hat?

 

Wie schon so oft kassiert Milena als einzige einen Strich für nicht gemachte Hausaufgaben und das, obwohl sie doch so ziemlich die einzige war, die sie überhaupt gemacht hatte. Aber sie ist ja selbst Schuld, wenn sie das mit sich machen lässt.

Nach der Stunde kommt Milena wutentbrannt an Torbens Tisch und streckt die Hand aus.

„Gib es mir!“

Torben mustert sie von oben bis unten und schaut sie abschließend angeekelt an: „Sorry Kleines, aber du bist ja mal sowas von nicht mein Typ.“

Erneut lachen alle sich die Seele aus dem Leib. Nicht zuletzt, weil Milena ein wenig verletzt aussieht.

 

Auch am Ende des Schultages hat sie ihr Heft nicht wieder und als wir rausgehen, wirft Torben es in den Müll: „Die braucht es doch eh nicht mehr.“ Meint er und sieht dann mich an: „Du schaffst es heute wirklich nicht?“

„Nein, tut mir leid aber hey, guck mal Cinderella holt ihr Heft aus dem Müll,“ erwidere ich und schaue Milena dabei zu, wie sie versucht, ihr Heft unbeschadet aus dem Mülleimer zu holen. Ich drehe mich um und gehe zu dem Mülleimer zurück: „Suchst du was?“ frage ich sie unschuldig und rümpfe die Nase.

 

„Ja, das weißt du!“ brüllt sie unter Tränen. Immer fängt sie an zu heulen. Als ob ich deswegen Mitleid mit ihr bekommen würde.

Ihr Gesicht läuft dunkel rot an und sie zieht gut hörbar den Rotz in der Nase hoch. Ekelig!

„Da, ich sehe es!“ rufe ich aus und halte meinen Hot-Dog so darüber, dass der Ketchup mit einem lauten Platschen auf das Heft tropft.

Sie schreit auf und schubst mich zur Seite, um ihr Heft zu retten.

Torben, Mike und Jasmin lachen lauthals und loben meinen guten Einfall, bevor wir nach Hause gehen.

 

Am nächsten Morgen regnet es mal wieder und ich starre auf die Wassertropfen, die langsam die beschlagene Scheibe des Busses hinunterkriechen. Wetteifern in einem Rennen ohne Ziel. „Und hast du die Hausaufgaben?“ fragt Mike mich mal wieder und diesmal lächle ich: „Sehe ich etwa so aus?“

Wir beide prusten los und ich meine: „Torben besorgt uns doch eh wieder die Hausaufgaben, wofür also machen?“ Während ich das sage, schaue ich mich nach Milena um, doch heute kann ich sie nicht entdecken. Merkwürdig, aber vermutlich versteckt sie sich heute, damit ihre Hefte unbeschadet bis zur Schule gelangen.

Als wir die Schule betreten, ist die ganze Aula voller Kerzen und alle Schüler stehen unschlüssig herum, während die Lehrer aufgewühlt hin und her laufen. Sogar die Abschlussjahrgänge!

Es riecht nach Rauch und Parfüm, das Licht ist aus, einzig und allein die vielen Kerzen erleuchten den riesigen Raum.

Mike und ich gesellen uns zu unseren Freunden und ich frage Jasmin, was los ist.

„Keine Ahnung die Lehrer meinten, wir sollen hier warten.“

Zehn Minuten später steht der Direktor hinter einem Rednerpult: „Liebe Schülerinnen und Schüler, es tut mir leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass sich gestern etwas Furchtbares ereignet hat.“

-„Ja, der Kinofilm war ausverkauft,“ flüstert Torben und wir kichern leise. -

„Die Schülerin Milena Buff hat gestern am späten Nachmittag Selbstmord begangen.“ Er macht eine traurige, mitfühlende Geste, bevor er fortfährt:

„Wir trauen heute um sie und werden eine Andacht halten, in der wir uns ihrer erinnern. Danach bekommt die Klasse, welche sie besucht hat, den Rest des Tages frei. Dies wird sicher sehr schwer für ihre Freunde und Klassenkameraden sein, aber wir stehen das alle gemeinsam durch.“

 

Während die Andacht beginnt, stehe ich wie erstarrt da. Selbstmord? Warum hat sie das getan? Wegen uns? Waren wir wirklich so gemein? Sie sollte doch wissen, dass das nur Spaß von uns war. Oder war es das nicht? Für uns ja, aber für sie?

Mir wird schlecht und ich lehne mich an die Wand. Torben beugt sich zu uns und meint: „Toll und wer macht jetzt unsere Hausaufgaben?“ Kein Lachen folgt. Keine gehässigen bösartigen Bemerkungen. Jasmin sieht mich erschrocken an und meint dann: „Wir haben sie umgebracht.“

Torben lacht: „Nein. Wenn, dann war es die Schule.“ Zum ersten Mal zweifele ich an meinen Taten und Ansichten. Wie konnte ich Torben mögen? Seine Bemerkungen sind geschmacklos und ich war grausam.

Die Schule. Ja, vielleicht hat er schon Recht. Vielleicht hat die Schule auch Schuld daran. Aber hätte die Lehrer unsere Gemeinheiten unterbinden können? Nein, ich denke nicht.

Nein! Ich glaube, wir tragen die gesamte Schuld an Milenas Tod. Ich wusste nicht, was ich mit meinen Taten anrichten. Oder wusste ich es doch? Habe ich sie nicht ein ums andere Mal weinen sehen? Sie schikaniert und einfach nie aufgehört?

Der Direktor erzählt uns gerade von Milenas guten Taten bei den Streitschlichtern und ihrer freiwilligen Hilfe für Spendenorganisationen und anderen Schulveranstaltungen. Er erklärt, dass Milena eine sehr hilfsbereite Schülerin gewesen sei und reicht dann einige Zettel herum, die an sie erinnern sollen:

Als die Zettel bei mir landen, werfe ich einen Blick darauf und erstarre, denn auf dem ersten Zettel steht:

Milena Buff

1993 – 2009

Sie war ein wundervolles Mädchen.

Die Beerdigung findet am Freitag den 13 November 2009 auf dem William Church Friedhof statt.

 

Darunter ist ein Zettel, den ich nur zu gut kenne: Ein blauer Vordruck, wie ihn jeder in der neunten Klasse bekommt. Wir haben diesen Zettel vor etwa einem halben Jahr bekommen, als es darum ging zu sagen, was wir später einmal machen wollen. Zwei Fragen stechen mir sofort ins Auge und ich schlucke. Jetzt stehen mir Tränen in den Augen. Wie konnte ich das nicht sehen? Sie hat ihren Zettel sogar vorgelesen.

Bei der Frage: Was möchten Sie später einmal werden/machen? – steht die Antwort: „Ich möchte Sozialpädagogik studieren und einmal Lehrerin werden.“

Damals haben wir gelacht: Die und Lehrerin? Niemals! Doch jetzt sehe ich den Zusammenhang mit ihrer zweiten Frage: Was ist Ihr größter Wunsch/ Was möchten Sie später erreichen?

Ihre Antwort mehr als ein Hinweis. Eher ein riesiges Leuchtschild auf dem sie uns anschreit: „Ich möchte gegen Mobbing an Schulen ankämpfen und Schülern, die darunter leiden, helfen können.“

 

 

 

 

Impressum

Lektorat: Rüdiger Kuhn
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Danke an Rüdiger für die Korrektur

Nächste Seite
Seite 1 /