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Jemand musste Christian Schneider, den Inhaber der Hochbau GmbH, vorgewarnt haben, denn weder die Durchsuchung seiner Geschäftsräume noch der Villa im Nobelvorort Seefeld ergab einen Hinweis auf eine Steuerhinterziehung im großen Stil, wie die anonym eingegangene Anzeige zunächst hatte vermuten lassen. Statt Hilfe suchend seinen Rechtsanwalt herbeizurufen oder aggressiv die Beamten zu beschimpfen - wie es oftmals bei verdächtigen Steuerpflichtigen vorkommt - hatte er es sich mit einem Whisky in seinem Bürosessel bequem gemacht, von wo aus er der Durchsuchung des Büros sowie dem Abtransport meterhoher Aktenberge und Festplatten durch die Steuerfahndung gelassen zuschaute.

Etwa um dieselbe Zeit haderte sein Widersacher im Finanzamt, Regierungsrat Keller, der per Handy von den Fahndern laufend informiert wurde, mit seinem Schicksal. Einmal mehr war es ihm nicht gelungen, den König der Schattenwirtschaft – wie er ihn heimlich nannte – zu überführen, obwohl es mittlerweile schon alle Spatzen von den Dächern pfiffen, dass Schneider regelmäßig Arbeitnehmer schwarz auf seinen Baustellen beschäftigte und mit seinen Auftraggebern ohne Rechnung gegen Barzahlung abrechnete. Sollten die beschlagnahmten Akten und Computerfestplatten ebenfalls keine Anhaltspunkte liefern, und davon konnte Keller bei dem derzeitigen Stand der Dinge ausgehen, so würde Schneider weiterhin ungehindert Steuern und Sozialabgaben im großen Ausmaß hinterziehen können, weil nämlich das Verfahren gegen ihn eingestellt werden müsste. Welch ein Fehlschlag!

Wer aber war der Informant? Keller musste nicht lange warten, bis er dem Geheimnis auf die Spur kam. Der seriöse Abendkurier brachte am Wochenende einen längeren Bericht über den Ministerpräsidenten des Landes, Kellers obersten Dienstherrn. Dieser habe mit einer Riesenparty seine neu erbaute Villa im Nobelvorort Seefeld eingeweiht, hieß es da, und alles, was Rang und Namen hatte, dazu eingeladen. Der Finanzbeamte traute seinen Augen nicht, als er ein Photo sah, das den Ministerpräsidenten zusammen mit dem Bauunternehmer Christian Schneider zeigte. Langsam dämmerte es ihm. Natürlich, die Villa war höchstwahrscheinlich von der Hochbau GmbH gebaut worden, und der Ministerpräsident hatte möglicherweise Gründe, sich erkenntlich zu zeigen. Doch wie war er nur an die Informationen über die Hausdurchsuchung gelangt? Es dauerte eine geraume Weile, bis Keller die Möglichkeit in Betracht zog, dass es sich bei der undichten Stelle um seinen direkten Vorgesetzten, Abteilungsleiter Weidemann, handeln könnte. Dieser hatte ihn nämlich neulich wegen der misslungenen Durchsuchung ordentlich zusammengestaucht. „Wie konnten Sie nur bei Schneider eine Hausdurchsuchung veranlassen, obwohl der Mann über jeden Zweifel erhaben ist?“, hatte er ihn gerügt und dabei ganz vergessen, dass er seinerzeit den Vorgang höchstpersönlich abgezeichnet hatte.

Ein weiterer Fall ließ nicht lange auf sich warten: Der ehemalige Tennisprofi Richie Müller hatte Steuern aus Werbeverträgen in Höhe von 3 Millionen Euro unterschlagen, indem er vorgegeben hatte, seinen Wohnsitz im Ausland zu haben. Allerdings hatte eine verflossene Freundin in einem Presseinterview behauptet, dass er in der Landeshauptstadt eine Zweitwohnung unterhielt. Das ließ Richies Steuerpflicht natürlich in einem ganz anderen Licht erscheinen. Da Keller keinen Grund sah, Müller aufgrund seiner Popularität bevorzugt zu behandeln, wollte er auch in diesem Fall den üblichen Weg einschlagen, nämlich eine Durchsuchung veranlassen und das Steuerstrafverfahren eröffnen, doch verweigerte Abteilungsleiter Weidemann dazu seine Zustimmung. Stattdessen wurde Keller ins Finanzministerium zitiert. „Dieser Sportler ist ein Idol der Jugend“, gab der Büroleiter des Finanzministers zu bedenken, „und eine allzu strenge Handhabung seiner Besteuerung würde sicherlich zu einem argen Imageverlust des Ministerpräsidenten führen. Haben Sie vielleicht einen Vorschlag, was man dagegen tun könnte?“ „Nun, antwortete Keller etwas irritiert, „es gibt keinen anderen Weg, als alle Fälle gleich nach Recht und Gesetz zu handhaben. Politische Gründe haben nämlich im Finanzamt nichts verloren.“ Dass dies nicht die gewünschte Antwort war, merkte er, als man ihm kurzerhand den Fall entzog, um ihn direkt im Finanzministerium weiterzubearbeiten. Außer, dass der Tennisprofi zu einem Gespräch ins Ministerium geladen wurde, passierte eine lange Zeit gar nichts. Erst nach etwa einem Jahr konnte man dann aus den Medien entnehmen, dass es angeblich keinerlei Anhaltspunkte für eine Steuerhinterziehung gab. Aber das erstaunte den korrekten Steuerbeamten schon nicht mehr, waren doch zwischenzeitlich Bilder, die die beiden Kinder des Ministerpräsidenten zusammen mit Richie Müller vor dessen Nobelautohaus in Zürich zeigten, über die Bildschirme geflimmert.

Mit der Zeit kamen weitere Fälle hinzu, die der Abteilungsleiter anders entschieden haben wollte als es die Rechtslage verlangte, sei es, dass es um zugesagte Parteispenden oder aber private Interessen hoher Parteipolitiker ging. Obwohl Keller sich widersetzte, gelang es Weidemann immer öfter, ihn auszuhebeln. Im Zweifelsfalle wartete er einfach ab, bis sein Untergebener in Urlaub war, um dann dessen Entscheidungen wieder rückgängig zu machen. Auf diese Weise kam ein schwerreicher Unternehmer und Duzfreund des Ministerpräsidenten in den Genuss einer unberechtigten Steuerstundung und einem anderen wurden die Steuern praktischerweise gleich ganz erlassen, wobei beide ein paar Monate später auch noch den Verdienstorden des Landes verliehen bekamen.

Trotz dieser Rückschläge ließ Keller sich nicht verbiegen. Für ihn stand fest, dass er weiterhin nach Recht und Gesetz vorgehen musste, egal wie sehr er von seinen Vorgesetzten drangsaliert wurde. Allerdings befürchtete er, dass irgendwann die Mauscheleien im Finanzamt ans Licht der Öffentlichkeit gelangen würden. Und dann…? Ja, was genau würde dann tatsächlich passieren, fragte er sich, in einem Bundesland, das - solange man zurückdenken konnte – immer nur von ein und derselben Mehrheitspartei regiert worden war, deren Vorsitzender und Ministerpräsident sich wie ein absolutistischer Landesfürst gebärdete? Würden die Oppositionsparteien unter solchen Umständen überhaupt in der Lage sein, gegen diese Korruption auf höchster Ebene vorzugehen? Keller bezweifelte das sehr. Und genau dieser Zweifel war es, der in ihm eine ungeheure Wut hervorrief. Wie war es nur möglich, dass die Menschen in diesem Bundesland auf einen solchen Blender hereinfielen? Sicher, er gab sich sehr volksnah und Schulter klopfend und ließ sich sehr gern mit seiner Familie beim Kirchgang photographieren. Aber merkten sie denn nicht, dass das nur Mittel waren, um dem Volk Sand in die Augen zu streuen? Keller beschloss, alles in seiner Macht stehende zu tun, dieser Korruption zumindest im Finanzamt Einhalt zu gebieten.

Seine standhafte Weigerung mit den Wölfen zu heulen, ließ den einstmals tadellosen Beamten in den Augen seiner Vorgesetzten schon bald zu einem suspekten Querulanten mutieren, den man mit aller Macht bekämpfen musste, wollte man nicht riskieren, dass er irgendwann einmal die Machenschaften der Parteioberen publik machen oder gar ein Strafverfahren gegen seine Vorgesetzten einleiten würde.

„Ab nächsten Monat wird der Kollege Neumeier Ihr Ressort übernehmen“, informierte ihn eines Tages sein Abteilungsleiter in diesem Sinne. „Für Sie werden sich andere Aufgaben finden“, fügte er schnell hinzu, als er den entsetzten Blick seines Untergebenen bemerkte. Keller, der im Stillen immer geglaubt hatte, er sei unangreifbar, weil er stets korrekt nach Recht und Gesetz entschieden hatte, fiel aus allen Wolken. „Und mit welcher Begründung, bitte?“, fragte er. „Also, vorwerfen kann ich Ihnen eigentlich nichts“, druckste Weidemann herum, „aber Sie werden doch selbst zugeben müssen, dass Sie in einigen Fällen keine besonders glückliche Hand gehabt haben, um es einmal milde auszudrücken.“ „Aha, keine glückliche Hand also“, wunderte Keller sich. Wenn Sie es sagen, Herr Weidemann, dann muss es ja wohl stimmen. Sie sollten aber davon ausgehen, dass ich Ihre Entscheidung nicht so ohne weiteres hinnehmen werde.“ Doch der Abteilungsleiter ließ sich nicht beirren. Was sollte ihm bei seinen guten Verbindungen bis in die oberste Regierungsspitze schon groß passieren? Um seine Macht zu demonstrieren, schob er Keller sogar schon eine Woche eher als geplant in das Ressort Aus- und Weiterbildung ab.

Keller war Realist genug, um zu wissen, dass damit seine Karriere so oder so zu Ende war. Selbst wenn er etwas gegen die willkürliche Versetzung unternahm und damit Erfolg haben sollte, würde er mangels ‚Zuverlässigkeit’ nie in eine Spitzenposition aufsteigen. Dasselbe galt aber auch für den umgekehrten Fall des Stillhaltens. Was hatte er also zu verlieren, wenn er alles auf eine Karte setzte?

Für die Medien war es ein gefundenes Fressen, als er sich mit einem 40-seitigen brisanten Bericht an den Petitionsausschuss des Landtages wandte. „Ministerialbeamter deckt schwere Missstände in der Landesregierung auf“ titelte der Abendkurier und berichtete in aller Ausführlichkeit über diese delikate Angelegenheit. So etwas hatte es zuvor in diesem Bundesland noch nicht gegeben. Der Finanzminister fiel aus allen Wolken. „Wie konnten Sie die Sache nur so ausufern lassen?“ brüllte er seinen Abteilungsleiter Weidemann an, der sich mit einem Haufen Lügen zu verteidigen suchte. Das wiederum bewog Keller dazu, weitere Berichte an den Landtag zu verfassen, um die Lügen richtig zu stellen.

Bald schon tendierten die Meinungen in der Partei dahin, dass der Finanzminister unfähig war, einen kleinen Regierungsrat in den Griff zu kriegen, geschweige denn, ein Ministerium zu leiten. „Ich werde diesen Nestbeschmutzer beruflich vernichten und aus dem Beamtenverhältnis entfernen!“, tobte der Minister und leitete ein Disziplinarverfahren gegen Keller ein. Doch nicht nur der Finanzminister tobte, sondern erst recht der Landesfürst, der sich nicht damit abfinden wollte, dass ein kleiner Beamter sich erdreistete, seine Wünsche und Anordnungen in Frage zu stellen. „Diese unteren Chargen haben einfach nur den Mund zu halten und das zu tun, was man ihnen aufträgt“, erklärte er großspurig in einer Pressekonferenz. Beim Frühschoppen im Kreise seiner Parteifreunde ging er sogar noch einen Schritt weiter: „Dieser Mann muss umgehend für geisteskrank erklärt werden“, wütete er.

Hatten die Kollegen ihm anfangs noch Beifall gezollt, so musste Keller mit der Zeit feststellen, dass sich immer mehr von ihm abwandten. Niemand wollte gern mit einem Mann, der dabei war, beruflichen Selbstmord zu begehen, in der Kantine oder auf dem Flur bei einem Gespräch gesehen werden. Ja, selbst das Grüßen fiel einigen so schwer, dass sie zur Seite blickten, wenn er ihnen begegnete. Er wusste, dass sie natürlich um ihre eigene Karriere fürchteten. Andrerseits hielt das so manchen Beamten nicht davon ab, ihm heimlich weitere Fälle, die willkürlich entgegen Recht und Gesetz entschieden worden waren, zuzuspielen. Zu dieser schleichenden Isolation kam bald auch noch die Gewissheit, dass er am Telefon abgehört wurde, denn die Gegenseite war mehr als einmal überraschend gut über die Äußerungen, die er in Telefongesprächen gegenüber einer Vertrauensperson gemacht hatte, informiert.

Der Untersuchungsausschuss, den die Oppositionsparteien im Landtag durchgesetzt hatten, sah sich einer schier unlösbaren Aufgabe gegenüber. Überall stieß er auf eine Mauer des Schweigens, die den Ministerpräsidenten quasi unantastbar machte. Ziel dieser Omertà war es, mit Macht den Schein seiner Ehrbarkeit zu bewahren, gleichzeitig aber auch, sich nicht selbst zu belasten. So litt manch einer der Befragten plötzlich unter schweren Erinnerungslücken, selbst wenn der Zeitpunkt des Interesses noch nicht einmal ein Jahr zurücklag. Etliche Schriftstücke waren nicht mehr aufzufinden, stattdessen wurden Lügen und Andeutungen gegen Keller in die Welt gesetzt: Man schilderte ihn als unverträglich und rechthaberisch und stufte ihn gar als psychisch problematisch ein. Als willkommene Unterstützung erwies sich in diesem Zusammenhang das gegen Keller eingeleitete Disziplinarverfahren, das den Anschein einer besonders gründlichen Untersuchung erweckte, obwohl in Wirklichkeit schon nach einem halben Jahr gar nicht mehr ermittelt wurde. Dass es nämlich überhaupt nichts zu ermitteln gab zeigte, dass ihm niemals ein konkreter Vorwurf mitgeteilt wurde. Waren all diese Dinge ausgereizt, so blieb den Befragten immer noch der Ausweg, sich hinter den Schutzschild des Steuergeheimnisses zu verstecken oder aber ganz zu schweigen

Es war ein ungleicher Kampf, den Regierungsrat Keller in der Rolle des kämpferischen David gegen die Allmacht Goliaths führte, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war, wenngleich er dabei zum Liebling der Medien avancierte. Da die Regierungspartei die absolute Mehrheit hatte, gelang es ihr natürlich auch, die Vernehmung des Finanzministers und des Ministerpräsidenten abzulehnen. So war es nicht weiter erstaunlich, dass der Untersuchungsausschuss zu keinem eindeutigen Ergebnis kam. Im Endeffekt war man genauso schlau wie vorher, obwohl das Image des Saubermanns sowohl beim Finanzminister als auch beim Ministerpräsidenten ziemlich angekratzt war. „Das Volk und die Medien vergessen zum Glück sehr schnell“, zeigte sich letzterer unbekümmert. „Ihr sollt mal sehen, bis zur nächsten Wahl spricht kein Mensch mehr von diesem lächerlichen Regierungsrat."

Einige Jahre später – Keller war gerade in Pension gegangen – verlautete, dass er dabei war, ein Buch über seine Erlebnisse als Finanzbeamter zu schreiben. Diese Nachricht schlug in der Parteizentrale ein wie eine Bombe, denn man hatte sich eigentlich dort und auch im Finanzministerium wieder sicher gefühlt und im alten Trott weitergemacht. Dass der ehemalige Finanzbeamte selbst als Pensionär noch einmal auf Konfrontationskurs gehen würde, damit hatte nun wirklich keiner gerechnet. „Wir müssen ihm sofort verbieten, dieses Buch zu schreiben“, jammerte der Finanzminister, „wer weiß, welche Lügen er diesmal über uns verbreiten wird.“ Abteilungsleiter Weidemann schob missmutig eine Fernsehzeitschrift über den Tisch. „Da schaut euch mal das Programm vom kommenden Montag an. Ich habe es extra rot eingekreist.“ „Das glaub ich jetzt nicht“, brüllte der Ministerpräsident und haute unbeherrscht mit der Faust auf den Tisch, dass die Bierkrüge nur so klirrten und das Bier überschwappte. Sein Gesicht war vor Zorn rot angelaufen, was Schlimmes für seine Gesundheit befürchten ließ. „Da laden die Idioten diesen notorischen Querulanten auch noch zur besten Sendezeit in eine Talkshow ein!“ „Und was willst du dagegen tun?“ Ängstlich schnappte der Finanzminister nach Luft. „Das wird gar nicht so einfach sein, er ist ja schließlich nicht mehr im Dienst!“, polterte der Landesvater weiter, „aber ihr könnt euch darauf verlassen, dass ich mir schon etwas einfallen lassen werde. Dieser Herr soll mich jetzt endgültig kennen lernen!“

Am darauf folgenden Sonntagabend kam das Auto des Regierungsrates i.R. Helmut Keller von der regennassen Fahrbahn ab und prallte gegen einen Brückenpfeiler. Er war sofort tot, seine Frau verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus.

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Texte: Das Copyright liegt bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 11.07.2012

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