„Vielen Dank fürs Mitnehmen!“ Piet van der Meer drückte dem Fuhrmann ein paar Kupfermünzen in die Hand und sprang von dem Ochsenkarren hinunter. Er atmete auf. Jetzt lag nur noch ein kurzer Fußmarsch bis zu seinem Elternhaus an der vornehmen Herengracht vor ihm. Nach vier langen Lehrjahren in London konnte er es kaum erwarten, endlich seine Eltern und Geschwister wieder zu sehen. Er schulterte sein Bündel und überquerte mit weit ausholenden Schritten eine Brücke über eine Gracht, die er noch gar nicht kannte. Es hatte sich doch eine Menge in den Jahren seiner Abwesenheit in seiner Heimatstadt Amsterdam verändert.
Es war ein Spätnachmittag im Frühling des Jahres 1635. Die Sonne sandte ihre letzten Strahlen in die Vorgärten der großen Patrizierhäuser und löste damit ein wahres Farbenfeuerwerk aus. Piet blieb stehen, um das Spektakel in sich aufzunehmen. Wohin er auch schaute, überall leuchteten Tulpen in den verschiedensten Farben: rot, gelb, weiß, lila, mehrfarbig. Er konnte sich kaum von diesem herrlichen Anblick losreißen. Peinlich wurde ihm bewusst, dass er nicht an ein Geschenk für seine Mutter gedacht hatte. Immerhin hatte er sie seit vier Jahren nicht mehr gesehen, und nun musste er mit leeren Händen vor sie hintreten. Vorsichtig blickte er sich nach allen Seiten um. Die Luft schien rein. Mit einem Satz sprang er über den niedrigen Zaun eines Vorgartens und pflückte hastig einen kleinen Strauß von den leuchtend-roten Tulpen, die ihm besonders gut gefielen. Darüber würde sie sich mit Sicherheit freuen. Er war noch nicht ganz wieder auf der Straße, als auch schon zwei Männer aus dem Patrizierhaus gelaufen kamen. „Haltet den Dieb!“ riefen sie. Er erschrak und setzte sich sofort in Bewegung. Vergessen war die Farbenpracht um ihn herum, jetzt zählte nur noch Schnelligkeit. Doch er hatte keine Chance zu entkommen, denn aus den Nachbarhäusern strömten plötzlich neugierige Menschen auf die Straße, die vorher so friedlich dagelegen hatte. Es dauerte nicht lange, bis er über einen ausgestreckten Fuß stolperte und der Länge nach hinfiel.
„Ich bin Piet van der Meer, der jüngste Sohn des Tuchhändlers an der Herengracht“, stellte er sich dem Kaufmann, in dessen Vorgarten er die Blumen stibitzt hatte, vor. Er wunderte sich, dass sein kleiner Diebstahl derart hohe Wellen schlug, hatte er doch die Blumen dem rechtmäßigen Eigentümer mit einer Entschuldigung sofort zurückgegeben und geglaubt, damit die Angelegenheit aus der Welt geschafft zu haben. Doch der Kaufmann forderte einen Schadenersatz, dessen Höhe Piet erbleichen ließ. „Aber Mijnheer, meint Ihr nicht auch, dass es ein wenig übertrieben ist, für die kümmerlichen fünf Blumen 500 Gulden zu verlangen?“, fragte er verwundert. Der Kaufmann schüttelte empört den Kopf. „Ganz und gar nicht, junger Mann“, antwortete er, „ich habe sehr viel Geld und Zeit in diese Tulpen investiert, und jetzt, wo ich mich endlich an ihnen erfreuen könnte, kommt Ihr daher und pflückt sie so mir nichts, dir nichts ab. Ihr könnt von Glück sagen, dass die Zwiebeln nicht beschädigt sind, sonst würdet Ihr nicht so billig davon kommen. Also, um die Sache kurz zu machen, entweder Ihr zahlt jetzt oder die Sache kommt vor Gericht. Und das ist mein letztes Wort.“ Da Piet nicht über so viel Geld verfügte, blieb ihm nichts anderes übrig, als nach seinem Vater zu schicken, der ihn schließlich zähneknirschend bei dem unerbittlichen Kaufmann auslöste.
Die nächsten Tage verbrachte er damit, sich wieder in seiner Heimatstadt einzuleben. Er schlenderte müßig durch die Straßen, besuchte einige seiner alten Freunde, um sich dann mit ihnen gemeinsam in den Wirtshäusern der Stadt von den Strapazen des Nichtstuns zu erholen. Schon bald wurde ihm jedoch bewusst, welch einen Frevel er am Tag seiner Ankunft mit dem Blumendiebstahl begangen hatte. In den Jahren seiner Abwesenheit war die Tulpe nämlich zu einer Modeblume in Holland geworden, zu einem Statussymbol, mit dem die Bürger und Kaufleute ihren Reichtum zur Schau stellten. Dabei waren diese Menschen mit der Zeit immer anspruchsvoller geworden und verlangten ständig nach prächtigeren Exemplaren. Zwangsläufig führte diese hohe Nachfrage zu einem bemerkenswerten Anstieg der Preise, zu denen die Tulpen in den Wirtshäusern, in denen Piet verkehrte, gehandelt wurden.
Als ihn sein Vater nach einiger Zeit fragte, was er in Zukunft zu tun gedachte, war für ihn klar, dass nur der Tulpenhandel infrage kam. Nur zu gut hatte er in den Wirtshäusern beobachten können, wie die Händler in Saus und Braus von ihren Provisionen lebten. Seinem Vater hingegen war das überhaupt nicht recht. „Das ist doch sicher nur eine vorübergehende Modeerscheinung“, tat er den Wunsch seines Sohnes ab. „Ich rate dir, in etwas Solides einzusteigen“, sagte er und versuchte, ihn mit den Worten „gegessen wird immer“ für den Getreidehandel zu interessieren. „Wozu habe ich dich schließlich bei Messrs. Taylor & Oates in London das Handelsgeschäft erlernen lassen?“ Doch Piet ließ sich nicht beirren. „Nein, Vater“, sagte er bestimmt, „der Tulpenhandel ist meine große Chance, es im Leben zu etwas zu bringen.“ Kopfschüttelnd zahlte ihm der Vater schließlich seinen Erbteil aus, den Piet zum größten Teil als Kapitaleinlage bei den Tulpenhändlern Brouwer & Van Houten einzahlte. Einen kleinen Teil aber investierte er privat in den Kauf von drei unscheinbaren Tulpenzwiebeln.
Die weitere Entwicklung schien ihm Recht zu geben. Ganz Holland war plötzlich vom Tulpenfieber befallen. Edelleute, Kaufleute, Handwerker, Trödler, Knechte, Mägde, alle kratzten Geld zusammen, verkauften ihr Hab und Gut oder verpfändeten gar ihre Häuser, um in Tulpenzwiebeln zu investieren. Dabei wurden ihre Wünsche immer ausgefallener: Insbesondere schwarze Tulpen hatten es ihnen angetan und natürlich die Königin der Tulpen, die seltene ‚Semper Augustus’, deren Blütenboden blau war, an den sich weiter höher ein reines Weiß anschloss, aus dem blutrote Flammen zur Spitze hin züngelten. Ebenso exotisch wie die Kundenwünsche entwickelten sich aber auch die Preise. So kostete eine Zwiebel der begehrten ‚Semper Augustus’ 10.000 Gulden, etwa der Preis für ein großes Haus an der vornehmen Herengracht. Piet konnte aus dem Verkaufserlös für die drei Tulpenzwiebeln, die er von seinem Erbteil gekauft hatte, nach einem Jahr ein großes Patrizierhaus im Zentrum von Amsterdam erwerben. Aber selbst dieser offensichtliche Erfolg seines Sohnes vermochte Mijnheer van der Meer nicht zu überzeugen. Es kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen, sagte er sich, wenn es ein junger Mann, bar aller Erfahrung in kaufmännischen Angelegenheiten, innerhalb eines Jahres zu einem derartigen Wohlstand bringen kann. Auch gefielen ihm die beiden Seniorpartner seines Sohnes überhaupt nicht. „Noch ist es Zeit zum Ausstieg“, mahnte er ihn, doch ohne Erfolg. „Nein, Vater“, sagte Piet, „warum sollte ich wohl ein Geschäft, das mir so viel Wohlstand beschert, wieder aufgeben? Dass dir meine beiden Seniorpartner nicht sympathisch sind, ist doch kein plausibler Grund.“
Derweil plagten Piet und seine Partner ganz andere Sorgen. Es fiel ihnen nämlich von Tag zu Tag schwerer, genügend Gärtnereien aufzutreiben, die ihnen die von den Kunden favorisierten außergewöhnlichen Blumenzwiebeln liefern konnten. „Wenn wir zugeben, dass wir nicht in der Lage sind, die gewünschten Sorten zu liefern, werden unsere Kunden zur Konkurrenz überlaufen“, sagte Thies van Houten, der nur ungern auf die fetten Provisionen verzichten wollte. „Ja, aber was soll ich Mijnheer van der Kerk denn sagen?“, fragte Piet, „er hat doch ausdrücklich eine ‚Viceroy’ verlangt.“ „Nun, dann behaupte doch einfach, es sei eine Viceroy“, antwortete der praktisch veranlagte Thies. „Bis zum nächsten Frühjahr wird er es ohnehin nicht herausbekommen, und dann können wir uns immer noch etwas einfallen lassen.“ Hatte Piet bei Mijnheer van der Kerk noch ein schlechtes Gewissen - immerhin kostete eine ‚Viceroy’ 4.200 Gulden - so fiel es ihm mit jedem neuen Kunden leichter, Versprechungen zu machen, von denen er von vorn herein wusste, dass er sie nie und nimmer würde halten können, zumal ihm die Anleger ihr Geld förmlich aufdrängten. In Wirklichkeit ging es nämlich den Kunden gar nicht mehr um die Tulpen selbst, sondern nur noch um die Möglichkeit, schnelles Geld zu machen. Aus den Tulpenliebhabern waren mittlerweile Spekulanten geworden, denen es eigentlich so ziemlich egal war, was sie erwarben, Hauptsache die Kurse stiegen immer weiter. Da blieb es natürlich nicht aus, dass in dieser heißen Phase des Tulpenwahns in der ganzen Branche Lug und Betrug an der Tagesordnung waren.
Es kam wie es kommen musste. Auf einer Auktion in Haarlem im Februar des Jahres 1637 konnte auf einer der regelmäßigen Wirtshausversteigerungen zum ersten Mal keine der angebotenen Tulpen zu dem erwarteten Preis verkauft werden. Die Nachricht von den bröckelnden Preisen verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land und veranlasste viele Anleger, ihre Tulpenzwiebeln ohne Rücksicht auf die Preise so schnell wie möglich wieder loszuwerden, um ja nicht zum Schluss auf ihnen sitzen zu bleiben. Da aber nicht genügend Tulpen nachgefragt wurden, verfielen die Preise immer mehr und in den darauf folgenden Tagen brach in den gesamten Niederlanden der Tulpenmarkt zusammen. Der Wert von Tulpenzwiebeln fiel um mehr als 95%. Wie eine Seifenblase zerplatzte der Traum vom schnellen Geld und hinterließ reihenweise ruinierte Anleger.
Als Piet von dem Preisverfall erfuhr, eilte er umgehend ins Kontor, um mit seinen beiden Seniorpartnern die weitere Vorgehensweise abzustimmen. Doch wie erstaunt war er, als er vor dem Haus eine größere Menschenansammlung vorfand. „Da ist einer dieser Betrüger, lasst ihn bloß nicht entkommen!“, rief ein Mann mit hasserfüllter Stimme und deutete auf ihn. Sofort stürzten sich mehrere Menschen auf ihn und hielten ihn an den Armen fest, um zu verhindern, dass er die Flucht ergriff. Schließlich hatten sie lange genug hier ausharren müssen, bis sich endlich jemand von den Geschäftspartnern blicken ließ. „Ich verstehe nicht ganz, was Ihr von mir wollt!“, rief Piet und versuchte vergeblich, die vielen Arme, die ihn festhielten, abzuschütteln. „Nun hört Euch das mal an. Der feine Pinkel versteht nicht, was wir von ihm wollen“, äffte ihn einer der Anwesenden nach, „wir wollen nur unser Geld, sonst nichts.“ „Ja“, rief ein anderer verbittert, „schließlich müssen wir unsere Frauen und Kinder ernähren!“ Erst nach und nach dämmerte es Piet, dass es sich bei den meisten der hier versammelten Menschen um Gläubiger ihrer Blumenhandlung handelte und dass sein Seniorpartner Wim Brouwer, der für die Verwaltung der Firma zuständig war, offensichtlich übersehen hatte, die fälligen Rechnungen dieser Lieferanten zu begleichen. Aber auch ruinierte Anleger waren in dem Glauben gekommen, dass eventuell doch noch etwas zu retten war. Besonders hart traf es ihn, als er das verzweifelte Gesicht eines älteren Dieners seiner Eltern, der ihm all seine Ersparnisse anvertraut hatte, in der Menschenmenge entdeckte.. Piet schluckte schwer. „Natürlich bekommt Ihr Euer Geld, Ihr guten Leute“, versprach er ihnen blauäugig, „ihr müsst Euch nur ein wenig gedulden, bis mein Partner Mijnheer Brouwer ins Kontor kommt.“ Er konnte ja nicht ahnen, dass seine beiden Seniorpartner schon längst Amsterdam mit unbekanntem Ziel verlassen und natürlich das gesamte Firmenvermögen mitgenommen hatten.
„Schönen Dank fürs Mitnehmen.“ Piet suchte in seinen Taschen nach ein paar Münzen für den Fuhrmann des Ochsengespanns, das ihn zum Hafen mitgenommen hatte. Doch er fand nur ein paar Tulpenzwiebeln, die er dem verdutzten Mann in die Hand drückte. Er schulterte er sein Bündel und schaute sich suchend im Hafen um. Sein Blick blieb an der ‚Batavia’ hängen, einem imposanten Ostindienfahrer, der für die nächsten Monate sein Zuhause sein würde.
Texte: Das Copyright liegt bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 13.04.2012
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