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Schon wieder wendete ein voll beladenes Auto mit DDR-Kennzeichen und fuhr mit holprigen Rädern auf dem schotterigen Weg zurück zur Straße, um in die Richtung zurückzufahren, aus der es gekommen war. „Du meine Güte, so einen Andrang haben wir hier noch nie erlebt.“ Ferenc, der Platzwart des Campingplatzes in Hegykö, einem kleinem Ort nicht weit vom Neusiedler See in Ungarn, schaute bedauernd dem in eine Staubwolke gehüllten Wagen nach. „Ich habe heute schon an die dreißig Autos wegschicken müssen, und wir haben noch nicht einmal Mittag.“ „Na ja, es ist doch aber auch Hochsaison und das Wetter wunderbar, „antwortete Rico Gollasch, kein Wunder, dass da jeder in dieser herrlichen Gegend seinen Urlaub verbringen will. Schließlich ist der Neusiedler See zurzeit so etwas wie ein Geheimtipp in unserer Heimat, nicht wahr, Schatz?“ Er wandte sich zu seiner Frau um, die im Hintergrund an einem Ständer mit bunten Ansichtskarten beschäftigt war und sich nicht so recht entscheiden konnte. „Das kannst du wohl laut sagen“, antwortete Doreen Gollasch, „darum müssen wir auch allen Freunden, die zu Hause geblieben sind, eine schöne bunte Ansichtskarte schicken.“ „Mama, ich will ein Eis haben“, quengelte Laura, ihre kleine Tochter, und zupfte an Doreens Bluse. „Das heißt: Ich möchte bitte ein Eis, aber wir essen in einer halben Stunde. Wenn du brav bist, kannst du heute Nachmittag eins haben.“

„Da können wir wirklich von Glück sprechen, dass wir früh genug gekommen sind, und noch einen bescheidenen Platz ergattert haben“, sagte Rico, als sie später vor ihrem Zelt im Schatten eines Baumes saßen. „Wenn ich mir vorstelle, wie die vielen Menschen jetzt hier in der Gegend herumirren, und womöglich auch noch kleine Kinder dabeihaben.“ „Da hast du Recht, aber so langsam müssen wir zusehen, dass wir weiterkommen oder aber wieder nach Hause fahren, denn unser Geld geht zu Ende“, erwiderte Doreen und fügte bedauernd hinzu: „So schön es hier auch ist.“ „Ja leider, ich weiß auch, dass das hier keine Dauerlösung ist“, pflichtete ihr Rico bei. „Außerdem habe ich das Gefühl, dass hier auf dem Platz einer den anderen belauert. Denk nur an den hilfsbereiten, netten Schleuser neulich in der Bäckerei, der sich dann als Stasi-Spitzel entpuppte.“ „Das junge Ehepaar, das auf seine Versprechungen reingefallen ist, tut mir heute noch leid“, sagte Doreen. Rico nickte zustimmend. „Weißt du was, ich werde morgen Vormittag mal nach Sopron fahren und mich dort ein wenig umhören, hier ist es mir einfach zu gefährlich.“ „Pass bloß auf, mit wem du dich einlässt, denn auch in der Stadt kann man längst nicht jedem trauen“, ermahnte Doreen ihren Mann.

Am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück, machte Rico sich in seinem altersschwachen Lada auf den Weg. Eigentlich war er nur noch halbherzig bei der Sache, denn er rechnete sich keine großen Chancen mehr aus. Nachdem sie zweimal an der Grenze zu Österreich bei ihrer Suche nach einem Loch im Zaun von der Miliz aufgegriffen worden waren und dabei zum ersten Mal in ihrem Leben in die Mündungen von zwei Kalaschnikows hatten blicken müssen, war es für sie klar, dass sie nur noch ganz normal Urlaub machen würden. Denn sie konnten heilfroh sein, keine Vermerke in ihre Reisepässe bekommen zu haben. Das hätte es ihnen nämlich unmöglich gemacht, in ihre Heimatstadt Wernigerode zurückzukehren. Ein drittes Mal wollten sie das Schicksal nicht mehr herausfordern. Warum sie dann allerdings zum Neusiedler und nicht, wie sonst immer, zum Plattensee gefahren waren, konnte er auch nicht so recht sagen.

Wusste er es wirklich nicht, oder wollte er es nur nicht wahrhaben, dass sie sich doch nicht ganz so konsequent von ihrem ursprünglichen Vorhaben verabschiedet hatten? Einerseits konnten Doreen und er es nicht länger verantworten, ihr Kind weiterhin einer solchen Gefahr auszusetzen, andererseits konnte ihnen aber auch niemand verbieten, zu hoffen, denn die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Wer weiß, vielleicht würde sich ja irgendwo an der nahen Grenze ganz zufällig ein rettendes Tor zur Freiheit für sie auftun.

Er fühlte sich plötzlich wieder an einen Juniabend des Jahres 1989 erinnert, als er mit Doreen im Wohnzimmer gesessen und sich die Tagesschau im Westfernsehen angesehen hatte. Bilder, wie der österreichsche Außenminister mit seinem ungarischen Amtskollegen mit dem Bolzenschneider symbolisch den Stacheldraht des österreichisch-ungarischen Grenzzauns durchtrennte, flimmerten über den Bildschirm. „Stell das mal ein bisschen lauter“, sagte Doreen, die sonst immer peinlich genau darauf achtete, dass ja niemand aus der Nachbarschaft mitbekam, dass sie sich mit Vorliebe die Westsender ansahen. Und da hatten sie es schwarz auf weiß: Ungarn scherte endgültig aus dem Ostblock aus, indem es die Sperranlagen an der Grenze zu Österreich abbaute. Wie sehr beneideten sie in diesem Moment die Ungarn. Zwar hatten diese bereits seit einem Jahr frei ins Ausland reisen dürfen, aber wirklich ernst genommen hatte die Signale eigentlich niemand. An diesem Abend jedoch war an Schlaf nicht mehr zu denken. Dazu waren sie viel zu aufgeregt. Noch lange saßen sie beide im Wohnzimmer, diskutierten hin und her und fassten schließlich den Entschluss, das vertraute Leben in der DDR hinter sich zu lassen und im Westen ganz neu anzufangen. Sie wollten einfach nur raus, weg von der ständigen Bevormundung, der Mangelwirtschaft und der Stasibespitzelung. Das waren sie sich und ihrem Kind schuldig. Nach außen lebten sie ihr Leben ganz normal weiter. Weder weihten sie jemanden in ihre Fluchtpläne ein, noch plünderten sie ihr Bankkonto, so dass sie jederzeit nach Hause zurückkehren konnten, sollte das Unternehmen schief gehen.

Vor lauter Nachdenken hatte Rico gar nicht gemerkt, dass er die zwanzig Kilometer bis nach Sopron bereits hinter sich gebracht hatte. Er ließ sein Auto in einer Nebenstraße stehen und schlenderte hinüber in die Altstadt. Sie war überfüllt mit Touristen, die sogar in den Grünanlagen Notlager aufgeschlagen hatten. Überall hörte er deutsche Sprachfetzen. Trotz der Hochsaison war das nicht normal. Er setzte sich in ein Straßencafé und bestellte einen Kaffee. Sein Blick wanderte von einem Tisch zum anderen. Wen, um Himmels Willen, sollte er bloß ansprechen? Und was sollte er sagen? Etwa: „Entschuldigen Sie bitte, ich suche einen zuverlässigen Schleuser, der uns über die Grenze nach Österreich bringt. Können Sie mir vielleicht jemanden empfehlen?“ Er war sich sicher, dass die Stasi schon längst in der ganzen Stadt auf der Lauer lag.

An dem Tisch neben ihm saßen zwei junge Pärchen, deren sächsische Mundart unüberhörbar war. Er versuchte, mit einem der beiden Männer Blickkontakt aufzunehmen, doch der schaute sofort weg. Es dauerte nicht lange, und sie standen auf und gingen. Entmutigt stand auch er auf und setzte seinen Weg fort. Er schlenderte zum Rathaus hinüber und heuchelte touristisches Interesse, ließ sich mit der Menschenmasse zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt treiben, ohne überhaupt wahrzunehmen, wo er sich befand. Irgendjemand drückte ihm ein Flugblatt in die Hand. Eine stilisierte Rose im Stacheldraht und eine Straßenskizze waren darauf zu sehen. Außerdem ein Datum: der 19. August 1989. Das war morgen. Wahrscheinlich wieder mal eine der unvermeidlichen Wochenendreden von Politikern. Da er der ungarischen Sprache nicht mächtig war, erkannte Rico seine Bedeutung nicht und warf es achtlos fort.

Nach ein paar Stunden, die ihn auch nicht weitergebracht hatten, setzte er sich in sein Auto und fuhr zum Campingplatz zurück. Doreen las aus seinem Gesicht die große Enttäuschung ab. Deswegen fragte sie auch gar nicht mehr. Für sie war es klar, dass sie am nächsten, spätestens den darauf folgenden Tag, nach Hause zurückfahren würden. „Mir scheint, dass es auf dem Platz noch voller ist als heute morgen, als ich losgefahren bin“, bemerkte Rico erstaunt, als er die vielen Menschen, meist junge Männer und Frauen und Familien mit Kindern, sah. „Ja, ich weiß auch nicht, woher diese Leute mit einem Mal alle gekommen sind“, entgegnete seine Frau, „plötzlich waren sie hier und merkwürdigerweise sprechen sie alle deutsch.“ Irgendwie hatten die Gollaschs das Gefühl, dass irgendetwas in der Luft lag, von dem sie aber nicht sagen konnten, was es war, aber es knisterte laut und vernehmlich.

Der nächste Tag war ein Samstag. Während Rico mit Laura auf dem Kinderspielplatz war, beschäftigte sich Doreen mit Packen. Sie hatten beschlossen, sich am nächsten Tag wieder auf den Weg nach Hause zu machen. Doch kurz nach Mittag herrschte plötzlich Aufbruchstimmung auf dem Campingplatz. Eine riesige Menschenmenge setzte sich in Bewegung. „Wo mögen die nur alle hinwollen?“, fragte Rico neugierig seinen Zeltnachbarn. „Können Sie sich das nicht denken, Herr Nachbar?“ Der junge Mann lächelte. und holte ein Flugblatt aus seiner Hosentasche. „Dorthin, zur Grenze natürlich“, sagte er und hielt es ihm unter die Nase. Rico stutzte. Es war ein ebensolches Flugblatt wie er es einen Tag zuvor in Sopron zugesteckt bekommen hatte. „Und was wollen sie da?“, fragte er. „Was will man wohl als DDR-Bürger in diesen Zeiten an einer Grenze?“, fragte der junge Mann ernst. „Also, um es kurz zu machen, aus dem Flugblatt geht hervor, dass heute Nachmittag gleich hinter Sopronköhida ein paneuropäisches Massenpicknick stattfinden soll. Und damit die Delegationen und Presseleute aus Österreich auch daran teilnehmen können, soll für drei Stunden das Grenztor aufgemacht werden.“

„Ich werd verrückt!“ Rico und Doreen stopften in Windeseile die allernotwendigsten Sachen in zwei kleine Rucksäcke, schnappten sich ihr Töchterchen und folgten der Menschenmasse in Richtung Grenze. Es war ein sehr warmer Augusttag, doch der Weg nach Sopronköhida war überhaupt nicht beschwerlich, wenn auch Laura auf Ricos Arm ein wenig quengelte, da sie um ihren Mittagsschlaf gebracht worden war. Aber es waren ja nur etwa vier Kilometer. Schon bald marschierten sie am Zuchthaus vorbei und folgten der Straße bergan, die zu einer Kolchose führte. Dort im hohen Gras der Sopronpuszta kurz vor den Sperranlagen, sollte das besagte Picknick stattfinden. „Na, hoffentlich ist das keine Finte“, meinte Doreen skeptisch, als die Menge zwischendurch einmal stehen blieb. „Selbst wenn, dann haben wir wenigstens alles unternommen, was menschenmöglich war“, antwortete Rico. „Und Laura kann uns später nicht vorwerfen, wir hätten nicht versucht, unser Schicksal zu ändern.“

Es war kurz vor fünfzehn Uhr, als die verdutzten Grenzsoldaten einen Tross von etwa fünfhundert bis sechshundert Menschen den Hügel hochkommen sahen: Männer, Frauen, Kinder. Als sie den Grenzzaun erreichten, stemmten sich die ersten mit aller Macht gegen das Tor. Alle wollten so schnell wie möglich hinüber nach Österreich, denn sie hatten Angst, in allerletzter Minute von den ungarischen Grenzsoldaten daran gehindert zu werden. Ein Glück, dass der leitende Grenzoffizier seine Männer besonnen anwies, einfach zur Seite zu schauen und die illegalen Grenzgänger zu ignorieren. Damit riskierte er selbst eine Haftstrafe, verhinderte aber andererseits ein Blutbad. Also ließen die ungarischen Soldaten die zum Grenzzaun stürmenden DDR-Bürger passieren.

Doreen und Rico brachen in Tränen aus, als sie durch das Tor über einen verwilderten Trampelpfad nach Österreich hasteten. Doch schon bald wich die starke Anspannung der Erleichterung. Sie hatten Glück gehabt und waren endlich in der Freiheit.

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Texte: Das Copyright liegt bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 09.03.2012

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