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Lars schlenderte die Hände tief in den Hosentaschen vergraben über den Parkplatz des Einkaufszentrums. Es hatte leicht zu schneien angefangen. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und zog die Wollmütze tiefer ins Gesicht. Das Wetter war wirklich sehr unangenehm. Fehlte nur noch, dass er sich hier eine Erkältung holte. Es wurde höchste Zeit, dass er endlich nach Hause kam, um sich aufzuwärmen. Das Geschäft lief heute ohnehin nicht so, wie er es sich erhofft hatte. Suchend schaute er sich um.

Ja, dort drüben, das könnte gehen. Der beige Mercedes sah Erfolg versprechend aus. Die elegant gekleidete Besitzerin hatte bereits ihren Einkaufswagen leer geräumt, also bestand auch keine Gefahr mehr, dass er ihr die schweren Getränkekisten in den Wagen heben musste. Und Frauen waren sowieso weichherziger als Männer. Er schlenderte langsam zu ihr hinüber. „Entschuldigen Sie, ich wollte mir dort drüben eine Bratwurst kaufen, hab aber nicht genügend Geld dabei.“ Er deutete zum Bratwurststand hin, von dem ein verführerischer Duft herüberwehte. „Könnten Sie mir wohl mit einem Euro aushelfen?“

Die Frau musterte ihn erstaunt von oben bis unten. Dann verwandelte sich ihr Erstaunen in blanke Ablehnung. „Wie komme ich dazu, Ihnen Geld zu geben?" - Verdammt, da war er doch tatsächlich an die Falsche geraten. Von wegen, Frauen sind weichherziger. „Weil ich großen Hunger habe“, antwortete er trotzig. „Ach so, warum gehen Sie dann nicht einfach nach Hause und holen sich das Geld, das Ihnen fehlt? Zeit genug scheinen Sie ja zu haben.“ Sie drehte sich um und verschwand mit ihrem Einkaufswagen in Richtung Bäcker.

Wütend ging er in dieselbe Richtung, aber nicht, um ihr zu folgen, sondern, weil er sich kurz unterstellen wollte. Er griff in seine Hosentasche und fühlte nur einige wenige Münzen zwischen seinen Fingern. Dabei war heute schon Freitag. Wenn sich nicht bald etwas tat, konnte er das Wochenende abhaken. Ohne Geld war er ein Niemand. Das hatte ihm seine neueste Eroberung, die hübsche Oksana, ganz deutlich zu verstehen gegeben, als er sie vor einer Woche das erste Mal von zu Hause abgeholt hatte und mit ihr stundenlang durch den Stadtpark marschiert war. „Können wir uns nicht irgendwo ein bisschen hinsetzen und eine Cola trinken?“, hatte sie nach etwa zwei Stunden angefangen zu nörgeln. „Tut mir leid, das geht leider nicht“, hatte er geantwortet, denn ich habe mein Portemonnaie zu Hause liegen lassen. Aber vielleicht könntest du mir ausnahmsweise aushelfen?“ Sie schüttelte erschöpft den Kopf. „Ich habe auch nichts dabei, weil ich glaubte, du würdest mich einladen.“ Sie hatten noch ein paar Minuten wortkarg auf einer Parkbank gesessen und sich dann sehr bald getrennt, obwohl der Nachmittag gerade erst begonnen hatte. Schöne Pleite. Dabei standen alle Jungen des Viertels Schlange, um mit dieser Sahneschnitte mal einen Samstagnachmittag verbringen zu dürfen.

Lars schaute sich nach einem neuen Opfer um. Der ältere Herr mit dem vollbeladenen Wagen, der gerade aus dem Supermarkt gekommen war, fiel ihm auf. Mal sehen, zu welchem Auto er ging. Ein dunkelroter Audi - nicht schlecht. Jetzt musste er nur noch warten, bis der Mann die Einkäufe in seinem Kofferraum verstaut hatte, denn es waren auch einige Getränkekisten darunter. Es musste ja nicht unbedingt sein, dass er sich für fremde Leute auch noch seinen Rücken ruinierte. Also wartete er noch einen Moment, aber eine Minute zu lange, denn gerade, als er losgehen wollte, wurde der ältere Herr von einem jungen Mädchen angesprochen. Ich glaub es einfach nicht, dachte Lars, jetzt habe ich auch noch Konkurrenz bekommen. Missmutig beobachtete er, wie der Mann in seiner Hosentasche kramte und dem Mädchen eine Münze gab. Na, toll, wie sollte das jetzt bloß weitergehen? Junge Mädchen hatten bei solchen alten Knackern sowieso die größeren Chancen, etwas zu bekommen.

Als der Audi abgefahren war, rannte er zu dem Mädchen hinüber. „Du, das geht aber nicht, dass du hier die Leute ansprichst“, schrie er sie an. „Wieso das denn nicht?“, fragte sie patzig, „du tust es doch auch, oder? Ich habe dich nämlich schon eine ganze Weile beobachtet.“ „Dann weißt du ja wohl auch, dass das hier mein Revier ist. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“ „Das könnte dir so passen“, antwortete sie bestimmt, „dieser Parkplatz gehört weder dir noch mir, also lass mich gefälligst in Ruhe.“ Sie drehte sich um und schlenderte in Richtung Imbissbude davon.

Was konnte er schon gegen diese lästige Konkurrentin ausrichten? In gewisser Weise hatte sie ja Recht. Er hatte ihr überhaupt nichts vorzuschreiben. Neugierig schaute er ihr nach und stellte fest, dass sie sich tastsächlich etwas zu essen kaufte. Ob sie wohl Hunger hatte? Aber was ging ihn das an, wichtiger waren seine eigenen Einnahmen. Die Wahrscheinlichkeit, Oksana morgen Abend in eine Disco oder zumindest in eine Kneipe einladen zu können, ging immer mehr gegen Null. Und wenn er seine Mutter um ein bisschen Geld bat? - Aussichtslos. Seine Eltern standen ohnehin kurz davor, ihn rauszuschmeißen. Nicht, dass er etwas angestellt hatte, nein, sie machten diesen Aufstand nur, weil er sich keine geregelte Arbeit bzw. eine Lehrstelle suchte. Aber er könnte es ja mal bei seinem großen Bruder versuchen. Immerhin hatte er während eines großen Teils seiner Semesterferien gejobbt und musste somit über einiges Geld verfügen.

Er setzte sich in Bewegung. Dieses Mal wollte er nicht so lange warten, bis es zu spät war, selbst auf die Gefahr hin, dass er beim Einladen mit Hand anlegen musste. Die Frau mittleren Alters war erstaunt, dass er sie ansprach. Als er ihr aber von seinem großen Hunger erzählte, lachte sie laut auf. Das irritierte ihn, denn das war eigentlich nicht die Reaktion, die er erwartet hatte „Du fragst dich sicher, warum ich lache“, sagte sie und schaute ihn fragend an. Als er nickte, fuhr sie fort: „Dacht ich’s mir doch, dass du mich mit meiner neuen Frisur nicht erkannt hast. Lars, ich bin Frau Fischer und wohne in derselben Straße, in der du mit deinen Eltern und deinem Bruder auch wohnst. Sag mal, schämst du dich eigentlich gar nicht, hier zu betteln?“

Verdammt, dachte er, heute geht aber auch alles schief. Was hatte diese Tratschtante eigentlich hier zu suchen? Warum hatte er wohl das Einkaufzentrum im Norden der Stadt gewählt, obwohl er im Süden wohnte? Und nun traf er ausgerechnet Frau Fischer hier, eine Nachbarin von der übelsten Sorte. Er war sicher, dass spätestens morgen früh die ganze Straße wissen würde, dass der jüngere Sohn von Studiendirektor Flemming vor Supermärkten die Leute anschnorrte. „Das ist nur eine Wette, Frau Fischer, entschuldigen Sie bitte“, stotterte er verlegen. Er zeigte hinüber zur Imbissbude, wo seine Konkurrentin immer noch stand. „Das Mädchen da drüben, wollte mir nicht glauben, dass ich mich traue, Leute anzusprechen.“ „Vielleicht solltest du in der Wahl deines Umgangs ein bisschen anspruchsvoller sein“, bemerkte Frau Fischer spitz, „aber ich muss jetzt wirklich machen, dass ich heimkomme, denn es ist schon ziemlich spät.“ „Warten Sie, ich helfe Ihnen eben noch beim Einladen.“ Er packte die schwere Wasserkiste und hievte sie in den Kofferraum.

Obwohl es ziemlich kalt war und es schneite, merkte er, wie ihm der Schweiß den Rücken herunterlief. Er war nicht sicher, ob Frau Fischer ihm das mit der Wette wirklich abgenommen hatte. „Wieso warst du denn mit einem Mal so hilfsbereit, du hast doch sonst zwei linke Hände.“ Das Mädchen stand plötzlich wieder neben ihm. „Das geht dich überhaupt nichts an“, kanzelte er sie mürrisch ab. Jetzt erst musterte er sie ein bisschen genauer, und ihm wurde sofort klar, was Frau Fischer eben gemeint hatte. Trotz der Kälte und des Schnees war das Mädchen nur mit einem dünnen Pullover und ziemlich zerschlissenen Jeans bekleidet. An den Füßen trug es Turnschuhe, die auch schon bessere Tage gesehen hatten.

„Ich mein ja man nur“, lachte sie und setzte sich wieder in Bewegung, denn ein Mann mittleren Alters war mit einem vollbeladenen Einkaufswagen auf dem Weg zu seinem Auto, das auf dem hinteren Parkplatzteil stand. „Das könnte dir so passen“, rief er ihr zu, als er sie im Laufschritt überholte. Und tatsächlich hatte er Glück und kam mit einem Euro in der Hand zurück. Na, endlich hatte es wieder einmal geklappt. Aber so recht konnte er sich nicht darüber freuen, denn sein schlechtes Gewissen sagte ihm, dass das Mädchen offensichtlich das Geld dringender benötigte als er, zumindest nach ihrem Outfit und ihrem Hunger zu urteilen. Er aber war in der glücklichen Lage, dass er sich um solche Sachen nicht zu kümmern brauchte, denn das nahmen ihm immer noch seine Eltern ab. Er schaute sich nach ihr um und wollte wieder mit ihr ins Gespräch kommen, aber sie war nirgends mehr zu sehen. Ob sie wohl aufgegeben hatte? Fast hätte er die ältere Frau, die das Mittelklasseauto ansteuerte, das fast genau vor seiner Nase parkte, übersehen. Da seine lästige Konkurrentin ohnehin nicht mehr zu sehen war, konnte er sich jetzt auch wieder Zeit lassen.

Als die Frau ihren Einkaufswagen fast geleert hatte, sprach er sie an: „Ham se mal nen Euro für mich?“ Das mit der Bratwurst schenkte er sich diesmal, nachdem er damit bei Frau Fischer so viel Heiterkeit ausgelöst hatte. „Wie bitte, ich glaub, ich habe Sie nicht richtig verstanden?“ „Ich habe Sie gefragt, ob Sie nen Euro für mich haben“, wiederholte er seinen Spruch. „Wie kommen Sie auf die absurde Idee, dass ich einen Euro für Sie habe?“ „Bei den vielen Einkäufen, die Sie gerade in ihrem Kofferraum verstaut haben, werden Sie doch wohl auf einen Euro verzichten können.“ Sie knallte resolut die Kofferraumtür zu „Da kann ich Ihnen nur einen guten Rat geben, junger Mann, suchen sie sich eine Arbeit, so dass Sie sich ohne betteln zu müssen, ernähren können“, fuhr sie unbeirrt fort. „Schließlich muss ich auch für mein Geld arbeiten.“

Das wurde ja immer verrückter. Was ging es diese alte Schachtel überhaupt an, ob er arbeitete oder nicht. Sie sollte doch nur einen Euro rausrücken und ihm keine Moralpredigten halten. „Ich kann aber keine Arbeit finden“, rechtfertigte er sich und ärgerte sich auch gleichzeitig darüber. Wenn das so weiterging, würde er ihr gleich auch noch auf die Nase binden, dass er morgens gewöhnlich nicht aus dem Bett fand und darum aus der Schule geflogen war, ganz zu schweigen von seinen letzten beiden Lehrstellen, die er wegen seiner chronischen Unpünktlichkeit verloren hatte.

„Das verstehe ich nicht so ganz“, antwortete sie. Sie sind doch jung und kräftig. Liegt es etwa daran, dass Sie sich nicht intensiv genug um Arbeit bemühen?“ Sie schaute ihn durch ihre funkelnden Brillengläser so durchdringend an, wie es früher immer seine alte Klassenlehrerin getan hatte, wenn sie Zweifel an seinen abenteuerlichen Erzählungen gehabt hatte. Das machte ihn ein wenig unsicher. „Wissen Sie was, mein Schwager hat ein Geschäft auf dem Gemüsegroßmarkt und sucht ständig junge, kräftige Leute wie Sie zum Abladen der Lastwagen. Melden Sie sich dort morgen früh gegen vier Uhr einfach bei Herrn Grote.“ „Ja, danke, ich glaube das werde ich tun“, sagte er lahm. Er nahm den Zettel, auf den sie eben ein paar Worte geschrieben hatte, offensichtlich eine Art Referenz. Dann versuchte er es ein letztes Mal. „Darf ich wenigstens Ihren Einkaufswagen zurückschieben?“ So hätte er dann wenigstens den einen Euro Pfand, der darin steckte, für sich. „Das ist wirklich nicht nötig, es sind doch nur ein paar Schritte, und die Bewegung tut mir ganz gut“, entgegnete die Frau lachend und machte sich mit ihrem Einkaufswagen davon. „Viel Glück morgen“, rief sie ihm noch zu.

Na prima, das war ja wunderbar gelaufen. Wütend warf er den Zettel fort. Jetzt hatte er mit dieser geizigen Moralpredigerin nicht nur seine kostbare Zeit vertrödelt, sondern war obendrein auch noch ordentlich nass geworden. Glaubte sie denn im Ernst, dass er morgens in aller Herrgottsfrühe auf dem Großmarkt Kisten schleppen würde? Das fehlte ihm gerade noch zu seinem Glück. - „Du machst ja nicht gerade den Eindruck, als würdest du dich über das Jobangebot sehr freuen.“ Das Mädchen stand plötzlich wieder neben ihm. Sie hatte den Zettel in der Hand und versuchte, ihn mit dem Ärmel ihres Pullovers trocken zu wischen. „Wieso mischt du dich schon wieder in meine Angelegenheiten ein?“, fragte er sie ärgerlich. Er hatte sich wohl doch zu früh gefreut, als er glaubte, sie endlich los zu sein.

„Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich morgen früh gern meinen ältesten Bruder zum Großmarkt schicken. Wir brauchen nämlich das Geld sehr dringend, da meine Eltern beide arbeitslos sind.“ „Von mir aus gern, ich lege sowieso keinen Wert auf solche Knochenarbeit“, sagte er herablassend. „Ach, da bettelst du lieber und lügst die Leute an?“, fragte sie ungläubig. Er schüttelte den Kopf. „Wie sich das aus deinem Mund anhört. Ich bettele nicht und lüge auch nicht die Leute an, sondern ich bitte sie nur höflich, mir aus einer momentanen Notlage zu helfen. Das ist ein großer Unterschied.“ „Momentane Notlage? Entschuldige bitte, aber so wie ich das sehe, betrügst du die Leute, indem du ihnen weismachst, du hättest das Geld nötig.“ Seine Antwort konnte sie schon nicht mehr hören, denn er hatte sich schimpfend in sein Auto gesetzt und war mit quietschenden Reifen davongefahren.

Nach einer Viertelstunde stoppte das Auto wieder neben dem Mädchen. „Hier nimm!“, sagte Lars und hielt seine linke Hand aus dem Fenster. Als sie zögernd ihre Hand ausstreckte, ließ er einige Münzen hineinfallen. „Das ist das, was ich in den letzten zwei Stunden eingenommen habe“, sagte er. Ich glaube, du brauchst es nötiger als ich.“ Zum Teufel mit dieser eingebildeten Ziege Oksana, dachte er. Das Mädchen schaute ihn sprachlos an. „Sag mal, was machst Du eigentlich morgen Nachmittag?“, fragte er sie durch das heruntergelassene Fenster, obwohl hinter ihm bereits einige Autos hupten. „Ach, nichts besonderes, ich gehe immer in die große Buchhandlung in der City. Da kann ich bis sie um acht Uhr schließen, in den Büchern blättern oder etwas lesen, ohne gleich etwas kaufen zu müssen.“ „Was, du sitzt am Samstagnachmittag freiwillig stundenlang in einer Buchhandlung?“ Lars bekam seinen Mund nicht mehr zu. Er konnte es nicht fassen, dass es so etwas gab. Mit diesem Mädchen könnte er selbst bei seinem kritischen Vater Eindruck schinden. „Sag mal, kann ich vielleicht mitkommen?“, fragte er zögernd. „Na klar, warum nicht. Wie heißt du eigentlich?“ „Ich heiße Lars und du?“ „Ich heiße Aynur. Dann bis morgen, Lars!“ Ja, bis morgen, Aynur!“ Gut gelaunt fuhr er davon.

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Tag der Veröffentlichung: 04.01.2012

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