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Es war kurz vor Tagesanbruch. Das alte Fischerboot tuckerte behäbig durch das ruhige Wasser des Mittelmeeres. Am Steuer stand ein Mann, der schon lange nicht mehr seinen Lebensunterhalt mit dem Fischfang verdiente. Hassan war ein fortschrittlicher Mann, der mit seinen fundierten Kenntnissen über diesen Teil des Mittelmeeres und die Routen der italienischen Patrouillenboote ein lukratives Geschäft aufgezogen hatte. Nicht mehr lange, und er würde der reichste Mann seines Dorfes sein. Für die schwarze Fracht, die er beförderte, war sein Boot, das eigentlich nur noch durch den Rost und die ihn überdeckende Farbe zusammengehalten wurde, eine Art Traumschiff, das sie in das ‚gelobte Land’ bringen würde, in ein Land, in dem es für jeden Menschen mindestens eine Mahlzeit pro Tag geben sollte.

„Land!“ Der Ruf erschallte durch das voll gepackte Boot, und rüttelte seine Passagiere aus ihrer Lethargie auf. „Land!“ Sie sprangen auf und umarmten sich, ohne darauf zu achten, dass das Boot bedenklich zu schwanken anfing.. Tränen der Freude und der Erleichterung liefen über ihre Wangen. Endlich! Nach einer monatelangen Odyssee quer durch Afrika und zum Schluss von Tunesien über das Mittelmeer hatten sie ihr Ziel erreicht. Die Küste der italienischen Insel Lampedusa, dem Tor zum ‚gelobten Land’ Europa, lag vor ihnen.

„ Du wirst sehen, jetzt wird alles wieder gut“, sagte Ibrahim und streichelte zärtlich die Hand seiner Frau. „Ja, so Gott will, werden wir unseren Sohn bald wieder sehen.“ Die Aussicht, ihren geliebten Murat bald wieder in die Arme schließen zu können, gab ihr neuen Auftrieb und ließ sie alle gesundheitlichen Beschwerden, die während der letzten Tage aufgetreten waren, vergessen. Sie waren beide stolz auf ihren Sohn, der nach nur zwei Jahren in Deutschland das Geld aufgebracht hatte, um ihre Schleuser, die sie von Mali zu ihm ins Ruhrgebiet nach Deutschland bringen sollten, zu bezahlen. Natürlich hatte er ihnen verschwiegen, dass er sich das Geld vom Munde abgespart hatte, denn er wohnte immer noch im Asylantenheim und lebte von der Sozialhilfe. Aber selbst, wenn er es ihnen mitgeteilt hätte, hätte sich nichts an ihrer Einstellung geändert, denn gemessen an ihrem Lebensstandard, war ihr Murat ein wohlhabender Mann.

Allmählich beruhigten sich die Passagiere wieder. So manch einer dachte bedauernd an die Reisegefährten zurück, die den Weg durch die Hölle der Wüsten und Gebirge nicht geschafft hatten. Sie waren der umbarmherzigen Hitze des afrikanischen Kontinents ausgesetzt gewesen. Hinzu kamen Hunger und Durst, aber ihre ärgsten Feinde waren die Zöllner und Soldaten, die die unzähligen Grenzen bewachten, die sie überschreiten mussten. Obwohl sie schon reichlich von den Schleusern geschmiert worden waren, wollte dennoch jeder seinen Anteil. Wer keine Wertgegenstände oder Geld hatte, wurde von ihnen erbarmungslos zusammengeschlagen. An einer dieser Grenzen hatten sie auch das erste Opfer zu beklagen: ein junger Mann, der seinem Freund zu Hilfe eilen wollte und sich mit den Grenzern angelegt hatte, wurde erschossen. Andere Mitreisende mussten sie unterwegs zurücklassen, weil sie unter ständigen Bauchschmerzen und Durchfall litten und einem Weitertransport nicht mehr gewachsen waren. Die Lastwagenfahrer hatten ihnen zwar versprochen, sie bei ihrer nächsten Tour mitzunehmen, aber niemand hatte wirklich daran geglaubt. Diese seltsame Krankheit grassierte unter allen Flüchtlingen, und später waren dann auf ihrem Boot sogar zwei Mitreisende daran gestorben.

Sandrine, eine junge Mutter aus Ruanda, nahm ihr kleines Mädchen fest in den Arm. Gottlob, sie hatte es bis hierher geschafft. Für dieses Kind, das ihr Ein und Alles war, hatte sie ihre Heimat verlassen, denn es sollte es einmal besser haben als sie. „Halt durch, mein kleiner Engel, wir sind gleich da, gleich wird man sich um dich kümmern“, flüsterte sie ihrer Tochter ins Ohr, um ihr Mut zu machen.

Während sie im Aufnahmelager auf ihre ärztliche Untersuchung warten mussten, bekamen sie ein paar Sandwiches und etwas zu trinken serviert. Als dann der erste Patient von der Krankenschwester aufgerufen wurde, sprang Gilbert, der stämmige Mann aus dem Kongo, sofort auf, um als erster dranzukommen. So hatte er sich auch schon auf dem Boot den bequemsten Platz gesichert und sich nicht gescheut, dabei seine Ellenbogen kräftig einzusetzen. Eigentlich hatte Sandrine Angst vor ihm und war ihm bisher so gut es ging aus dem Wege gegangen, aber die Sorge um ihre kleine Tochter ließ sie nun über sich selbst hinauswachsen. Sie hielt ihr Kind der Schwester hin und rief aufgeregt: „L’enfant malade.“ Sie ignorierte Gilberts Schimpftiraden und lief an ihm vorbei ins Behandlungszimmer.

„Komm mal her, Carla, hier kannst du noch etwas lernen“, sagte die untersuchende Ärztin zu ihrer Praktikantin. „Siehst du die kleinen Flecken auf dem Bauch und der Brust, und schau dir mal die Zunge der kleinen an.“ „Ich sehe einen dicken weißlichen Belag, allerdings sind die Ränder rot“, antwortete Carla. „Wie sieht es mit dem Fieber aus?“, wandte sich die Ärztin an die Krankenschwester. „39,5“, war die Antwort. Die Ärztin tastete den Unterleib des Mädchens ab, das vor Schmerzen wimmerte. „Bestimmt hat sie auch Kopfschmerzen. Das ist doch schon eine ganze Menge, das wir wissen. Und was schließen wir daraus, Frau Praktikantin?“ Carla musste nur kurz überlegen, bevor sie antwortete: „Also für mich sind das die typischen Symptome für Typhus abdominalis.“ „Genauso ist es“, antwortete ihre Chefin zufrieden, „eine hochgradig ansteckende Krankheit. Schwester, das Kind kommt mit seiner Mutter sofort auf die Isolierstation.“ Dann wandte sie sich an den Dolmetscher, der im Hintergrund kauerte: Fragen sie die Leute, ob sich noch jemand krank fühlt, und der Rest kommt in Quarantäne.“

So musste sich der ungeduldige Gilbert noch eine ganze Weile gedulden, bevor er an die Reihe kam, denn erst wurde noch Fatma ausgiebig untersucht, bei der ebenfalls Typhus diagnostiziert wurde.

Sie wussten nicht so recht, was sie mit sich und der vielen Zeit anfangen sollten. Im Aufenthaltsraum stand zwar ein Fernsehgerät, und überall lagen Zeitschriften herum, aber was nutzten diese Medien, wenn man die Sprache nicht verstand - soweit man überhaupt des Lesens mächtig war. So saßen sie denn den ganzen Tag auf den Holzbänken vor dem Haus, unterhielten sich oder dösten einfach nur vor sich hin. Mit jedem Tag wuchs die Unzufriedenheit, denn obwohl der Dolmetscher ihnen ausführlich erklärt hatte, warum sie keinen Kontakt zu den restlichen Lagerinsassen haben durften, hatten sie es entweder nicht ganz verstanden oder aber nahmen es nicht ganz ernst. „Ich wette, sie haben uns hier isoliert, um uns ohne Probleme nach Afrika zurückschicken zu können“, murrte Gilbert. Das ist doch großer Unsinn“, antwortete Pierre, ein junger Student aus dem Senegal, „wenn sie das vorhätten, hätten sie uns vermutlich sofort zurückgeschickt und würden uns hier nicht auch noch durchfüttern.“ Aber Gilbert bestand auf seiner Theorie, schon allein aus dem Grund, weil er immer das letzte Wort haben musste. Außerdem betrachtete er sich als so etwas wie ihr Anführer, zu dem ihn zwar niemand ernannt hatte, sich aber auch niemand fand, der ihn in seine Schranken verwies, wenn er sich so aufzuspielen pflegte. „Weißt du, Pierre, ich glaub, du bist noch viel zu jung, um dieses Spiel, das die Weißen mit uns spielen, zu durchschauen“, sagte er von oben herab zu dem jüngeren Mann.“ „Ich glaube eher, dass du nicht in der Lage bist, zu verstehen, was Quarantäne eigentlich bedeutet“, entgegnete der Angesprochene ruhig, und schon war die schönste Rauferei im Gange, die nur mit Mühe und Not von dem Wachpersonal beendet werden konnte.

Nachdem sie etwa eine Woche in Quarantäne verbracht hatten und die Reibereien von Tag zu Tag heftiger geworden waren, verkündete Gilbert eines Morgens triumphierend: „Ein von den Schleusern bestochener Pfleger hat mir gerade mitgeteilt, dass sie einen Transport nach Deutschland zusammengestellt haben, der übermorgen mit der ersten Fähre nach Sizilien abgeht. Wer will, kann mitkommen, wer lieber hier bleiben will, muss dann alleine sehen, wie er weiterkommt.“ Diese Nachricht schlug ein wie der Blitz. Es bildeten sich sofort zwei Lager: die einen, die Gilberts Argumente übernahmen und die anderen, die meinten, dass nach einer solch langen Reise ein paar Wochen mehr oder weniger keine große Rolle mehr spielten. „Es geht doch schließlich um unsere Gesundheit“, gab Irene aus Ghana zu bedenken. „Habt ihr etwa die beiden Toten auf dem Boot, die wir über Bord schmeißen mussten, schon vergessen?“ Einige andere Frauen nickten zustimmend. „Haben wir es hier etwa schlecht?“, fragte Martha von der der Elfenbeinküste, „so viel und so gutes Essen habe ich noch nie in meinem Leben bekommen. Wenn wir noch etwas hier bleiben müssen, kommen wir wenigstens alle wieder zu Kräften.“ Da sie zu keinem einheitlichen Resultat kamen, entschied Gilbert schließlich: „Macht doch, was ihr wollt. Diejenigen, die weiterwollen, treffen sich morgen Nacht an der Tür, die zu den Duschen führt. Aber seid bloß leise, damit uns niemand hört.“

Insgesamt waren es sieben unter Quarantäne stehende Menschen, die sich in der besagten Nacht bei den Duschen einfanden. Wie durch ein Wunder ließen sich alle Türen, die eigentlich fest verschlossen sein sollten, ohne Probleme öffnen. Draußen wurden sie zu einem in der Nähe wartenden Möbelwagen geführt, in dem bereits vierzehn weitere Menschen saßen. Über Sizilien kamen sie mit der Fähre ohne weiteres auf das italienische Festland. Dann ging es ohne Verzögerung über Österreich weiter nach Deutschland, wo die meisten von ihnen Verwandte oder Freunde hatten. So hätten sie ohne weiteres ihre jeweiligen Ziele erreichen können, wären nicht schon in Österreich bei zwei der Passagiere die nur allzu gut bekannten Anzeichen der ansteckenden Krankheit aufgetreten. Zwei nicht mehr ganz junge Männer lagen stöhnend in einer Ecke des Laderaums. Die Pausen, die ihnen die Fahrer zum Austreten eingeräumt hatten, reichten längst nicht mehr aus. Aber auch weitere Pausen hätten nichts zum Positiven verändert, denn die beiden waren schon viel zu schwach, um den Lkw noch verlassen zu können. Die anderen Passagiere hatten sich aus Angst, angesteckt zu werden, auf die andere Seite der Ladefläche zurückgezogen. Aber auch das spielte keine große Rolle mehr, denn die Krankheit griff umbarmherzig um sich.

Als schließlich acht Passagiere eindeutig erkrankt waren, hielten die restlichen dreizehn einen Kriegsrat ab. „Es scheint, als ob die Krankheit uns alle umbringen wird; jeder von uns kann der Nächste sein, wenn wir nicht irgendetwas unternehmen“, sagte Gilbert, nun nicht mehr ganz so großspurig wie man es von ihm gewohnt war. „Ja, genau so sieht es aus, aber was können wir dagegen tun?“; fragte Chantal aus Malawi, die einzige Frau, die noch halbwegs bei Kräften war. „Ich bin zwar kein Medizinmann, aber es ist klar, dass wir die Kranken irgendwie loswerden müssen“, meinte Jean, ihr Ehemann. Alle anderen nickten stumm. Beim nächsten Stopp auf einem Autobahnrastplatz trugen sie ihre Reisegefährten aus dem Möbelwagen und legten sie in eine Reihe an den Wegesrand.

„Was macht ihr denn da?“, fragte Paolo, der Beifahrer, der nach hinten kam, um nach dem Rechten zu sehen. Jetzt, da die Tür zur Ladefläche weit geöffnet war, bemerkte er, dass es aus dem Innern des Wagens bestialisch stank. „Alle krank“, machte ihm Gilbert mit Händen und Füßen klar. Plötzlich wurde es Paolo bewusst, welch gefährliche Fracht sie quer durch Europa kutschierten und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sich auch die beiden Fahrer anstecken würden. Als sie weiterfuhren, kamen ihm Gewissensbisse. Er arbeitete zwar als Fahrer für die Mafia und verdiente damit ein schönes Stückchen Geld, aber das hieß noch lange nicht, dass er ruhig zusehen konnte, wie Menschen auf einem Rastplatz wie die Tiere krepierten. Er besprach die Sache mit dem Fahrer. „Bist du sicher, dass sie noch gelebt haben?“, fragte Alberto. „Zumindest haben sich noch einige bewegt und gestöhnt“, antwortete Paolo. Alberto überlegte eine Zeit lang, doch dann entschied er: „Da können wir leider nichts anderes tun als beten, dass sie bald gefunden werden. Ich werde auf jeden Fall zur Vorsicht von der Autobahn abfahren.“

Nach einiger Zeit fragte Paolo: “Was machen wir, wenn noch mehr von ihnen erkranken. Wir können sie doch nicht alle irgendwo in der Landschaft entsorgen.“ „Ja, das ist tatsächlich ein großes Problem, aber warten wir erst einmal ab, vielleicht bleibt der Rest ja wenigstens gesund“, antwortete Alberto. Aber die Hoffnung war vergebens. Diesmal hatte es Chantal erwischt. Sie stöhnte und wand sich am Boden. Beim nächsten Halt auf einem Feldweg waren die Passagiere gerade dabei, die Frau auszuladen, als Alberto resolut einschritt: „Hier nicht gut“, sagte er und machte ihnen klar, dass sie die Kranke im Fahrzeug lassen sollten. Die Wahrscheinlichkeit, dass man sie hier finden würde, war ihm doch zu gering. Sie taten zwar, was er anordnete, aber aus dem Murren der Männer konnte er schließen, dass sie mit seiner Entscheidung nicht ganz einverstanden waren. Darum rief er laut das Wort „Polizia!“, um der Sache Nachdruck zu verleihen. Einige kannten das Wort aus dem Aufnahmelager auf Lampedusa und hörten sofort auf zu murren.

Die Münchner Polizei stand vor einem Rätsel. Sie waren von einem aufgeregten Autofahrer zum Autobahnrastplatz am Königsstein gerufen worden, wo sie fünf dunkelhäutige Menschen in Reih und Glied am Wegesrand liegend fanden, die mehr tot als lebendig waren. Nicht, dass hier etwa eine Gewalttat begangen worden wäre, nein, diese Menschen waren schlicht und einfach krank. Soeben hatte sie das Krankenhaus eingehend über die Art der Krankheit informiert. „Mein Gott, das ist ja wie im finstersten Mittelalter, wer eine ansteckende Krankheit hat, wird einfach ausgesetzt“, sagte der Einsatzleiter erschüttert. Einem anderen Mitarbeiter des Stabes fiel plötzlich ein, dass im Laufe des Tages eine Meldung der italienischen Polizei eingegangen war, wonach einige Menschen aus der Typhus-Quarantäne auf Lampedusa geflüchtet sein sollten. Schnell wurde die entsprechende Meldung hervorgekramt.

Auf der Suche nach einem LkW mit italienischem Kennzeichen kreiste der Polizeihubschrauber über der Autobahn, aber der Erfolg ließ auf sich warten. Auch die errichteten Kontrollen hatten bisher noch nichts ergeben. Doch die Zeit drängte. „Was halten Sie davon, wenn wir die Suche auf die Bundesstraßen nach Norden ausweiten?“, fragte ein junger Beamter. „Also, ich an deren Stelle hätte auf jeden Fall die Autobahn verlassen.“ „Die Idee ist gar nicht so schlecht“, sagte sein Chef und nickte ihm anerkennend zu. Dann gab er die entsprechenden Anweisungen.

„Was nun?“, fragte Paolo, als sie wieder eingestiegen waren. „Lange werden wir sie nicht mehr ruhig halten können. Alberto zuckte ratlos seine Schultern. „Auf jeden Fall müssen wir sie irgendwie alle loswerden.“ Er ließ den Motor an. „Lass uns erst einmal ein Stück weiterfahren. Vielleicht fällt uns ja unterwegs irgendetwas ein.“ Doch das war gar nicht mehr notwendig. Überrascht sahen sie sie das Flackern der Blaulichter einiger Polizeiwagen vor sich. „Verflixt, Polizei!“ Alberto legte geräuschvoll den Rückwärtsgang ein, doch ein Blick in den Rückspiegel sagte ihm, dass das sinnlos war. Paolo sprang aus dem Wagen und versuchte, über eine Wiese zu entkommen, wurde aber schon bald von einigen Polizisten eingeholt.

Im Grunde waren die Flüchtlinge froh, wieder in ärztliche Obhut zu kommen, doch es war ihnen auch klar, dass ihr Traum vom ‚gelobten Land’ Europa zunächst einmal ausgeträumt war.

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Texte: Das Copyright liegt bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 14.12.2011

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