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Tagesschau:

Wegen Eisregens bildeten sich kilometerlange Autoschlangen vor dem
Frankfurter Kreuz. Es kam zu zahlreichen Unfällen mit Blechschaden.
(…)
Soeben erreicht uns noch die folgende Meldung: Heute gegen 17 Uhr
wurde der Weihnachtsmann von drei bewaffneten Männern auf Wolke
sieben ganz in der Nähe der kleinen Ortschaft Himmelstadt entführt.
Vermisst wird außerdem das Rentier Rudolph, dessen besonderes
Kennzeichen seine rote Nase ist. Sachdienliche Hinweise nimmt jede
Polizeidienststelle entgegen.

Und nun zum Wetter …



„So einen Schwachsinn habe ich schon lange nicht mehr gehört!“ Wütend versetzte Revolver-Lilli dem Fernseher einen Tritt, dass er gefährlich zu wackeln begann. „Obwohl ich dieses Kommando geleitet habe, wird von drei Männern gesprochen. Als ob es keine Frauen auf dieser Welt gäbe, die qualifiziert genug wären, anspruchsvolle Führungsaufgaben zu übernehmen. Das grenzt ja schon an Diskriminierung am Arbeitsplatz!“ „Nun beruhige dich mal wieder, Lillichen.“ Wacholder-Willi schüttete einen großzügig bemessenen Schnaps in ein Wasserglas und schob ihn ihr über den Tisch zu. „Ich will mich aber nicht beruhigen“, tobte Lilli weiter und stürzte den Schnaps in einem Zuge hinunter.

Nun schaltete sich auch Paragraphen-Joe ein. „Sehr richtig, Lilli, du warst für die Aktion verantwortlich. Deswegen möchte ich von dir jetzt wissen, was es mit diesem Rentier auf sich hat. Ihr hattet keinen Auftrag, Rudolph auch zu entführen.“ „Da musst du schon Karl fragen“, entgegnete Lilli schnippisch und spielte verträumt mit ihrem Revolver. Katastrophen-Karl räusperte sich verlegen und sagte: „Ich konnte einfach nicht anders. Als wir den Alten vom Schlitten geholt haben, bat mich Rudolph mit Tränen in den Augen, ihm doch seine Freiheit zu schenken. Er sei es leid, jeden Winter aufs Neue den schweren Geschenkeschlitten zu ziehen, nur um verwöhnten Kindern, die sowieso nicht an den Weihnachtsmann glauben, eine Freude zu bereiten,“ „Das ist ja alles schön und gut“, knurrte Joe, „doch Rudolph ist bei den Menschen sehr beliebt. Es wird einen Aufschrei der Entrüstung geben, wenn wir in ein paar Tagen den Weihnachtsmann ohne ihn ausliefern müssen. Also, du machst dich sofort mit Lilli auf den Weg und suchst ihn!“ „Hat das nicht Zeit bis morgen?“, maulte Lilli, „ich hatte eigentlich vor, ein bisschen zu schlafen.“ Katastrophen-Karl nickte zustimmend. „Ich bin hier der Boss, und dulde keine Widerrede“, beendete Paragraphen-Joe das Gespräch.

Derweil hatte es sich der Weihnachtsmann in seinem Zimmer in der Nähe der Heizung bequem gemacht. Er hatte seine schweren Stiefel gegen warme Plüschpantoffeln und seinen nassen rot-weißen Anzug gegen einen bequemen Hausmantel getauscht. Nun genehmigte er sich einen steifen Glühwein und ein Pfeifchen. Er konnte sich nicht so recht erklären, warum er eigentlich entführt worden war, aber das würde er schon noch früh genug erfahren. Wichtig war, dass er sich auf Rudolph verlassen konnte, der vorhin mit seinem Geweih leise gegen die Fensterscheibe geklopft hatte, um zu zeigen, dass er in der Nähe war. Die Tür ging auf und der Mann, der von den anderen Ganoven Paragraphen-Joe genannt wurde, kam mit einer Digitalkamera und einer Schiefertafel, auf der mit Kreide das heutige Datum aufgemalt war, herein. „Häng dir die Tafel um den Hals, Alter“, sagte er und warf sie ihm zu. Doch der Weihnachtsmann dachte gar nicht daran, sie aufzufangen, so dass sie scheppernd zu Boden fiel und sich Tausende von Splittern über den Boden verteilten. Zornig wollte Joe auf ihn losgehen, doch er wurde von Wacholder-Willi zurückgehalten. „Immer schön cool bleiben, Joe“, sagte Willi. „Ist ja schon gut, ich werde ein neues Schild aus Pappe malen“, sagte Joe mit wutverzerrtem Gesicht und verschwand im Wohnzimmer.

Nachdem Joe den Raum verlassen hatte, fragte der Weihnachtsmann neugierig: „Was habt ihr eigentlich mit mir vor, Wacholder-Willi?“ Willi war erstaunt und auch ein bisschen geschmeichelt, dass sich eine Respektsperson wie der Weihnachtsmann seinen Namen gemerkt hatte. Fast hätte er alles ausgeplaudert, doch fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, dass Joe ihnen eingeschärft hatte, sich nicht vom Weihnachtsmann übertölpeln zu lassen. „Der Weihnachtsmann ist ein väterlicher alter Mann mit weißem Rauschebart und genießt darum das Vertrauen aller Menschen“, hatte er gesagt. „Doch das ist nur die Rolle, die er nach außen spielt. In Wirklichkeit ist er ein eiskalter Geschäftsmann, der in seiner Jugend am Christ College in Oxford Weihnachtswissenschaften studiert hat. Im Laufe seines Lebens hat er das florierende multinationale Unternehmen Christmas Forwarders Ltd. aufgebaut, das für den gesamten Logistikbereich seiner Unternehmungen verantwortlich zeichnet. Das wirft ein hübsches Sümmchen Geld ab. Und dazu kommen noch Werbeeinnahmen in Milliardenhöhe, die er natürlich nicht versteuert, da sich ja sein Firmensitz in einem Steuerparadies, nämlich dem Nordpol, befindet.“ Ja, Joe hatte sich gründlich informiert, so dass sie alle voll Bescheid wussten, mit wem sie es zu tun hatten.

Nachdem sie einige Photos gemacht hatten, gingen sie wieder ins Wohnzimmer zurück und schnitten Buchstaben aus der Tageszeitung aus. Nach einer Stunde Arbeit hatten sie einen Erpresserbrief zusammengeklebt, den sie morgen früh in den Briefkasten des Einzelhandelsverbandes werfen wollten:

WEINACHTSMAN IN UNSRE GEWALD. LÖSEGELT 4 MIO EURO
SONST FALEN DIS JAHR WEINACHTEN UND WEINACHTSGESCHEFT FLACH.
EINZELHEITEN PEER TELEFON. KEINE POLIZEI!



„Das Geld ist uns so gut wie sicher“, grinste Joe zufrieden, „Der Einzelhandel kann nicht auf das Weihnachtsgeschäft verzichten, wenn er nicht pleite gehen will, und wird darum so schnell wie möglich zahlen.“ Willi schaute Joe bewundernd an. Gut, dass nicht nur der Weihnachtsmann, sondern auch ihr Boss intelligent war. „So, jetzt können wir die Beine hochlegen und ein bisschen chillen“, sagte Joe zufrieden, und Willi füllte zwei Wassergläser randvoll mit Schnaps. „So lässt es sich aushalten“, sagte er und begann, sich zu entspannen.

Doch die Pause dauerte nicht lange, denn aus dem Zimmer des Weihnachtsmannes kam plötzlich ein lautes Poltern. „Oh je, hoffentlich hat der Alte keinen Herzinfarkt gekriegt“, sagte Willi und sprang auf. Als sie sich dem Zimmer näherten, hörten sie die tiefe Stimme des Weihnachtsmannes: „Ho, ho, ho, Zimmerservice!“ „Was machst du hier für einen Aufstand?“, fragte Joe. „Wenn ihr mich schon entführt, müsst ihr auch für mein leibliches Wohl sorgen“, sagte der Weihnachtsmann, „ich habe nämlich seit heute Mittag nichts mehr gegessen. Es sei denn, ihr habt vor, mich um die Ecke zu bringen, dann erledigt sich die Sache ja ohnehin von selbst.“ Als ihm dann aber ein Teller mit belegten Broten und eine Flasche Bier vorgesetzt wurden, konnte er davon ausgehen, dass man es nicht auf sein Leben abgesehen hatte. Nachdem er alles mit großem Appetit bis auf die letzten Krumen verputzt hatte, verlangte er noch, ein Fichtennadel-Vollbad zu nehmen und legte sich danach beruhigt schlafen.

Am nächsten Abend hatte sich das komplette Entführer-Team wieder vor dem Fernseher eingefunden. Es wurde die Berliner Kongresshalle am Tiergarten gezeigt, wo sich gerade die Vertreter des globalisierten Einzelhandels zu einem Krisengipfel einfanden. Ohne Unterlass fuhren Luxuslimousinen am Haupteingang vor. Türen wurden aufgerissen und die hochkarätigen, ernst blickenden Manager von Security Beamten in Empfang genommen. Immer wieder schwenkte die Kamera in die wartende Menschenmenge und zeigte schluchzende Kinder und betretene Erwachsene. Ein großes Schild mit der Aufschrift: „Wir wollen unseren Weihnachtsmann und Rudi wiederhaben“, wurde eingeblendet. „Na bitte, das läuft ja wie geschmiert“, sagte Paragraphen-Joe und rieb sich selbstzufrieden die Hände. „Und jetzt erzählt ihr beiden mal, wie weit ihr mit diesem Rentier gekommen seid. „Tja, eigentlich sind wir nicht weiter als vorher auch“, begann Revolver-Lilli und übersah geflissentlich das zornige Aufflackern in den Augen ihres Bosses. „Wir sind die ganze letzte Nacht bis heute Nachmittag unterwegs gewesen“, setzte Katastrophen-Karl den Bericht fort. Zuerst sind wir zum Ärmelkanal geflogen, wo jemand Rudolph an Bord einer Fähre gesehen haben wollte, dann nach Grönland, dann nach New York, danach nach Moskau und immer so weiter. Die letzte Spur führte uns zum Nordpol, wo zwar jede Menge Rentiere waren, aber eins mit einer roten Nase war nicht dabei.“ Lilli und Karl gähnten ausgiebig, erhoben sich und gingen ohne zu fragen zu Bett.

Paragraphen-Joe lief wütend vor dem Fernseher auf und ab. Was nützten einem die besten Ideen, wenn man mit solchen Stümpern zusammenarbeiten musste. Ohne dieses verdammte Rentier war der Weihnachtsmann nur halb soviel wert. Auf jeden Fall würde er versuchen, den anspruchsvollen Alten so schnell wie möglich wieder loszuwerden, ob mit oder ohne Rudolph. - Warum hüpfte Wacholder-Willi jetzt auch noch wie blöd auf seinem Sessel auf und ab und verrenkte sich den Hals? Der ist auch nicht viel besser als die beiden anderen, dachte er. Ein bisschen intelligenter zwar, dafür aber meist schon am frühen Vormittag total betrunken. Joe schüttelte sich angewidert. Als aber Willi immer wieder auf den Fernseher zeigte, musste auch er zwangsläufig hinschauen. „Das kann doch nicht wahr sein!“, brüllte er und ging näher heran. Die applaudierende Menschenmenge hatte eine Gasse gebildet, durch die der Weihnachtsmann und Rudolph gemessenen Schrittes gingen. „Hurra, Rudi, hurra Weihnachtsmann!“ Die Menschen konnten sich gar nicht wieder beruhigen. Die Kinder versuchten, das Rentier zu streicheln und die Erwachsenen dem Weihnachtsmann die Hand zu drücken. Verwirrt erschien der Vorsitzende der Konferenz am Eingang der Kongresshalle, um die beiden verloren geglaubten Ehrengäste hineinzugeleiten.

Paragraphen-Joe rannte ungläubig ins Gästezimmer hinüber. Das Fenster, das eigentlich gesichert sein sollte, stand sperrangelweit offen. Auf dem Tisch lag ein zerknitterter Zettel. „Wenn ihr euch schon Gäste einladet, dann solltet ihr sie auch anständig bewirten“, entzifferte Joe das Gekritzel mit Mühe und Not. „Willi!“, brüllte er laut, doch der hatte sich bereits aus dem Staub gemacht.

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Texte: Das Copyright liegt bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2011

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