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„Alle Mann hinlegen, aber ein bisschen plötzlich!“ Die Stimme des maskierten Mannes überschlug sich fast vor Aufregung. Er fuchtelte wie wild mit einer Pistole herum, um die wenigen Menschen, die sich in der Schalterhalle der Bank befanden, in Schach zu halten. Scheinbar merkte er gar nicht, dass sein furchterregendes Gehabe höchst überflüssig war, da sich sowohl die Bankangestellten als auch die wenigen Kunden völlig ruhig verhielten und nicht im Traum daran dachten, sich zu wehren und dadurch womöglich ihr eigenes Leben und das der anderen in Gefahr zu bringen.

Derweil kümmerte sich der zweite Maskierte um den Kassierer, der ihm etliche Geldscheinbündel über den Tresen zuschob, die er in einem großen Lederkoffer verschwinden ließ. „Nur große Scheine“, zischte er dem Kassierer zu, als dieser versuchte, ihm einige Bündel mit 5 DM-Scheinen unterzujubeln.

Ein dritter Gangster stand an der Eingangstür, von wo aus er nicht nur die kleine Schalterhalle komplett im Blickfeld hatte, sondern auch hereinkommende Kunden sofort in Empfang nehmen konnte. Um diese frühe Uhrzeit war jedoch noch nicht viel los, und es war bisher noch kein weiterer Kunde aufgetaucht. Wenn sie Glück hatten, blieb das auch so, bis sie ihr Ding hier durchgezogen hatten. Nach genau fünf Minuten gab er den beiden anderen ein Zeichen. Daraufhin klappte der Maskierte an der Kasse sofort den Koffer zu, obwohl er noch nicht alle Geldbündel eingepackt hatte. Er befahl dem Kassierer herauszukommen und sich zu den auf dem Boden Liegenden zu gesellen. Der Gangster, der dort für die Bewachung zuständig war, ging mit gezückter Pistole rückwärts zur Tür, ohne seine Opfer aus den Augen zu lassen. Alle drei verließen schließlich im Laufschritt das Bankgebäude.

Am Straßenrand wartete schon ein Opel Vectra mit laufendem Motor. Sie sprangen hinein, und ab ging es, zunächst einmal nur mit dem Ziel, so schnell wie möglich aus der Stadt herauszukommen. Auch hier profitierten sie von der frühen Morgenstunde, denn von den Autofahrern wollten die wenigsten um diese Uhrzeit die Stadt verlassen, sondern vielmehr ihren Arbeitsplatz, der sich in der Regel im Stadtzentrum befand, erreichen. So hatten sie freie Fahrt und kamen zügig zu ihrem ersten Etappenziel, einem kleinen Wäldchen im Norden der Stadt.

Der Fahrer steuerte direkt auf den Parkplatz für Wanderer zu, wo sie alle den gestohlenen Opel verließen und zu einem dort geparkten Audi hinüberliefen. Den Opel konnten sie dort ruhig stehen lassen, denn sie hatten alle die ganze Zeit über Handschuhe getragen, konnten also keine Fingerabdrücke hinterlassen haben.

Bevor sie wieder losfuhren, schütteten sie das erbeutete Geld in einen großen blauen Müllsack, denn sollten sie wider Erwarten angehalten werden, würden die Beamten zunächst nach einem Lederkoffer Ausschau halten. „Was machen wir jetzt mit dem Koffer?“, fragte Siggi, der Mann, der den Kassierer um das Geld erleichtert hatte. „Das Beste wird sein, wir tun die Masken hinein und vergraben das Ganze im Wald“, antwortete Theo, der Mann, der an der Tür gestanden hatte und offensichtlich der Anführer war. Siggi nahm einen Spaten aus dem Kofferraum und schlug sich mit dem Koffer in die Büsche. „Du musst ein bisschen weiter in den Wald hineingehen“, rief im Theo hinterher, hier am Waldrand ist es nur eine Frage der Zeit, dass der Koffer gefunden wird!“ „Ja, ja, ich bin ja nicht blöd!“, schrie Siggi zurück, doch er dachte gar nicht daran, noch viel weiter zu gehen. Man kann auch alles übertreiben, dachte er. Als er außer Sichtweite war, grub er halbherzig ein Loch und verscharrte den Koffer darin.

Als er wieder zurück war, hielten sie sich nicht länger auf, denn sie hatten noch ein gutes Stück Weges vor sich. Joachim, der Fahrer, fuhr zügig, aber nicht zu schnell, um der Polizei ja nicht aufzufallen. Noch war es auf den Straßen ruhig, doch wer weiß, wie lange noch. Nach etwa einer halben Stunde hielt er an einer Autobahnauffahrt, wo viele Fahrzeuge von Mitfahrgemeinschaften geparkt waren. Hier ließ er seine Komplizen aussteigen. „Wir treffen uns dann heute Abend wie besprochen in unserer Kneipe“, rief ihnen Theo noch zu, bevor jeder in seinen eigenen Pkw umstieg, denn ein einzelner Mann in einem Fahrzeug war nicht so auffällig wie vier. Als letzter wechselte Jo den Wagen, nachdem er den Audi in einer belebten Geschäftsstraße stehen gelassen hatte.

....

Es waren zwanzig Jahre ins Land gegangen. Theo war inzwischen Bürgermeister seines Heimatortes geworden. Andy war selbständiger Geschäftsmann, Siggi Oberstudienrat und Jo Chefarzt am Kreiskrankenhaus. Sie trafen sich regelmäßig einmal im Monat, um Karten zu spielen. Den Banküberfall, der niemals aufgeklärt worden war, hatten sie nie wieder erwähnt. Sie hatten ihn einfach aus ihrem Gedächtnis gestrichen.

Es war kurz vor Ostern als Theo in seiner Post eine Vorladung der Staatsanwaltschaft des Ortes, in dem sie seinerzeit die Bank ausgeraubt hatten, fand. Sofort stellte sich ein mulmiges Gefühl in seinem Magen ein, das sich immer mehr in seinem ganzen Körper ausbreitete, je näher der Termin rückte. Er konnte weder essen noch schlafen und sah sich die ganze Zeit über im Geiste mit Handschellen vor Gericht stehen.

Als er schließlich dem vernehmenden Kommissar gegenübersaß, war er schon fix und fertig, bevor das Gespräch überhaupt begonnen hatte und konnte nur mit Mühe dem folgen, was er ihm zu sagen hatte: „Herr Vollmer, wir haben vor einigen Tagen in unserem Stadtwald etwas gefunden, das eng in Zusammenhang mit einer vor 20 Jahren verübten Straftat steht und haben Grund zu der Annahme, dass dieser Gegenstand ihnen gehört bzw. gehört hat.“ „So? Um was handelt es sich denn?“, wollte Theo wissen. „Um einen Koffer.“ „Einen Koffer?“ Theo musste sich zusammenreißen, um einigermaßen klar zu sprechen. Hatte er nicht Siggi, dem Trottel, damals ausdrücklich gesagt, er möge den Koffer so tief wie möglich vergraben? Und jetzt das. Wahrscheinlich war er wieder einmal zu faul gewesen. – Wenn man nicht alles alleine machte.


„Wie kommen sie darauf, dass er mir gehört?“ „Nun, wir haben in einer Seitentasche eine auf Sie ausgestellte Rechnung eines Hotels aus Florenz gefunden. Sie war zwar schon arg strapaziert, aber dafür haben wir ja unsere Spezialisten.“ Nach einigem Nachdenken erinnerte sich Theo. „Ja, das stimmt, ich war vor vielen Jahren als Student einmal in Florenz, aber welchen Koffer ich damals dabei hatte, das weiß ich beim besten Willen nicht mehr. „Ist Ihnen denn jemals ein Koffer abhanden gekommen, ich meine gestohlen worden oder haben sie vielleicht einmal einen irgendwo stehen lassen?“ „Keine Ahnung, daran kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Es ist jedoch gut möglich, dass ich einen Koffer benutzt habe, als ich vor meiner Heirat meine Studentenbude aufgelöst habe und ihn dann zusammen mit dem ausrangierten Zeug auf die Kippe geschmissen habe. Tut mir leid, dass ich ihnen dazu nichts Näheres sagen kann. Es ist aber auch zu lange her.“ Theo hatte sich wieder ein bisschen gefangen.

Der Kommissar machte sich auf einem Block Notizen. Dann schaute er Theo an. „Wir haben ein bisschen in Ihrem Leben herumgestöbert. Ich hoffe, Sie verübeln uns das nicht.“ Er lächelte. „Aber Sie stehen ja ohnehin im Licht der Öffentlichkeit, da dürfte Ihnen das nicht viel ausmachen.“ „Und was ist für Sie so interessant an meinem Leben?“ „Zum Beispiel das Geld, mit dem Sie sich sofort nach Ihrem Studium selbständig gemacht haben. Es würde uns brennend interessieren, woher sie das hatten, zumal Ihr Vater als einfacher Bauarbeiter mit drei Kindern über keine nennenswerten Ersparnisse verfügt haben dürfte.“

Es war wie ein unerwarteter Schlag in die Magengrube. Theo spürte, wie ihm übel wurde und sich die eben gewonnene Sicherheit schnell wieder verflüchtigte. „Es waren so um die 35.000 Euro nach heutigem Geld, in DM genau 70.000“, half der Kommissar ihm auf die Sprünge. „Ja, natürlich, ich habe das Geld seinerzeit von meinem Patenonkel bekommen, der unbedingt wollte, dass ich mich selbständig mache.“ Patenonkel war gut, dachte er, zumal Onkel Heinrich ja gar nicht mehr unter den Lebenden weilte, und Tante Wilma schon so klapprig war, dass sie sich nicht einmal mehr an ihren eigenen Namen erinnern konnte. Wer wollte ihm also das Gegenteil beweisen? Er lehnte sich wieder einigermaßen beruhigt in seinem Stuhl zurück, obwohl nicht zu übersehen war, dass ihm der Schweiß in Strömen von der Stirn rann.

Der Kommissar nickte ernst. „Eine letzte Frage noch, Herr Vollmer, seit wann kennen Sie die Herren Siegfried Remmer, Joachim Müller und Andreas Kogler?“ „Was haben die denn jetzt mit dem Koffer zu tun?“, tat er erstaunt. „Beantworten Sie doch einfach nur meine Frage“, sagte der Kommissar ungeduldig. „Also gut, mit Siegfried bin ich zusammen aufs Gymnasium gegangen, Andreas und Joachim kenne ich von der Universität. Wir waren alle in derselben Verbindung.“ „Das war’s dann schon für heute“, sagte der Kommissar. „Wieso für heute?“, fragte Theo, „Sie haben doch wohl nicht im Ernst vor, mich noch einmal wegen dieser Sache vorzuladen. Ich bin ein viel beschäftigter Mann, und meine Zeit ist knapp bemessen.“ „Es kommt darauf an, wie wir mit unseren Ermittlungen vorankommen“, antwortete der Kommissar und vertiefte sich in eine Akte.

Als Theo wieder auf dem Flur stand, begann sich alles um ihn herum zu drehen, und er musste schleunigst den Waschraum aufsuchen, um sich zu übergeben, so schlecht war ihm. Danach hielt er einige Minuten seinen Kopf und seine Handgelenke unter fließendes kaltes Wasser. Aber auch davon wurde es nicht besser. Wie hatten sie nur alle drei so naiv sein können anzunehmen, dass sie ungestraft davonkommen würden, dachte er. Alles rächt sich irgendwann im Leben. Noch heute Abend musste er mit seinen Freunden reden.

Sie trafen sich pünktlich um 20 Uhr in ihrer Stammkneipe. Ungläubig hörten sich die drei Freunde an, was Theo zu berichten hatte. „Du lieber Gott, ich kann nicht glauben, dass der Fall nach so langer Zeit noch einmal aufgerollt wird“, jammerte Jo bestürzt. „Wenn das rauskommt, fliege ich achtkantig aus der Klinik.“ Siggi Remmer war da viel kaltschnäuziger. „Ich kann auch ich nicht glauben, dass der Fall noch einmal aufgerollt wird, nämlich aus dem einfachen Grund, weil er schon lange verjährt ist. „Bist Du Dir da ganz sicher?“, fragten die anderen sofort, wussten aber schon von vornherein, dass er Recht hatte, denn Siggi, der Pedant, hatte eigentlich immer Recht, egal worum es auch ging. Ein typischer Beamter und Lehrer. Theo, der in Gedanken schon den großen Auftritt des Oppositionsführers im Stadtrat vor seinem geistigen Auge sah, war skeptisch. Nicht, was die Verjährung anbetraf, sondern ob die Polizei über diese Sache Stillschweigen bewahren würde. Sollte die Presse davon Wind bekommen, würde es das Ende seiner politischen Laufbahn bedeuten.

Andy interessierte sich besonders für die Fragen bezüglich der Firmengründung. Er hatte damals Theo abgeraten, sich sofort nach Abschluss des Studiums selbständig zu machen und ihm vorgeschlagen, erst einmal eine Weile als Angestellter zu arbeiten. So hatte er selbst es zumindest gemacht. Doch Theo hatte diesbezüglich nicht mit sich reden lassen. „Hätte ich doch damals bloß auf dich gehört“, jammerte er jetzt, denn ihm war im Nachhinein eingefallen, dass die Notlüge mit seinem Patenonkel doch nicht ganz so wasserdicht war wie er anfangs geglaubt hatte. Die Polizei musste sich nur ans Finanzamt wenden, um herauszufinden, ob Onkel Heinrich zu Lebzeiten ein nennenswertes Vermögen besessen hatte, und wenn ja, ob er es Tante Wilma hinterlassen hatte. Ach ja, ein weiterer Punkt kam noch erschwerend hinzu: es war keine Schenkungssteuer gezahlt worden, und auf die würde das Finanzamt ganz bestimmt nicht verzichten.

Die vier Freunde blieben an diesem Abend noch lange zusammen, schon allein, weil sie sich in der Gemeinschaft der anderen irgendwie sicherer fühlten.

„Alle Fakten weisen zumindest auf Theo Vollmer als einen der Täter hin, und ich bin mir sicher, dass ich, wenn ich lange genug bohre, auch die anderen drei überführen kann“, schloss der Kommissar seinen Bericht. Der Staatsanwalt war nicht gerade begeistert. „Was versprechen Sie sich davon, immerhin ist die Sache schon längst verjährt?“ „Ich möchte den Vieren nur die Maske des Biedermannes vom Gesicht reißen und die Sache an die Öffentlichkeit bringen. Überlegen Sie doch mal, ein ehemaliger Bankräuber als Lehrer unserer Kinder und Enkel oder gar als politischer Führer einer ganzen Stadt, das ist mehr als man ertragen kann.“ „Sie haben ja recht“, gab der Staatsanwalt zu, „aber den Fall weiterzuverfolgen, obwohl es von vornherein klar ist, dass überhaupt keine Bestrafung erfolgen kann, würde auf eine Verschwendung von Steuergeldern hinauslaufen. Immerhin ist bei dem Überfall seinerzeit niemand zu Schaden gekommen. - Abgesehen von der Versicherung natürlich, “ fügte er schnell hinzu, als er bemerkte wie der Kommissar missbilligend die Stirn runzelte. In weiser Voraussicht verschwieg er, dass der Bürgermeister Theo Vollmer derselben politischen Partei angehörte wie er selbst, um ja den Kommissar nicht auf den Gedanken einer Vetternwirtschaft zu bringen. Außerdem wäre eine solche Affäre der Popularität seiner Partei bestimmt nicht gerade förderlich. Er schaute auf die Uhr. „Oh, schon so spät, ich muss mich jetzt aber wirklich beeilen, denn ich habe meiner Frau versprochen, heute ausnahmsweise mal pünktlich zu sein. – Also, es bleibt dabei, die Ermittlungen werden eingestellt und kein Wort an die Presse. Kann ich mich darauf verlassen?“

„Ja, natürlich, wenn Sie es so wollen.“ Der Kommissar erhob sich. „Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend.“ Als er auf der Straße in sein Auto stieg, haderte er mit der Entscheidung des Staatsanwalts. Verjährung hin, Steuergelder her, wie konnte man drei gefährliche Bankräuber völlig ungestraft davonkommen lassen? Das war einer der Tage, an denen er es verfluchte, jemals zur Polizei gegangen zu sein. - Aber noch war nicht aller Tage Abend. Wozu hatte er eigentlich im Laufe seines Berufslebens so viele Journalisten kennen gelernt? Nur kurz erinnerte er sich an das Versprechen, das er dem Staatsanwalt gegeben hatte und tat es sogleich als Notlüge ab.

Zwei Tage später erschien folgender Artikel in einer regionalen Zeitung:


Geheimnisvoller Koffer nach 20 Jahren gefunden

20 Jahre nach einem dreisten Überfall auf die Kreissparkasse in X-Stadt hat die Polizei einen Koffer sichergestellt, der, wie es scheint, von den Bankräubern dazu benutzt wurde, das erbeutete Geld abzutransportieren. Unsere Ermittlungen ergaben, dass es sich bei dem Eigentümer um den fünfzigjährigen Bürgermeister von Y-Stadt, Theo V., handelt, der sich aber angeblich an diesen Koffer nicht erinnern kann. Ein Interview mit uns lehnte Herr V. ohne Begründung ab.

Wir werden Sie weiter auf dem Laufenden halten.

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Texte: Das Copyright liegt bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 06.09.2011

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