„Hallo Leute,
ich heiße Struwel und bin ein wunderschöner Kanarienvogel. Mein Gefieder ist gold-gelb, und weil ich so viel Obst und Gemüse zu essen bekomme, glänzt es wie ein edles Seidengewebe. Darum verbringe ich auch sehr viel Zeit damit, es täglich zu putzen. Außerdem kann ich herrliche Lieder singen. Warum mein Frauchen mich Struwel getauft hat, weiß ich allerdings nicht so recht, da mein Gefieder immer, außer in der Mauser, sorgfältig gepflegt ist, nicht so, wie die zerzausten Haare beim Struwelpeter aus dem Bilderbuch, das sie mir einmal gezeigt hat. Ich denke mal, dass sie es selbst nicht genau weiß. Na ja, ist ja auch nicht weiter schlimm, denn sie ist ja sonst ganz in Ordnung und erfüllt uns eigentlich jeden Wunsch. Mit ‚uns‘ meine ich das Trienchen, das mit mir zusammen in einem Käfig eine Wohngemeinschaft bildet und meinen Stiefbruder Nicki mit seiner Partnerin, dem kleinen Mäuselchen.
Mit meinem Bruder Nicki verstehe ich mich nicht so besonders, weil er oft sehr rechthaberisch ist und sich dauernd bei unserem Frauchen einschleimt. Damit hat er meist auch Glück, denn er ist von Geburt an blind auf einem Auge und auch häufig krank. Frauchen sagt immer, er sei ihr kleines Sorgenkind und ich ihr verständiger Großer. Aber ich nehme es ihr auch nicht sehr übel, denn, wenn sie Zeit hat, schmust sie auch mit mir ausgiebig. Aber im Gegensatz zu mir, weiß mein Bruder ganz genau, warum er Nicki heißt, nämlich weil Frauchen ihn einmal zum Nikolaustag geschenkt bekommen hat. Darauf bildet er sich auch eine ganze Menge ein.
Nicki und ich haben das Problem, dass unsere Krallen kräftig wachsen und daher regelmäßig geschnitten werden müssen. Da Frauchen es nicht übers Herz bringt, uns einzufangen und das selbst zu erledigen, möchte sie immer, dass wir in den kleinen Käfig springen, damit sie uns damit zum Tierhändler, Herrn Weidemann, transportieren kann. Das ist immer ein Spaß, denn man kann Frauchen so schön reinlegen. Man springt in den Käfig, lässt sie ganz nah herankommen, und wenn sie das Türchen schon schließen will, fliegt man zwischen ihren Händen davon. Dieses Spiel könnte ich den ganzen Tag spielen, aber Frauchen wird schon nach kurzer Zeit böse und schimpft mich aus. Sie sagt, ich solle mir ein Beispiel an meinem Bruder Nicki nehmen, der ja – wie ich schon sagte – unser Musterknabe ist und immer sofort das tut, was sie will. Ihm würde es natürlich niemals in den Sinn kommen, Frauchen hereinzulegen.
Letzten Sommer tat ich ihr dann den Gefallen und blieb freiwillig drin. Immerhin springt ja dabei auch noch eine Autofahrt heraus, und danach gibt es in der Regel ein besonderes Leckerchen zur Belohnung. Herr Weidemann, der immer sehr wortkarg ist und nie Lust zum Spielen hat, war mit mir dann auch sehr schnell fertig. „Wenn du nicht still hältst, kriegst du den Hintern voll“, brummte er mich an, also hielt ich lieber still.
Als wir dann wieder zu Hause waren, hob Frauchen meinen Käfig aus dem Auto und wollte mich ins Haus bringen. Da geschah es. Das Trinknäpfchen fiel zu Boden, und plötzlich war dort, wo es gehangen hatte, ein einladendes Loch. Das war geradezu eine Aufforderung zum Spielen, und ruck zuck war ich verschwunden. Frauchen bemerkte es zuerst nicht. Erst an der Haustür wollte sie mir ein paar Worte zur Beruhigung sagen, doch zu ihrem großen Erstaunen war ich gar nicht mehr da, zumindest konnte sie mich nicht mehr sehen.
Ich hatte es mir nämlich mittlerweile im grünen Laub der hohen Linde vor unserem Haus bequem gemacht und konnte genau beobachten, wie verzweifelt sie mich suchte. Immer wieder rief sie meinen Namen und schaute in die Luft, bis sie mir schließlich Leid tat. Also flog ich für einen Moment auf eine der Fensterbänke unseres Hauses, wo sie mich gut sehen konnte, dann flog ich wieder zurück, um den herrlichen Baum weiter zu erkunden.
Diese schönen saftig-grünen Blätter und die vielen zwitschernden Vögel um mich herum, das konnte ich mir doch nicht entgehen lassen. Ich knabberte voller Lust an einem grünen Blättchen, aber es war nicht die Qualität, die ich gewöhnt bin. Frauchen hat immer eine Auswahl an knackigen Blattsalaten im Kühlschrank, und jeden zweiten Tag bekommen wir ein Blättchen davon, oder aber ein Stückchen Apfel oder Birne. Natürlich neben unserer täglichen Körnerration, versteht sich. Dann würde ich mich eben an die Körner halten. Ich schaute mich suchend in dem Geäst um, aber es gab weit und breit keine Körner, ja noch nicht einmal ein Futternäpfchen. Also begann ich zu singen. Das würde Frauchen zeigen, dass ich Hunger hatte. Aber kein Frauchen erschien mit dem Futterpaket in der Hand. Das ist bestimmt nicht laut genug, dachte ich, und erhöhte die Lautstärke.
Doch plötzlich war ich von einer Horde Spatzen umzingelt. Das sah sehr bedrohlich aus. „Was machst du Schreihals hier in unserem Revier?“, fragte ein älterer Spatz - offensichtlich der Anführer - und schob sich näher an mich heran. „Wir dulden keine Fremden hier, und schon gar nicht solche Schönlinge wie du einer bist.“ Die anderen nickten zustimmend und rückten alle einen Schritt näher. Ihre Augen funkelten wild entschlossen. Es war mir klar, dass sie mich nicht so ohne weiteres gehen lassen würden. Dazu waren sie viel zu eifersüchtig auf mein schönes Gefieder und meinen Gesang. Bekanntlich sind ja alle Spatzen grau und können überhaupt nicht singen.
„Also, “ fuhr der ältere Spatz fort, „was wolltest du doch gleich noch sagen?“ Ich flog zur Sicherheit auf einen höheren Ast und bat sie, mich doch bitte in Frieden zu lassen. Ich sei mit meinem Frauchen da und würde sofort wieder in den Käfig springen und mit ihr nach Hause gehen. „Ich sehe weder ein Frauchen noch einen Käfig“, sagte ein jüngerer Spatz patzig und schaute mich fragend an. „Ach, du bist sicher einer von den verwöhnten Weicheiern, denen es nie an etwas mangelt. Immer gutes Futter und im Winter eine warme Heizung“, sagte der ältere Spatz herablassend und warf mir einen verächtlichen Blick zu. „So etwas wie Dich können wir in unserem Revier nicht gebrauchen.“ Ich schaute mich verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit um, doch es gab keine. Ein dichter Ring von Spatzenleibern hatte sich um mich herum geschlossen. Schließlich begann ich zu weinen und rief nach meinem Frauchen. „Die kann dir jetzt auch nicht mehr helfen“, sagte ein Spatz mittleren Alters und fing an, nach mir zu schnappen. Mir wurde vor Angst ganz schwarz vor Augen.
Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben und war auf das Schlimmste gefasst, als ich plötzlich einen mir nur allzu bekannten schrillen Schrei vom Flurfenster her hörte, der den Spatzen durch Mark und Bein ging, mir aber neuen Mut gab. Es folgte ein lang gezogener Pfeifton, ähnlich einer Lokomotive. Die Spatzenbande hatte sich so erschreckt, dass sie sich vorsichtshalber einige Schritte zurückgezogen und mir so die Chance gegeben hatte, zu entkommen. Schnell stieß ich mich von meinem Ast ab und flatterte zu dem Käfig hin, der im offenen Flurfenster stand. Darin tobte, wie üblich, Trienchen, meine Partnerin. „Wenn du nicht sofort nach Hause kommst, dann kannst Du was erleben!“, schrie sie mich an. „Ich werde dir helfen, dich in der Weltgeschichte herumzutreiben, während unser Frauchen hier sitzt und sich wegen dir die Augen aus dem Kopf weint!“
Ich schaute mich vorsichtig um und sah, wie die Spatzenbande wieder zum Leben erwachte und sich zum Angriff sammelte. Es war klar, dass der Respekt vor dem Gekreische meiner Partnerin nicht mehr lange vorhalten würde. Schnell flog ich ins Treppenhaus, wo mein Frauchen traurig auf der Treppe saß. Ich setzte mich auf ihren Kopf und ließ mich von ihr in die Wohnung bringen. „Wenn ihr nicht sofort hier verschwindet, dann passiert was!“, hörte ich noch Trienchens resolute Stimme. Dann ließ die Anspannung in meinem Körper nach, und ich fing jämmerlich zu schluchzen an. Frauchen ging an den Kühlschrank, um für Trienchen und mich ein großes Stück Salat zu holen.“Schön, dass ich dich wiederhabe, mein kleiner Liebling“, sagte sie zärtlich, und ich flog auf ihre Schulter und knabberte an ihrem Ohrläppchen.
Inzwischen waren die mutigsten Spatzen auf das Fensterbrett geflogen, um mir eine ordentliche Abreibung zu verpassen. Wie groß aber war ihr Erstaunen als sie dort das keifende Trienchen und nicht mich vorfanden. „Hallo, schöne Frau“, sagte der ältere Spatz galant und tänzelte vor Trienchens Käfig herum, „mein Name ist Gustav, und mit wem habe ich das Vergnügen?“ „Was soll das dumme Gequatsche?“, kanzelte ihn das Trienchen ab, „rede gefälligst so, dass ich dich verstehen kann.“ Gustav, enttäuscht darüber, dass das Trienchen seine gepflegte Konversation nicht zu schätzen wusste, wiederholte seine Frage: „Ich habe nur gefragt, wie du heißt.“ „Ach so, ich heiße Trienchen, aber was geht dich das an?“ „Na, ich würde sehr gerne mal mit dir ausgehen“, zwitscherte Gustav munter drauf los.“ Es kümmerte ihn nicht weiter, dass die anderen Spatzen bereits ungeduldig wurden. „Ich pflege nicht mit fremden Männern auszugehen“, wies ihn das Trienchen zurecht, „und schon gar nicht mit dir.“ Dabei flatterte sie wie eine Furie in ihrem Käfig herum und stieß immer wieder ihren Eisenbahnpfiff aus. Das beeindruckte die Spatzenbande so sehr, dass nach wenigen Minuten alle außer Gustav das Weite gesucht hatten.
„Was willst du denn noch hier, du Dummkopf? Mach gefälligst, dass du auch weiterkommst, denn das hier ist Privatbesitz, und was du tust ist Hausfriedensbruch“, schnauzte sie den staunenden Gustav an. Als der aber nicht reagierte, sondern statt dessen anfing, frech von außen an dem Stück Apfel zu knabbern, das zwischen den Gitterstäben ihres Käfigs klemmte, rastete sie völlig aus. Sie schlug wild mit ihren Flügeln und versuchte Gustav in den Schnabel zu beißen. Ein Glück, dass unser Frauchen in diesem Moment dazukam und sie mit hinein nahm. „Nun beruhige dich doch wieder, mein kleines Mädchen“, redete Frauchen ihr gut zu, „unser Struwelchen ist doch wieder zuhause, du musst dich also nicht mehr so aufregen.“
Doch es dauerte noch lange, bis das Trienchen den unverschämten Gustav vergessen hatte. Immer wieder erzählte sie ihre Erlebnisse ihrer empörten Busenfreundin Mäuselchen, und so hatten die beiden Gesprächsstoff bis tief in den Winter hinein. Als Frauchen dann ein Futterhäuschen auf dem Balkon aufstellte, beobachteten die beiden Gustav jeden Tag misstrauisch, wenn er sich mit seiner Spatzenbande sein Futter holte.
Euer Struwel“
Texte: Das Copyright liegt bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 28.08.2011
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