„Auf der Reeperbahn nachts um halb eins…!“ Johnny haute in die Tasten des Schifferklaviers, was das Zeug hielt und versuchte, auf Stimmung zu machen. Doch die Gäste der Pik-Ass Bar in St. Pauli gingen nicht so recht mit. Stattdessen hatte sich eine gähnende Langeweile in dem Lokal ausgebreitet. Gut, dann eben etwas anderes. Vielleicht etwas von Freddy Quinn gefällig? „Fährt ein weißes Schiff nach Hooongkooong…!“ Die Gesichter der Gäste wurden immer länger, das war dann wohl auch nicht das Richtige. Johnny kam langsam ins Schwitzen. Er verstand die Welt nicht mehr, denn in seiner Jugend waren das die großen Kracher gewesen, die in ganz Deutschland gesungen wurden. Versuchen wir es mal mit einem Lolita-Song, wär doch gelacht, wenn der nicht ankäme: „Deine Heimat ist das Meer…“ „Mensch Alter, kannst du nicht mal was Modernes spielen?“, rief ihm ein dicklicher junger Mann, dem gerade eine Flasche Schampus serviert wurde, zu. Na klar, wer Schampus bestellt, der bestimmt auch die Musik, so weit kommt das noch. Aber nicht mir. Da blieb eigentlich nur noch La Paloma, das Highlight aller Seemannslieder. „… fliegt eine weiße Taube zu dir hier heeer!“ Schon kam der Barmanager angelaufen. „Warum spielst du nicht einfach etwas anderes?“, fragte er, „du siehst doch, dass die Gäste die ollen Seemannslieder aus dem Jahre Schnee von gestern nicht mögen.“ „Weil wir das so ausgemacht haben“, antwortete Johnny grantig. „Ja, aber man muss auch ein bisschen flexibel sein, schließlich kommen die Leute, um sich zu amüsieren und nicht, um sich bei uns auszuschlafen.“. „Darauf hab ich aber keinen Bock“, antwortete Johnny, knallte das Akkordeon so heftig auf einen Tisch, dass es eine Tonleiter von Klagelauten von sich gab, und verließ kurzerhand das Lokal.
Draußen musste er erst einmal tief durchatmen. Da hatte er sich ein bisschen Geld zu seiner Hartz-IV-Unterstützung hinzuverdienen wollen, und nun das. Hamburg war längst nicht mehr das, was es mal gewesen war. Warum war er eigentlich hierher zurückgekehrt, wo man noch nicht einmal ein gutes Seemannslied zu schätzen wusste? Wäre es nicht besser gewesen, er wäre in Valparaiso geblieben? Oder in Bombay? Oder in Shanghai? Die Welt ist so groß, und du landest ausgerechnet in diesem lausigen Provinznest, wo Kultur offensichtlich nur ein Fremdwort ist.
Mit seinen 55 Jahren hatte er vor kurzem entschieden, dass es nun an der Zeit sei, endlich sesshaft zu werden. Als Seemann war es in seinem Alter nämlich immer schwieriger geworden, auf einem Schiff anzuheuern, also hatte sich die Frage gestellt, wo er für den Rest seines Lebens bleiben sollte. Etwa bei Dora, die ihm immer sofort seine Heuer abgeknöpft hatte, sobald er festen Boden unter den Füßen gespürt hatte? Sie brauche das Geld für ihre Kinder, die angeblich alle von ihm waren, hatte sie gesagt. Nein danke, ohne ihn! Oder vielleicht bei Ishya, die es mit der Treue nicht so genau genommen hatte, sobald er wieder auf dem Schiff und der Blaue Peter gehisst war? Nein, Indien kam für ihn sowieso nicht infrage. Da war es ihm viel zu schmutzig. Und was war mit Mai-Lin? Die hatte sich schon längst einen anderen geangelt und war heute eine glückliche Ehefrau und Mutter. Wie in den alten Seemannsliedern hatte er tatsächlich so ziemlich in jedem Hafen, in dem er von Bord gegangen war, eine Braut gehabt, nur, was nutzte ihm das heute? Heute brauchte er ein gemachtes Nest, wo er unterschlüpfen konnte und jemanden, der für seinen Lebensunterhalt aufkam.
Plötzlich erinnerte er sich an die kleine Marlene Harmstorf, die er vor etwa 25 Jahren hier in Hamburg kennen gelernt hatte. Marlene, die zehn Jahre jünger als er gewesen war. Er, damals schon fast ein Oldie mit seinen dreißig Jahren, hatte von Liebe und Heirat gefaselt, und Marlene, das unerfahrene Küken, hatte ihm prompt den Quatsch geglaubt. Wo hatte sie doch gleich noch gewohnt? Er hatte sie einmal nach einer durchtanzten Nacht nach Hause gebracht. Dunkel erinnerte er sich an ein ziemlich exklusives Villenviertel. Ja, klar, das war irgendwo draußen in Blankenese gewesen. Möglich, dass er das Haus wieder fand, wenn er erst einmal da war und sich in Ruhe umsah.
Es war leichter als er geglaubt hatte. Sobald er die S-Bahn verlassen hatte, schlugen seine Füße fast automatisch die richtige Richtung ein und brachten ihn zur Wilhelmsallee. Da war auch schon die schmucke weiße Villa. Ein Blick auf die Türklingel sagte ihm, dass sie zumindest noch von der Familie Harmstorf bewohnt wurde. Auf sein Läuten kam eine Art Butler zu ihm hinaus und fragte ihn hochnäsig, was er wollte. „Ich möchte gern zu Frau Marlene Harmstorf“, sagte er forsch. Der Butler musterte ihn kritisch von oben bis unten und antwortete: „Frau Harmstorf ist nur nach vorheriger Terminvereinbarung zu sprechen.“ „Und wo bekomme ich einen Termin?“ „Na, in der Firma bei ihrer Sekretärin natürlich.“ Ist doch klar, dachte er, wenn er jetzt noch wüsste, um welche Firma es sich handelte, wäre er einen guten Schritt weiter.
Er schlenderte hinunter an die Elbe und setzte sich in ein Straßencafé, um in Ruhe nachzudenken. Es hörte sich ja alles ziemlich viel versprechend an: Marlene mit eigenem Haus und eigener Sekretärin, vielleicht sogar noch mit eigener Yacht und eigenem Pferd. Er musste sich auf jeden Fall eine besonders traurige Geschichte einfallen lassen, um bei ihr zu punkten. Vielleicht war sie ja in Sachen Liebe immer noch so naiv wie früher. Dann sollte es doch wohl nicht schwer sein, sie herumzukriegen. Auf jeden Fall war sie genau das, was er als Hartz-IV-Empfänger jetzt brauchte. Er rief den Kellner herbei. „Sagen Sie mal, kennen Sie vielleicht eine Familie Harmstorf?“, fragte er ihn und schob ihm einen Zehneuroschein zu. „Ja, natürlich“, sagte der Kellner und griff gierig nach dem Geld, „der gehört doch die große Reederei in Moorfleet.“ Bingo, das Geld, das er gerade so großzügig verschenkt hatte und von dem er eigentlich die nächsten drei Tage hätte leben müssen, war bestens angelegt.
Es waren etwa drei Monate vergangen. Johnny saß auf der Kante eines unbequemen Sessels in einer Art Vorzimmer und nippte an einem lauwarmen Kaffee, den ihm diese süße kleine Krabbe, die hinter dem Schreibtisch saß, serviert hatte. Es wird allerdings noch ein paar Minuten dauern, Herr Mück“, hatte sie zu ihm gesagt und ihn wie ein Engel angestrahlt. Woher weiß sie bloß meinen Namen, wunderte er sich, denn er war sicher, dass er nur seinen Vornamen angegeben hatte. Na, ja, war auch nicht so wichtig. Etwas enttäuscht war er allerdings, dass er nur im Büro und nicht gleich im Privathaus empfangen wurde. Aber das würde schon noch kommen, alles zu seiner Zeit. Das Telefon klingelte. „So, Frau Harmstorf wäre dann soweit“, sagte die süße Krabbe, „bitte folgen sie mir.“
Marlene saß in einem tiefen Sessel hinter einem großen Schreibtisch, stand aber auf, um ihn zu begrüßen. Er schaute sie an. Sie war noch immer sehr hübsch und adrett, im Gesicht zwar ein paar Fältchen mehr als damals, aber die Figur noch tadellos in Schuss. Sie gab ihm die Hand zur Begrüßung, zog aber schnell ihren Kopf zurück als er sie küssen wollte. „Nimm doch bitte Platz, Johnny“, sagte sie und zeigte auf den Besuchersessel vor ihrem Schreibtisch. Es ärgerte ihn, dass sie diese Distanz zwischen sich und ihm geschaffen hatte und auch, dass es sich die süße Deern auf der Couch in der Besucherecke gemütlich gemacht hatte und offenbar gar nicht daran dachte, den Raum zu verlassen.
„Schön hast du’s hier“, begann er unbeholfen das Gespräch. „Ja, ich denke, dass ich mir mein Büro ganz nett eingerichtet habe.“ Marlene schaute ihn abwartend an. Als er nicht antwortete, fuhr sie fort: „Aber um mir das zu sagen, bist du doch sicher nicht hergekommen.“ Johnny war irritiert. Er räusperte sich. „Nein, natürlich nicht. Ich bin gekommen, weil ich unbedingt wissen wollte, wie es dir geht. Deswegen habe ich auch gleich versucht, dich aufzusuchen, nachdem mein Schiff hier angelegt hat, aber bei deinen langen Anmeldezeiten …“ „Das erstaunt mich aber ein bisschen, denn ich dachte, du wärst schon eine ganze Weile länger wieder in Deutschland“, sagte Marlene. „Wie kommst du denn darauf?“ Johnny heuchelte Erstaunen. „Nun, weil ich gehört habe, du wärst bereits vor etwa einem Jahr mit der Cap Korinthes aus Valparaiso hier in Hamburg angekommen.“ Johnny antwortete nicht, bekam aber einen roten Kopf, und man merkte ihm an, dass ihm das Gespräch sichtlich unangenehm wurde. – Nach einer Pause sagte er lahm: „Da muss ich mich wohl versprochen haben, ich meinte ja auch vor einem Jahr.“ „Gut, du bist also unverzüglich hierher geeilt, nachdem dein Schiff vor einem Jahr in Hamburg eingetroffen ist, aber was ist mit den vergangenen zwanzig Jahren? Immerhin hattest du mir die Ehe versprochen.“ Das Blut schoss in seine Wangen. „So, habe ich das?“ Tja, also, es ist mir leider immer etwas dazwischen gekommen“, stammelte er. – Eine weitere unangenehme Pause entstand.
Johnny wurde dieses Gespräch immer peinlicher, besonders, weil das junge Mädchen offensichtlich sehr interessiert zuhörte. „Können wir uns nicht unter vier Augen unterhalten?“, fragte er zaghaft. „Ach, entschuldige, dass ich dir meine Tochter Wiebke nicht vorgestellt habe. Ich habe vor ihr keine Geheimnisse.“ „Ach so, na ja, es war mir nicht möglich, eher zu kommen, weil ich all die Jahre sehr krank gewesen bin, und das allein in einem fremden Land, ohne die Sprache zu verstehen. Du kannst mir glauben, dass das für mich alles andere als einfach war, “ versuchte er einen neuen Anlauf. „In welchem Land war das denn?“, fragte sie, jetzt zusehends interessierter, so dass er wieder neuen Mut fasste. „In Chile, genauer gesagt in Valparaiso.“ Wiebke hatte derweil einen Aktenordner aufgeschlagen und blätterte darin herum. „Entschuldigen Sie, dass ich mich einmische, Herr Mück, aber aus meinen Unterlagen geht hervor, dass Sie seit 25 Jahren in Chile mit einer gewissen Isidora Gonzalez verheiratet sind und mit ihr fünf Kinder haben“, sagte sie, „ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich ihre Ehefrau während ihrer schweren Krankheit so gar nicht um sie gekümmert haben soll. Und nach einigen Jahren Ehe dürften die Sprachprobleme wohl auch nicht mehr ganz so gravierend gewesen sein.“
Johnny sprang empört auf und schnappte hörbar nach Luft. „Wie kommen Sie dazu, in meinem Leben herumzuschnüffeln?“, blaffte er sie an. „Nun, seit einigen Jahren interessiere ich mich nun einmal dafür, was für ein Mensch mein Vater ist und was er so tut. Um das zu erfahren, habe ich sogar in verschiedenen Ländern Privatdetektive damit beauftragt, etwas über Sie herauszufinden. Das war mir sehr wichtig, um zu wissen, wie ich Sie einzuschätzen habe, falls Sie einmal vor mir stehen und versuchen sollten, mir irgendwelche Märchen zu erzählen, wie damals meiner Mutter,“ sagte Wiebke und lächelte ihn an. „Ich glaube, Sie sollten jetzt besser gehen, es sei denn, meine Mutter möchte sich mit Ihnen noch weiter unterhalten.“ Sie stand auf und verließ den Raum.
Johnny schleppte sich zur Tür. Dort angekommen, drehte er sich langsam zu Marlene um. „Hast du mich nur deshalb herbestellt, um mich hier vorzuführen?“ krächzte er. „Ich muss schon sagen, dann ist dir das vorzüglich gelungen.“ „Du kannst getrost davon ausgehen, dass, wenn es nach mir gegangen wäre, du erst gar keinen Termin bekommen hättest. Wiebke hat aber darauf bestanden, dich kennen zu lernen und dir eine Chance zu geben. Da du nun einmal ihr Vater bist, habe ich nachgegeben, obwohl ich mir schon in etwa gedacht habe, wie unser Wiedersehen verlaufen würde. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest?“ Sie nahm eine Akte zur Hand und vertiefte sich darin.
„Nach einiger Zeit kam Wiebke zurück in ihr Büro. Sie legte die Arme um den Hals ihrer Mutter und sagte: „Du hattest recht, Mutti, er ist nichts anderes als ein charmanter Nichtsnutz.“
Texte: Das Copyright liegt bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 13.08.2011
Alle Rechte vorbehalten