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Es war einer jener Montage, an denen man sich am besten noch einmal im Bett herumdreht und die Bettdecke fest über den Kopf zieht. Es regnete stetig vor sich hin, und ein rauer Wind wehte über die Klippen von Eastbourne in der Grafschaft Sussex. Kein normaler Mensch wäre auf die Idee gekommen, dass die zehn schon etwas betagten Herren bereits seit drei Stunden auf den Beinen waren, denn sie gingen nach wie vor in aufrechter Körperhaltung, ja, fast hatte es den Anschein, als marschierten sie im Gleichschritt auf dem beschwerlichen Weg über die Klippen. Etwas anderes als eine korrekte Körperhaltung war von den Soldaten Ihrer Majestät aber auch nicht zu erwarten, selbst wenn sie sich schon längst im verdienten Ruhestand befanden. Bei diesen außergewöhnlichen Gentlemen handelte es sich um Mitglieder der Royal British Legion, einem Veteranenverein, die diesen morgendlichen Gewaltmarsch zweimal in der Woche als Teil ihres Fitnessprogramms absolvierten. Natürlich gab es auch eine leichtere und kürzere Tour, auf der nicht ganz so viele Weidezäune zu überklettern waren, aber das war für die Herren bis jetzt noch ‚out of the question’, denn noch fühlten sie sich für derartige Unternehmungen rüstig genug.

„Bleibt es beim Kartenspielen heute Nachmittag?“, fragte der 71-jährige Richard Thomson seinen langjährigen, gleichaltrigen Freund und Kampfgefährten Jack Rusher. „Na klar, was soll man denn sonst bei diesem trostlosen Wetter unternehmen“, war die Antwort. „Bring ja genügend Geld mit, denn ich habe das Gefühl, dass ich heute eine Glückssträhne habe“, fügte er lachend hinzu. Sie nahmen den Bus, der sie von den Klippen in das Zentrum von Eastbourne zurückbrachte. Richard stieg unten am Pier aus und ging die restlichen fünf Minuten zu seinem Häuschen in der Longston Road zu Fuß. Na ja, zumindest hatte es aufgehört zu regnen.

Als er sich seinem Haus näherte, bemerkte er, dass davor ein Auto mit einem deutschen Kennzeichen parkte. Ein ‚B’, das musste die Abkürzung für Berlin sein. Sicher waren das wieder einige der unzähligen Bed & Breakfast Gäste seiner Nachbarin Samantha von gegenüber, die ihm ständig die Sicht aus seinem Wohnzimmerfenster versperrten. Er musste demnächst doch einmal ein ernstes Wörtchen mit Samantha reden. Wie erstaunt war er aber, dass eine dunkelhaarige Frau in mittleren Jahren aus dem Wagen stieg, als er schon fast vor seiner Haustür angelangt war. Er hatte das vage Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben, doch verwarf er diesen Gedanken gleich wieder, denn mit Deutschland hatte er schon seit langem nichts mehr zu tun.

„Mr. Thomson?“ Die Frau sah ihn fragend an. „Ja, ich bin Richard Thomson“, sagte er zögernd. „Also, ich bin Susanne Altmann, die Tochter von Rosemarie Weber aus Berlin. Soviel ich weiß, waren Sie vor vielen Jahren mit meiner Mutter eng befreundet.“ Richard musste eine Weile überlegen, doch dann kam langsam die Erinnerung, und er nickte. Ein wehmütiges Lächeln umspielte dabei seine Lippen. „Ja, natürlich, Rosie, was ist aus ihr geworden?“ „Leider ist sie vor einem halben Jahr verstorben“, antwortete Susanne, „und das ist auch der Grund, warum ich zu Ihnen komme.“ Sie zog einen Briefumschlag aus ihrer Handtasche und gab ihn ihm. Rosie verstorben? Richard wurde ein wenig schwermütig ums Herz, obwohl die Episode mit Rosie zu einem längst vergangenen und abgehakten Abschnitt seines Lebens gehörte. „Diesen Brief habe ich bei den Unterlagen meiner Mutter gefunden. Er ist an Sie adressiert und ich möchte, dass Sie ihn erhalten, auch wenn es schon ein halbes Jahrhundert her ist.

Richard schaute neugierig auf den Brief. Er war tatsächlich an ihn adressiert, und die Anschrift stimmte auch: Brooks Barracks in der Spandauer Wilhelmstraße, der damalige Standort seines Infanterie-Bataillons. Abgestempelt war er am 31.8.1961 in Ostberlin. „Das ist ja alles soweit in Ordnung“, sagte er verwundert, „warum habe ich den Brief dann aber nicht erhalten?“ „Weil die Stasi ihn abgefangen und eingezogen hat“, antwortete Susanne. Sie wissen sicher noch, dass meine Mutter in Ostberlin lebte?“ „Ja, natürlich weiß ich das, aber wie kam er dann wieder in ihren Besitz?“ „Nach dem Fall der Mauer hat meine Mutter ihre Stasi-Akte eingesehen und den Brief dort gefunden“, antwortete Susanne.

„Aber das ist doch auch schon wieder gut 20 Jahre her“, überlegte Richard laut, „warum hat sie sich denn nicht bei mir gemeldet?“ „Das kann ich ihnen leider auch nicht sagen, welche Gründe sie dazu bewogen haben“, antwortete Susanne. „Ich kann mir aber gut vorstellen, dass sie nach dieser langen Zeit nicht mehr in Ihr Leben eingreifen wollte. Möchten Sie, dass ich Ihnen den Brief übersetze? Oder besser noch, meine Tochter Lisa, die da im Wagen sitzt. Die studiert nämlich zurzeit in Canterbury und spricht ein viel besseres Englisch als ich.“ „Nein, nein, ich glaube, dass ich damit schon klar komme “, wehrte Richard ab. Zuviel stürmte so unvermittelt auf ihn ein, und er wollte zunächst einmal in Ruhe über alles nachdenken. „Wo kann ich Sie erreichen, falls ich noch Fragen haben sollte?“ „Wir wohnen bis zum Ende der Woche im Cavendish-Hotel am Wilmington Sqaure. Also, wenn Sie das Bedürfnis haben, dann rufen Sie ruhig dort an.“ Susanne gab ihm die Hand und stieg dann wieder in den Wagen. Richard verspürte ein angenehmes Gefühl, als er ihre schmale Hand in der seinen hielt. Eine sehr sympathische junge Frau, befand er und betrat sein Haus.

Nachdem Richard geduscht und seine Kleider gewechselt hatte, brühte er sich ein Kännchen Tee auf und machte es sich in seinem großen Fernsehsessel bequem. Den Brief legte er vor sich auf den Tisch, damit er ja nicht abhanden kam. Zunächst einmal musste er dringend Jack, oder besser noch Edith, seine Frau, anrufen. Sie meldete sich am Telefon. „Gut, dass Du dran bist, Edith. Kannst Du wohl am Nachmittag mit zur British Legion kommen? Ausnahmsweise, bitte!“ Natürlich wollte Edith genau wissen, warum, denn sie verbrachte nicht gern ihre freie Zeit mit den lärmenden Soldaten, viel lieber las sie ein gutes Buch oder arbeitete im Garten. Doch als sie hörte, worum es ging, sagte sie sofort zu, zu kommen, denn auch sie stammte aus Berlin und hatte Rosie sehr gut gekannt. „Lass bloß nicht den Brief zuhause liegen“, schärfte sie ihm noch ein, bevor sie auflegte. Richard nahm einen Schluck Tee und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Bald schon fielen ihm die Augen zu.

>> Es ist ein Sonntagnachmittag im Herbst des Jahres 1960. Zwei junge Männer von etwa zwanzig Jahren, mit kurz geschnittenen Haaren bummeln über Westberlins Prachtstraße, den Kurfürstendamm. Nicht weit vom Café Kranzler fallen ihnen zwei junge Mädchen auf, die sich an einem Schaufenster ihre Nasen platt drücken. Die eine hat blondes, halblanges Haar mit einer Außenrolle und trägt einen dunkelgrünen engen Rock, und dazu einen saloppen schwarzen Rollkragenpulli. Die andere hat ihr dunkles Haar zu einem flotten Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie ist mit einem weißen engen Rock und einer flaschengrünen Bluse, deren Ärmel von grün-goldenen Manschettenknöpfen zusammengehalten werden, bekleidet. Beide haben Schuhe mit niedrigen Stöckelabsätzen an. Jack stößt seinen Freund Richard an. „Was meinst du, sollen wir mal versuchen, sie anzusprechen?“ Sie sind beide ziemlich aufgeregt, denn sie sind erst vor zwei Wochen in diese aufregende Großstadt versetzt worden, nachdem sie ihre militärische Grundausbildung auf dem flachen Land in Oxfordshire absolviert hatten. Niemand hat ihnen beigebracht, wie man ein Mädchen anspricht, schon gar nicht auf Deutsch. Jack fasst sich als erster ein Herz und beginnt: „Hello, schones Froilein.“ Die beiden Mädchen schauen sich erstaunt um und fangen an zu kichern. „Du wollen spezieren gehen?“, führt Jack seine Konversationsbemühungen mit hochrotem Kopf fort. Das erweckt bei den jungen Damen noch mehr Heiterkeit, und sie können gar nicht mehr aufhören zu prusten und zu kichern. Schließlich schlendern alle vier zusammen weiter. Jetzt zahlt sich aus, dass die Mädchen die Mittelschule besucht haben. Zwar ist ihr Englisch nicht besonders gut, aber allemal besser als das Deutsch der Jungen.

Nach einem ausgiebigen Spaziergang setzen sie sich in einen Biergarten. Die Mädchen bestellen Cola, die Jungen Bier. Man kommt sich näher und stellt sich vor. Das Mädchen mit dem Pferdeschwanz heißt Rosemarie und das andere Edith. Beide haben im April eine Lehrstelle bei der AEG zur Industriekauffrau angefangen, und beide kommen aus dem östlichen Teil der Stadt. Zu dieser Zeit ist es noch normal dass man als Pendler jeden Morgen mit der S-Bahn von Ost nach West fahren darf, es finden lediglich Ausweiskontrollen statt. <<

Richard schreckte verwirrt aus seinen Träumen auf. Zuerst glaubte er, er habe das Klingeln der S-Bahn gehört. Doch es war die Türklingel, die energisch weiter gedrückt wurde. Er öffnete die Tür. Doris von nebenan stand da, mit ihrer Einkaufstasche in der Hand. „Hi Richard, ich bin auf dem Weg ins Einkaufszentrum. Soll ich dir etwas mitbringen?“ Donnerschlag, was war denn jetzt los? Noch nie zuvor war Doris so hilfsbereit gewesen. Ach ja, nun fiel ihm ein, dass sich ständig die Gardine in ihrem Wohnzimmer bewegt hatte, als er sich mit Susanne draußen unterhielt. Sicher kann sie es nicht mehr erwarten, zu erfahren, was es mit den beiden Frauen in dem deutschen Auto auf sich hat, dachte er. Nicht umsonst wurde sie in der ganzen Straße nur ‚nosy Doris’ genannt. „Nein danke, ich habe alles“, antwortete er und wollte die Tür wieder schließen. Aber Doris hielt den Türknauf eisern fest. „Gab es irgendwelche Probleme?“, wollte sie wissen. „Probleme? Nicht, dass ich wüsste. Wie kommst du darauf?“ „Na ja, der Wagen aus Deutschland und die Frau, mit der du gesprochen hast.“ „Das sind Dinge, die dich nichts angehen, Doris, und ich möchte auch nicht darüber sprechen.“ „Ich wollte ja bloß helfen“, antwortete Doris beleidigt, ließ aber den Türknauf immer noch nicht los. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich keine Hilfe benötige“, sagte er, jetzt eine Nuance energischer. „Kann ich die Tür endlich wieder zumachen?“ „Ja, natürlich.“ Notgedrungen ließ Doris den Knauf los. Krachend fiel die Tür ins Schloss.

Er ging ins Wohnzimmer zurück und nahm einen Schluck Tee, der mittlerweile kalt geworden war. Er musste wohl eine ganze Weile geschlafen haben. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm aber, dass er noch etwas Zeit hatte. Also setzte er sich wieder in seinen Sessel und blätterte lustlos in der Fernsehzeitschrift. Doch er konnte sich auf das, was er da las nicht konzentrieren. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass sich sein Blick zu dem Umschlag auf dem Tisch verirrte. Schließlich nahm er ihn zur Hand und zog den Brief heraus. Sie hatte eine schöne, fast noch ein bisschen kindliche Schrift. Liebevoll zog er ihre Schriftzüge mit seinem rechten Zeigefinger nach. Leider konnte er von dem Geschriebenen nichts entziffern. Aber unten, neben der Unterschrift, las er das Wort ‚Liebe’, und er wusste, was es bedeutete. Dieses Wort zu lesen bereitete ihm fast körperliche Schmerzen. Das erstaunte ihn, denn er hatte immer geglaubt, dieser Abschnitt seines Lebens sei für immer erledigt.

>> Es ist ein Freitag im Januar 1961. Richard und Jack stehen vor dem Bürogebäude der AEG am Hohenzollerndamm in Wilmersdorf, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, den Mantelkragen hochgeschlagen. Sie warten auf die beiden Mädchen, mit denen sie sich zu Feierabend verabredet haben. Edith hat hier irgendwo in der Gegend ein neues Lokal ausfindig gemacht, in dem am Wochenende Tanzveranstaltungen stattfinden sollen. Das wollen sie heute einmal ausprobieren. Bei der Kälte kann es sicherlich nicht schaden, sich ein wenig zu bewegen. Punkt 17 Uhr öffnet sich das Tor und ein Schwarm von Angestellten strömt aus dem Bürogebäude. Die beiden Mädchen kommen lachend herbei und lassen sich von den Jungen umarmen. „Heute wollte die Zeit aber auch gar nicht vergehen“, stöhnt Rosie, als sie in dem Lokal sitzen, „ich habe alle zwanzig Minuten auf die Uhr gesehen.“ Sie schaut sich um. „Gar nicht schlecht hier“, sagt sie anerkennend zu Edith. „Wenn die Kapelle auch so gut ist...“ Und da fangen sie schon an zu spielen, die vier Musiker in ihren lurexdurchwirkten roten Dinnerjackets. ‚Are you lonesome tonight’ von Elvis. Jack führt Edith und Richard Rosie auf die Tanzfläche. Das Licht verdunkelt sich. Sie lieben diese langsamen Schmuselieder, bei denen man so schön aneinandergeschmiegt tanzen kann. Dann folgt von Ted Herold ‚Moonlight’ Richard hält seine Rosie eng umschlungen. Von ihm aus könnte es immer so weitergehen. Ihre Lippen suchen und finden sich zu einem langen, innigen Kuss. Doch sie haben die Rechnung ohne die Musiker gemacht, Plötzlich wird es hektisch auf der Tanzfläche. Das Licht geht wieder an. ‚The Twist’ von Chubby Checker. Twist ist der allerneueste Modetanz. Etwas völlig Abgefahrenes, denn man tanzt nicht mehr mit seinem Partner zusammen. Eigentlich ist das nichts für Richard, aber er will Rosie nicht den Spaß verderben. Völlig erschöpft kommen sie an ihren Tisch zurück. Alle vier jungen Leute sind glücklich und freuen sich des Lebens.

Um 21 Uhr bringen die Jungen die beiden Mädchen zur S-Bahn Station, damit sie nach 22 Uhr nicht mehr alleine unterwegs sind. „Wir sehen uns morgen wieder!“, ruft Jack hinter den Mädchen her. „Im Kino läuft ‚Frühstück bei Tiffany’, kommt also ja nicht zu spät.“ „Du, ich glaub mit Rosie, das könnte etwas Dauerhaftes werden“, sagt Richard verträumt, als sie zu ihrer Kaserne zurückgehen. „Ja“, antwortet Jack, ich kann mir ein Leben ohne Edith auch schon nicht mehr richtig vorstellen. Hoffentlich bleiben wir noch lange hier in Berlin stationiert.“ <<

Draußen leerte die Müllabfuhr die Tonnen und machte dabei einen ordentlichen Krach. Richard tastete verwirrt nach seiner Lesebrille, die zusammen mit der Fernsehzeitschrift auf den Fußboden gerutscht war. Er stand auf und reckte sich. Dann brachte er den schalen Tee in die Küche. Es lohnte sich nicht, frischen aufzubrühen, denn er musste jetzt ohnehin aufbrechen, und im Legion’s Club gab es ja die Getränke zu reduzierten Preisen. Er entschloss sich, den Weg zu Fuß zu gehen. Die frische Luft würde seinem schmerzenden Kopf gut tun. Sein Weg führte ihn zunächst hinunter zum Meer, wo eine frische Brise wehte. Mit weit ausholenden Schritten ging er bis zu den Tennisplätzen die Promenade entlang. Dort angekommen, setzte er sich auf eine Bank und sah eine Weile den Wellen zu, die heute mit weißen Schaumkrönchen geschmückt, ein wenig höher als gewöhnlich waren. Warum nur hatte Rosie sich nach dem Mauerfall nicht bei ihm gemeldet? Sie hätten immerhin noch 20 gute Jahre zusammen verbringen können. Oder war sie etwa verheiratet gewesen? Warum hatte er Susanne nicht danach gefragt? Vielleicht würde er das noch nachholen. Er wusste ja, wo er sie erreichen konnte.

>> Es ist der Morgen des 11. August 1961. Sie liegen auf dem großen Bett in der Wohnung ihrer Arbeitskollegin Helga, die sich zurzeit einen Urlaub in Italien gönnt. Rosie hat sich bereit erklärt, die Blumen zu gießen und auf die Wohnung aufzupassen. „Ich liebe dich“, sagt er ernst und streichelt ihr Gesicht. Was hältst du davon, wenn wir heiraten. „Ich liebe dich auch“, antwortet sie, „aber das Heiraten müssen wir noch ein wenig verschieben, denn es dauert noch drei Jahre, bis ich volljährig bin. Ich glaube nicht, dass meine Eltern das vorher erlauben würden. Und außerdem möchte ich auch meine Lehre beenden, so dass ich dann mitverdienen kann.“ „Aber wir könnten uns doch zumindest verloben, so dass jeder sieht, dass wir zusammen gehören.“ Jedes Mal, wenn er Rosie von der Arbeit abgeholt hat, hat er durchaus mitbekommen, dass auch sehr viele attraktive junge Männer in ihrer Firma arbeiten, von denen ihr nicht wenige schöne Augen machen. „Du brauchst doch nicht eifersüchtig zu sein“, sagt sie, „für mich kommst sowieso nur Du infrage. Außerdem sind wir doch ohnehin so etwas wie heimlich verlobt.“ Er ist wieder einigermaßen beruhigt und sie beginnen, Pläne für eine gemeinsame Zukunft zu schmieden.

Bevor sie sich trennen, fällt ihm noch ein, was ihnen ihr Vorgesetzter tags zuvor gesagt hat. „Männer, ich weiß zwar nicht was passieren wird, aber es liegt irgendetwas in der Luft. Wir glauben nicht, dass die da drüben es noch lange hinnehmen werden, dass ihnen alle Menschen davonlaufen Also, falls ihr jemanden im sowjetischen Sektor habt, den ihr gern habt, dann lasst ihn nicht wieder zurück oder holt ihn noch schnell rüber.“ „Du könntest doch zunächst einmal hier in der Wohnung bleiben und dann, wenn deine Kollegin wieder da ist, in ein Lehrlingsheim oder in ein Flüchtlingsauffanglager ziehen“, sagt er zu Rosie. „Aber ich muss unbedingt noch einmal rüber, denn so ganz ohne Abschied von meinen Eltern möchte ich denn doch nicht gehen. Es wird schon nicht ausgerechnet am kommenden Wochenende etwas passieren. Und am Sonntagmorgen kann ich gleich schon mal eine große Tasche mit meinen Kleidern mitbringen.“ Ihm ist das zwar überhaupt nicht recht, aber wie kann man eine Tochter daran hindern, sich von ihren Eltern zu verabschieden? Am Abend erfährt er von Jack, dass es ihm gelungen ist, Edith zu überzeugen, nicht mehr nach Hause zurückzukehren.

Am Sonntagmorgen, dem 13. August, geht er zur S-Bahnstation, um Rosie abzuholen. Doch der Bahnhof ist wie leergefegt. Es fahren keine Züge mehr. Als er wieder auf der Straße steht, sieht er die Menschen in Richtung Ostsektor laufen. Automatisch läuft er mit und kann nicht glauben, was er dort sieht. Mit Stacheldraht und Sperrzäunen wird die letzte Lücke im Eisernen Vorhang geschlossen und damit die endgültige Teilung Deutschlands vollzogen. Er weiß, dass damit ihr gemeinsames Leben zerstört ist. <<

Seufzend stand Richard auf und überquerte die Beach Road. Vor der Tür des Clubs erwarteten ihn schon Edith und Jack. Sie holten sich Tee, und er übergab Edith den Brief. Sie überflog ihn zunächst und wurde ganz blass. „Nu lies ihn doch schon vor“, sagte Jack ungeduldig. Sie räusperte sich und las:

Mein geliebter Richard!

Ich habe am 13. August versucht, mit der S-Bahn in den Westsektor zu gelangen, aber das war nicht mehr möglich. Wie du ja sicherlich weißt, sind überall streng bewachte Grenzen errichtet worden. Ich habe mich erkundigt, und es hieß, sie würden nie wieder abgerissen werden. Was soll ich bloß tun, Richard? Ich bin so verzweifelt, denn ich weiß seit einigen Tagen, dass ich ein Kind von dir erwarte. Tue bitte alles, was in deiner Macht steht, um mich hier herauszuholen, damit wir heiraten und unser Kind gemeinsam aufziehen können.

In ewiger Liebe
Deine Rosie

„Du hast ein Kind, Richard“, sagte Edith leise und ließ den Brief sinken. „Ja, ich ahnte es bereits“, antwortete er und wischte sich die Tränen aus den Augen, „unsere Tochter heißt Susanne.“

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Tag der Veröffentlichung: 09.08.2011

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